20

 

Die junge Frau, die von Jackson, Mississippi, über Atlanta, Georgia, geflogen war und am Freitagmorgen planmäßig um 8.15 Uhr am Kopenhagener Flughafen Kastrup landete, sah nicht aus wie eine typische amerikanische Rucksacktouristin auf Bildungsreise in Europa. Dennoch erregte sie kein großes Aufsehen. Sie hatte gerade mit ihrer dementen Großmutter ihren achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Ihre zierliche Gestalt und ihre asiatischen Züge ließen sie allerdings eher wie eine junge, unsichere Collegestudentin aussehen, die für ein Auslandssemester an einer naturwissenschaftlichen Fakultät hierherkam.

Falls sie den anderen Passagieren überhaupt auffiel, dann höchstens wegen ihres leichten Reisegepäcks: ein kleiner schwarzer Mandarina-Duck-Trolley und eine edle Schultertasche aus dunkelbraunem Leder. Als sie die Rolltreppe nach unten fuhr und sich an der Passkontrolle in der Ankunftshalle anstellte, ließ sie ihren Blick prüfend durch den großen Raum schweifen. Es waren drei Polizisten in Sichtweite, und in den Schalterhäuschen an der Passkontrolle saßen vermutlich nur wenige weitere Beamte. Keiner von ihnen schien sie groß zu beachten. Sie lächelte vor sich hin und rückte in der Schlange vor. Wenn man sich tatsächlich um die Sicherheit sorgte, war das Niveau der Zoll- und Sicherheitskontrollen an den internationalen Flughäfen erschreckend niedrig. Die Terrorgesetze der letzten Jahre hatten es zwar erschwert, Waffen im Gepäck zu transportieren. Aber sie zog es sowieso vor, nicht mit ihrer vollen Ausrüstung zu reisen.

Peggy-Lee Wu betrachtete ihr Spiegelbild in der dunklen Glaswand, die die Wartenden vom Rest des Flughafens abschirmte, und richtete ihren akkurat geschnittenen Pony. Die Schlange war zum Stehen gekommen, weil der Polizist am Schalter weiter vorn einen arabisch aussehenden Mann zu den Details seines Aufenthaltes in Dänemark befragte. Es war nicht das erste Mal, dass Peggy-Lee ihre Abstammung zum Vorteil gereichte, wenn sie an einem ausländischen Flughafen ankam. Niemand hatte genug Phantasie, um einem kleinen schlitzäugigen Mädchen etwas Böses zu unterstellen. Noch dazu, wenn es einen Rollkragenpullover und einen Faltenrock trug. Und sollte dennoch jemand auf die Idee kommen, einen genaueren Blick auf ihr Gepäck zu werfen, und dabei ihr Beautycase untersuchen, würden nur die wenigsten Zöllner die Einzelteile eines für ein Heckler & Koch PSG1A1 spezialgefertigten Hensoldt-Zielfernrohrs erkennen.

Durch ihre militärische Ausbildung war Peggy-Lee eigentlich besser mit einer M40 vertraut. Doch ihre Bedürfnisse hatten sich geändert, als sie sich selbst vor sechs Jahren aus dem US Marine Corps entließ. Für den Wechsel der Waffe gab es mehrere gute Gründe. Zum einen die alberne, kindliche Freude darüber, das Original unter den modernen Sniper-Gewehren zu verwenden. Das PSG1 war der Legende nach als Reaktion auf das Massaker bei den Olympischen Spielen in München 1972 entwickelt worden. Das Blutbad hätte verhindert werden können, so glaubte man, wenn die deutsche Polizei schnellere Waffen besessen hätte, um die Terroristen unschädlich zu machen, bevor sie ihre Geiseln ermorden konnten. Nach der Katastrophe hatte Heckler & Koch das halbautomatische PSG1 konstruiert, das sich durch eine hohe Zielgenauigkeit und Platz für mehrere Kugeln im Magazin auszeichnete. Aber Peggy-Lee war natürlich viel zu professionell, um ihre Waffe allein aus romantischen Motiven auszuwählen. Vor einigen Jahren hatte Heckler & Koch ein verbessertes Modell auf den Markt gebracht, und die Armeegewehre, die sie von früher gewohnt war, waren für lange und häufig strapaziöse Transporte und Treffsicherheit aus großer Distanz entwickelt worden. Bei ihren jetzigen Jobs waren jedoch meistens andere Anforderungen wichtig.

Peggy-Lee schwang ihre Tasche über die Schulter und lächelte den übergewichtigen Polizisten an, der sie müde zu seinem Schalter winkte. Sie reichte ihm ihren geöffneten Pass und ging davon aus, gleich in den belebten Ankunftsbereich weitergehen zu können.

»Einen Moment, Miss Koga.«

Wie die meisten Skandinavier sprach der Mann mit einem etwas holprigem Akzent, und die Hand, mit der er ihr bedeutete, zu warten, war größer als ihr Kopf. Sie spürte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg, als er den Hörer hob, wusste aber nach jahrelangem Training, dass selbst der aufmerksamste Beobachter in ihrem Gesicht keine Veränderung feststellen würde. Der Mann redete in seiner merkwürdigen, schleppenden Sprache, von der sie nur einzelne Brocken aufschnappen konnte. Er lächelte nicht. Sein feistes, rotgeädertes Gesicht war ohne Mimik.

»In Ordnung, Miss, aber geben Sie in Zukunft bitte besser auf Ihren Pass acht. Er ist ein wichtiges Dokument, verstehen Sie?«

Seine Stimme war genauso ausdruckslos wie sein Gesicht, und seine Zurechtweisung wirkte nicht sehr engagiert. Sie lächelte ihn reuevoll und dankbar an. Dann nahm sie ihren Pass und eilte innerlich fluchend weiter. An einer Seite des Passes hatte sich der Leim aufgelöst. Das war das letzte Mal, dass sie bei diesen Amateuren eingekauft hatte! Peggy-Lee Wu holte ihr iPhone hervor und prüfte den Stand ihres Kontos auf den Caymaninseln. Zufrieden stellte sie fest, dass die andere Hälfte ihres Honorars bereits wie vereinbart eingegangen war. Die ersten fünfzig Prozent wurden schon bei der Anfrage fällig.

Sie spielte schon lange in einer Liga, in der allein die Anfrage nach ihrer Arbeitskraft viel Geld kostete.

*

Jonas hatte schon seit sechs Uhr morgens an seinem Stammplatz in der Küche gesessen. Vor etwa zwei Stunden, als die ersten Vögel zu zwitschern begannen, hatte er den Versuch zu schlafen aufgegeben. Er stand völlig neben sich, und sein Körper signalisierte ihm deutlich, dass er unter Schlaf- und Essenmangel litt. Er konnte sich nur schwer konzentrieren und bemühte sich, den Text einer weiteren kryptischen Postkarte von Overbye zu entziffern, die am Kühlschrank hing. Die größten Buchstaben konnte er mit Mühe und Not entziffern, aber einen kurzen Moment später verschwammen sie bereits vor seinen Augen und bildeten neue Wörter. M-Ö-R-D-E-R, stand da plötzlich, und Jonas spürte das allzu bekannte Pochen in seinen Ohren und den bitteren Geschmack im Mund. Er blinzelte kurz und las: FEIGLING. Doch er brachte es nicht über sich, die Buchstaben noch weiter zu fixieren: JETZT BIST DU AN DER REIHE ZU STERBEN.

Jonas kniff die Augen zusammen und presste seine Handflächen gegen die Ohren. Plötzlich bildete er sich ein, Firaz’ Gelächter zu hören. Erst schallte es aus dem Keller, dann aus dem Schlafzimmer, in dem Lex noch immer schlief. Als Jonas seinen Blick in den Garten schweifen ließ, um dort draußen einen realen Fixpunkt zu finden, tauchte das grinsende Konterfei des Irakers plötzlich vor seinem eigenen Spiegelbild an der Fensterscheibe auf. Er war dabei, völlig die Kontrolle über sich zu verlieren. Er hatte schon lange am Abgrund balanciert, doch jetzt hatte er das Gefühl, tatsächlich gesprungen zu sein – im freien Fall in den Wahnsinn. Und eigentlich schien ihm der Gedanke mittlerweile gar nicht mehr so erschreckend.

Außerdem waren es ja seine und Lex’ eigene Handlungen, die zu diesem Leben geführt hatten, in dem er kaum noch in der Lage war, seiner Arbeit nachzugehen. Ja, fast nicht mehr imstande war, noch mit jemand anderem als Lex ein Gespräch zu führen. Und auch mit ihr kaum noch.

Jonas hob seinen Kaffeebecher, um Firaz zuzuprosten, der mittlerweile neben dem Herd stand und ihn anstarrte.

»Ganz ruhig, my man. In weniger als vierundzwanzig Stunden sehen wir uns in der Hölle wieder.«

Er erschrak über seine eigene Stimme. Sie klang heiser und höher, als er erwartet hatte. Plötzlich streckte Lex ihren Kopf zur Tür herein.

»Mit wem redest du denn zu dieser unchristlichen Zeit, Jonas?«

Sie sah verschlafen aus. Ihm wurde bewusst, dass er sie wohl zum ersten Mal im Laufe ihrer zehnjährigen Beziehung vor ihrer Morgentoilette sah, was sie sonst nie zuließ. Sie sah hübsch aus mit ihrem langen hellblonden Haar, das wirr von ihrem Kopf abstand. Ihr schwarzer Morgenmantel war selbstverständlich elegant und passte perfekt zu dem Seidenpyjama, den sie darunter trug. Er spürte, wie sich seine Liebe zu ihr mit einer großen Trauer darüber mischte, wie es mit ihnen beiden geendet war, und dass er sie mit Sicherheit nie wieder so zu Gesicht bekäme. Einen Moment lang überlegte er, ob diese ungewohnte Lex womöglich auch seiner Phantasie entsprungen sein könnte. Aber sie sprach weiter in diesem beharrlichen, ungeduldigen Ton zu ihm, den er nur zu gut kannte.

»Antworte mir doch, Jonas. Was machst du so früh schon hier? Du brauchst vor dem Treffen Schlaf, darüber haben wir doch gesprochen.«

Jonas atmete tief ein und ließ sich fast widerwillig in die Wirklichkeit zurückreißen. Er schenkte seiner Frau ein vorsichtiges Lächeln. Offenbar wurde sie sich gerade ihrer natürlichen Gestalt bewusst. Sie strich sich mit einer Hand das Haar glatt und fuhr sich mit der anderen über das Gesicht, als wolle sie sich eine vorübergehende Maske überziehen, die sie beschützte, ehe sie ins Bad ging. Sie entfernte sich keinen Zentimeter vom Türrahmen, als wollte sie ihm ohne ihren üblichen Schutzschild nicht zu nahe kommen. Sie blickte ihn ernst an.

»Du hast dir noch gar keinen Plan überlegt, wie du den Abend lebend überstehen willst, oder?«

»Na ja … doch.«

Seine Lüge war offenbar nicht sehr überzeugend, denn sie runzelte die Stirn, und ihre grauen Augen durchbohrten ihn förmlich. Vielleicht hatte er sich auch nicht genug Mühe gegeben. Und plötzlich war ihm alles egal.

»Lüg mich nicht an, Jonas.«

Ihre Stimme klang hart.

»Du bist schon wieder dabei, alles aufzugeben. Ich sehe dir doch an, dass du nichts anderes unternommen hast, als rumzusitzen und in die Luft zu starren. Jetzt nehmen wir die Sache gemeinsam in die Hand, okay?«

Und in diesem Moment war sie wieder ganz sie selbst.

»Kümmer du dich um das Frühstück, während ich mich frisch mache, und dann gehen wir alles gemeinsam durch.«

Jonas ging in den Flur hinaus und öffnete die Haustür. Er hatte das Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. Der Morgen war so schön, dass es ihn schmerzte. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, und er rieb sich energisch die Augen. Er war es Lex schuldig, sich zusammenzureißen – und zu überleben. Sie waren ein Team, hatten von Anfang an alles miteinander durchgestanden. Und wenn es eins gab, was Jonas beim Militär gelernt hatte, dann war es der Grundsatz, das eigene Team nie im Stich zu lassen.

Jonas atmete tief durch und schloss die Tür wieder. Dann ging er in die Küche zurück und deckte den Tisch, setzte Kaffeewasser auf und toastete Brot. Ihn machte es merkwürdig glücklich, diese Mahlzeit vorzubereiten, und plötzlich merkte er, wie hungrig er war. Der Duft von Kaffee und warmem Brot kurbelten seine trägen Sinne an, und er leerte genussvoll einen halbvollen Karton mit Orangensaft. Als Lex zurückkehrte – nun in einem Hosenanzug, der sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte, und mit ihrem strengen Pferdeschwanz –, hatte er das Gefühl, sie noch nie schöner gesehen zu haben. Er küsste sie und führte sie zum Tisch, voll kindlichem Stolz über sein Festessen.

Lex sah ihn verwundert an, begann dann aber sofort, ihre Überlegungen vorzutragen. Jonas hörte ihr zu und unterbrach sie nur, um nach der Butterdose oder dem Saft zu verlangen. Hin und wieder machte Lex eine Pause und bedachte ihn mit einem fragenden Blick, aber er nickte ihr nur mit vollem Mund zu, um sie zum Weiterreden zu ermuntern.

Lex erklärte, dass sie nur eine Chance hätten, sich gegen Kevin Love durchzusetzen. Sie mussten darauf spekulieren, dass er sie unterschätzte und er Jonas’ militärische Ausbildung verkannte. Und er des Weiteren nicht voraussah, dass Jonas das eigentliche Ziel ihres Treffens längst ahnte. Es hatte keinen Zweck, einfach fernzubleiben, darin waren sie sich einig. Denn dann würde Jonas zum Freiwild, wohin er auch ging. Der Vorteil an einer Begegnung war, dass sie den Ort und den Zeitpunkt kannten und sich genauso gründlich vorbereiten konnten wie ihr Gegner. Und wenn Jonas dieses Zusammentreffen überlebte, hätten sie Zeit gewonnen, um zu planen, wie sie untertauchen konnten.

»Du kennst ihn ein bisschen aus dem Irak, oder?«

Jonas nickte und spürte, wie Lex’ Eifer ihn allmählich ansteckte. Sie war wirklich eine Klasse für sich. Fast schien es, als übten gerade diese ausweglosen Situationen einen besonderen Reiz auf sie aus.

»Wir kennen die Zeit und den Ort, und Letzteres sogar bis ins kleinste Detail«, schloss Lex schließlich. »Jetzt müssen wir uns einen genauen Überblick über die Gebäude neben dem Lager verschaffen.«

Sie angelte einen Block aus ihrer Mappe. Danach suchte sie das Grundstück mit ihrem gemieteten Lagerraum im Refshalevej bei Google Earth. Wenn man an die Bilder heranzoomte, erhielt man einen guten Überblick über die örtlichen Verhältnisse. Dann fertigte sie eine Skizze von den Gebäuden in der unmittelbaren Nähe an.

»Was wäre das naheliegendste Versteck, wenn man jemanden treffen will, der vor dem Eingang unseres Lagers steht?«

Jonas brauchte nicht lange auf die Zeichnungen zu schauen. Er nahm Lex den Kugelschreiber aus der Hand.

»Hier oben. Das Dach der Werkstatt. Wenn man ein Gewehr hat und ein guter Schütze ist, liegt das ideal. Es ist niedrig, und man kann sich im Liegen hinter dem Mauervorsprung verstecken. Ich schätze mal, er ist so vierzig bis fünfzig Zentimeter hoch. Aber das geht natürlich nur, wenn man aus großer Distanz zielen kann.«

Jetzt lächelte Lex.

»Also müssen wir nur versuchen, ihn zuerst zu erschießen!«

21

 

Ein toter Blick«, murmelte Linnea vor sich hin.

Die Augen waren lediglich leere schwarze Höhlen, und trotzdem verbarg sich tief dort drinnen ein Blick. Wenn sie hineinsah, fröstelte es sie beinahe. Dasselbe galt für den Mund mit den fülligen, sinnlichen Lippen, zwischen denen die Zahnhälse sichtbar wurden und das Gesicht zu einem grotesken Lächeln mit entblößtem Kiefer und Wangenknochen verzerrten. Wie das Porträt eines Gespenstes, in dem gleichzeitig Inneres und Äußeres sichtbar wurden.

Das Gesicht wirkte tot und lebendig zugleich. Linnea war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit sehr zufrieden. Es war noch überzeugender geworden, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie prüfte, ob sie auch wirklich die neueste Version des Bildes gespeichert hatte. Dann legte sie es auf den FTP-Server und verschickte eine Rundmail, dass man es sich unter Angabe des üblichen Passworts herunterladen konnte. Danach stand sie auf, um am offenen Fenster ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie versuchte sich einzureden, dass es nicht nötig sei, rief dann aber beim Politigården an.

»Ich würde gern mit Tage Ewald sprechen.«

»Der ist gerade unterwegs.«

Linnea schwieg einige Sekunden lang, dann bat sie darum, stattdessen mit Thor M. Dinesen sprechen zu dürfen.

»Einen Augenblick, ich stelle Sie durch.«

Sie hatte überhaupt keine Lust, mit Thor zu reden. Weder jetzt noch später. Aber wenn sie sich zwischen den übrigen Ermittlern der Mordkommission entscheiden musste, die mit dem Fall vom Lammefjord beschäftigt waren, war er doch das geringste Übel. Nichtsdestotrotz war es eine unangenehme Situation. Linnea war Thor zum ersten Mal im letzten Jahr an Heiligabend im Kulturcenter Huset in der Magstræde begegnet. Damals war sie noch nicht lange in Dänemark gewesen. Die Beerdigung des Vaters war gerade überstanden, und ihr wurde klar, dass sie aus irgendeinem Grund immer noch nicht nach San Francisco zurückgekehrt war. Sie war kurz davor, in die Wohnung in der Knabrostræde einzuziehen. Linnea hatte es bislang jedoch nicht über sich gebracht, ihrem Freund Phil, der in Berkeley eifrig an seiner Dissertation arbeitete, zu erklären, warum sie nicht zurückkam.

Den Heiligabend hatte sie allein verbracht. Ihre Mutter hatte sich geweigert, zur Beerdigung des Vaters zu kommen, und sich damit entschuldigt, dass sie nicht zu einer Reise in der Lage war, weil sie so sehr unter Schock stand. Sie wollte Weihnachten allein sein. Linnea ertappte sich zum ersten Mal bei dem heimlichen Wunsch, die Feiertage mit ihr gemeinsam zu verbringen. Wie eine richtige Familie, die zusammen glücklich war, Geschenke kaufte und Konfekt machte oder was sie sich sonst noch alles unter Nähe und Gemütlichkeit vorstellte. Wenigstens einmal im Jahr sollte man doch wohl mit denen zusammen sein, die man liebte.

Stattdessen hatte Linnea den Abend schließlich stoisch und erhaben durchgestanden. Sie aß ein lauwarmes, ansonsten jedoch phantastisches Weihnachts-Take-Away aus dem Restaurant Nouveau, das innerhalb kürzester Zeit ihr bevorzugter Ort geworden war. Und alles war im Großen und Ganzen nach Plan verlaufen, bis es Mitternacht war und sie merkte, dass sie weder müde war, noch Lust hatte, ins Bett zu gehen oder allein zu sein. Nach kurzem Zögern hatte sie das Stella-McCartney-Silbertop angezogen, das sie sich feierlich selbst geschenkt hatte, das Ganze mit ein paar Spritzern Donna Karan Gold ergänzt und sich dann auf die Straße gewagt. Ohne groß darüber nachzudenken, war sie schließlich im Kulturcenter Huset gelandet, wo sie zur Gymnasialzeit endlose Nächte im Barbue verbracht hatte. Natürlich existierte der Club nicht mehr unter diesem Namen, aber die Musik wummerte trotzdem, und die Menschen drängten sich dicht an dicht. Zu ihrer Überraschung waren die meisten Gäste in ihrem Alter und schienen nicht besonders unglücklich darüber, zu Weihnachten auszugehen, anstatt zusammen mit ihren Familien zu Hause zu feiern.

Und noch ehe Linnea es sich versah, hatte sie sich auf den größten und bestaussehenden Typen an der Bar gestürzt. Er war muskulös, ohne wie aufgepumpt zu wirken. Noch dazu tanzte er ausgesprochen gut, was ihn, soweit sie sich erinnerte, zu einer seltenen Spezies unter den dänischen Männern machte. Wie sie später herausfand, war Thor traurig darüber gewesen, Weihnachten nicht mit seiner Tochter verbringen zu können, die bei seiner Ex feierte. Aber das hinderte ihn nicht daran, es an jenem Abend richtig krachen zu lassen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, ihn zu erobern, sich schließlich jedoch selbst von ihm und seinen schelmischen Augen verführen lassen.

Beim letzten Tanz hatte er ihr verraten, dass er Polizist war, und hatte sie nach ihrem Beruf gefragt.

»Anthropologin«, hatte sie geantwortet. »Aber nicht das, was man hier in Dänemark darunter versteht. Ich fahre nicht in die Welt hinaus und studiere fremde Kulturen oder so. Ich bin physische, also eigentlich forensische Anthropologin.«

»Das klingt gut – physisch!«

Und danach hatten sie nicht mehr viel Zeit mit Reden verschwendet, sondern waren zu anderen und interessanteren Methoden übergegangen, einander kennenzulernen. Das war mittlerweile lange her.

*

»Lucy Davies war der Name? Ja, hier ist Ihr Schlüssel. Das Zimmer wurde bereits im Voraus bis morgen bezahlt.«

Das Lächeln der Empfangsdame wurde breiter und etwas zu vertraulich. Das Hotel Skt. Petri hatte einen hohen Standard, ohne protzig zu sein, genau wie Peggy-Lee es bevorzugte. Über den Limousinenservice, der sie am Flughafen abgeholt hatte, konnte sie auch nicht klagen, so dass sie trotz Jetlags blendender Laune war, als sie im Hotel eincheckte. Die junge Frau an der Rezeption entsprach allen Klischees von den hübschen, blonden Skandinavierinnen, und sie lächelte dienstbeflissen.

»Und wie ich sehen kann, hat jemand dafür gesorgt, dass eine Flasche Champagner für Sie auf dem Zimmer bereitsteht.«

»Entfernen Sie die.«

»Aber … sind Sie sicher?«

»Entfernen Sie sie einfach, okay?«

Peggy-Lee schnappte sich die Schlüsselkarte aus der ausgestreckten Hand der Rezeptionsdame und ging zum Aufzug. Allmählich fing er an zu übertreiben. Es war diese Art von Ausrutschern, die sie daran zweifeln ließen, ob sie weiterhin für Kevin Love arbeiten sollte. Er war ein Emporkömmling wie sie, aber er war einfach nicht dazu imstande, sich zurückzuhalten. Meistens versuchte er es nicht einmal.

Peggy-Lee stieg im dritten Stock aus und ging zum Zimmer 307. Sie spürte, wie das Handy in ihrer Manteltasche vibrierte. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte sie sehen, dass alle Informationen wie vereinbart eingetroffen waren. Das wiederum gehörte zu den Gründen, warum sie immer wieder gern Aufträge von dem extravaganten Briten annahm – es gab nie Probleme mit der Bezahlung und den Anweisungen. Sie lud die Koordinaten herunter, speicherte sie in ihrem GPS und ging dann ins Badezimmer, um Wasser in die Wanne einzulassen. Während sich die Badewanne langsam füllte, ging sie ein zweites Mal die Informationen durch, die sie erhalten hatte. Es war ein reiner Routinejob, der für heute Abend terminiert war, aber sie würde sich hüten, aus diesem Grund nachlässig zu werden. Genau, wie sie sich nie nach den Gründen fragte, warum die Menschen sie anheuerten. Alle überflüssigen Informationen oder Überlegungen konnten fatal sein. Das war einer der ersten Grundsätze, die man ihnen beim Sniper-Training im US Marine Corps eingeschärft hatte.

»Haltet nie inne und denkt darüber nach, dass ihr Menschen aus Fleisch und Blut im Visier habt. Dann habt ihr schon verloren. Sie sind nichts anderes als Zielscheiben, die sich zufällig bewegen.«

Peggy-Lee ließ sich in das heiße Wasser gleiten. Die Worte hatten brutal gewirkt, als ihr Lehrer sie damals vor bald zehn Jahren ausgesprochen hatte, aber mit der Zeit waren sie zur Routine geworden.

Und jetzt – dreiundsiebzig Volltreffer später – war Peggy-Lee Wu überzeugt davon, dass genau diese Einstellung sie in der Welt vorangebracht hatte.

22

 

Als Linnea gerade wieder auflegen wollte, um stattdessen woanders anzurufen, meldete sich jemand. Sie beeilte sich, sofort mit ihrem Anliegen herauszurücken, damit sie wenigstens einem längeren privaten Telefonat entging, wenn sie schon so dumm war, Thor anzurufen.

»Hast du das Bild gesehen?«

»Ja, aber was soll das überhaupt darstellen? Ist das ein Scherz?«

Spätestens jetzt merkte sie, dass sie mit Richard Bodilsen sprach, da Thor nur für ein paar Tage vertretungsweise in dem Mordfall ermittelt hatte. Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen.

»Deshalb rufe ich ja gerade an. Das ist Khalid.«

»Das müssen Sie mir erst mal erklären.«

Wenn sie sich nicht völlig täuschte, klang er tatsächlich ein wenig neugierig.

»Das ist ein völlig neues Bild. Die Methode nennt sich kraniofacial superimposition«, erklärte sie. »Ausgangspunkt ist das Foto von Khalid, das in Verbindung mit seinem Asylantrag aufgenommen wurde. Anschließend habe ich einen Scan von dem Schädel verwendet, den wir im Lammefjord gefunden haben, und ihn in einem 3D-Programm an genau dieselbe Position montiert wie im Foto. Danach habe ich die beiden Bilder übereinandergelegt, und das Resultat ist dieses etwas unheimliche Foto. Haben Sie es gerade vorliegen?«

Am anderen Ende der Leitung war ein zustimmendes Brummen zu hören.

»Wie Sie sehen können, habe ich einige Pfeile ergänzt. Markierungen, die auf Übereinstimmungen hinweisen, zum Beispiel auf die sinus frontalis, also die Stirnhöhle, deren Größe und Form bei jedem Menschen einzigartig sind.«

»Sie meinen also, dass der Tote mit Khalid identisch ist?«

»Ja. Wie Sie auf dem Bild sehen können, gibt es so viele Übereinstimmungen, dass ich an Ihrer Stelle davon ausgehen würde. Eine hundertprozentige Identifizierung kann ich Ihnen jedoch nicht liefern. Dafür bräuchte man einen Zahnabdruck oder Ähnliches.«

»Nicht schlecht«, sagte er überraschenderweise. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so viel herausfinden würden. Und deshalb frage ich Sie auch nicht, woher Sie das Foto haben und warum Sie es vorziehen, lieber mit Dinesen zu sprechen, anstatt mich zu informieren. Unter allen Umständen stimmt das hervorragend mit unseren Vermutungen überein. Wir haben die Akte des Mannes von der Ausländerbehörde angefordert. Und ihr Material bestätigt nur mehr, dass dies wohl kaum eine Sache ist, für die wir viele Ressourcen verschwenden sollten.«

Linnea traute ihren Ohren kaum. Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht, ein Bild zu konstruieren, das so überzeugend war, dass die Polizei damit den Fall aufklären konnte.

»Aber es geht doch um Mord!«

»Können Sie denn mit Sicherheit ausschließen, dass es kein Selbstmord war? Soweit ich Ihrem Bericht entnehmen kann, ist der Einschusswinkel zwar ungewöhnlich, aber davon abgesehen, spricht nichts gegen die Möglichkeit, dass er es selbst getan hat. Man hat keine Tatwaffe gefunden, und wir haben keinen Grund zu der Vermutung, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er nach dem Krieg von posttraumatischem Stress geplagt. Und soweit ich verstehe, gab es auch mit seinem Asylantrag Probleme. Irgendeine alte Geschichte, die zu seiner Abschiebung hätte führen können. Meiner Meinung nach erscheint ein Selbstmord unter diesen Voraussetzungen nicht besonders merkwürdig. Die Aussicht, wieder in den Irak zurückzumüssen und dort zu riskieren, als Verräter ermordet zu werden, war wohl kaum verlockend. Und in Anbetracht dessen, wo wir ihn fanden, ist es am wahrscheinlichsten, dass irgendein lichtscheues Gesindel die Waffe gefunden, eingesteckt und sich wenig darum gekümmert hat, dass dort eine tote Person lag. Wir haben die gesamte Gegend drei Tage lang mit Hunden und Freiwilligen abgesucht. Mehr Kräfte können wir in diese Sache nicht investieren, denn das Ganze scheint ja ohnehin nirgendwo hinzuführen.«

»Sie vergessen, dass er gefoltert wurde.«

»Unter Saddam Hussein wurden viele gefoltert. Und noch dazu haben sich manche Asylbewerber selbst verstümmelt, damit ihr Antrag bessere Chancen hatte.«

Doch Linnea blieb hartnäckig.

»Die Verletzungen wurden unmittelbar vor dem Eintritt des Todes zugefügt.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Soweit ich mich erinnern kann, behaupten Sie das in Ihrem Bericht aber nicht mit derselben Sicherheit«, entgegnete Bodilsen. »Außerdem ist es doch so, jedenfalls in Dänemark, dass Mord nicht verjährt. Doch aus diesem Grund kann die Sache trotzdem in ihrer Wichtigkeit heruntergestuft werden. Momentan besteht kein Grund dazu, noch mehr Arbeit da hineinzustecken. Sie haben Ihren kleinen Pluspunkt für gute Arbeit errungen. Und ich freue mich, Ihr Bild zu dem Bericht hinzufügen zu können, damit wir die Sache mit einem Namen des Toten abschließen können.«

Und damit legte er auf und ließ Linnea mit dem Gefühl zurück, eine große Lachnummer zu sein. Khalid war Opfer eines brutalen Verbrechens geworden, aber niemand hatte vor, sich in diesem Fall zu engagieren. Der Tote war ein Flüchtling. Eine Person, die kein Land haben wollte und die aus diesem Grund auch niemand vermissen würde.

*

»Du musst einfach nur einen kühlen Kopf bewahren und darfst dich nicht ablenken lassen.«

Jonas nickte Lex zu und bemerkte, wie alle Merkregeln und Prinzipien aus seiner Ausbildung wieder auftauchten. Ihn stellte es zufrieden, dass er sein Training zu etwas gebrauchen konnte. Auch wenn der Gedanke grotesk schien, dass es diesmal ausschließlich um sein eigenes Überleben ging, dass er wusste, jemand trachtete ihm nach dem Leben, dass irgendwo ein Mörder lauerte – und der kleinste Fehler tödlich für ihn sein würde.

Natürlich hatte er im Irak auch an Kampfhandlungen teilgenommen. Doch dies war etwas ganz anderes. Jonas gab sich Mühe, sich alle Ecken und Winkel in den alten Gebäuden auf der Refshaleinsel einzuprägen. Nach und nach versah er Lex’ Zeichnung mit zusätzlichen Strichen und Notizen. Er kam auf insgesamt drei mögliche Verstecke, an denen sein Henker auf ihn warten konnte. Natürlich wäre es auch eine Möglichkeit gewesen, so rechtzeitig am vereinbarten Ort einzutreffen, dass er selbst beobachten konnte, wie Kevin Love sich bereitmachte. Das war jedoch unsicher und konnte leicht schiefgehen. Jonas’ Einschätzung nach war es besser, vorher zu essen und sich auszuruhen, damit er in Topform war, falls es zu einer Konfrontation käme. Dagegen würden ihm drei Stunden Wartezeit, zusammengekrümmt in einem feuchten Raum oder unter der gleißenden Sonne, bereits im Voraus die Kraft rauben. Deshalb beschloss er, auf seine gute Ortskenntnis zu setzen und darauf, dass sein Gegner so professionell war und vorhersehbar handelte.

Anschließend saßen sie eine Stunde lang zusammen und diskutierten. Lex notierte auf ihrem Block, woran Jonas denken musste, ehe er das Haus verließ. Bis zum vereinbarten Zeitpunkt blieben noch knapp vier Stunden, und sie selbst durfte nicht mehr lange hierbleiben. Sie mussten ihre Alibis im Auge behalten, falls die Polizei auf den Fall aufmerksam wurde. Außerdem mussten sie aus genau demselben Grund auch noch ziemlich viele Spuren beseitigen.

In erster Linie galt es jetzt, das Lager zu Hause zu leeren und noch so viel Geld wie möglich dabei herauszubekommen. Wenn sie anschließend untertauchten, würden sie all ihr Kapital benötigen. Die wertvollsten Dinge befanden sich noch immer im Keller, und das würde ihre Rettung werden. Vor heute Abend auf der Refshaleinsel aufzutauchen wäre einfach zu gefährlich. Sie planten, sich am darauffolgenden Tag im Sommerhaus in Faxe Ladeplads zu treffen. Lex würde noch an diesem Tag dorthin fahren und im lokalen Supermarkt Zutaten für ein romantisches Dinner einkaufen. Und dabei natürlich subtil, aber deutlich auf sich selbst und ihr Anliegen aufmerksam machen, damit man sich an sie erinnerte. In der Zwischenzeit würde Jonas – nachdem er die Begegnung hinter sich gebracht hatte – ohne das Auto zurück in das Haus in Virum kommen und dort übernachten, ohne das Licht anzuschalten. Niemand würde bemerken, dass er dort wäre. Am nächsten Morgen würde er dann den Zug zum Bahnhof nehmen, wo er sein Auto geparkt hatte, und damit zu Lex fahren. Dadurch würden sie ein paar Tage gewinnen, um einen genaueren Fluchtplan zu schmieden.

Inzwischen nickte Jonas nur noch zu den meisten Vorschlägen von Lex und kommentierte sie immer weniger. In Wirklichkeit konnte er nicht weiter denken als bis zu Punkt zwei auf Lex’ Liste: die Waffe bereit machen. Die Pistole, die im Schlafzimmer lag und die er bald vorbereiten würde, um einen anderen Menschen damit zu töten. Einen Menschen, der ihm nach dem Leben trachtete, der jedoch aus ihm einen Mörder machen würde, wenn der Plan gelang.

»Du bist doch sowieso schon ein Mörder, du selbstgerechter Streber!«

Er konnte nicht herausfinden, ob es seine oder Firaz’ Stimme war, die ihn aus seinen Gedanken riss. Vielleicht eine Mischung aus beiden. Jonas schielte zu Lex hinüber, die noch immer am Tisch saß und Notizen machte; ihre Wangen hatten inzwischen Farbe angenommen. So hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen, und ihre Augen leuchteten, als sie ihn ansah. Ein weiteres Mal schockierte ihn, wie sie beinahe lustvoll an ihren privaten Sündenfall heranging. Mit jedem Schritt, den sie taten, entfernten sie sich weiter von all seinen bisherigen Vorstellungen, was richtig und falsch war. Und mit jedem dieser Schritte wirkte Lex überzeugter und unerschütterlicher.

»Wir werden das schon schaffen, Jonas. Es geht um unser Überleben.«

Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein freches Grinsen.

»Wir sind doch das dynamische Duo. Du erinnerst dich?«

23

 

Auf dem Kopenhagener Rathausplatz wimmelte es von südeuropäischen und asiatischen Touristen, die eifrig fotografierten. Peggy-Lee hatte wie erwartet kein Problem damit, in der Menge abzutauchen. Und jetzt, wo sie mit der Nase über ihrem Navi hing, stach sie wahrscheinlich noch weniger heraus.

Sie folgte den Anweisungen des GPS und ging auf der stark befahrenen Straße am alten Rathaus vorbei, wo sich die Menschenmassen allmählich lichteten. Sie ertappte sich dabei, den milden Sommertag, die entspannte Ferienstimmung und all die Radler zu genießen, als sie ihren Weg in Richtung der Brücke fortsetzte. Plötzlich überkam sie der Drang, den sanften Sommerwind auf ihrer Haut zu spüren, und sie zog ihre Jacke aus. Sie dachte kurz an Mississippi und White Oaks, wo ihre Großmutter wahrscheinlich noch nicht mal aufgestanden war. Sie spürte einen lächerlichen Stich im Herzen, diesen Teil ihres Lebens nicht mit der Großmutter teilen zu können.

Yun Li Wu hatte nie gefragt, was Peggy-Lee eigentlich machte, wenn sie nicht da war. Nie hatte sie ein Wort über den plötzlichen Wohlstand verloren, der ihr zu einem Platz in dem exklusiven Pflegeheim verholfen hatte. Sie war zwar dement, aber in ihren wachen Momenten war sie sich sehr genau über die Vergangenheit ihrer Enkelin beim US Marine Corps im Klaren – und kannte auch ihre Faszination für Schusswaffen. Mit dreizehn hatte Peggy-Lee zum ersten Mal den Film Sniper gesehen. In einem Versuch, die Langeweile zu bekämpfen, die über ihrem öden Teenagerleben im Wohnwagenpark lag, hatte sie sich die Teilnahme an einem Videoabend erkauft, die ihr hirnloser großer Bruder mit seinen beiden ebenso hirnlosen Kumpels veranstaltet hatte. Der Preis hatte schon vorher festgestanden: den Jungen einen runterzuholen, was für ein paar Stunden Flucht aus der Wirklichkeit nicht zu viel verlangt war. Und diesmal bekam sie sogar eine Zukunftsaussicht mit dazu. Der Film erzählte von einem rauen US Marine-Scharfschützen. Als dann noch einer der Jungen erzählte, dass es den Mann tatsächlich gab, war Peggy-Lee hin und weg.

Waffen gehörten zum Alltag, und sie hatte schon oft schießen geübt. Auf Tiere und ein einziges Mal auch von einer Autobahnbrücke hinunter auf einen PKW. Sie hatte das Ansehen genossen, das ihr die Tatsache, dass sie besser treffen konnte als die Jungs, bei ihnen einbrachte. Aber dass sie daraus tatsächlich einen Beruf machen konnte – und obendrein einen, der sie aus dem elenden Nest befreite, in dem sie aufgewachsen war –, setzte eine ungeahnte Willenskraft in ihr frei. Die Autobiographie des besagten Scharfschützen war das erste Buch in ihrem Leben, das sie bis zu Ende las. In den Jahren, die vergingen, bis sie in der Sniper-Einheit der US Marines aufgenommen wurde, war ihr das zerlesene Taschenbuch fast zur Bibel geworden.

Als Peggy-Lee die Treppe an der Hafenfront erreicht hatte, schüttelte sie die Sentimentalität ab und prüfte mit ihrem Blick gründlich die Umgebung, bevor sie die Stufen hinunterging. Unter der Brücke war es kühl und dunkel, und sie bekam eine leichte Gänsehaut. Hier unten war es menschenleer, aber die ausgelassenen Stimmen der Leute und die Verkehrsgeräusche waren noch immer zu hören.

Unter der mittleren der drei Bänke fand Peggy-Lee wie vereinbart ihr Gewehr. Das PSG1 war in die gelb-schwarze Plastiktüte eines dänischen Supermarktes verpackt und zusätzlich mit Wellpappe umwickelt. Das gesamte Paket war an der Unterseite der Bank festgeklebt. Sie prüfte schnell das Klebeband, um sich zu vergewissern, dass sich niemand Fremdes daran zu schaffen gemacht hatte.

Als sie einige Minuten später mit einer Sporttasche über der Schulter wieder die Treppe hochstieg und auf die große Brücke zuging, sah sie nur wie einer der vielen Menschen auf dem Weg zum großen Hafenbad auf der anderen Seite der Einmündung aus.

*

Lex’ plötzliche Stimmungswechsel konnten Jonas noch immer verunsichern. In ihren ersten gemeinsamen Jahren, als er vor lauter Verliebtheit und Unsicherheit noch völlig desorientiert war, hatte Lex’ Launenhaftigkeit ihn mitunter verzweifeln lassen. Sie konnte innerhalb von wenigen Sekunden von extremer Zärtlichkeit und Hingabe auf ein ungeduldiges Blaffen umschwenken. Und Jonas verstand nur selten, was ihren plötzlichen Gefühlsumschwung ausgelöst hatte. Besonders nach dem Sex blieb er häufig mit dem Gefühl liegen, etwas falsch oder nicht gut genug gemacht zu haben. Lex dagegen war oft hemmungslos und extrem lüstern. Sie brachte ihm Dinge bei, von deren Existenz er nie etwas geahnt hätte, und sie tat es mit einer Sicherheit und Zielstrebigkeit, die ihn überraschte.

Jetzt stand sie vom Tisch auf und schob ihn so abrupt zur Seite, dass ein Saftglas zu Boden fiel und ein kleines gelbes Rinnsal sich langsam über den Fußboden in Richtung Kellertreppe schlängelte. Lex kickte das Glas mit ihrem Stilettoabsatz weg und zog Jonas von seinem Stuhl auf den Boden.

Das Glas lag nun neben dem Kühlschrank und rollte mit einem monotonen Geräusch einige Male vor und zurück. Jonas’ Hinterkopf kam direkt neben der kleinen Saftpfütze zum Liegen, aber in diesem Moment war ihm das bereits egal. Seine Sinne waren in äußerster Bereitschaft. Er bildete sich sogar ein, dass er spürte, wie seine Nerven unter der Haut zu zittern begannen, wenn Lex ihn berührte.

Er konnte ihren Blick nicht einfangen, da sie in eine andere Richtung sah. Aber diesmal kümmerte ihn das nicht, und er stöhnte laut, als er schließlich in ihr kam.

Jonas blieb liegen, nachdem Lex aufgestanden war und ihre Kleidung wieder in Ordnung gebracht hatte. Jonas hatte Lust, sie wieder zu sich auf den Boden zu ziehen, ihr Haar aus dem Pferdeschwanz zu zerren, es zu zerwühlen und sie zu zwingen, dort gemeinsam mit ihm liegen zu bleiben, bis sein Herz zu hämmern aufgehört hatte. Aber er konnte sich nicht rühren. Er hatte nicht einmal die Kraft, ihren Namen auszusprechen. Und Lex war ganz offensichtlich schon wieder auf dem Weg zum nächsten Punkt auf ihrer Liste.

Eine halbe Stunde später war sie aus der Tür verschwunden. Jonas hockte noch immer in der Küche und spürte ihren trockenen Kuss auf seiner Wange. Er hatte noch Zeit, bis er sich auf den Weg zur Refshaleinsel machen musste. Bis dahin hatte er nicht viel mehr zu tun, als sich den Plan einzuprägen und zu versuchen, sich auszuruhen. Er schaltete das Radio ein und versuchte so zu tun, als wäre dies ein ganz normaler Tag. Er summte die Melodie von Robyns »Dancing on my own« mit, während er die Spülmaschine einräumte. Er musste über die Albereien der Radiomoderatoren lächeln. Ihm gelang es, diese Illusion der Alltäglichkeit genau siebenundzwanzig Minuten lang zu bewahren. Dann kamen die Nachrichten: »Ein Polizeisprecher gab heute bekannt, dass man seit dem gestrigen Aufruf zahlreiche Hinweise aus der Öffentlichkeit erhalten habe. Die endgültige Identifikation des Toten vom Lammefjord steht demnach kurz bevor.«

24

 

Eine Stunde später näherte Peggy-Lee sich ihrem Ziel. In der Zwischenzeit hatte sie unterwegs auch eine kleinere Handfeuerwaffe eingesammelt. Die Pistole hatte unter dem doppelten Boden eines Abfalleimers in einer nahezu verlassenen U-Bahnstation gelegen. Jetzt, da sie komplett ausgerüstet war, fühlte sie sich ruhiger.

Das gehörte zu ihren Bedingungen, um einen Auftrag anzunehmen. Solange der Auftraggeber ihre Forderungen erfüllte und für Logis, Anreise und die Bereitstellung und Beseitigung des Werkzeugs sorgte, tauchte sie auf und erledigte ihren Job. Und sie konnte es sich in der Tat erlauben, Bedingungen zu stellen, denn ihre Dienste standen inzwischen auch bei den schwersten Jungs hoch im Kurs. Es war eine Erleichterung, sich nicht auch noch selbst um alle Einzelheiten kümmern zu müssen. Ein Flugticket von Kopenhagen nach Paris, Abflug 22.15 unter dem Namen Stacey Kim, war bereits auf ihrem iPhone zum Abruf bereit, und sie hatte aus dem Hotel ausgecheckt. Wenn der Auftrag ausgeführt war, würde sie die Waffen unweit des Ortes, wo das bestellte Taxi auf sie warten würde, in einem Park hinterlassen.

Sie lebte ein Leben mit wechselnden Identitäten und unter ständiger, minutiöser Planung. Das war nicht gerade das, was sie sich vorgestellt hatte, als sie sich mit siebzehn beim US Marine Corps gemeldet hatte. Damals war sie eine überzeugte Patriotin gewesen, die ungeduldig darauf gewartet hatte, ihrem Land dienen zu dürfen. Sie hatte sofort auf dem Schießplatz brilliert und war als eine der ersten Frauen für die Ausbildung zum Sniper auserwählt worden. Ihre erste Mission hatte sie 2001 in Afghanistan angetreten. Damals waren sie und die anderen vom Gedanken besessen gewesen, nach dem 11. September Rache zu üben. Es war ein tolles Gefühl, endlich handeln zu können, zurückzuschlagen, und sie konnte davon einfach nicht genug kriegen.

Peggy-Lee ging die Umgebung des alten Lagergebäudes ab, hielt nach blinden Winkeln Ausschau und schätzte per Augenmaß die Entfernungen ab. Jetzt konnte sie das wohlbekannte Gefühl des Adrenalins spüren, das durch ihren Körper pumpte. Es fühlte sich immer gleich an, egal für wen sie arbeitete. Nach ihren Erkundungen kletterte sie eine rostige Eisentreppe hoch. Das Dach des Gebäudes gegenüber dem Eingang zum Lagerraum war für ihren Zweck ideal. Fast schon zu perfekt, dachte Peggy-Lee, während sie ihre Waffen hervorholte.

Dann begab sie sich auf den rauen Beton in ihre Liegeposition und wartete.

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Jonas hatte die Angst fast den ganzen Tag über verdrängt, aber er wusste, dass er bereit war. Die Pistole lag neben ihm auf dem Beifahrersitz, und er griff danach, als er aus dem Auto stieg. Das letzte Stück musste er gehen, das erlaubte es ihm immerhin, ungesehen anzukommen, falls sein Gegner schon vor Ort auf ihn wartete. Er spürte bereits das Adrenalin in seinen Adern und wurde von einer nervösen Energie erfasst.

Auch wenn er von Alpträumen und Schuldgefühlen geplagt wurde, war er immerhin auch einmal Soldat gewesen und noch immer stolz darauf. Er hatte zu einem Aufklärungsschwadron gehört, das die gefahrenreichsten Orte aufsuchte und auf Stolperdrähte und deponierte Sprengsätze hin absuchte, ehe die Hauptstreitkräfte ankamen. Zu dieser Zeit hätten ihn alle als mutig und entschlossen beschrieben.

Und er spürte, wie die Kraft von damals zurückkehrte, mit jedem Schritt, mit dem er sich den Lagerräumen näherte.

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Eine halbe Stunde später hallte der erste Schuss.