Kapitel 3

DER ZAUBERER

 

1

 

Roland blieb an dem Wachhäuschen stehen, sah hinein und hob auf, was dort auf dem Boden lag. Die anderen kamen zu ihm und drängten sich um ihn. Es hatte wie eine Zeitung ausgesehen, und genau das war es… wenn auch eine überaus befremdliche. Kein Topeka Capital Journal, keine Meldungen über eine Seuche, die die Bevölkerung dezimierte.

 

Tägliche Gerüchteküche von Oz

Jg. MDLXVIII Ausg. 96 »Gerüchteküche, Gerüchteküche –
Mach dür keine Bülder«

Wetter: heute hier, morgen fort Glückszahlen: keine

Prognose: schlecht

 

Bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel quassel bla bla bla gut ist schlecht schlecht ist gut es ist immer dasselbe gut ist schlecht schlecht ist gut es ist immer dasselbe geh langsam an den Drawers vorbei es ist immer dasselbe bla bla bla bla

 

Blaine ist eine Pein es ist immer dasselbe quassel quassel quassel quassel Charyou-Baum es ist immer dasselbe bla quassel bla bla quassel bla bla bla quassel baked turkey abgebrühte Gans es ist immer dasselbe fahr nur Zug stirb in Schmerz es ist immer dasselbe bla bla bla bla bla bla bla bla bla gib die Schuld gib die Schuld Gib die Schuld bla bla bla bla bla bla quassel bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla (weiter auf S. 6)

 

 

Darunter befand sich ein Bild von Roland, Eddie, Susannah und Jake, wie sie den spiegelnden Innenhof überquerten, als wäre das Ganze am Tag zuvor passiert und nicht erst vor Minuten. Darunter stand folgende Legende: Tragödie in Oz: Reisende auf der Suche nach Glück und Ruhm finden stattdessen den Tod.

»Das gefällt mir«, sagte Eddie und rückte Rolands Revolver zurecht, den er tief an der Hüfte trug. »Trost und Ermutigung nach tagelanger Verwirrung. Wie ein heißes Getränk in einer kalten, beschissenen Nacht.«

»Deswegen musst du keine Angst haben«, sagte Roland. »Das ist ein Streich.«

»Ich habe ja keine Angst«, sagte Eddie, »aber es ist trotzdem mehr als nur ein Streich. Ich habe viele Jahre mit Henry Dean verbracht, und ich weiß, wenn sich jemand in den Kopf gesetzt hat, mich fertig zu machen. Das weiß ich sehr wohl.« Er sah Roland neugierig an. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber du bist derjenige, der aussieht, als ob er Angst hat, Roland.«

»Ich habe Todesangst«, sagte Roland nur.

 

 

2

 

Der Torbogen rief in Susannah Erinnerungen an einen Song wach, der zehn Jahre, bevor sie aus ihrer Welt in die von Roland gerissen wurde, ein Schlager gewesen war. Saw an eyeball peepin through a smoky cloud behind the Green Door, ging der Text. When I said »Joe sent me«, someone laughed out loud behind the Green Door. Hier gab es zwei Türen statt einer, aber kein Guckloch, durch das ein Auge sehen konnte. Und Susannah versuchte auch nicht den alten Flüsterkneipentrick, dass Joe sie geschickt habe. Sie beugte sich nach vorn und las das Schild, das an einem der kreisrunden Türgriffe hing. GLOCKE DEFEKT, BITTE KLOPFEN stand darauf.

»Lass gut sein«, sagte sie zu Roland, der schon die Faust geballt hatte, um das zu tun, wozu das Schild einen aufforderte. »Das ist aus der Geschichte, mehr nicht.«

Eddie schob ihren Stuhl etwas zurück, trat dann davor und packte einen der runden Griffe. Die Tür ließ sich mühelos öffnen, wobei die Scharniere sich lautlos drehten. Er ging einen Schritt in die schattige grüne Grotte, legte die Hände an den Mund und rief: »He!«

Der Ruf seiner Stimme rollte dahin und kam dann verändert zurück… leise, hallend, verloren. Sterbend, hätte man fast denken können.

»Herrgott«, sagte Eddie. »Müssen wir das machen?«

»Wahrscheinlich ja, wenn wir zum Balken zurückkommen wollen.« Roland sah jetzt blasser aus denn je, führte sie aber unverdrossen hinein. Jake half Eddie, Susannahs Rollstuhl über die Schwelle (ein milchiger Klotz jadefarbenen Glases) ins Innere zu heben. Oys winzige Schuhe glänzten trübe rot auf dem Glasboden. Sie waren erst zehn Schritte weit gekommen, als die Tür hinter ihnen mit einem entschiedenen Dröhnen ins Schloss fiel, einem Dröhnen, das über sie hinwegrollte und in den Tiefen des Grünen Palastes verhallte.

 

 

3

 

Es gab keinen Empfangsraum, nur einen gewölbten, höhlenartigen Korridor, der kein Ende zu nehmen schien. Ein schwaches grünes Leuchten erhellte die Wände. Das ist wie der Flur in dem Film, dachte Jake, wo der feige Löwe solche Angst bekam, dass er sich selbst auf den Schwanz getreten ist.

Und Eddie sah sich veranlasst, ein weiteres Mosaiksteinchen der Filmwirklichkeit hinzuzufügen, auf das Jake gern hätte verzichten können, und sagte mit einer zitternden (und mehr als passablen) Bert-Lahr-Imitation: »Moment mal, Freunde, ich hab gerade nachgedacht – so sehr will ich den Zauberer jetzt auch wieder nicht sehen. Ich warte lieber draußen auf euch!«

»Hör auf!«, sagte Jake schroff.

»Örauf!«, stimmte Oy zu. Er lief direkt zu Jake und sah dabei wachsam von einer Seite zur anderen. Jake konnte außer ihren Schritten kein anderes Geräusch hören… und doch spürte er etwas: ein Geräusch, das nicht da war. Es war, dachte er, als würde man ein Windklangspiel ansehen, das nur auf den Hauch einer Brise wartete, um zu erklingen.

»Tut mir Leid«, sagte Eddie. »Wirklich.« Er zeigte auf etwas. »Guck, da vorn.«

Etwa vierzig Schritte vor ihnen mündete der Flur in eine schmale, erstaunlich hohe grüne Tür – rund zehn Meter vom Boden bis zur Spitze des Torbogens. Und nun konnte Jake ein konstantes Summen von dahinter vernehmen. Als sie näher kamen und das Geräusch lauter wurde, wuchs auch seine Angst. Er musste sich geradezu zwingen, das letzte Dutzend Schritte bis zur Tür zurückzulegen. Er kannte dieses Geräusch; kannte es von seiner Hetze mit Gasher unter der Stadt Lud und von der Fahrt, die er und seine Freunde mit Blaine dem Mono unternommen hatten. Es war das konstante Tap-tap-tap von Slo-Trans-Motoren.

»Wie in einem Albtraum«, sagte er mit einer kläglichen, tränenerstickten Stimme. »Wir sind wieder genau da, wo wir angefangen haben.«

»Nein, Jake«, sagte der Revolvermann und strich ihm über das Haar. »Das darfst du nicht denken. Was du empfindest, ist eine Illusion. Sei standhaft und wahrhaftig.«

Das Schild an dieser Tür stammte nicht aus dem Film, und nur Susan wusste, dass der Text von Dante war. LASST ALLE HOFFNUNG FAHREN, DIE IHR HIER EINTRETET, stand darauf.

Roland streckte die rechte Hand mit ihren drei Fingern aus und zog die zehn Meter hohe Tür auf.

 

 

4

 

Was hinter der Tür lag, präsentierte sich Jake, Susannah und Eddie als unheimliche Mischung aus Der Zauberer von Oz und Blaine dem Mono. Ein dicker Teppichboden (hellblau, wie der im Baronswagen) lag auf dem Boden. Der Saal wirkte wie ein Kirchenschiff und ragte in unvorstellbare schwarzgrüne Höhen hinauf. Die Säulen, die die leuchtenden Wände trugen, waren große Glasrippen aus wechselweise grünem und rosa Licht; das Rosa hatte genau dieselbe Farbe wie Blaines Rumpf. Jake sah, dass eine Milliarde verschiedener Bilder in diese tragenden Säulen graviert worden waren, und kein einziges davon war tröstlich; sie beleidigten das Auge und wirkten zutiefst beunruhigend. Schreiende Gesichter schienen vorherrschend zu sein.

Vor ihnen befand sich das einzige Möbelstück des Saals, vor dem die Besucher zwergenhaft wirkten, nicht größer als Ameisen: ein riesiger Thron aus grünem Glas. Jake versuchte, dessen Größe zu schätzen, schaffte es aber nicht – er hatte keinerlei Anhaltspunkte, die ihm helfen konnten. Er vermutete, dass die Rückenlehne des Throns fünfzehn Meter hoch war, aber es hätten ebenso gut zwanzig oder dreißig sein können. Das Symbol des offenen Auges schmückte ihn, aber diesmal in Rot, nicht in Gelb. Durch das rhythmische Pulsieren des Lichts wirkte das Auge lebendig; als würde es wie ein Herz schlagen.

Über dem Thron ragten dreizehn gigantische Zylinder wie die Pfeifen einer mittelalterlichen Orgel auf, und jeder pulsierte in einer anderen Farbe. Das heißt jeder, bis auf den mittleren, der genau in der Mitte der Thronrückseite endete. Dieser war schwarz wie Mitternacht und so still wie der Tod.

»He!«, rief Susannah aus ihrem Rollstuhl. »Ist jemand da?«

Als ihre Stimme ertönte, leuchteten die Röhren so grell auf, dass Jake die Augen abschirmen musste. Für kurze Zeit leuchtete der ganze Thronsaal wie ein explodierender Regenbogen. Dann erloschen die Röhren, wurden dunkel, wurden tot, genau wie das Glas des Zauberers in Rolands Geschichte, nachdem es (oder die Macht, die in dem Glas wohnte) beschlossen hatte, eine Zeit lang stumm zu bleiben. Nun waren nur noch die schwarze Säule und das konstante grüne Pulsieren des leeren Throns zu sehen.

Als Nächstes ertönte ein müdes Summen in ihren Ohren, so als würde man einen uralten Servomechanismus ein letztes Mal in Betrieb setzen. In den Armlehnen des Throns glitten Paneele beiseite, rund zwei Meter lang und einen halben breit. Aus den auf diese Weise freigelegten schwarzen Schlitzen stieg rosaroter Rauch auf. Je höher er stieg, desto dunkler wurde das Rot. Und eine schrecklich vertraute Zickzacklinie leuchtete darin auf. Jake wusste, worum es sich handelte, noch bevor die Worte

(Lud Candleton Rilea Die Wasserfälle der Hunde Dasherville Topeka)

rauchig aufglimmten.

Es war Blaines Streckenplan.

Roland konnte sagen, was er wollte – dass sich ihre Lage verändert hatte, dass Jakes Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein

(das ist der schlimmste Albtraum meines Lebens, und das ist die Wahrheit)

nur eine Illusion war, die sein verwirrter Verstand und sein furchtsames Herz erzeugten –, aber Jake wusste es besser. Dieses Zimmer sah vielleicht ein bisschen wie der Thronsaal des großen und schrecklichen Oz aus, aber in Wahrheit war es Blaine der Mono. Sie befanden sich wieder an Bord von Blaine, und gleich würde der Rätselwettstreit von vorn beginnen.

Jake hätte am liebsten geschrien.

 

 

5

 

Eddie erkannte die Stimme, die aus dem rauchigen Streckenplan dröhnte, aber er glaubte ebenso wenig, dass es sich um Blaine den Mono handelte, wie er glaubte, dass es der Zauberer von Oz war. Um einen Zauberer möglicherweise, aber das hier war nicht die Smaragdstadt, und Blaine war so tot wie Hundescheiße. Eddie hatte ihn mit einem verdammten Milzriss nach Hause geschickt.

»HALLO, DA SEID IHR JA WIEDER, KLEINE KUHTREIBER!«

Der rauchige Streckenplan pulsierte, aber Eddie brachte sie nicht mehr mit der Stimme in Verbindung, obwohl er vermutete, dass es so geplant war. Nein, die Stimme kam aus den Röhren.

Er schaute nach unten, sah Jakes aschfahles Gesicht und kniete sich neben ihm nieder. »Das ist Quatsch, Junge«, sagte er.

»N-nein… das ist Blaine… nicht tot…«

»Er ist tot, glaub mir. Das ist nichts weiter als eine verstärkte Version der Durchsagen nach der Schule… wer nachsitzen muss und wer sich in Zimmer sechs zur Sprachtherapie melden soll. Kapiert?«

»Was?« Jake sah ihn mit feuchten, bebenden Lippen und umwölkten Augen an. »Was meinst du…«

»Diese Röhren sind Lautsprecher. Sogar eine Fistelstimme kann sich durch ein Dolby-Soundsystem mit zwölf Lautsprechern gewaltig anhören; erinnerst du dich nicht an den Film? Er muss sich gewaltig anhören, weil er ein Bumhug ist, Jake – nur ein Bumhug.«

»WAS ERZÄHLST DU IHM DA, EDDIE VON NEW YORK? EINEN DEINER DUMMEN, GEMEINEN KLEINEN WITZE? EINES DEINER UNFAIREN RÄTSEL?«

»Ja«, sagte Eddie. »Eins, das so geht: ›Wie viele dipolare Computer braucht man, um eine Glühbirne reinzuschrauben?‹ Wer bist du, Kumpel? Ich weiß verdammt genau, dass du nicht Blaine der Mono bist – also, wer bist du?«

» ICH BIN OZ!«, sagte die Stimme donnernd. Die gläsernen Säulen blitzten; ebenso die Röhren hinter dem Thron. »OZ DER GROSSE! OZ DER MÄCHTIGE! WER SEID IHR?«

Susannah rollte nach vorn, bis sich ihr Rollstuhl an der untersten Stufe der Treppe zu dem Thron befand, vor dem sogar Lord Perth wie ein Zwerg gewirkt hätte.

»Ich bin Susannah Dean, die kleine und verkrüppelte«, sagte sie, »und ich wurde erzogen, höflich zu sein, aber nicht, mir Bockmist anzuhören. Wir sind hier, weil wir hier sein sollen – warum sonst hätte man die Schuhe für uns liegen lassen?«

»WAS WILLST DU VON MIR, SUSANNAH? WAS MÖCHTEST DU HABEN, KLEINES COWGIRL?«

»Das weißt du doch«, sagte sie. »Wir wollen, was alle wollen, soweit ich weiß – zurück nach Hause, weil es keinen schöneren Ort gibt als das Zuhause. Wir…«

»Du kannst nicht nach Hause zurück«, sagte Jake. Er sagte es als furchtsames, hastiges Murmeln. »Es führt kein Weg zurück, das hat Thomas Wolfe mal gesagt, und das ist die Wahrheit.«

»Es ist eine Lüge, Schätzchen«, sagte Susannah. »Eine krasse Lüge. Es gibt einen Weg zurück. Man muss nur den richtigen Regenbogen finden und unter ihm hindurchgehen. Wir haben ihn gefunden; der Rest ist nur, du weißt schon, Laufarbeit.«

»MÖCHTEST DU NACH NEW YORK ZURÜCK, SUSANNAH DEAN? EDDIE DEAN? JAKE CHAMBERS? VERLANGT IHR DAS VON OZ DEM STARKEN UND MÄCHTIGEN?«

»New York ist nicht mehr unser Zuhause«, sagte Susannah. Sie sah sehr klein und dennoch furchtlos aus in ihrem Rollstuhl vor dem riesigen, pulsierenden Thron. »So wenig, wie Gilead für Roland noch die Heimat ist. Bring uns auf den Pfad des Balkens zurück. Dorthin wollen wir, das ist für uns nämlich der Weg nach Hause. Das einzige Zuhause, das wir haben.«

»GEHT WEG!«, rief die Stimme aus den Röhren. »GEHT WEG UND KOMMT MORGEN WIEDER! DANN WERDEN WIR UNS ÜBER DEN BALKEN UNTERHALTEN! BLÖDES GEREDE, SAGTE SCARLETT, VERSCHIEBEN WIR DIE UNTERHALTUNG ÜBER DEN BALKEN AUF MORGEN, MORGEN IST NÄMLICH EIN NEUER TAG!«

»Nein«, sagte Eddie. »Wir unterhalten uns jetzt darüber.«

»ERWECKT NICHT DEN ZORN DES GROSSEN UND MÄCHTIGEN OZ!«, brüllte die Stimme, und die Röhren blitzten bei jedem Wort wütend auf. Susannah war sich sicher, dass das Furcht einflößend wirken sollte, aber sie fand es stattdessen beinahe amüsant. Als würde man einem Vertreter zusehen, der ein Kinderspielzeug vorführte. He, Kinder! Wenn ihr sprecht, leuchten die Röhren in allen bunten Farben! Versucht es ruhig und seht selbst!

»Süßer, du solltest jetzt besser zuhören«, sagte Susannah. »Du willst bestimmt nicht den Zorn von Leuten mit Schusswaffen erwecken. Besonders nicht, wo du doch in einem Glashaus wohnst.«

»ICH HABE GESAGT, KOMMT MORGEN WIEDER!«

Wieder quoll roter Rauch aus den Schlitzen in den Armlehnen. Jetzt war er dicker. Der Umriss von Blaines Streckenplan schmolz und ging darin auf. Diesmal formte der Rauch ein Gesicht. Es war ein schmales, hartes und wachsames, von langen Haaren eingerahmtes Gesicht.

Das ist der Mann, den Roland in der Wüste erschossen hat, dachte Susannah staunend. Es ist dieser Jonas. Ich weiß, dass er es ist.

Nun sprach Oz mit leicht bebender Stimme weiter: »ERKÜHNT IHR EUCH ETWA, DEM GROSSEN OZ ZU DROHEN?« Die Lippen des riesigen Rauchgesichts über dem Thron teilten sich zu einer Grimasse, in der sich Bedrohung und Verachtung die Waage hielten. »IHR UNDANKBAREN GESCHÖPFE! O IHR UNDANKBAREN GESCHÖPFE!«

Eddie, der Täuschungsmanöver mit Rauch und Spiegeln erkannte, wenn er welche zu Gesicht bekam, hatte in eine andere Richtung gesehen. Jetzt riss er die Augen auf und packte Susannah über dem Ellbogen am Arm. »Sieh doch«, flüsterte er. »Himmel, Suze, sieh dir Oy an!«

Der Billy-Bumbler schien sich nicht für Rauchgespenster zu interessieren, ob sie nun Streckenpläne von Einschienenbahnen, tote Sargjäger oder einfach nur Hollywood-Spezialeffekte von vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Er hatte offenbar etwas gesehen (oder gerochen), was da viel interessanter war.

Susannah packte Jake, drehte ihn herum und zeigte auf den Bumbler. Sie sah, wie der Junge begreifend die Augen aufriss, kurz bevor Oy die kleine Nische in der linken Wand erreichte. Ein grüner Vorhang im Farbton der Glaswand teilte die Nische von der Haupthalle ab. Oy streckte den langen Hals, nahm den Stoff des Vorhangs zwischen die Zähne und zog.

 

 

6

 

Hinter dem Vorhang blinkten rote und grüne Lichter; Zylinder drehten sich in Glaskästchen; Zeiger bewegten sich in langen Reihen beleuchteter Skalen hin und her. Doch das alles sah Jake kaum. Dem Mann galt seine ganze Aufmerksamkeit, dem Mann, der an der Konsole saß und ihnen den Rücken zugekehrt hatte. Sein schmutziges, blutverklebtes Haar hing ihm in verfilzten Strähnen bis auf die Schultern. Er trug eine Art Kopfhörer und sprach in ein winziges Mikrofon vor seinem Mund. Da er mit dem Rücken zu ihnen saß, bemerkte er zunächst gar nicht, dass Oy ihn aufgespürt und sein Versteck entlarvt hatte.

»GEHT!«, donnerte die Stimme aus den Röhren… Aber nun sah Jake, woher sie wirklich kam. »KOMMT MORGEN WIEDER, WENN IHR WOLLT, ABER JETZT GEHT! ICH WARNE EUCH!«

»Es ist Jonas, Roland scheint ihn doch nicht getötet zu haben«, flüsterte Eddie, aber Jake wusste es besser. Er hatte die Stimme erkannt. Obwohl sie durch die Verstärkung der bunten Röhren verzerrt wurde, hatte er die Stimme erkannt. Wie hatte er nur jemals glauben können, dass es die Stimme von Blaine war?

»ICH WARNE EUCH, WENN IHR EUCH WEIGERT…«

Oy bellte; es war ein scharfer und irgendwie bedrohlicher Laut. Der Mann in der Nische drehte sich langsam um.

Zuerst, Freundchen, hatte, wie sich Jake erinnerte, der Inhaber dieser Stimme gesagt, bevor er die zweifelhafte Attraktion von Verstärkern entdeckt hatte, sag mir, was du von dipolaren Computern und Transitivkreisen weißt. Dann bekommst du etwas zu trinken.

Es war weder Jonas noch der Zauberer von Irgendwas. Es war David Quicks Enkel. Es war der Ticktackmann.

 

 

7

 

Jake sah ihn entsetzt an. Die listige, gefährliche Kreatur, die mit ihren Kumpanen – Gasher und Hoots und Brandon und Tilly – unter Lud gelebt hatte, war nicht mehr. Das hier vor ihnen hätte der verweste Vater… oder Großvater… dieses Ungeheuers sein können. Sein linkes Auge – das Oy in Lud mit seinen Klauen durchbohrt hatte – quoll weiß und missgestaltet heraus, halb in der Höhle und halb auf der unrasierten Wange. Die rechte Seite des Kopfes sah fast wie skalpiert aus; unter einem langen, dreieckigen Streifen konnte man die Schädelknochen erkennen. Jake konnte eine von Panik verdunkelte Erinnerung heraufbeschwören, wie ein Hautlappen Ticktack ins Gesicht fiel, aber da war er schon am Rande eines hysterischen Anfalls gewesen… so wie jetzt auch wieder.

Oy hatte den Mann, der ihn hatte umbringen wollen, ebenfalls wiedererkannt und bellte hysterisch mit gesenktem Kopf, gefletschten Zähnen und gekrümmtem Rücken. Ticktack sah ihn mit großen, fassungslosen Augen an.

»Beachtet den Mann hinter dem Vorhang gar nicht«, sagte auf einmal jemand hinter ihnen und kicherte. »Mein Freund Andrew hat wieder einen seiner vielen schlechten Tage. Armer Junge. Ich schätze, es war schlicht falsch, ihn aus Lud herauszuholen, aber er sah einfach so hilflos aus…« Die Stimme kicherte wieder.

Jake fuhr herum und sah, dass jetzt ein Mann mit lässig übereinander geschlagenen Beinen mitten auf dem großen Thron saß. Er trug Jeans, eine dunkle Jacke, die an der Taille gegürtet war, und alte, abgewetzte Cowboystiefel. An seiner Jacke hatte er ein Abzeichen, auf dem ein Schweinekopf mit einem Einschussloch zwischen den Augen zu sehen war. Auf dem Schoß hatte der Neuankömmling einen Beutel liegen. Er stand auf, stellte sich auf den Sitz des Throns wie ein Kind auf Daddys Stuhl, und das Lächeln fiel von seinem Gesicht ab wie lose Haut. Nun blitzten seine Augen, und er öffnete die Lippen über riesigen, gierigen Zähnen.

»Schnapp sie dir, Andrew! Schnapp sie dir! Töte sie! Jeden einzelnen von diesen Schwesternfickern!«

»Mein Leben für dich!«, schrie der Mann in der Nische, und nun sah Jake zum ersten Mal die Maschinenpistole in der Ecke stehen. Ticktack sprang hin und riss sie hoch. »Mein Leben für dich!«

Er drehte sich um, und da kam Oy wieder über ihn, sprang an ihm hoch und vergrub die Zähne tief in Ticktacks Oberschenkel unmittelbar unter dem Schritt.

Eddie und Susannah zogen gleichzeitig, rissen beide einen von Rolands großen Revolvern hoch. Sie feuerten in völligem Einklang, das Geräusch ihrer Schüsse überlappte sich nicht im Geringsten. Eine Kugel riss die obere Hälfte von Ticktacks Mitleid erregendem Kopf weg, bohrte sich in die Ausrüstung und erzeugte ein lautes, aber erfreulich kurzes Rückkopplungspfeifen. Die andere traf ihn im Hals.

Er stolperte erst einen Schritt vorwärts, dann einen zweiten. Oy ließ sich auf den Boden fallen und wich fauchend vor ihm zurück. Ein dritter Schritt führte Ticktack aus der Nische heraus in den Thronsaal. Er hob die Arme in Jakes Richtung, und der Junge konnte Ticktacks Hass in dem einen verbliebenen grünen Auge erkennen; der Junge bildete sich sogar ein, dass er den letzten, hasserfüllten Gedanken des Mannes hören konnte: Oh, du elendes kleines Frettchen…

Dann kippte Ticktack nach vorn, genau wie in der Krippe der Grauen… nur würde er diesmal nicht wieder aufstehen.

»So fiel Lord Perth, und das Land erbebte im Donner«, sagte der Mann auf dem Thron.

Aber er ist kein Mann, dachte Jake. Noch nicht einmal ein Mensch. Ich glaube, wir haben den Zauberer endlich gefunden. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was er in dem Beutel da hat.

»Marten«, sagte Roland. Er streckte die linke Hand aus, die unversehrte. »Marten Broadcloak. Nach all diesen Jahren. Nach all diesen Jahrhunderten.«

»Willst du das hier, Roland?«

Eddie drückte Roland die Waffe in die Hand, mit der er den Ticktackmann erschossen hatte. Ein blaues Rauchfähnchen kräuselte sich noch aus dem Lauf. Roland sah den alten Revolver an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen, dann hob er ihn langsam hoch und richtete ihn auf die grinsende Gestalt mit den rosigen Wangen, die immer noch mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Thron des Grünen Palasts saß.

»Endlich«, hauchte Roland und spannte den Hahn. »Endlich vor meinem Visier.«

 

 

8

 

»Dieser Sechsschüsser wird dir nichts nützen, wie du sicher weißt«, sagte der Mann auf dem Thron. »Nicht gegen mich. Gegen mich gerichtet, würde er nur fehlschießen, Roland, alter Kamerad. Wie geht es übrigens der Familie? Ich habe im Lauf der Jahre den Kontakt verloren. Ich war schon immer ein lausiger Briefeschreiber. Man sollte mich mit der Pferdepeitsche prügeln, aye, das sollte man!«

Er warf den Kopf zurück und lachte. Roland drückte ab. Als der Hammer aufschlug, ertönte nur ein dumpfes Klicken.

»Hab ich’s nich gesagt?«, sagte der Mann auf dem Thron. »Ich glaube, du musst aus Versehen welche von den nassen Patronen geladen haben, was? Die mit dem unbrauchbaren Schießpulver. Die mögen zwar ausreichen, um das Geräusch von Schwachstellen abzuhalten, aber nicht, um auf alte Zauberer zu schießen, was? Zu dumm. Und deine Hand, Roland, sieh dir deine Hand an! Fehlen zwei Finger, wie es aussieht. Mann, du hast es wirklich schwer gehabt, was? Aber es könnte einfacher werden. Du und deine Freunde, ihr könntet ein schönes, fruchtbares Leben führen – und, wie Jake sagen würde, das ist die Wahrheit. Keine Monsterhummer mehr, keine Züge, keine beunruhigenden – ganz zu schweigen von gefährlichen – Ausflüge in andere Welten. Du musst nur diese dumme und hoffnungslose Suche nach dem Turm aufgeben.«

»Nein«, sagte Eddie.

»Nein«, sagte Susannah.

»Nein«, sagte Jake.

»Nein«, sagte Oy und stieß ein Bellen aus.

Der dunkle Mann auf dem grünen Thron lächelte weiterhin ungerührt. »Roland?«, sagte er. »Was ist mit dir?« Langsam hob er den Beutel an der Kordel hoch. Der Beutel sah staubig und alt aus. Er hing von der Faust des Zauberers wie eine Träne, und nun pulsierte das Ding in seinem Inneren mit einem rosa Licht. »Lass ab, und sie müssen nie sehen, was hier drinnen ist – sie müssen die letzte Szene dieses traurigen und längst vergangenen Schauspiels nicht sehen. Lass ab. Wende dich vom Turm ab, und geh deiner Wege.«

»Nein«, sagte Roland. Er lächelte, und während sein Lächeln breiter wurde, wurde das des Mannes auf dem Thron zusehends unsicher. »Du kannst meine Waffen verzaubern, die von dieser Welt, nehme ich mal an«, sagte er.

»Roland, ich weiß nicht, woran du denkst, Freundchen, aber ich warne dich…«

»Oz den Großen zu brüskieren? Oz den Mächtigen? Aber ich denke, das werde ich, Marten… oder Maerlyn… oder wie immer du dich heute nennst…«

»Eigentlich Flagg«, sagte der Mann auf dem Thron. »Wir sind uns schon mal begegnet.« Er lächelte. Statt sein Gesicht breiter zu machen, wie es bei einem Lächeln normalerweise der Fall war, schien es Flaggs Züge zu einer schmalen und hässlichen Fratze zusammenzuziehen. »In den Trümmern von Gilead. Du und deine überlebenden Kumpels – dieser lachende Esel Cuthbert Allgood gehörte zu deiner Gruppe, daran erinnere ich mich, und DeCurry, der Bursche mit dem Muttermal, auch –, ihr wart auf dem Weg nach Westen, um den Turm zu suchen. Oder, in der Ausdrucksweise von Jakes Welt, ihr wart losgezogen, um den Zauberer zu sehen. Ich weiß, dass du mich gesehen hast, aber ich bezweifle, dass du bis jetzt gewusst hast, dass ich dich auch gesehen habe.«

»Und ich schätze, wir werden uns wiedersehen«, sagte Roland. »Es sei denn, ich töte dich jetzt und mache deinen Einmischungen ein für alle Mal ein Ende.«

Er hielt die Waffe noch immer in der linken Hand und griff nun mit der rechten nach der, die er im Hosenbund stecken hatte – Jakes Ruger, eine Waffe aus einer anderen Welt und möglicherweise immun gegen die Zauberkraft dieser Kreatur. Und er war schnell wie immer, atemberaubend schnell.

Der Mann auf dem Thron schrie auf und wich zurück. Der Beutel fiel ihm aus der Hand, und die Glaskugel – die einst Rhea gehalten hatte, einst Jonas und einst selbst Roland – glitt aus der Öffnung. Rauch, diesmal grün statt rot, quoll aus den Schlitzen in den Armlehnen des Throns. Er stieg in Schwaden empor, die alles einhüllten. Dennoch hätte Roland die Gestalt, die im Rauch verschwand, vielleicht noch erschießen können, wenn er ungehindert hätte ziehen können. Aber das gelang ihm nicht; die Ruger entglitt dem Griff seiner verstümmelten Hand und drehte sich. Das Korn verfing sich in Rolands Gürtelschnalle. Er brauchte nur eine zusätzliche Viertelsekunde, um die Waffe freizubekommen, aber das war die Viertelsekunde, die der Zauberer auch nur benötigte. Roland jagte drei Schüsse in die Rauchschwaden, dann rannte er los, ohne auf die Schreie der anderen zu achten.

Er wedelte den Rauch mit den Händen weg. Seine Schüsse hatten die Rückenlehne des Throns in dicke Glasscherben zerschmettert, aber die Kreatur in Menschengestalt, die sich Flagg genannt hatte, war verschwunden. Roland fragte sich bereits, ob er – oder es – überhaupt wirklich da gewesen war.

Aber die Glaskugel lag noch da, sie war unversehrt und leuchtete in demselben hellen, fesselnden Rosa, an das er sich von vor so langer Zeit erinnerte – in Mejis, als er jung und verliebt gewesen war. Dieses Überbleibsel von Maerlyns Regenbogen war fast bis zum Rand des Thronsitzes gerollt; noch zwei Fingerbreit, und es wäre hinuntergestürzt und auf dem Boden zerschellt. Aber es war nicht hinuntergefallen; es existierte noch, dieses verhexte Ding, das Susan Delgado im Licht des Kussmonds zum ersten Mal durch das Fenster von Rheas Hütte gesehen hatte.

Roland hob sie auf – wie gut sie ihm in der Hand lag, wie natürlich sie sich in seine Handfläche schmiegte, auch nach all den Jahren – und sah in ihre wolkigen, verschwommenen Tiefen. »Du hast doch immer verzaubertes Leben in dir gehabt«, flüsterte er ihr zu. Er dachte an Rhea, wie er sie in dieser Kugel gesehen hatte – ihre uralten, lachenden Augen. Er dachte an das Freudenfeuer der Erntenacht, das rings um Susan herum emporloderte und ihre Schönheit in der Hitze flimmern ließ. Sie erzittern ließ wie ein Trugbild.

Elendes Blendwerk!, dachte er. Wenn ich dich auf dem Boden zertrümmern würde, würden wir gewiss in dem Meer der Tränen ertrinken, das aus deinem geborstenen Leib fließen würde… der Tränen aller, die du ins Verderben geführt hast.

Warum sollte er es nicht einfach tun? Wenn er es heil ließ, konnte das abscheuliche Ding ihnen zwar vielleicht helfen, den Pfad des Balkens wiederzufinden, aber Roland glaubte nicht, dass sie es zu diesem Zweck überhaupt brauchen würden. Er glaubte, dass Ticktack und die Kreatur, die sich Flagg nannte, in dieser Hinsicht das letzte Hindernis gewesen waren. Der Grüne Palast war ihre Tür nach Mittwelt zurück… und jetzt gehörte er ihnen. Sie hatten ihn mit Waffengewalt erobert.

Aber du kannst noch nicht gehen, Revolvermann. Erst, wenn deine Geschichte zu Ende ist, wenn du die letzte Szene erzählt hast.

Wessen Stimme war das? Vannays? Nein. Corts? Nein. Und auch nicht die Stimme seines Vaters, der ihn einmal nackt aus dem Bett einer Hure geholt hatte. Das war die unerbittlichste Stimme, jene, die er oft in seinen unruhigen Träumen hörte und so gern zufrieden stellen wollte, was ihm aber so selten gelang. Nein, auch nicht diese Stimme, diesmal nicht.

Diesmal hörte er die Stimme des Ka-Ka wie der Wind. Er hatte so viel von jenem Jahr, als er vierzehn war, erzählt… aber er hatte die Geschichte nicht zu Ende erzählt. Wie bei Detta Walker und dem Teller für gut der Blauen Lady blieb noch eines übrig. Etwas Verborgenes. Die Frage war nicht, ob er sah, wie sie fünf den Weg aus dem Grünen Palast finden und auf dem Pfad des Balkens weiterziehen konnten; die Frage war, ob sie als Ka-Tet zusammenbleiben konnten oder nicht. Wenn sie das tun wollten, durfte nichts verborgen bleiben; er musste ihnen erzählen, wie er in jenem längst vergangenen Jahr zum letzten Mal in das Glas des Zauberers gesehen hatte. Drei Nächte nach dem Willkommensbankett war das gewesen. Er musste es ihnen erzählen…

Nein, Roland, flüsterte die Stimme. Nicht nur erzählen. Diesmal nicht. Du weißt es besser.

Ja. Er wusste es besser.

»Kommt«, sagte er und drehte sich zu seinen Gefährten um.

Sie fanden sich langsam um ihn herum ein, und das pulsierende rosa Licht der Kugel überstrahlte ihre großen Augen. Sie waren schon halb hypnotisiert davon, selbst Oy.

»Wir sind ka-tet«, sagte Roland und hielt ihnen die Kugel hin. »Wir sind eins aus vielen. Ich habe meine einzige wahre Liebe am Anfang meiner Suche nach dem Dunklen Turm verloren. Und nun schaut in dieses abscheuliche Ding, wenn ihr wollt, und seht, was ich nicht lange danach verloren habe. Seht es ein für alle Mal; seht es sehr wohl.«

Sie schauten hinein. Die Kugel in Rolands erhobenen Händen pulsierte schneller. Sog sie in sich hinein und trug sie fort. Im Griff des rosa Sturms gefangen, flogen sie über den Regenbogen des Zauberers in das Gilead von einst.