Kapitel 2
1
Sie kamen im Laufe des Vormittags zu den Schuhen. Dahinter stand, jetzt deutlicher zu sehen, der Glaspalast. Er leuchtete in einem schwachen Grünton, wie die Spiegelung eines Seerosenblatts in stillem Wasser. Leuchtende Tore befanden sich davor; rote Wimpel flatterten in einer leichten Brise auf den Türmen.
Die Schuhe waren ebenfalls rot.
Susannahs Eindruck, dass es sich um sechs Paar handelte, war verständlich, aber falsch – in Wirklichkeit waren es vier Paar und ein Quartett. Letzteres – vier dunkelrote Schühchen aus weichem Leder – war zweifellos für das vierfüßige Mitglied ihres Ka-Tet bestimmt. Roland hob einen davon auf und tastete im Inneren. Er wusste nicht, wie viele Bumbler je Schuhe getragen hatten, seit es die Welt gab, wäre aber jede Wette eingegangen, dass noch keiner jemals in den Genuss von seidengefütterten Lederschühchen gekommen war.
»Bally, Gucci, werdet blass vor Neid«, sagte Eddie. »Das ist erstklassige Ware.«
Die von Susannah waren am eindeutigsten zuzuordnen, aber nicht nur wegen der femininen, funkelnden Schnallen an den Seiten. Es waren gar keine Schuhe – sie waren eigens angefertigt worden, damit sie über ihre Beinstümpfe passten, die dicht unterhalb der Knie aufhörten.
»Schau sich einer das an«, sagte sie staunend und hielt einen hoch, damit die Sonne in einem der Bergkristalle funkeln konnte, mit denen sie geschmückt waren… wenn es sich denn um Bergkristalle handelte. Sie hatte den irren Verdacht, dass es möglicherweise echte Diamantsplitter sein konnten. »Käppchen. Nachdem ich vier Jahre ›in Umständen reduzierten Beinraums‹ leben musste, wie meine Freundin Cynthia zu sagen pflegt, habe ich endlich ein paar Käppchen bekommen. Das muss man sich mal vorstellen.«
»Käppchen«, staunte Eddie. »Nennt man sie so?«
»So nennt man sie, Süßer.«
Jake hatte knallrote Oxforder bekommen – abgesehen von der Farbe hätten sie geradezu perfekt in die gepflegten Klassenzimmer der Piper School gepasst. Er drückte einen zusammen und drehte ihn um. Die Sohle war hell und ohne Aufdruck. Kein Herstellerstempel, aber er hatte auch keinen erwartet. Sein Vater besaß rund ein Dutzend Paar teure handgefertigte Schuhe. Jake erkannte sie, wenn er sie sah.
Eddies Schuhe waren kurze Stiefel mit schrägen Absätzen im kubanischen Stil (Vielleicht nennt man sie in dieser Welt ja Mejis-Absätze, dachte er) und spitzen Kappen… damals, in einem anderen Leben, hatte man »Straßentreter« dazu gesagt. Kids Mitte der Sechzigerjahre – eine Zeit, die Odetta/Detta/Susannah knapp verpasst hatte – hätten sie vielleicht »Beatles-Stiefel« genannt.
Roland hatte natürlich ein Paar Cowboystiefel bekommen. Prunkstiefel, in denen man eher zum Tanzen als zum Viehtrieb ging. Ziernähte, Schmuckornamente an den Seiten, schmaler, hoher Rist. Er musterte sie, ohne sie aufzuheben, dann sah er seine Mitreisenden an und runzelte die Stirn. Sie sahen einander gleichzeitig an. Man würde sagen, dass drei Menschen das nicht können, nur ein Paar… aber das würde man nur sagen, wenn man nie Teil eines Ka-Tet gewesen war.
Roland teilte immer noch das Khef mit ihnen; er spürte den kräftigen Strom ihrer vereinten Gedanken, konnte sie aber nicht verstehen. Weil es aus ihrer Welt ist. Sie kommen aus verschiedenen Wanns dieser Welt, aber sie sehen hier etwas, was allen dreien gemeinsam ist.
»Was soll das?«, sagte er. »Was haben sie zu bedeuten, diese Schuhe?«
»Ich glaube nicht, dass das einer von uns so genau weiß«, sagte Susannah.
»Genau«, sagte Jake. »Das ist auch wieder so ein Rätsel.« Er betrachtete den unheimlichen blutroten Oxforder in seinen Händen mit Missfallen. »Wieder ein gottverdammtes Rätsel.«
»Erzählt, was ihr wisst.« Er sah wieder zum Glaspalast hinüber. Der Palast befand sich noch rund fünfzehn New Yorker Meilen entfernt und funkelte in dem klaren Tag so filigran wie ein Trugbild, aber so wirklich wie… nun, so wirklich wie Schuhe. »Bitte erzählt mir, was ihr über diese Schuhe wisst.«
»Ich hab Schuhe, du hast Schuhe, alle Kinner Gottes haben Schuhe«, sagte Odetta. »Das ist jedenfalls die herrschende Meinung.«
»Also«, sagte Eddie, »wir haben sie jedenfalls. Und du denkst, was ich denke, oder nicht?«
»Ich schätze, ja.«
»Und du, Jake?«
Statt mit Worten zu antworten, nahm Jake den anderen Oxforder (Roland zweifelte nicht daran, dass alle Schuhe, die von Oy eingeschlossen, tadellos passen würden) und schlug sie dreimal in rascher Folge gegeneinander. Roland sagte das nichts, aber Eddie und Susannah reagierten heftig, sahen sich um und schauten insbesondere zum Himmel, als würden sie erwarten, dass gleich ein Sturm aus dem klaren herbstlichen Sonnenschein herunterbrausen würde. Zuletzt sahen sie alle wieder zum Glaspalast… und dann einander an, mit diesem wissenden Blick in ihren runden Augen, bei dem Roland sie beide schütteln wollte, bis ihre Zähne klapperten. Aber er wartete. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig.
»Nachdem du Jonas getötet hast, hast du in die Kugel gesehen«, sagte Eddie und drehte sich zu ihm um.
»Ja.«
»Bist in der Kugel gereist.«
»Ja, aber ich will nicht noch einmal darüber reden; es hat nichts zu tun mit diesen…«
»Ich glaube doch«, sagte Eddie. »Du bist in einem rosa Sturm geflogen. Rosa Wirbelsturm könnte man sagen, richtig? Besonders, wenn man ein Rätsel stellen will.«
»Klar«, sagte Jake. Er hörte sich verträumt an, fast wie ein Junge, der im Schlaf vor sich hin plapperte. »Wann fliegt Dorothy über den Regenbogen des Zauberers? Wenn sie in einem Wirbelsturm ist.«
»Wir sind nicht mehr in Kansas, Schätzchen«, sagte Susannah und gab ein seltsames, humorloses Bellen von sich, bei dem es sich, wie Roland vermutete, um eine Art Lachen handeln sollte. »Sieht vielleicht ein bisschen danach aus, aber Kansas war nie so… ihr wisst schon, so schwach.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Roland. Aber ihm war kalt, und sein Herz schlug viel zu schnell. Inzwischen gab es überall Schwachstellen, hatte er das nicht zu ihnen gesagt? Welten, die miteinander verschmolzen, weil die Kraft des Turms nachließ? So, wie der Tag näher rückte, an dem die Rose untergepflügt werden würde?
»Du hast vieles gesehen, während du geflogen bist«, sagte Eddie. »Bevor du in das dunkle Land gekommen bist, das du Donnerschlag genannt hast, hast du vieles gesehen. Den Klavierspieler Sheb. Der später in deinem Leben wieder auftauchte, richtig?«
»Ja, in Tull.«
»Und den Grenzbewohner mit dem roten Haar.«
»Auch ihn. Er hatte einen Vogel namens Zoltan. Aber als wir uns begegneten, er und ich, sagten wir das Übliche. ›Leben für dich, Leben für deine Saat‹, so etwas. Ich dachte, ich hätte dasselbe gehört, als er in dem rosa Sturm an mir vorüberflog, aber in Wirklichkeit hat er etwas anderes gesagt.« Er sah Susannah an. »Deinen Rollstuhl habe ich auch gesehen. Den alten.«
»Und du hast die Hexe gesehen.«
»Ja. Ich…«
Mit einer krächzenden Stimme, die Roland beängstigend an Rhea erinnerte, rief Jake Chambers: »Ich krieg dich, meine Hübsche! Und deinen kleinen Hund auch!«
Roland sah ihn an und bemühte sich, den Mund nicht aufzuklappen.
»Aber in dem Film ist die Hexe nicht auf einem Besenstiel geritten«, sagte Jake. »Sie war auf ihrem Fahrrad, dem mit dem Korb hinten drauf.«
»Ja, und Ernteamulette gab’s auch keine«, sagte Eddie. »Wäre aber eine hübsche Idee gewesen. Ich kann dir sagen, Jake, als Kind hatte ich Albträume wegen ihrer Art zu lachen.«
»Mir haben die Affen Angst gemacht«, sagte Susannah. »Die Flügelaffen. Wenn ich an die gedacht habe, musste ich immer zu meiner Mama und meinem Dad ins Bett kriechen. Sie stritten immer noch darüber, wessen großartige Idee es gewesen war, mich in diesen Film mitzunehmen, wenn ich zwischen ihnen einschlief.«
»Ich habe keine Angst davor gehabt, die Absätze zusammenzuschlagen«, sagte Jake. »Kein bisschen.« Er sagte es zu Eddie und Susannah; im Augenblick war es, als wäre Roland gar nicht da. »Schließlich habe ich nicht die richtigen Schuhe dafür angehabt.«
»Stimmt«, sagte Susannah, die sich streng anhörte, »aber weißt du, was mein Daddy immer gesagt hat?«
»Nein, aber ich habe das Gefühl, wir werden es gleich herausfinden«, sagte Eddie.
Sie warf Eddie einen kurzen, strengen Blick zu, dann wandte sie sich wieder an Jake. ›»Pfeife nie nach dem Wind, wenn du nicht willst, dass er weht‹«, sagte sie. »Und das ist ein guter Rat, was immer unser junger Mister Sorglos hier auch denken mag.«
»Schon wieder gerüffelt«, sagte Eddie grinsend.
»Rüffel!«, sagte Oy und sah Eddie streng an.
»Erklärt es mir«, sagte Roland mit seiner sanftesten Stimme. »Ich möchte es hören. Ich möchte an eurem Khef teilhaben. Und ich möchte jetzt daran teilhaben.«
2
Sie erzählten ihm eine Geschichte, die fast jedes amerikanische Kind des 20. Jahrhunderts kannte: Von einem Farmermädchen aus Kansas namens Dorothy Gale, die von einem Wirbelsturm fortgetragen und zusammen mit ihrem Hund Toto im Lande Oz wieder abgesetzt worden war. Es gab zwar keine I-70 in Oz, aber es gab eine gelbe Ziegelsteinstraße, die demselben Zweck diente, und es gab Hexen, gute und böse. Es gab ein Ka-Tet, das aus Dorothy, Toto und drei Freunden bestand, die sie unterwegs kennen gelernt hatte: den feigen Löwen, den Blechholzfäller und die Vogelscheuche. Jeder hegte
(Vogel und Bär und Fisch und Hase)
einen sehnlichsten Wunsch, und mit dem von Dorothy konnten sich Rolands neue Freunde (und Roland selbst auch) am stärksten identifizieren: Sie wollte den Weg nach Hause finden.
»Die Munchkins haben ihr gesagt, dass sie der gelben Ziegelsteinstraße nach Oz folgen soll«, sagte Jake, »also ist sie gegangen. Unterwegs hat sie andere getroffen, so wie du uns, Roland…«
»Auch wenn du keine große Ähnlichkeit mit Judy Garland hast«, warf Eddie ein.
»… und schließlich gelangten sie dorthin. Nach Oz, in den Smaragdpalast und zu dem Burschen, der im Smaragdpalast wohnte.« Er sah wieder zu dem Glaspalast, der vor ihnen lag und im hellen Licht immer grüner und grüner wirkte, dann zu Roland.
»Ja, ich verstehe. Und war dieser Bursche, Oz, ein mächtiger Dinh? Ein Baron? Womöglich ein König?«
Wieder wechselten die drei einen Blick, von dem Roland ausgeschlossen blieb. »Das ist kompliziert«, sagte Jake. »Er war eine Art Humbug…«
»Ein Bumhug? Was ist das?«
»Humbug«, sagte Jake lachend. »Ein Blender. Nur Worte, keine Taten. Aber das Wichtigste ist vielleicht, in Wahrheit kam der Zauberer aus…«
»Zauberer?«, fragte Roland schneidend. Er packte Jake mit seiner verstümmelten rechten Hand an der Schulter. »Warum nennst du ihn so?«
»Weil das sein Titel war, Süßer«, sagte Susannah. »Der Zauberer von Oz.« Sie nahm Rolands Hand sanft, aber bestimmt von Jakes Schulter. »Lass ihn zu Ende erzählen. Es ist nicht nötig, dass du es aus ihm herausquetschst.«
»Habe ich dir wehgetan, Jake? Ich erflehe deine Verzeihung.«
»Ach was, alles in Ordnung«, sagte Jake. »Mach dir keine Gedanken. Also, Dorothy und ihre Freunde mussten viele Abenteuer bestehen, bis sie herausfanden, dass der Zauberer ein, du weißt schon, Bumhug war.« Jake kicherte mit auf die Stirn gepressten Händen und strich sein Haar zurück wie ein fünfjähriger Junge. »Er konnte dem Löwen keinen Mut, der Vogelscheuche keinen Verstand und dem Blechholzfäller kein Herz geben. Am schlimmsten war, er konnte Dorothy nicht nach Kansas zurückschicken. Der Zauberer hatte einen Ballon, ist aber ohne sie abgereist. Ich glaube nicht, dass das Absicht war, aber er hat es getan.«
»So, wie du die Geschichte erzählst«, sagte Roland äußerst bedächtig, »habe ich den Eindruck, dass Dorothys Freunde das, was sie wollten, die ganze Zeit über eigentlich schon hatten.«
»Das genau ist die Moral der Geschichte«, sagte Eddie. »Vielleicht das, was es zu einer so grandiosen Geschichte macht. Aber Dorothy saß trotzdem in Oz fest. Dann kam Glinda dazu. Glinda die Gute. Und als Belohnung dafür, dass sie eine der bösen Hexen unter ihrem Haus zerquetscht und eine andere geschmolzen hat, erzählte Glinda der kleinen Dorothy, wie sie die roten Schuhe benutzen musste. Die, welche Glinda ihr gegeben hatte.«
Eddie hob seine Straßentreter mit den kubanischen Absätzen hoch, die auf der unterbrochenen weißen Linie der I-70 für ihn liegen gelassen worden waren.
»Glinda erzählte Dorothy, dass sie die Absätze der roten Schuhe dreimal zusammenschlagen musste. Das würde sie nach Kansas zurückbringen, sagte sie. Und so war es dann auch.«
»Und das ist das Ende der Geschichte?«
»Na ja«, sagte Jake, »sie wurde so beliebt, dass der Mann, der sie geschrieben hat, noch tausend Geschichten von Oz dazu geschrieben hat…«
»Ja«, sagte Eddie. »So ziemlich alles, außer Glindas Fitnessprogramm für straffe Oberschenkel.«
»… und es gab da eine verrückte Neuverfilmung unter dem Titel The Wiz, in dem Schwarze mitgespielt haben…«
»Wirklich?«, fragte Susannah. Sie sah nachdenklich drein. »Was für eine eigenartige Vorstellung.«
»… aber die Einzige, die wirklich zählt, ist die mit Judy Garland, glaube ich«, beendete Jake seinen Satz.
Roland ging in die Hocke und schob die Hände in die Stiefel, die für ihn bereitstanden. Er hob sie hoch, betrachtete sie und stellte sie dann wieder ab. »Sollen wir sie anziehen, was meint ihr? Hier und jetzt?«
Die drei Freunde aus New York sahen einander zweifelnd an. Schließlich sprach Susan für sie alle, vermittelte ihm das Khef, das er spüren, aber an dem er selbst nicht richtig teilhaben konnte.
»Vielleicht nicht gleich jetzt. Hier sind zu viele böse Geister.«
»Takuro Spirits – Geister – sozusagen«, murmelte Eddie mehr zu sich. Dann sagte er: »Hört zu, nehmen wir sie einfach mit. Wann wir sie anziehen sollen, werden wir wissen, sobald der Zeitpunkt gekommen ist. Bis dahin sollten wir uns lieber vor Bumhugs hüten, die Geschenke bringen.«
Jake prustete vor Lachen, womit Eddie auch fest gerechnet hatte; manchmal setzte sich ein Wort oder ein Bild in der Lachdrüse fest und blieb eine Zeit lang dort. Morgen sagte das Wort »Bumhug« dem Jungen vielleicht nichts mehr; aber heute würde er jedes Mal darüber lachen, wenn er es hörte. Eddie hatte vor, es möglichst oft zu benutzen, besonders wenn der olle Jake nicht damit rechnete.
Sie nahmen die roten Schuhe, die auf der nach Osten führenden Fahrbahn für sie hingelegt worden waren (Jake nahm auch die von Oy), und gingen weiter auf den schimmernden Glaspalast zu.
Oz, dachte Roland. Er kramte in seinem Gedächtnis, glaubte aber nicht, dass es sich um einen Namen handelte, den er schon einmal gehört hatte, oder ein Wort der Hohen Sprache, das in Verkleidung daherkam, so wie Char in Charlie verkleidet gewesen war. Aber es hörte sich an, als würde es in diese Sache passen; es klang mehr nach seiner Welt als nach der, aus der Jake, Susannah und Eddie gekommen waren.
3
Jake ging davon aus, dass der Grüne Palast normal aussehen würde, wenn sie näher kamen, so wie die Attraktionen in Disney World normal aussahen, wenn man näher kam – nicht unbedingt gewöhnlich, aber normal, wie etwas, was so sehr Bestandteil der Welt war wie die Bushaltestelle an der Ecke oder ein Briefkasten oder eine Parkbank, etwas, was man berühren konnte, etwas, worauf man PIPER IST SCHEISSE schreiben konnte, wenn es einem in den Sinn kam.
Aber das passierte nicht, würde nicht passieren, und als sie sich dem Grünen Palast näherten, wurde Jake noch etwas klar: Es war das strahlendste, schönste Gebilde, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Dass er ihm nicht traute – und dem war so –, änderte nichts daran. Der Palast glich einer Illustration aus einem Märchenbuch, einer so vorzüglichen Illustration, dass sie irgendwie Wirklichkeit geworden war. Und er summte, genau wie die Schwachstelle… nur war dieses Geräusch leiser und nicht unangenehm.
Hellgrüne Mauern stiegen zu vorspringenden Zinnen und aufragenden Türmen empor, die fast die Wolken über der Ebene von Kansas zu berühren schienen. Diese Türme wurden von dunkleren, smaragdgrünen Nadeln gekrönt; an diesen flatterten die roten Wimpel. Auf jeden Wimpel war in Gelb das Symbol des offenen Auges
gemalt worden.
Das ist das Zeichen des Scharlachroten Königs, dachte Jake. In Wahrheit ist es sein Sigul, nicht das von John Farson. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf kam (wie sollte er auch, wo doch Alabamas Football-Mannschaft Crimson Tide das einzige scharlachrote Irgendwas war, das er kannte), aber er wusste es.
»Wie wunderschön«, murmelte Susannah, und als Jake sie ansah, dachte er, dass sie beinahe weinte. »Aber irgendwie nicht nett. Nicht richtig. Vielleicht nicht durch und durch schlecht, so wie die Schwachstelle, aber…«
»Aber nicht nett«, sagte Eddie. »Yeah. Das passt. Vielleicht kein rotes Ampellicht, aber auf jeden Fall ein leuchtend gelbes.« Er rieb sich das Gesicht an der Seite (eine Geste, die er von Roland übernommen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein) und sah verwirrt drein. »Es scheint fast nicht ernst gemeint zu sein – wie ein Streich.«
»Ich bezweifle, dass es ein Streich ist«, sagte Roland. »Glaubt ihr, es ist eine Kopie des Palastes, wo Dorothy und ihr Ka-Tet dem falschen Zauberer begegnet sind?«
Wieder schienen die drei ehemaligen New Yorker einen vielsagenden Blick zu wechseln. Als sie das getan hatten, sprach Eddie für sie alle. »Ja. Ja, schon möglich. Es ist nicht derselbe wie in dem Film, aber wenn dieses Ding aus unseren Köpfen stammt, kann es das auch nicht sein. Weil wir auch den Palast aus L. Frank Baums Buch sehen. Von den Illustrationen in dem Buch…«
»Und denen in unserer Phantasie«, sagte Jake.
»Aber er ist es«, sagte Susannah. »Ich würde sagen, wir sind definitiv auf dem Weg zum Zauberer.«
»Jede Wette«, sagte Eddie. »Because-because-because-because-because…«
»Because of the wonderful things he does!«, sangen Jake und Susannah wie aus einem Mund und lachten entzückt, während Roland sie stirnrunzelnd ansah, verwirrt war und sich ausgeschlossen fühlte.
»Aber ich muss euch Leuten sagen«, sagte Eddie, »dass nur noch ein einziges Wunder erforderlich ist, mich auf die dunkle Seite des Psychomonds zu schicken. Und das wahrscheinlich für immer.«
4
Als sie näher kamen, konnten sie sehen, wie die Interstate 70 in die blassgrünen Tiefen der leicht gerundeten Außenmauer des Schlosses hineinführte; dort schwebte sie wie eine optische Täuschung. Noch näher, und sie konnten die Wimpel in der Brise peitschen hören und ihre eigenen flimmernden Spiegelbilder sehen, Ertrunkenen gleich, die irgendwie auf dem Grund nasser tropischer Gräber wandelten.
Es gab im Inneren eine Redoute aus dunkelblauem Glas – eine Farbe, die Jake mit den Fässchen assoziierte, in denen Füllfedertinte verkauft wurde – und einen rostbraunen Steg zwischen der Redoute und der Außenmauer. Diese Farbe erinnerte Susannah an die Flaschen, in denen das Rootbeer der Marke »Hires« verkauft wurde, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Der Weg hinein wurde durch ein Tor versperrt, das riesig und ätherisch zugleich war: Es sah aus wie Schmiedeeisen, das sich in Glas verwandelt hatte. Jede kunstvoll gefertigte Strebe erstrahlte in einer anderen Farbe, und diese Farben schienen alle aus dem Inneren zu kommen, so als wären die Streben mit einem leuchtenden Gas oder einer Flüssigkeit gefüllt.
Die Reisenden blieben davor stehen. Von dem Highway war auf der anderen Seite nichts mehr zu sehen; wo die Straße hätte weiterführen müssen, befand sich stattdessen ein Innenhof aus silbernem Glas – ein riesiger flacher Spiegel. Wolken schwebten heiter durch dessen Tiefen; ebenso vereinzelte kreisende Vögel. Die Sonne spiegelte sich in dem gläsernen Hof, und ihr Licht lief wellenförmig die grünen Wände hinauf. Auf der anderen Seite stieg die Wand der Redoute des Palastes zu einer funkelnden grünen Klippe an, die von schmalen Bullaugenfenstern aus pechschwarzem Glas unterbrochen wurde. In dieser Wand gab es auch einen bogenförmigen Eingang, der Jake an die St. Patricks Cathedral erinnerte.
Links des Haupteingangs befand sich ein Wachhäuschen aus beige, von dunstigen orangefarbenen Fäden durchzogenem Glas. Die mit roten Streifen bemalte Tür stand offen. Das Innere, nicht größer als eine Telefonzelle, war leer, aber auf dem Boden lag etwas, was für Jake wie eine Zeitung aussah.
Über dem Eingangstor befanden sich zwei geduckte, lauernde Wasserspeier aus dunkelviolettem Glas und bewachten die dunkle Öffnung. Ihre spitzen Zungen ragten wie Beulen aus den Mäulern.
Die Banner auf den Türmen flatterten wie Flaggen auf einem Schulhof.
Krähen keiften über kargen Getreidefeldern; Ernte lag jetzt eine Woche zurück.
In der Ferne heulte und wimmerte die Schwachstelle.
»Seht euch die Streben vom Tor an«, sagte Susannah. Sie hörte sich atemlos und ehrfürchtig an. »Seht sie euch genau an.«
Jake beugte sich über eine gelbe Strebe, bis er fast mit der Nase dagegenstieß und ein blassgelber Streifen mitten über sein Gesicht fiel. Zuerst sah er nichts, dann keuchte er auf. Was er für Sonnenstäubchen gehalten hatte, waren Lebewesen – Lebewesen, die in der Stange eingeschlossen waren und in winzigen Schwärmen darin herumschwammen. Sie sahen aus wie Fische in einem Aquarium, aber wirkten (ihre Köpfe, dachte Jake, ich glaube, es liegt hauptsächlich an ihren Köpfen) auf beunruhigende Weise auch menschlich. Als würde er, überlegte Jake, in ein senkrechtes goldenes Meer blicken, der ganze Ozean in einem einzigen Glasstab – in dem lebende Mythenwesen schwammen, nicht größer als Staubkörnchen. Eine winzige Frau mit einer Schwanzflosse wie der eines Fisches und langem blondem Haar schwamm zur Glaswand, um den riesigen Jungen zu betrachten (ihre erstaunten Augen waren rund und wunderschön), dann schoss sie wieder davon.
Jake fühlte sich plötzlich schwindlig und schwach. Er schloss die Augen, bis das Schwindelgefühl sich gelegt hatte, dann schlug er sie wieder auf und drehte sich zu den anderen um. »Heiliger Strohsack! Sind die alle so?«
»Alle verschieden, glaube ich«, sagte Eddie, der bereits in zwei, drei andere hineingesehen hatte. Er beugte sich dicht über den purpurnen Stab, und seine Wangen leuchteten auf wie im Glanz eines uralten Röntgenbildschirms. »Die hier sehen wie Vögel aus – wie winzige Vögel.«
Jake sah hinein und stellte fest, dass Eddie Recht hatte: In dem purpurnen Stab des Tors befanden sich Schwärme von Vögeln, die nicht größer als Mücken waren. Sie flatterten fröhlich in ihrer ewigen Dämmerung umher, über- und untereinander hindurch, wobei ihre Schwingen winzige Silberspuren von Bläschen hinterließen.
»Sind sie wirklich da?«, sagte Jake atemlos. »Sind sie da, Roland, oder bilden wir sie uns nur ein?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, womit dieses Tor Ähnlichkeit haben soll.«
»Ich auch«, sagte Eddie. Er betrachtete die leuchtenden Stäbe, jeder mit einer eigenen eingeschlossenen Säule aus Licht und Leben. Jeder Torflügel bestand aus sechs bunten Streben. Die in der Mitte – breit und flach statt rund –, die sich teilte, wenn das Tor geöffnet wurde, war die dreizehnte. Diese mittlere Strebe war pechschwarz; in ihr bewegte sich nichts.
Oh, man kann es vielleicht nicht sehen, aber es bewegt sich durchaus etwas darin, dachte Jake. Es ist Leben darin, schreckliches Leben. Und vielleicht sind auch Rosen darin. Ertrunkene Rosen.
»Das ist ein Tor eines Zauberers«, sagte Eddie. »Jede Stange ist so gemacht, dass sie einer der Kugeln von Maerlyns Regenbogen gleicht. Seht, hier ist eine rosafarbene.«
Jake stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und beugte sich darüber. Er wusste, was darin sein würde, noch ehe er es sah: Pferde, ’ne ganze Herde. Winzige Herden, die durch die seltsame rosa Masse galoppierten, bei der es sich weder um Licht noch um Flüssigkeit handelte. Vielleicht Pferde auf der Suche nach einer Schräge, die sie niemals finden würden.
Eddie streckte die Hände aus, um die mittlere Strebe zu berühren, die schwarze.
»Nicht!«, rief Susannah schneidend.
Eddie achtete nicht auf sie, aber Jake sah, wie er kurz den Atem anhielt und die Lippen zusammenkniff, als er die Hände um die schwarze Stange legte, so als würde er etwas erwarten – möglicherweise eine Kraft, die per Eilboten vom Dunklen Turm selbst hergeschickt wurde, um ihn zu verwandeln oder ihn tot umfallen zu lassen. Als nichts geschah, atmete Eddie wieder tief durch und lächelte verhalten. »Keine Elektrizität, aber…« Er zog; das Tor gab nicht nach. »… auch keine Möglichkeit, es zu öffnen. Ich kann den Spalt in der Mitte erkennen, aber es geht nicht auf. Willst du es mal probieren, Roland?«
Roland griff nach dem Tor, aber Jake legte ihm eine Hand auf den Arm, bevor der Revolvermann auch nur mehr als probeweise daran rütteln konnte. »Lass gut sein. Das ist nicht der Weg.«
»Was dann?«
Statt zu antworten, setzte sich Jake vor das Tor, nicht weit von der Stelle entfernt, wo diese seltsame Version der I-70 aufhörte, und zog die Schuhe an, die für ihn liegen gelassen worden waren. Eddie betrachtete ihn, dann setzte er sich neben ihn. »Ich finde auch, dass wir es versuchen sollten«, sagte er zu Jake, »obwohl es sich wahrscheinlich auch als ein Bumhug entpuppen wird.«
Jake lachte, schüttelte den Kopf und band die Schnürsenkel der blutroten Oxforder zu. Er und Eddie wussten beide, dass es kein Bumhug sein würde. Diesmal nicht.
5
»Okay«, sagte Jake, nachdem sie alle ihre roten Schuhe angezogen hatten (er fand, dass sie ausgesprochen albern aussahen, besonders Eddies Paar). »Ich zähle bis drei, dann schlagen wir alle die Hacken zusammen. So.« Er schlug die Oxforder einmal fest zusammen… worauf das Tor wie ein nachlässig befestigter Fensterladen bei starkem Wind erbebte. Susannah schrie auf. Es folgte ein leiser, angenehmer Glockenklang aus der Richtung des Grünen Palasts, so als hätten die Mauern selbst vibriert.
»Damit werden wir das Ding wohl aufkriegen«, sagte Eddie. »Aber ich warne dich. Ich werde keinesfalls ›Somewhere Over the Rainbow‹ dabei singen. Das steht nicht in meinem Vertrag.«
»Der Regenbogen ist hier«, sagte der Revolvermann leise und streckte seine verstümmelte Hand zum Tor aus.
Die Geste wischte das Lächeln von Eddies Gesicht. »Yeah, ich weiß. Ich habe nur ein bisschen Angst, Roland.«
»Ich auch«, sagte der Revolvermann, und Jake fand tatsächlich, dass Roland blass und elend aussah.
»Los, Schätzchen«, sagte Susannah. »Zähl, bevor uns alle der Mut verlässt.«
»Eins… zwei… drei.«
Sie schlugen die Absätze feierlich und im Gleichklang zusammen: klack, klack, klack. Das Tor erbebte diesmal noch heftiger, und die Farben der senkrechten Streben wurden sichtlich heller. Der Glockenklang, der nun folgte, war höher, lieblicher als der zuvor – der Klang eines kostbaren Kristallglases, an das jemand das Heft eines Messers tippte. Das Echo der traumhaften Harmonien brachte Jake zum Erbeben – halb vor Freude und halb vor Schmerzen.
Aber das Tor ging nicht auf.
»Was…«, begann Eddie.
»Ich weiß«, sagte Jake. »Wir haben Oy vergessen.«
»O Gott«, sagte Eddie. »Ich habe die Welt verlassen, die ich kannte, um einem Jungen dabei zuzusehen, wie er versucht, einem verkorksten Wiesel Pantoffeln anzuziehen. Erschieß mich, Roland, bevor ich mich fortpflanzen kann.«
Roland beachtete ihn nicht, sondern sah nur Jake an. Der Junge setzte sich auf den Highway und rief: »Oy! Zu mir!«
Der Bumbler kam bereitwillig herbei, und obwohl er mit Sicherheit ein gänzlich wildes Tier gewesen war, bevor sie ihn auf dem Pfad des Balkens getroffen hatten, ließ er sich nun die roten Lederschuhe von Jake über die Pfoten streifen, ohne Ärger zu machen. Nachdem er begriffen hatte, was vor sich ging, schlüpfte er sogar von sich aus in die beiden letzten. Nachdem er alle vier an den Pfoten hatte (die Schühchen hatten von allen irgendwie die größte Ähnlichkeit mit Dorothys roten Schuhen in dem Film), schnupperte Oy an einem und sah dann aufmerksam zu Jake.
Jake schlug dreimal die Absätze zusammen und sah dabei den Bumbler an, ohne das Rasseln des Tors und den leisen Glockenklang von den Wänden des grünen Palasts zu beachten.
»Du, Oy!«
»Oy!«
Er wälzte sich auf den Rücken wie ein Hund, der sich tot stellte, dann betrachtete er die eigenen Füße mit einer Art angewiderter Bestürzung. Als Jake ihn so sah, überkam ihn eine deutliche Erinnerung: wie er versuchte, sich gleichzeitig den Kopf zu tätscheln und den Bauch zu reiben, und sein Vater sich über ihn lustig machte, weil Jake es nicht gleich hinbrachte.
»Roland, hilf mir. Er weiß wohl, was er tun soll, aber nicht, wie.« Jake sah zu Eddie auf. »Und keine klugen Bemerkungen, ja?«
»Nein«, sagte Eddie. »Keine klugen Bemerkungen, Jake. Glaubst du, diesmal muss es nur Oy machen, oder ist es immer noch ein Gruppending?«
»Nur er, glaube ich.«
»Aber es könnte nicht schaden, wenn wir trotzdem zusammen mit Mitch klacken«, sagte Susannah.
»Mitch wer?«, fragte Eddie und sah sie verständnislos an.
»Vergiss es. Los, Jake, Roland. Zählt wieder vor.«
Eddie nahm Oys Vorderpfoten, Roland hielt den Bumbler behutsam an den Hinterpfoten. Oy betrachtete das Ganze misstrauisch – als würde er damit rechnen, gleich mit einem Hauruck in die Luft geworfen zu werden –, wehrte sich aber nicht.
»Eins, zwei, drei.«
Jake und Roland schlugen behutsam Oys Vorder- und Hinterpfoten zusammen. Gleichzeitig klackten sie mit den Absätzen ihrer eigenen Fußbekleidung. Eddie und Susannah ebenfalls.
Diesmal bestand der harmonische Klang aus einem tiefen, lieblichen Bong, wie von einer Kirchenglocke aus Glas. Die schwarze Mittelstrebe des Tors teilte sich nicht etwa nur, sondern zersprang buchstäblich; Obsidianscherben flogen in alle Richtungen. Manche prasselten auf Oys Fell. Er sprang hastig auf, befreite sich aus Jakes und Rolands Griff und lief ein Stück weg. Er setzte sich auf die unterbrochene weiße Linie zwischen der rechten und der Überholspur des Highways, legte die Ohren an, betrachtete das Tor und hechelte.
»Kommt«, sagte Roland. Er ging zum linken Flügel des Tors und stieß ihn langsam auf. Er stand am Rand des spiegelnden Innenhofs, ein großer, schlaksiger Mann in Viehtreiberjeans, einem uralten Hemd von undefinierbarer Farbe und unglaublichen roten Cowboystiefeln. »Gehen wir rein und sehen nach, was der Zauberer von Oz selbst zu sagen hat.«
»Wenn er noch da ist«, sagte Eddie.
»Oh, ich glaube, er ist da«, sagte Roland. »Ja, ich glaube, er ist da.«
Er ging langsam zum Haupttor mit dem leeren Wachhäuschen daneben. Die anderen folgten ihm; an den roten Schuhen verschmolzen sie mit ihren nach unten fallenden Spiegelbildern wie siamesische Zwillinge.
Oy kam zuletzt. Er stakste zaghaft mit seinen roten Schuhen dahin und blieb dann noch einmal stehen, um an der Spiegelung seiner Schnauze zu schnuppern.
»Oy!«, rief er dem Bumbler zu, der unter ihm schwebte, dann eilte er Jake hinterher.