Kapitel 3

EINE PARTIE KASTELL

 

1

 

Es folgte eine Woche mit Wetter, bei dem sich die Leute für gewöhnlich nach dem Mittagessen wieder in die Betten verkrochen, lange Nickerchen hielten und sich benommen und verwirrt fühlten, wenn sie aufwachten. Es goss nicht gerade in Strömen, aber es machte die letzte Phase der Apfelernte gefährlich (es kam zu mehreren Beinbrüchen, und auf der Plantage Seven-Mile fiel eine junge Frau von der Leiter und brach sich das Rückgrat), und es wurde schwieriger, der Arbeit auf den Kartoffeläckern nachzugehen; es kostete fast so viel Zeit, die Wagen herauszuziehen, die in Schlammlöchern stecken geblieben waren, wie das tatsächliche Einsammeln der Kartoffeln. Im Green-Heart-Park wurden die Dekorationen für den Erntejahrmarkt pitschnass und mussten abgenommen werden. Die freiwilligen Helfer warteten mit zunehmender Unruhe darauf, dass das Wetter besser wurde, damit sie wieder anfangen konnten.

Es war ein ungünstiges Wetter für junge Männer, deren Aufgabe es war, Inventur zu machen, obwohl sie endlich damit anfangen konnten, Scheunen zu besuchen und das Vieh zu zählen. Es war ein günstiges Wetter für einen jungen Mann und eine junge Frau, die gerade die Freuden der körperlichen Liebe entdeckt hatten, könnte man sagen, aber Roland und Susan sahen sich nur zweimal während dieser Schlechtwetterperiode. Die Gefahr, die von dem, was sie da taten, ausging, war inzwischen fast spürbar.

Das eine Mal trafen sie sich in einem leer stehenden Bootshaus an der Küstenstraße. Das andere Mal in der hintersten Ecke des verfallenen Gebäudes im Osten unterhalb des Citgo-Geländes – sie liebten sich mit verzweifelter Inbrunst auf einer von Rolands Satteldecken, die er auf dem Boden der einstigen Kantine der Ölraffinerie ausgebreitet hatte. Als Susan ihren Höhepunkt hatte, schrie sie immer wieder seinen Namen. Aufgeschreckte Tauben flatterten in den alten, schattigen Räumen und verfallenden Fluren mit dem sanften Donner ihres Flügelschlags umher.

 

 

2

 

Als es gerade den Anschein hatte, als würde der Nieselregen nie aufhören und das Heulen der Schwachstelle in der stehenden Luft alle in Hambry wahnsinnig machen, wehte ein starker Wind – fast ein Sturm – vom Meer herein und vertrieb die Wolken. Die Stadt erwachte eines Morgens unter einem Himmel wie blauer Stahl und einer Sonne, die die Bucht am Morgen in Gold und am Abend in weißes Feuer verwandelte. Das Gefühl der Lethargie war dahin. Auf den Kartoffeläckern wurden die Wagen mit frischer Tatkraft geschoben. Im Green Heart machte sich eine ganze Armee Frauen daran, die Bühne mit Blumen zu schmücken, auf der Jamie McCann und Susan Delgado dieses Jahr zum Erntejüngling und Erntemädchen gekürt werden sollten.

Auf dem Abschnitt der Schräge, der am dichtesten beim Haus des Bürgermeisters lag, ritten Roland, Cuthbert und Alain mit neuer Entschlossenheit dahin und zählten die Pferde, die das Brandzeichen der Baronie auf den Flanken trugen. Der strahlende Himmel und der frische Wind erfüllten sie mit Energie und guter Laune, und ein paar Tage lang – drei oder vielleicht vier – galoppierten sie johlend, brüllend und lachend in alter Freundschaft hintereinander her.

An einem dieser klaren und strahlenden Tage kam Eldred Jonas aus dem Büro des Sheriffs und ging die Hill Street hinauf in Richtung Green Heart. Heute Morgen hatte er weder Reynolds noch Depape am Hals – sie waren gemeinsam zum Hanging Rock geritten, um nach Latigos Vorhut Ausschau zu halten, die jetzt jeden Tag auftauchen musste –, und Jonas’ Pläne waren simpel: Er wollte ein Glas Bier im Pavillon trinken und den Vorbereitungen dort zuschauen: dem Ausheben der Feuergruben, über denen sich die Bratspieße drehen würden, dem Aufschichten der Scheite für das Freudenfeuer, den erbitterten Auseinandersetzungen darüber, wie die Kracher anzubringen seien, die den Auftakt für das Feuerwerk bilden sollten, den Damen, die die Bühne mit Blumen ausschmückten, wo der diesjährige Jüngling und das Mädchen die Huldigung der Stadt entgegennehmen sollten. Vielleicht, überlegte Jonas, würde er sich ja eines der hübschen Blumenmädchen auf ein Schäferstündchen mitnehmen. Die Wartung der Saloonhuren überließ er ausschließlich Roy und Clay, aber ein knuspriges junges Blumenmädchen um die siebzehn, das war etwas anderes.

Die Schmerzen in seiner Hüfte waren mit dem feuchten Wetter verschwunden; seine gequälte, schlurfende Gangart der vergangenen Woche wieder zu einem bloßen Hinken geworden. Vielleicht würden ein, zwei Biere im Freien ja genügen, aber der Gedanke an ein Mädchen ging ihm nicht aus dem Sinn. Jung, mit reiner Haut und festen Brüsten. Frischem, süßem Atem. Frischen, süßen Lippen…

»Mr. Jonas? Eldred?«

Er drehte sich lächelnd zu der Stimme um. Kein Blumenmädchen mit einer Haut wie Tau, großen Augen und feuchten, leicht geöffneten Lippen stand da, sondern eine magere Frau jenseits der Lebensmitte – flacher Busen, flacher Hintern, verkniffene blasse Lippen und das Haar so straff an den Kopf gespannt, dass es fast schrie. Nur die großen Augen entsprachen seinem Tagtraum. Ich glaube, ich habe eine Eroberung gemacht, dachte Jonas höhnisch.

»Ach, Cordelia!«, sagte er und nahm eine ihrer Hände zwischen die seinen. »Wie bezaubernd Sie heute Morgen aussehen!«

Ihre Wangen bekamen etwas Farbe, und sie lachte zaghaft. Einen Augenblick lang schien sie fünfundvierzig zu sein, nicht sechzig. Dabei dürfte sie noch gar nicht sechzig sein, dachte Jonas. Die Fältchen um ihren Mund und die Schatten unter ihren Augen… die sind erst neueren Datums.

»Ihr seid zu freundlich«, sagte sie, »aber ich weiß es besser. Ich habe kaum geschlafen, und wenn Frauen in meinem Alter nicht schlafen, altern sie zu schnell.«

»Es tut mir Leid zu hören, dass Sie schlecht schlafen«, sagte er. »Aber jetzt, nach dem Wetterumschwung, wird es vielleicht…«

»Es liegt nicht am Wetter. Könnte ich mit Euch reden, Eldred? Ich habe gründlich nachgedacht, und Ihr seid der Einzige, den ich um Rat zu bitten wage.«

Sein Lächeln wurde noch breiter. Er führte ihre Hand unter seinem Arm hindurch und bedeckte sie mit seiner anderen. Nun glich ihre Röte einem Feuer. Mit dem vielen Blut im Kopf redete sie vielleicht stundenlang. Und Jonas hatte eine Ahnung, dass jedes einzelne Wort interessant sein würde.

 

 

3

 

Bei Frauen eines gewissen Alters wirkte Tee weitaus besser als Wein, wenn es darum ging, ihnen die Zunge zu lösen. Jonas hatte seine Pläne für ein Bier (und vielleicht ein Blumenmädchen) aufgegeben, ohne auch nur noch einen Gedanken daran zu verschwenden. Er nahm mit Sai Delgado in einer sonnigen Ecke des Green-Heart-Pavillons Platz (nicht weit von einem roten Stein entfernt, den Roland und Susan nur zu gut kannten) und bestellte eine große Kanne Tee und dazu Kuchen. Sie betrachteten das Treiben, mit dem die Vorbereitungen für den Erntetag vonstatten gingen, während sie auf ihre Bestellung warteten. Hämmern und Sägen und Rufe und Gelächter hallten durch den sonnigen Park.

»Alle Jahrmärkte sind schön, aber der zu Ernte macht uns alle wieder zu Kindern, findet Ihr nicht auch?«, fragte Cordelia.

»Ja, gewiss«, sagte Jonas, der sich nicht einmal wie ein Kind gefühlt hatte, als er noch eines gewesen war.

»Am besten gefällt mir immer noch das Freudenfeuer«, sagte sie und sah zu dem großen Scheiterhaufen aus Stöcken und Brettern hinüber, der am anderen Ende des Parks aufgeschichtet wurde, in der Ecke schräg gegenüber der Bühne. Er sah wie ein riesiges hölzernes Tipi aus. »Ich mag es, wenn die Leute aus der Stadt ihre ausgestopften Puppen bringen und hineinwerfen. Barbarisch, aber ich bekomme dabei immer so ein angenehmes Erschauern.«

»Aye«, sagte Jonas und fragte sich, ob sie auch so ein angenehmes Erschauern verspüren würde, wenn sie wüsste, dass drei der ausgestopften Burschen, die in diesem Jahr auf das Freudenfeuer geworfen werden würden, wie gegrilltes Schweinefleisch riechen und wie Harpyien schreien würden, während sie verbrannten. Wenn er großes Glück hatte, würde der mit den blassblauen Augen derjenige sein, der am längsten schrie.

Tee und Kuchen wurden gebracht, aber Jonas würdigte die volle Brust des Mädchens keines Blickes, als es sich zum Servieren herunterbeugte. Er hatte nur Augen für die faszinierende Sai Delgado mit ihren nervösen, zappeligen Bewegungen und dem seltsamen, verzweifelten Gesichtsausdruck.

Nachdem das Mädchen gegangen war, schenkte er ein, stellte die Kanne auf das Stövchen und bedeckte dann ihre Hand mit seiner. »Nun ja, Cordelia«, sagte er mit seiner wärmsten Stimme. »Ich kann sehen, dass etwas Sie quält. Heraus damit. Sagen Sie es Ihrem Freund Eldred.«

Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass diese fast verschwanden, aber nicht einmal diese Anstrengung konnte verhindern, dass sie bebten. Tränen traten ihr in die Augen, flossen über. Er nahm seine Serviette, beugte sich über den Tisch und wischte ihr die Tränen ab.

»Sagen Sie es mir«, bat er zärtlich.

»Das werde ich. Ich muss mit jemandem darüber sprechen, sonst werde ich verrückt. Aber Ihr müsst mir eines versprechen, Eldred.«

»Gewiss, schöne Frau.« Er sah, wie sie bei diesem harmlosen Kompliment heftiger denn je errötete. »Alles.«

»Ihr dürft Hart nichts erzählen. Und auch nicht dieser abscheulichen Spinne von einem Kanzler, aber auf gar keinen Fall dem Bürgermeister. Wenn ich Recht habe mit meiner Vermutung und er davon erfährt, könnte er sie nach Westen schicken!« Und den nächsten Satz brachte sie fast stöhnend vor, so als würde ihr der wahre Sachverhalt gerade zum ersten Mal klar werden. »Er könnte uns beide nach Westen schicken!«

Jonas wahrte sein teilnahmsvolles Lächeln und sagte: »Kein Wort zu Bürgermeister Thorin, kein Wort zu Kimba Rimer. Versprochen.«

Einen Augenblick glaubte er, sie würde den Sprung nicht wagen… oder doch nicht fertig bringen. Dann aber sagte sie mit einer leisen, seufzenden Stimme, die sich anhörte, als würde Stoff reißen, nur ein einziges Wort: »Dearborn.«

Er spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, als sie den Namen aussprach, der ihn die ganze Zeit so sehr beschäftigte, und obwohl er weiterhin lächelte, konnte er nicht verhindern, dass er ihre Finger kurz und schmerzhaft zusammendrückte, bis sie das Gesicht verzog.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Sie haben mich nur etwas erschreckt. Dearborn… ein gut beleumdeter Bursche, obwohl ich mich frage, ob man ihm voll und ganz vertrauen kann.«

»Ich fürchte, er war mit meiner Susan zusammen.« Nun war sie diejenige, die seine Hand drückte, aber das störte Jonas nicht. Er spürte es kaum. Er lächelte nach wie vor und hoffte, dass er nicht so verblüfft aussah, wie er sich fühlte. »Ich fürchte, er war mit ihr zusammen… wie ein Mann mit einer Frau. Oh, das ist so schrecklich!«

Sie weinte in stummer Verbitterung, sah sich dabei aber ständig mit verstohlenen Blicken um, ob sie auch nicht beobachtet wurden. Jonas hatte gesehen, wie Kojoten und wilde Hunde auf dieselbe Weise von ihren stinkenden Mahlzeiten aufgesehen hatten. Er ließ sie sich ausweinen, so gut er konnte – er wollte, dass sie sich beruhigte; es würde ihm nichts nützen, wenn sie zusammenhanglos herumstammelte –, und als er sah, dass ihre Tränen nachließen, hielt er ihr eine Tasse Tee hin. »Trinken Sie das.«

»Ja. Danke.« Der Tee war noch so heiß, dass er dampfte, aber sie trank ihn gierig. Ihre alte Kehle muss mit Schiefer ausgekleidet sein, dachte Jonas. Sie stellte die Tasse hin, und während er ihr nachschenkte, wischte sie sich mit ihrem spitzengesäumten pañuelo fast verbissen die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich mag ihn nicht«, sagte sie. »Ich mag ihn nicht, und ich traue ihm nicht, keinem von den dreien aus Innerwelt, mit ihren koketten Verbeugungen und ihren anmaßenden Blicken und ihrer seltsamen Sprechweise, aber ihm ganz besonders nicht. Aber falls irgendetwas Ungebührliches zwischen den beiden passiert ist (und ich fürchte, es ist so), dann fällt es auf sie zurück, oder nicht? Immerhin ist es die Frau, nicht wahr, die den tierischen Neigungen widerstehen muss.«

Er beugte sich über den Tisch und sah sie voll aufrichtigen Mitgefühls an. »Erzählen Sie mir alles, Cordelia.«

Und das tat sie.

 

 

4

 

Rhea mochte eigentlich alles an der Glaskugel, aber was ihr besonders daran gefiel, war die Tatsache, dass sie die Menschen unfehlbar in ihrer ganzen Niedertracht zeigte. Kein einziges Mal hatte Rhea in den rosa Tiefen ein Kind gesehen, das ein anderes nach einem Sturz tröstete, einen müden Mann, der den Kopf in den Schoß seiner Frau gebettet hatte, oder alte Leute, die am Ende eines langen Tages friedlich zusammen aßen; das alles, schien es, barg für die Glaskugel ebenso wenig Interesse wie für Rhea selbst.

Stattdessen hatte sie Inzest gesehen, Mütter, die ihre Kinder, Ehemänner, die ihre Frauen schlugen. Sie hatte eine Bande Jungen westlich der Stadt gesehen (Rhea wäre amüsiert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass diese großspurigen Achtjährigen sich die Großen Sargjäger nannten), die streunende Hunde mit einem Knochen anlockten und ihnen dann aus Jux und Tollerei die Schwänze abschnitten. Sie hatte Einbrüche und mindestens einen Mord gesehen: Ein Wanderer hatte seinen Gefährten im Streit um eine unbedeutende Kleinigkeit mit einer Heugabel erstochen. Das war in der ersten Nacht des Nieselregens gewesen. Die Leiche lag immer noch verwesend in einem Graben der Großen Straße nach Westen, mit einer Schicht Stroh und Unkraut bedeckt. Vielleicht wurde sie entdeckt, bevor die Herbstunwetter ein weiteres Jahr ertränkten; vielleicht auch nicht.

Sie sah auch, dass Cordelia Delgado und das Raubein Jonas im Green Heart an einem der Tische im Freien saßen und sich unterhielten… worüber, nun, das wusste sie natürlich nicht, nein. Aber sie sah den Ausdruck in den Augen der alten Jungfer. Verknallt in ihn, das war sie, und ganz rosa im Gesicht. Völlig in Hitze und außer sich wegen eines Heckenschützen und gescheiterten Revolvermanns. Das war komisch, aye, und Rhea überlegte sich, von nun an ab und zu auch ein Auge auf die beiden zu werfen. Sähr unterhaltsam würde das wahrscheinlich sein.

Nachdem die Glaskugel ihr Cordelia und Jonas gezeigt hatte, hüllte sie sich wieder in Schleier. Rhea legte sie in die Kiste mit dem Auge am Schloss zurück. Als sie Cordelia in dem Glas gesehen hatte, war ihr eingefallen, dass sie ja noch ein Hühnchen mit Cordelias verbuhlter Nichte zu rupfen hatte. Dass Rhea das noch nicht erledigt hatte, war komisch, aber verständlich – kaum hatte sie gewusst, wie sie der jungen Sai am Zeug flicken konnte, hatten sich Rheas Geist und ihre Gefühle wieder so weit beruhigt, dass die Bilder in der Glaskugel erneut zum Vorschein kamen, und in ihrer Faszination darüber hatte Rhea vorübergehend vergessen, dass Susan Delgado überhaupt existierte. Nun jedoch erinnerte sie sich wieder an ihren Plan. Die Katze in den Taubenschlag setzen. Und da sie gerade von Katzen sprach…

»Musty! Juhu, Musty, wo steckst du?«

Die Katze kam aus dem Holzstapel geschlichen, und ihre Augen leuchteten im schmutzigen Dunkel der Hütte (als das Wetter wieder schöner wurde, hatte Rhea die Läden geschlossen). Sie wedelte mit dem geteilten Schwanz und sprang auf Rheas Schoß.

»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte Rhea und bückte sich, um die Katze zu lecken. Der faszinierende Geruch von Mustys Fell füllte ihren Mund und Rachen.

Musty schnurrte und krümmte den Rücken unter ihren Lippen. Dafür, dass sie eine sechsbeinige mutierte Katze war, hatte sie ein schönes Leben.

 

 

5

 

Jonas schaffte sich Cordelia so schnell wie möglich vom Hals, wenn auch nicht so schnell, wie er es gern gehabt hätte, weil er der spindeldürren alten Krähe noch etwas mehr Honig ums Maul schmieren musste. Irgendwann brauchte er sie vielleicht noch einmal. Zuletzt hatte er sie auf den Mundwinkel geküsst (was eine derart heftige Röte hervorrief, dass er schon befürchtete, sie könne eine Gehirnblutung bekommen) und versprach ihr, dass er sich um die Angelegenheit kümmern werde, die ihr so sehr zu schaffen mache.

»Aber diskret!«, sagte sie erschrocken.

Ja, hatte er gesagt, als er sie nach Hause brachte, er werde diskret sein; er sei die Diskretion in Person. Er wisse, dass sich Cordelia erst beruhigen werde – könne –, wenn sie es mit Sicherheit wisse, aber er vermute, dass sich die ganze Sache schließlich als heiße Luft entpuppen werde. Teenager trugen nun einmal gern dick auf, nicht wahr? Und wenn das junge Ding sehe, dass sich ihre Tante über etwas gräme, würde sie Tantchens Befürchtungen wahrscheinlich eher schüren, statt sie zu zerstreuen.

Cordelia war an dem weißen Lattenzaun stehen geblieben, der ihr Grundstück von der Straße trennte, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck zaghafter Erleichterung angenommen. Jonas fand, dass sie wie ein Maultier aussah, dem mit einer harten Bürste der Rücken geschrubbt wurde.

»Nun, daran habe ich noch gar nicht gedacht… aber es ist wahrscheinlich, oder nicht?«

»Höchst wahrscheinlich«, hatte Jonas gesagt, »aber ich werde dennoch gründliche Nachforschungen anstellen. Sicher ist sicher.« Er gab ihr noch einen Kuss auf den Mundwinkel. »Und kein Wort zu den Männern auf Seafront. Kein Sterbenswörtchen.«

»Danke, Eldred! O danke!« Sie hatte ihn umarmt, bevor sie dann hineingegangen war, wobei sich ihre winzigen Brüste wie Steine an sein Hemd gedrückt hatten. »Vielleicht kann ich heute Nacht doch ruhig schlafen.«

Sie vielleicht, aber Jonas fragte sich, ob es ihm gelingen würde.

Er ging zu Fuß, mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen, auf Hookeys Stall zu, wo er sein Pferd untergestellt hatte. Auf der anderen Straßenseite kam eine Bande Jungs gerannt; zwei von ihnen schwenkten abgeschnittene Hundeschwänze mit geronnenem Blut an den Enden.

»Sargjäger! Wir sind Große Sargjäger, genau wie ihr!«, rief einer frech über die Straße.

Jonas zog seinen Revolver und richtete ihn auf die Jungen – es geschah blitzschnell, und für kurze Zeit sahen ihn die verängstigten Jungs so, wie er wirklich war: ein Mann mit blitzenden Augen und gefletschten Zähnen – Jonas sah wie ein weißer Wolf in Menschengestalt aus.

»Trollt euch, ihr kleinen Hosenscheißer!«, fauchte er. »Trollt euch, bevor ich euch aus den Schuhen puste und euren Vätern Grund zum Feiern gebe!«

Einen Augenblick lang waren sie wie erstarrt, dann flohen sie als kreischende Meute. Einer ließ seine Trophäe zurück; der Hundeschwanz lag auf dem Bürgersteig wie ein grausiger Fächer. Jonas verzog das Gesicht, als er ihn sah, steckte die Waffe weg, verschränkte die Hände wieder hinter dem Rücken und ging weiter, wobei er wie ein Priester wirkte, der über das Wesen der Götter meditierte. Was in der Götter Namen hatte er sich dabei gedacht, einfach so das Schießeisen auf eine Bande junger Satansbraten zu richten?

Ich bin durcheinander, dachte er. Ich bin besorgt.

Er war besorgt, das stimmte. Die Befürchtungen der tittenlosen alten Schachtel hatten ihn völlig aus der Fassung gebracht. Nicht wegen Thorin – soweit es Jonas betraf, hätte Dearborn das Mädchen am Erntetag auch gleich um die Mittagszeit auf dem Dorfplatz ficken können –, sondern weil es darauf hindeutete, dass Dearborn ihn auch noch in anderer Hinsicht hinters Licht geführt haben könnte.

Er hat sich einmal hinter dir angeschlichen, und du hast dir geschworen, dass das nie wieder vorkommen würde. Aber wenn er dieses Mädchen gepimpert hat, dann ist es wieder vorgekommen. Oder nicht?

Aye, wie sie in dieser Gegend sagten. Wenn der Junge die Unverfrorenheit besaß, eine Affäre mit dem zukünftigen Feinsliebchen des Bürgermeisters anzufangen, und die unglaubliche Verschlagenheit, es auch noch unbemerkt durchzuziehen, was wurde dann aus Jonas’ Bild von drei Bengeln aus Innerwelt, die kaum den eigenen Hintern finden konnten, selbst wenn sie bei Kerzenlicht beide Hände dazu hernahmen?

Wir haben sie einmal unterschätzt und wie Trottel ausgesehen, hatte Clay gesagt. Ich will nicht, dass das noch mal passiert.

War es wieder passiert? Wie viel wussten Dearborn und seine Freunde wirklich? Wie viel hatten sie herausgefunden? Und wem hatten sie es weitergegeben? Wenn Dearborn die Auserwählte des Bürgermeisters nageln konnte, ohne dass ihm jemand draufkam… wenn er ein derart starkes Stück hinter Eldred Jonas’ Rücken abzog… hinter aller Rücken…

»Guten Tag, Sai Jonas«, sagte Brian Hookey. Er grinste breit, drückte seinen sombrero an die breite Schmiedesbrust und machte praktisch einen Kotau vor Jonas. »Würdet Ihr gern ein frisches Graf trinken, Sai? Ich habe gerade die frische Pressung angeliefert bekommen und…«

»Ich will nur mein Pferd«, sagte Jonas brüsk. »Bringen Sie es schnell her, und hören Sie auf zu quasseln.«

»Aye, das werde ich, stets zu Diensten, danke-sai.« Er machte sich eilfertig an die Aufgabe und warf nur ein kurzes Grinsen über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er nicht über den Haufen geschossen werden würde.

Zehn Minuten später ritt Jonas auf der Großen Straße nach Westen. Er verspürte die lächerliche, aber nichtsdestoweniger starke Regung, seinem Pferd einfach die Sporen zu geben und all diesen Blödsinn hinter sich zu lassen: Thorin den grauhaarigen Stenz, Roland und Susan mit ihrer zweifellos kitschigen Teenagerliebe, Roy und Clay mit ihren schnellen Händen und ihrem langsamen Verstand, Rimer mit seinen Ambitionen, Cordelia Delgado mit ihren abgeschmackten Phantasien von ihnen beiden in einem schattigen Wiesengrund, wo er ihr wahrscheinlich Gedichte vorlas, während sie ihm einen Blumenhaarkranz flocht.

Er war schon früher einfach fortgeritten, wenn eine Eingebung zu ihm gesprochen hatte; viele Male. Aber diesmal würde er nicht fortreiten können. Er hatte den Bengeln Rache geschworen, und obwohl er schon jede Menge Versprechen gebrochen hatte, die er anderen gemacht hatte – noch nie hatte er eines gebrochen, das er sich selbst gegenüber abgelegt hatte.

Und es galt, John Farson zu bedenken. Jonas hatte nie persönlich mit dem Guten Mann gesprochen (und wollte es auch nicht; man behauptete, dass Farson ein launischer und gefährlicher Irrer sein solle), aber er hatte mit George Latigo zu tun gehabt, der wahrscheinlich den Trupp von Farsons Männern anführen würde, der an einem der nächsten Tage hier eintreffen musste. Latigo hatte die Großen Sargjäger angeheuert, einen gewaltigen Vorschuss bezahlt (den Jonas noch keineswegs mit Reynolds und Depape geteilt hatte) und einen noch größeren Anteil an der Kriegsbeute versprochen, sobald die Hauptstreitmacht des Bundes in der Gegend um die Shavéd-Berge ausgelöscht worden sei.

Latigo war eine ziemlich große Nummer, sicher, aber nichts im Vergleich mit der großen Nummer, die nach ihm kam. Und außerdem, ohne Risiko verdiente man sich nie eine große Belohnung. Wenn sie die Pferde, Ochsen, Wagenladungen frischen Gemüses, das Futter, das Öl und die Glaskugel – ganz besonders das Zaubererglas – übergaben, würde alles gut sein. Wenn sie das nicht schafften, würde sehr wahrscheinlich das Schicksal ihrer Köpfe darin bestehen, dass Farson und seine Adjutanten bei einem ihrer nächtlichen Polospiele darauf eindroschen. Das konnte durchaus passieren, und Jonas wusste es. Zweifellos würde es eines Tages passieren. Aber wenn sein Kopf sich schließlich von seinen Schultern verabschieden würde, dann würde diese Trennung gewiss nicht von solchen Hosenscheißern wie Dearborn und seinen Freunden verursacht worden sein, ganz gleich, von welchem Geschlecht sie abstammen mochten.

Aber wenn er tatsächlich eine Affäre mit Thorins Augenstern hat… wenn es ihm gelungen ist, ein derartiges Geheimnis zu wahren, welche anderen mag er dann noch hüten? Vielleicht spielt er ja wirklich Kastell mit dir.

Wenn ja, würde er nicht mehr lange spielen. Wenn der junge Mr. Dearborn zum ersten Mal die Nase hinter seinem Hügel hervorstreckte, würde Jonas zur Stelle sein und sie ihm abschießen.

Die derzeit drängende Frage war nur, wohin er sich zuerst wenden sollte. Raus zur Bar K, um einen längst überfälligen Blick in das Quartier der Jungs zu werfen? Das könnte er jetzt gut tun; sie zählten gerade die Pferde der Baronie auf der Schräge, alle drei. Aber er würde den Kopf nicht wegen der Pferde verlieren wollen, oder? Nein, die Pferde waren nur ein kleiner zusätzlicher Reiz, soweit es den Guten Mann betraf.

Jonas ritt stattdessen zum Citgo-Gelände.

 

 

6

 

Zuerst überprüfte er die Tankwagen. Sie waren so, wie sie gewesen waren und sein sollten – fein säuberlich in einer Reihe aufgestellt, die neuen Räder fahrtauglich, sollte der Zeitpunkt kommen, und hinter ihrer neuen Tarnung versteckt. Manche der Kiefernzweige wurden an den Spitzen bereits gelb, aber die jüngste Regenperiode hatte sie erstaunlich frisch gehalten. Jonas konnte nicht erkennen, dass etwas verändert worden wäre.

Als Nächstes erklomm er den Hügel, ging an der Pipeline entlang und machte dabei immer häufiger Pausen; als er das verfallene Tor zwischen dem Hang und dem Ölfeld erreichte, bereitete ihm sein schlimmes Bein starke Schmerzen. Er sah sich eingehend das Tor an und betrachtete stirnrunzelnd die Erdspuren an der obersten Sprosse. Möglicherweise bedeuteten sie nichts, aber Jonas hielt es für möglich, dass jemand über das Tor geklettert war, anstatt es zu öffnen und das Risiko einzugehen, dass es aus den Scharnieren fiel.

Die nächste Stunde verbrachte er damit, zwischen den Bohrtürmen umherzuschlendern, wobei seine besondere Aufmerksamkeit denen galt, die noch funktionierten, und suchte nach einem Hinweis. Er fand eine Menge Spuren, aber es war unmöglich, sie mit hinreichender Verlässlichkeit zu lesen (besonders nach einer Woche Regenwetter). Die Jungen aus Innerwelt hätten hier draußen gewesen sein können; die hässliche kleine Bande von Gassenbengeln aus der Stadt hätte hier draußen gewesen sein können; Arthur Eld und eine ganze Kompanie seiner Ritter hätten hier draußen gewesen sein können. Die Unsicherheit versetzte Jonas in üble Laune, wie das einfach jede Unsicherheit bei ihm tat (abgesehen von der auf einem Kastellbrett).

Er hinkte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, um den Hang hinabzugehen und dann in die Stadt zurückzureiten. Sein Bein schmerzte wie verrückt, und es verlangte ihn nach einem kräftigen Schluck, um es zu betäuben. Das Schlafhaus der Bar K konnte noch einen Tag warten.

Er legte den halben Weg zum Tor zurück, sah den mit Unkraut überwucherten Feldweg, der das Citgo-Gelände mit der Großen Straße verband, und seufzte. Auf diesem kurzen Streckenabschnitt würde es nichts zu sehen geben, aber wo er schon den weiten Weg hierher geritten war, sollte er wohl lieber zu Ende bringen, was er begonnen hatte.

Scheiß drauf, ich brauch was Kräftiges zu trinken.

Roland schien allerdings nicht der Einzige zu sein, dessen Wünsche manchmal von seiner Ausbildung revidiert wurden: Jonas seufzte, rieb sich das Bein und ging die überwucherte doppelte Reifenspur entlang. Wo es anscheinend schließlich doch etwas zu finden gab.

Es lag kein Dutzend Schritte von der Stelle entfernt im Gras, wo der alte Weg auf die Große Straße stieß. Zuerst sah er nur einen glatten weißen Umriss in all dem Unkraut, den er für einen Stein hielt. Dann sah er etwas Rundes, Schwarzes, das nur eine Augenhöhle sein konnte. Also kein Stein; ein Schädel.

Jonas ging grunzend in die Knie und fischte ihn heraus, während die wenigen funktionierenden Förderanlagen hinter ihm nur so quietschten und pochten. Ein Krähenschädel. Er hatte ihn schon einmal gesehen. Verdammt, wahrscheinlich hatte die ganze Stadt ihn schon gesehen. Er gehörte diesem Wichtigtuer Arthur Heath… der wie alle Wichtigtuer offenbar seine kleinen Requisiten brauchte.

»Er hat ihn einen Wachposten genannt«, murmelte Jonas. »Und ihn manchmal am Sattelknauf befestigt gehabt, aber ja. Und manchmal trug er ihn auch wie einen Anhänger um den Hals.« Ja. So hatte der Junge ihn in jener Nacht im Traveller’s Rest getragen, als…

Jonas drehte den Vogelschädel um. Im Inneren rasselte etwas wie ein letzter einsamer Gedanke. Jonas hielt den Schädel schräg und schüttelte ihn über der offenen Handfläche, bis auf einmal das Überbleibsel einer Goldkette herausfiel. Genau mit dieser Kette hatte der Junge ihn getragen. Die Kette war gerissen, der Schädel in den Straßengraben gefallen, und Sai Heath hatte sich nicht die Mühe gemacht, danach zu suchen. Der Gedanke, dass ihn jemand finden könnte, war ihm wahrscheinlich gar nicht gekommen. Kleine Jungs waren immer so sorglos. Ein Wunder, dass überhaupt welche zu Männern heranwuchsen.

Jonas’ Gesicht blieb unbewegt, während er kniend den Vogelschädel betrachtete, aber hinter der glatten Stirn war er so wütend wie noch nie in seinem Leben. Sie waren tatsächlich hier draußen gewesen – auch das war etwas, worüber er gestern noch verächtlich gelacht hätte. Er musste davon ausgehen, dass sie die Tankwagen gesehen hatten, Tarnung hin oder her. Wenn er allerdings nicht zufällig diesen Schädel gefunden hätte, dann hätte er es wahrscheinlich nie herausgefunden.

»Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden ihre Augenhöhlen so leer sein wie deine, Sai Krähe. Ich werde ihnen die Augen höchstpersönlich herausquetschen.«

Er wollte den Schädel schon wegwerfen, überlegte es sich dann aber anders. Möglicherweise kam er ihm noch gut zupass. Er trug ihn in der offenen Hand bis zu der Stelle, wo er sein Pferd gelassen hatte.

 

 

7

 

Coral Thorin ging die Hauptstraße entlang zum Traveller’s Rest; in ihrem Kopf pochte es knarzend, und das Herz schlug ihr gallig gegen die Brust. Sie war erst seit einer Stunde auf den Beinen, aber ihr Kater war so schlimm, dass es ihr schon wie ein ganzer Tag vorkam. In letzter Zeit trank sie zu viel – fast jede Nacht –, und wusste das auch, aber sie achtete stets sorgsam darauf, dass sie dort, wo die Leute es sehen konnten, nie mehr als ein oder zwei Gläser zu sich nahm (und immer nur ein leichtes Getränk). Bis jetzt, glaubte sie, hatte niemand Verdacht geschöpft. Und solange niemand Verdacht schöpfte, konnte sie ja weitermachen. Wie sonst hätte sie ihren idiotischen Bruder ertragen können? Diese idiotische Stadt? Und natürlich das Wissen, dass alle Rancher im Pferdezüchterverband und mindestens die Hälfte aller Großgrundbesitzer Verräter waren? »Scheiß auf den Bund«, flüsterte sie. »Lieber den Spatz in der Hand.«

Aber hatte sie wirklich einen Spatz in der Hand? Irgendeiner von ihnen? Würde Farson seine Versprechen einhalten – Versprechen, die ein Mann namens Latigo gegeben und die Hambrys eigener unnachahmlicher Kimba Rimer übermittelt hatte? Coral hatte da ihre Zweifel; Despoten neigten dazu, ihre Versprechen einfach zu vergessen, und Spatzen in der Hand hatten die ärgerliche Angewohnheit, einem in die Finger zu picken, in die Handfläche zu scheißen und dann wegzufliegen. Nicht, dass es noch eine Rolle spielte; ihr Bett war gemacht. Außerdem würden die Leute immer trinken und spielen und vögeln wollen, ganz gleich, vor wem sie sich verbeugten und in wessen Namen ihre Steuern eingetrieben wurden.

Doch wenn sich die Stimme des alten Dämons Gewissen zu Wort meldete, halfen ein paar kräftige Schlucke, sie zum Schweigen zu bringen.

Sie blieb vor dem Bestattungsinstitut Craven stehen und sah die Straße hinauf, wo lachende Jungs auf Leitern Papierlaternen an hohen Pfosten und Erkern aufhängten. Diese fröhlichen Lampions würden in der Nacht der Erntefeier angezündet werden und hunderte von Schattierungen sanften, wetteifernden Lichts auf die Hauptstraße von Hambry werfen.

Einen Augenblick lang musste Coral an das Kind denken, das sie einmal gewesen war, das staunend die bunten Papierlaternen betrachtete, das den Rufen und dem Knattern des Feuerwerks lauschte, das der Tanzmusik lauschte, die aus dem Green Heart drang, während sie der Vater an der Hand hielt… und auf der anderen Seite ihren großen Bruder Hart. In dieser Erinnerung trug Hart stolz sein erstes Paar lange Hosen.

Nostalgie überkam sie, zuerst süß, dann bitter. Dieses Kind war zu einer blässlichen Frau herangewachsen, der ein Saloon und ein Puff gehörten (ganz zu schweigen von einem großen Stück Land an der Schräge), einer Frau, deren einziger Sexualpartner in letzter Zeit der Kanzler ihres Bruders war, einer Frau, deren erstes Sinnen und Trachten nach dem Aufstehen neuerdings war, so schnell wie möglich einen Schluck Alkohol zu trinken, um den Kater zu vertreiben. Wie hatte es nur so weit kommen können? Diese Frau, durch deren Augen sie sah, war die letzte Frau, die das Kind von damals zu werden erwartet hatte.

»Wo bin ich vom Weg abgekommen?«, fragte sie sich und lachte. »O lieber Jesusmensch, wo ist diese verirrte kleine Sünderin vom Weg abgekommen? Kannst du es sagen, halleluja?« Sie hörte sich so sehr an wie die Wanderpredigerin, die im Jahr zuvor durch die Stadt gekommen war – Pittston, so hatte sie geheißen, Sylvia Pittston –, dass sie wieder lachen musste, diesmal fast schon ungekünstelt. Sie ging besserer Laune zum Traveller’s Rest.

Sheemie war draußen und versorgte die Überreste seiner Samtblumen. Er winkte ihr zu und rief einen Gruß. Sie winkte zurück und rief etwas als Antwort. Ein guter Junge, dieser Sheemie, und obwohl sie leicht einen anderen gefunden hätte, war sie irgendwie froh, dass Depape ihn nicht umgebracht hatte.

Der Saloon war fast menschenleer, aber hell erleuchtet; sämtliche Gaslampen flackerten. Sauber war er auch. Die Spucknäpfe hatte sicher Sheemie geleert, aber wie Coral annahm, hatte alles andere die plumpe Frau hinter dem Bartresen erledigt. Das Make-up konnte nicht deren blasse Wangen, die hohlen Augen oder den runzligen Hals verbergen (wenn Coral diese echsenähnlichen Hautlappen am Hals einer Frau sah, erschauerte sie stets innerlich).

Es war Pettie das Trampel, die unter dem strengen Glasblick des Wildfangs die Bar versorgte, und wenn sie geduldet wurde, würde sie es tun, bis Stanley kam und sie wegjagte. Pettie hatte Coral gegenüber nichts davon laut werden lassen – dafür besaß sie genug Verstand –, aber ihre Wünsche dennoch klar gemacht. Ihre Zeit als Hure ging dem Ende entgegen. Sie hatte den verzweifelten Wunsch, als Barkeeperin zu arbeiten. Es gab noch andere, das wusste Coral – im Forest Trees in Pass o’ the River hatten sie eine Barkeeperin, und im Glencove, küstenaufwärts in Tavares, hatten sie auch eine gehabt, bis sie an den Pocken gestorben war. Pettie weigerte sich einzusehen, dass Stanley Ruiz fünfzehn Jahre jünger und bei weitaus besserer Gesundheit war. Er würde noch Drinks ausschenken, wenn Pettie das Trampel schon längst ausgetrampelt hatte und in einem Armengrab verfaulte.

»Guten Abend, Sai Thorin«, sagte Pettie. Und bevor Coral auch nur den Mund aufmachen konnte, hatte ihr die Hure ein Glas auf den Tresen gestellt und Whiskey eingeschenkt. Coral betrachtete es voller Missfallen. Wussten sie es denn alle?

»Das will ich nicht«, blaffte sie. »Warum, in Elds Namen, sollte ich das trinken? Die Sonne ist noch nicht mal untergegangen! Kipp es in die Flasche zurück, um deines Vaters willen, und dann sieh zu, dass du hier rauskommst. Was meinst du, wen du um fünf Uhr bedienen kannst? Gespenster?«

Petties Gesichtszüge entgleisten so sehr, dass die dicke Tünche ihres Make-ups tatsächlich Risse zu bekommen schien. Sie nahm den Trichter unter dem Tresen hervor, steckte ihn in die Flasche und goss den Whiskey zurück. Etwas davon spritzte trotz des Trichters auf den Tresen; ihre plumpen Finger (ohne Ringe; ihre Ringe hatte sie schon vor langer Zeit im Laden gegenüber für Lebensmittel eingetauscht) zitterten. »Es tut mir Leid, Sai. Das tut es. Ich wollte nur…«

»Mir ist gleich, was du nur wolltest«, sagte Coral und richtete ihre blutunterlaufenen Augen auf Sheb, der am Klavier gesessen und alte Notenblätter durchgesehen hatte. Nun starrte er mit offenem Mund zur Bar. »Und was starrst du an, du Frosch?«

»Nichts, Sai Thorin. Ich…«

»Dann geh es anderswo anstarren. Und nimm dieses Schwein mit. Mach ein bisschen Matratzengymnastik mit ihr, warum auch nicht? Das ist gut für ihre Haut. Könnte sogar gut für deine sein.«

»Ich…«

»Raus! Seid ihr taub? Alle beide!«

Pettie und Sheb gingen zur Küche statt zu den Kammern oben, aber Coral war es einerlei. Ihretwegen konnten sie zur Hölle fahren. Wohin sie wollten, solange sie ihr nur aus den schmerzenden Augen gingen.

Sie ging hinter den Tresen und sah sich um. In der Ecke gegenüber spielten zwei Männer Karten. Reynolds, der Galgenvogel, sah ihnen dabei zu und trank ein Bier. Am anderen Ende des Tresens saß ein Mann, aber der starrte ins Leere und befand sich in seiner eigenen Welt. Niemand schenkte Sai Coral Thorin besondere Aufmerksamkeit, und selbst wenn, was spielte es schon für eine Rolle? Wenn Pettie es wusste, wussten es alle.

Sie strich mit dem Finger durch die Whiskeypfütze, lutschte daran, strich wieder hindurch, lutschte wieder. Sie griff nach der Flasche, aber bevor sie sich einschenken konnte, sprang ein spinnenähnliches Monstrum mit graugrünen Augen fauchend auf die Bar. Coral kreischte, wich zurück und ließ die Whiskeyflasche zwischen ihren Füßen zu Boden fallen… wo sie wie durch ein Wunder nicht zerplatzte. Einen Augenblick lang dachte Coral, ihr Kopf würde stattdessen platzen – dass ihr anschwellendes, pochendes Gehirn einfach den Schädel wie eine verfaulte Eierschale spalten würde. Der Tisch der Kartenspieler fiel mit einem lauten Krachen um, als diese aufsprangen. Reynolds hatte seinen Revolver gezogen.

»Nay«, sagte sie mit einer bebenden Stimme, die sie selbst kaum wiedererkannte. Ihre Augäpfel pulsierten, ihr Herzschlag raste. Man konnte vor Angst sterben, das war ihr jetzt klar. »Nay, meine Herren, es ist alles gut.«

Die sechsbeinige Missgeburt auf der Theke machte das Maul auf, fletschte die spitzen Fangzähne und fauchte wieder.

Coral bückte sich (und als sie den Kopf unterhalb der Beuge hatte, war ihr wieder, als ob er gleich explodieren würde), hob die Flasche auf, stellte fest, dass sie noch zu einem Viertel voll war, und setzte sie an den Mund, ohne sich darum zu kümmern, wer sie dabei sah und was sie dachten.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, fauchte Musty wieder. Er trug heute Nachmittag ein rotes Halstuch – was an ihm eher abscheulich als fröhlich aussah. Ein weißes Stück Papier war darunter gesteckt worden.

»Soll ich sie erschießen?«, sagte jemand mit schleppender Stimme. »Ich werde es tun, wenn Sie möchten. Ein Schuss, und es wird nichts außer Krallen übrig sein.« Es war Jonas, der auf einmal vor der Schwingtür stand, und obwohl er kaum besser aussah, als sie sich fühlte, hegte Coral keine Zweifel, dass er es schaffen würde.

»Nay. Die alte Schlampe würde uns alle in Heuschrecken oder etwas Vergleichbares verwandeln, wenn wir ihren Vertrauten töten würden.«

»Welche Schlampe?«, fragte Jonas und durchquerte den Raum.

»Rhea Dubativo. Rhea vom Cöos, wie sie genannt wird.«

»Aha! Nicht die Schlampe, sondern die Hexe.«

»Sie ist beides.«

Jonas streichelte der Katze den Rücken. Sie ließ sich kraulen, krümmte sogar den Rücken gegen seine Hand, aber er strich ihr nur einmal darüber. Das Fell fühlte sich unangenehm feucht an.

»Würden Sie eventuell mit mir teilen?«, fragte er und nickte zur Flasche. »Es ist noch früh, aber mein Bein tut weh wie ein Teufel, der die Sünde satt hat.«

»Ihr Bein, mein Kopf, früh oder spät. Auf Kosten des Hauses.«

Jonas zog die weißen Brauen hoch.

»Schätzt Euch glücklich und greift zu, mein Freund.«

Sie streckte die Hand nach Musty aus. Der Kater zischte wieder, ließ sie aber den Zettel unter seinem Halstuch hervorziehen. Sie klappte ihn auf und las die sieben Wörter, die darauf standen:

 

/epubstore/S/K-Stephen/Der-dunkle-turm-4-glas/OEBPS/images/img0003.png

 

»Darf ich sehen?«, fragte Jonas. Der erste Schluck wärmte ihm den Bauch, und die Welt sah schon besser aus.

»Warum nicht?« Sie gab ihm die Nachricht. Jonas las sie und gab sie ihr dann zurück. Er hätte Rhea beinahe vergessen, und das wäre gar nicht gut gewesen. Ach, es war einfach schwer, immer an alles denken zu müssen. In letzter Zeit kam sich Jonas nicht so sehr wie ein gedungener Revolverheld vor, sondern eher wie ein Koch, der alle neun Gänge eines Staatsbanketts gleichzeitig auf den Tisch zu bringen versuchte. Glücklicherweise hatte sich ihm die alte Vettel selbst ins Gedächtnis zurückgerufen. Gott segne ihren Durst. Und seinen eigenen, da er ihn rechtzeitig hierher geführt hatte.

»Sheemie!«, brüllte Coral. Sie konnte die Wirkung des Whiskeys ebenfalls spüren; sie fühlte sich fast wieder wie ein Mensch. Sie fragte sich sogar, ob Eldred Jonas nicht an einem stürmischen Abend mit der Schwester des Bürgermeisters interessiert sein könnte… Wer konnte schon wissen, was einem alles helfen konnte, sich die Stunden zu vertreiben?

Sheemie kam zur Schwingtür herein; seine Hände waren schmutzig, seine rosa sombrera baumelte am Ende ihrer cuerda auf dem Rücken. »Aye, Coral Thorin! Hier ich bin!«

Sie sah an ihm vorbei und betrachtete prüfend den Himmel. Nicht heute, nicht einmal für Rhea; sie würde Sheemie nicht im Dunkeln dort hinauf schicken, und damit war das vom Tisch.

»Nichts«, sagte sie mit einer Stimme, die sanfter als gewöhnlich klang. »Geh zurück zu deinen Blumen, und sieh zu, dass du sie gut abdeckst. Es wird Frost geben.«

Sie drehte Rheas Zettel um und kritzelte ein einziges Wort darauf:

 

/epubstore/S/K-Stephen/Der-dunkle-turm-4-glas/OEBPS/images/img0004.png

 

Sie faltete den Zettel zusammen und gab ihn Jonas. »Steckt Ihr ihn bitte für mich unter das Halsband dieses stinkenden Viehs, ja? Ich will es nicht anfassen.«

Jonas kam ihrer Bitte nach. Die Katze sah die beiden mit einem letzten wilden grünen Blick an, dann sprang sie vom Tresen und verschwand unter der Schwingtür.

»Die Zeit wird knapp«, sagte Coral. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit meinte, aber Jonas nickte, als verstünde er voll und ganz. »Möchtet Ihr mit einer heimlichen Trinkerin nach oben gehen? Ich sehe nicht mehr so toll aus, aber ich kann sie immer noch bis zur Bettkante spreizen, und ich liege auch nicht bloß so da.«

Er dachte nach, dann nickte er. Seine Augen glänzten. Die hier war so dünn wie Cordelia Delgado, aber was für ein Unterschied, hm? Was für ein Unterschied! »Einverstanden.«

»Ich bin dafür bekannt, dass ich schlimme Sachen sagen kann – nur als Vorwarnung.«

»Teuerste Lady, ich werde ganz Ohr sein.«

Sie lächelte. Ihre Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. »Aye. Das will ich Euch gern glauben.«

»Geben Sie mir noch eine Minute. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Er ging zu Reynolds.

»Hol dir einen Stuhl, Eldred.«

»Vergiss es. Eine Dame wartet auf mich.«

Reynolds warf einen kurzen Blick zur Bar. »Du machst Witze.«

»Ich mache nie Witze über Frauen, Clay. Und jetzt hör mir zu.«

Reynolds beugte sich aufmerksam nach vorn. Jonas war dankbar, dass er es nicht mit Depape zu tun hatte. Roy machte, worum man ihn bat, und normalerweise auch ziemlich gut, wenn auch erst, nachdem man es ihm ein halbes Dutzend Mal erklärt hatte.

»Geh zu Lengyll«, sagte er. »Sag ihm, er soll ein Dutzend Männer – nicht weniger als zehn – auf dem Ölfeld draußen postieren. Männer, die gut in Deckung bleiben können und die Falle bei einem Hinterhalt nicht zu schnell zuschnappen lassen, falls ein Hinterhalt erforderlich ist. Sag ihm, Brian Hookey soll der Anführer sein. Er hat einen kühlen Kopf, und das ist mehr, als man von den meisten anderen armen Teufeln hier behaupten kann.«

Reynolds’ Augen schauten hitzig und glücklich. »Erwartest du die Bengel?«

»Sie waren schon mal dort, möglicherweise kommen sie wieder. Wenn ja, sollen sie von allen Seiten unter Feuer genommen und abgeknallt werden. Sofort und ohne Warnung. Hast du verstanden?«

»Yar! Und was erzählen wir hinterher?«

»Na, dass das mit dem Öl und den Tankwagen ihr wahres Ansinnen gewesen sein muss«, sagte Jonas mit einem schiefen Lächeln. »Die auf ihren Befehl hin von unbekannten Gesinnungsgenossen zu Farson gebracht werden sollten. Am Erntetag werden wir auf den Schultern der Stadtbewohner durch die Straßen getragen werden. Als die Männer bejubelt, die die Verräter ausgemerzt haben. Wo ist eigentlich Roy?«

»Zum Hanging Rock zurück. Ich hab ihn am Mittag gesehen. Er sagt, sie kommen, Eldred; er sagt, wenn der Wind nach Osten dreht, kann er Pferde näher kommen hören.«

»Vielleicht hört er nur, was er hören will.« Aber er vermutete, dass Depape Recht hatte. Jonas’ Stimmung, die ihren Tiefpunkt erreicht hatte, als er den Traveller’s Rest betrat, erholte sich zusehends.

»Wir werden die Tankwagen bald wegbringen, ob die Bengel kommen oder nicht. Nachts, und in Paaren, wie die Tiere an Bord der Arche des Alten Pa gegangen sind.« Über diesen Vergleich musste er lachen. »Aber wir werden welche zurücklassen, was? Wie Käse in der Falle.«

»Und wenn die Mäuse nicht kommen?«

Jonas zuckte die Achseln. »Wenn nicht auf die eine, dann auf die andere Weise. Ich habe vor, sie ab morgen ein bisschen unter Druck zu setzen. Ich möchte, dass sie wütend werden, möchte, dass sie verwirrt sind. Und jetzt geh an deine Arbeit. Die Dame dort wartet auf mich.«

»Besser auf dich als auf mich, Eldred.«

Jonas nickte. Er schätzte, dass er in einer halben Stunde sein schmerzendes Bein vergessen haben würde. »Ganz recht«, sagte er. »Dich würde sie mit Haut und Haaren verspeisen.«

Er ging zur Bar zurück, wo Coral mit verschränkten Armen dastand. Nun nahm sie sie auseinander und ergriff seine Hände. Seine rechte drückte sie auf ihre linke Brust. Die Brustwarze unter seinen Fingern war aufgerichtet und hart. Den Zeigefinger seiner linken Hand schob sie sich in den Mund und biss sanft darauf.

»Sollen wir die Flasche mitnehmen?«, fragte Jonas.

»Warum nicht«, sagte Coral Thorin.

 

 

8

 

Wenn sie so betrunken eingeschlafen wäre, wie sie es sich in den letzten paar Monaten angewöhnt hatte, hätte das Quietschen der Bettfedern sie nicht geweckt – selbst die Explosion einer Bombe hätte sie nicht wecken können. Sie hatten die Flasche zwar mitgenommen, aber die stand immer noch auf dem Nachttisch des Schlafzimmers, das sie im Traveller’s Rest unterhielt (es war so groß wie die drei Kammern der Huren zusammen); der Pegelstand des Whiskeys war unverändert. Sie fühlte sich am ganzen Körper wund, aber wenigstens ihr Kopf war klar; zumindest dafür war Sex gut.

Jonas stand am Fenster und sah ins erste graue Tageslicht hinaus, während er die Hosen hochzog. Sein bloßer Rücken war kreuz und quer mit Narben bedeckt. Sie wollte ihn schon fragen, wer ihn derart brutal ausgepeitscht und wie er das überlebt hatte, beschloss dann aber, dass es besser sei, das Thema nicht anzuschneiden.

»Wohin gehst du?«, fragte sie.

»Ich werde irgendwie damit anfangen, dass ich mir etwas Farbe besorge – der Farbton spielt dabei keine Rolle –, und danach einen Straßenköter, der seinen Schwanz noch hat. Ich glaube, was ich danach mache, Sai, willst du nicht wissen.«

»Nun gut.« Sie legte sich hin und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Sie hatte das Gefühl, eine ganze Woche lang schlafen zu können.

Jonas zog die Stiefel an und ging dann zur Tür, während er noch den Revolvergurt zumachte. Mit der Hand auf dem Knauf blieb er stehen. Sie sah ihn mit ihren grauen Augen an, die der Schlaf schon fast wieder übermannt hatte.

»Ich hab nie einen besseren gehabt«, sagte Jonas.

Coral lächelte. »Genau, mein Freund«, sagte sie. »Ich auch nicht.«