Kapitel 4

LANGE NACH MONDUNTERGANG

 

1

 

Er ritt fast zwei Stunden lang rastlos an der so genannten Schräge entlang und drängte Rusher zu keiner schnelleren Gangart als dem Trab, obwohl er mit dem großen Wallach lieber unter den Sternen dahingaloppiert wäre, bis sich sein Blut etwas abgekühlt hätte.

Es wird ordentlich abkühlen, wenn du die Aufmerksamkeit auf dich lenkst, dachte er, und wahrscheinlich wirst du es nicht einmal selbst abkühlen müssen. Narren sind die einzigen Menschen auf der Welt, die sich völlig darauf verlassen können, dass sie bekommen, was sie verdienen. Bei diesem alten Sprichwort musste er an den narbigen und o-beinigen Mann denken, der der größte Lehrmeister seines Lebens gewesen war, und lächelte.

Schließlich lenkte er sein Pferd bergab zu dem Rinnsal eines Bächleins, das dort verlief, und folgte ihm anderthalb Meilen weit flussaufwärts (an mehreren Pferdeherden vorbei; die Tiere betrachteten Rusher mit einer Art verschlafener, glotzäugiger Überraschung) bis zu einem Weidenwäldchen. Aus dem Inneren wieherte leise ein Pferd. Rusher wieherte als Antwort, scharrte mit einem Huf und nickte mit dem Kopf.

Sein Reiter zog den Kopf ein, während er unter den Weidenzweigen hindurchritt, und plötzlich schwebte ein schmales, nicht menschliches Gesicht vor ihm, dessen obere Hälfte förmlich von pupillenlosen schwarzen Augen verschlungen wurde.

Er griff nach seiner Waffe – zum dritten Mal heute Nacht, verflucht noch mal, und zum dritten Mal war nichts da. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte; er erkannte bereits, was da an einer Schnur vor ihm hing: dieser idiotische Krähenschädel.

Der junge Mann, der sich derzeit Arthur Heath nannte, hatte ihn von seinem Sattel abgenommen (es amüsierte ihn, den Schädel, der derzeit ihr Versteck bewachte, »hässlich wie eine alte Oma, aber ziemlich genügsam im Unterhalt« zu nennen) und als scherzhafte Begrüßung aufgehängt. Er und seine Scherze! Rushers Herr schlug den Schädel so heftig beiseite, dass die Schnur riss und der Schädel in die Dunkelheit flog.

»Pfui, schäm dich, Roland«, sagte eine Stimme aus dem Schatten. Sie klang vorwurfsvoll, aber unter der Oberfläche blubberte Gelächter… wie immer. Cuthbert war sein ältester Freund – die Spuren ihrer ersten Zähne hatten sich in viele gemeinsame Spielsachen eingegraben –, aber Roland hatte ihn in mancherlei Hinsicht nie verstanden. Und es war nicht nur sein Gelächter; an jenem längst vergangenen Tag, als Hax, der Palastkoch, wegen Hochverrats auf dem Galgenberg gehängt werden sollte, hatte Cuthbert die Qualen von Grauen und Gewissensbissen durchlebt. Er hatte Roland gesagt, er könne nicht bleiben, könne nicht zusehen… aber am Ende hatte er doch beides getan. Weder die dummen Witze noch die Gefühle an der Oberfläche entsprachen nämlich dem wahren Cuthbert Allgood.

Als Roland die Mulde in der Mitte des Wäldchens erreichte, trat eine dunkle Gestalt hinter einem der Bäume hervor, wo sie Wache gestanden hatte. Auf halbem Weg über die Lichtung wurde sie zu einem großen Jungen mit schmalen Hüften, der unterhalb der Jeans barfüßig und oberhalb barbrüstig war. In einer Hand hielt er einen riesigen antiken Revolver – einen Typ, der aufgrund der Größe der Trommel manchmal Bierfass genannt wurde.

»Pfui«, wiederholte Cuthbert, als gefiele ihm der Klang dieses Wortes, das nur in vergessenen Hinterländern wie Mejis nicht archaisch klang. »Eine schöne Art, die Dienst habende Wache zu behandeln, den armen schmalgesichtigen Burschen halb bis zur nächsten Bergkette zu schlagen!«

»Wenn ich eine Waffe getragen hätte, dann hätte ich ihn wahrscheinlich in Stücke geschossen und dadurch das halbe Land aufgeweckt.«

»Ich wusste, dass du nicht gegürtet herumlaufen würdest«, antwortete Cuthbert nachsichtig. »Du siehst bemerkenswert schlecht aus, Roland, Sohn des Steven, aber du lässt dich von niemandem zum Narren halten, auch wenn du dich schon dem biblischen Alter von fünfzehn Jahren näherst.«

»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, die Namen zu benutzen, unter denen wir reisen. Auch unter uns.«

Cuthbert streckte den Fuß aus, drückte die bloße Ferse in den Sand und verbeugte sich mit ausgestreckten Armen und an den Gelenken übertrieben geneigten Händen – eine begnadete Imitation des Typs Mann, der für eine Karriere am Hof bestimmt war. Außerdem hatte er frappante Ähnlichkeit mit einem Reiher, der in einer Marsch stand, und Roland konnte ein schnaubendes Lachen nicht unterdrücken. Dann legte er die Innenseite seines linken Handgelenks an die Stirn, um zu sehen, ob er Fieber hatte. In seinem Kopf fühlte er sich fiebrig genug, das wussten die Götter, aber die Haut oberhalb seiner Augen fühlte sich kühl an.

»Ich erflehe deine Verzeihung, Revolvermann«, sagte Cuthbert, der Hände und Augen immer noch demütig abwärts gerichtet hielt.

Rolands Lächeln erlosch. »Und nenn mich nie wieder so, Cuthbert. Bitte. Hier nicht, und anderswo auch nicht. Nicht, wenn dir etwas an mir liegt.«

Cuthbert gab die Haltung unverzüglich auf und kam eilig zu der Stelle gelaufen, wo Roland zu Pferde saß. Er sah aufrichtig zerknirscht aus.

»Roland – Will – es tut mir Leid.«

Roland schlug ihm auf die Schulter. »Nichts passiert. Vergiss es nur von jetzt an nicht. Mejis mag am Ende der Welt liegen… aber es ist eben Teil der Welt. Wo ist Alain?«

»Du meinst Dick? Was glaubst du denn?« Cuthbert zeigte über die Lichtung, wo ein dunkler Umriss entweder schnarchte oder gerade langsam am Ersticken war.

»Der«, sagte Cuthbert, »würde glatt ein Erdbeben verschlafen.«

»Aber du hast mich kommen hören und bist aufgewacht.«

»Ja«, sagte Cuthbert. Er sah Roland ins Gesicht und betrachtete es so durchdringend, dass es Roland ein wenig unbehaglich wurde. »Ist dir etwas geschehen? Du siehst verändert aus.«

»Wirklich?«

»Ja. Erregt. Irgendwie außer Atem.«

Wenn er Cuthbert von Susan erzählen wollte, wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt. Er beschloss, ohne recht darüber nachzudenken (seine meisten Entscheidungen, gewiss aber die besten, traf er auf diese Weise), es ihm nicht zu erzählen. Wenn er sie im Haus des Bürgermeisters traf, würde es auch für Cuthbert und Alain das erste Mal sein. Was konnte es schaden?

»Ich bin auch außer Atem, das stimmt«, sagte er, stieg ab und bückte sich, um den Sattelgurt zu öffnen. »Und ich habe ein paar interessante Sachen gesehen.«

»Ach ja? Sprich, Gefährte des teuersten Bewohners meines Busens.«

»Ich werde lieber bis morgen warten, wenn jener winterschlafende Bär endlich erwacht ist. Dann muss ich es nur einmal erzählen. Außerdem bin ich müde. Aber eines kann ich dir sagen: Es gibt zu viele Pferde in dieser Gegend, selbst für eine Baronie, die für ihr Pferdefleisch berühmt ist. Viel zu viele.«

Bevor Cuthbert irgendwelche Fragen stellen konnte, zog Roland den Sattel von Rushers Rücken und legte ihn neben drei kleinen Weidenkörben ab, die mit Wildlederschnüren zusammengebunden waren, womit sie zu einem Behältnis wurden, das man auf den Rücken eines Pferdes schnallen konnte. Im Inneren gurrten drei Tauben mit weißen Ringen um den Hals verschlafen. Eine nahm den Kopf unter dem Flügel hervor und sah Roland an, dann steckte sie ihn wieder darunter.

»Mit diesen Burschen alles in Ordnung?«

»Bestens. Sie picken und scheißen fröhlich in ihr Stroh. Soweit es sie betrifft, haben sie erst mal Ferien. Was hast du gemeint mit…«

»Morgen«, sagte Roland, und Cuthbert, der merkte, dass er nichts mehr aus ihm herausbekommen würde, nickte nur und ging seinen sparsamen und knochigen Wachposten suchen.

Zwanzig Minuten später, als Rusher abgesattelt und abgerieben und mit Buckskin und Glue Boy zum Grasen geschickt worden war (Cuthbert konnte seinem Pferd nicht einmal einen Namen wie ein normaler Mensch geben), lag Roland in seinem entrollten Bettzeug auf dem Rücken und sah zu den Sternen hinauf. Cuthbert war so mühelos wieder eingeschlafen, wie er bei Rushers Hufschlag wach geworden war, aber Roland war noch nie in seinem Leben weniger zum Schlafen zumute gewesen als gerade jetzt.

In Gedanken sah er sich einen Monat zurückversetzt, in das Zimmer der Hure, wo sein Vater auf dem Bett der Hure saß und ihm zusah, wie er sich anzog. Die Worte, die sein Vater gesprochen hatte – Ich weiß es seit zwei Jahren –, hatten wie ein Gongschlag in Rolands Kopf gehallt. Er vermutete, dass das den Rest seines Lebens so bleiben würde.

Aber sein Vater hatte noch viel mehr zu sagen gehabt. Über Marten. Über Rolands Mutter, an der man – vielleicht – mehr gesündigt hatte, als sie selbst sündigte. Über Verwüster, die sich Patrioten nannten. Und über John Farson, der tatsächlich in Cressia gewesen war, mittlerweile diesen Ort aber wieder verlassen hatte – verschwunden, wie es seiner Art entsprach, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Vor seiner Weiterreise hatten er und seine Männer Indrie, die Hauptstadt der Baronie, praktisch bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Hunderte von Menschen waren abgeschlachtet worden, und es war vielleicht nicht überraschend, dass Cressia sich seitdem vom Bund abgewandt und sich für den Guten Mann erklärt hatte. Der Gouverneur der Baronie, der Bürgermeister von Indrie und der Hohe Sheriff hatten jenen Frühsommertag, der den Abschluss von Farsons Besuch bedeutete, damit beendet, dass ihre Köpfe an der Mauer über dem Stadttor ausgestellt wurden. Das war, wie Steven Deschain sich ausgedrückt hatte, »eine ziemlich überzeugende Politik«.

Es war wie bei einer Partie »Kastell«, bei der beide Armeen hinter ihren kleinen Hügeln hervorkamen und die letzten Züge begannen, hatte Rolands Vater gesagt, und wie es bei Volksaufständen häufig geschah, war dieses Spiel wahrscheinlich zu Ende, bevor irgendjemandem in den Inneren Baronien von Mittwelt richtig klar wurde, dass John Farson eine ernsthafte Bedrohung darstellte… oder man gehörte zu denen, die ernsthaft an seine Vision von Demokratie und dem Ende der, wie er es nannte, »Klassensklaverei und uralten Märchen« glaubte, und sah in ihm einen ernst zu nehmenden Verfechter von Veränderungen.

Seinem Vater und Vaters kleinem Ka-Tet von Revolvermännern, erfuhr Roland zu seinem Erstaunen, lag so oder so wenig an Farson; sie betrachteten ihn als kleinen Fisch. Was das anging, betrachteten sie auch den Bund als kleinen Fisch.

Ich werde dich fortschicken, hatte Steven gesagt, während er auf dem Bett saß und seinen einzigen Sohn, den, der überlebt hatte, ernst ansah. Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Mittwelt, aber die Baronie Mejis am Reinen Meer ist so sicher, wie heutzutage ein Ort nur sein kann… Also wirst du dorthin gehen, zusammen mit mindestens zweien deiner Freunde. Alain, nehme ich an, wird einer darunter sein. Nur nicht dieser lachende Junge als anderen, ich flehe dich an. Du wärst mit einem bellenden Hund besser bedient.

Roland, der an jedem anderen Tag seines Lebens die Aussicht enthusiastisch begrüßt hätte, in die Welt hinaus geschickt zu werden, hatte energisch widersprochen. Wenn die letzten Schlachten gegen den Guten Mann geschlagen werden sollten, wollte er an der Seite seines Vaters kämpfen. Immerhin war er jetzt ein Revolvermann, wenn auch nur ein Lehrling, und…

Sein Vater hatte langsam und nachdrücklich den Kopf geschüttelt. Nein, Roland. Du verstehst nicht. Aber das wirst du; so gut es geht, das wirst du.

Später waren die beiden auf den hohen Zinnen über der letzten lebenden Stadt von Mittwelt spazieren gegangen – dem grünen und prachtvollen Gilead im Licht der Morgensonne, mit seinen flatternden Wimpeln und den Händlern auf den Straßen der Altstadt und Pferden, die auf den Reitwegen dahintrotteten, die strahlenförmig vom Palast wegführten, der im Zentrum von allem lag. Sein Vater hatte ihm mehr erzählt (nicht alles), und Roland hatte mehr verstanden (aber längst nicht alles – ebenso wenig wie sein Vater alles verstand). Der Dunkle Turm war dabei von keinem der beiden erwähnt worden, aber er beherrschte bereits Rolands Denken, eine Möglichkeit wie eine Sturmwolke, weit entfernt am Horizont.

Ging es bei alledem wirklich um den Turm? Nicht um einen plündernden Emporkömmling, der davon träumte, Mittwelt zu beherrschen, nicht um den Magier, der Rolands Mutter bezaubert hatte, nicht um die Glaskugel, die Steven und sein Trupp in Cressia zu finden gehofft hatten… sondern um den Dunklen Turm?

Er hatte nicht gefragt.

Er hatte nicht gewagt zu fragen.

Nun verschob er sein Bettzeug und schloss die Augen. Sofort sah er das Gesicht des Mädchens vor sich; er spürte wieder ihre Lippen, die fest auf die seinen gedrückt wurden, und roch den Duft ihrer Haut. Ihm wurde unverzüglich vom Scheitel bis zum Steißbein ganz heiß, aber gleichzeitig kalt vom Steißbein bis zu den Zehen. Dann dachte er daran, wie ihre Beine aufgeblitzt hatten, als sie von Rushers Rücken geglitten war (und an den Blick auf ihre Unterwäsche unter dem kurz hochgehobenen Kleid), und seine heiße und kalte Hälfte tauschten die Plätze.

Die Hure hatte ihm seine Jungfräulichkeit genommen, wollte ihn aber nicht küssen; sie hatte das Gesicht weggedreht, als er versucht hatte, sie zu küssen. Sie hatte ihn alles tun lassen, was er wollte, nur das nicht. Damals war er bitter enttäuscht gewesen. Nun war er froh darüber.

Mit dem inneren Auge seines halbwüchsigen Verstands, rastlos und klar zugleich, betrachtete er den Zopf, der auf ihrem Rücken bis zur Taille hinabhing, die sanften Grübchen, die sich an ihren Mundwinkeln bildeten, wenn sie lächelte, ihre musikalische Stimme, ihre altmodische Art, Ihr und Euer zu sagen, aye und Da’. Er dachte daran, wie sich ihre Hände auf seinen Schultern angefühlt hatten, als sie sich vorgereckt hatte, um ihn zu küssen, und dachte, er würde alles dafür geben, ihre Hände noch einmal dort zu spüren, so leicht und doch so fest. Und ihren Mund auf dem seinen. Es war ein Mund, der nur wenig vom Küssen verstand, wie er annahm, aber das war immerhin etwas mehr, als er selbst davon verstand.

Sei vorsichtig, Roland – lass nicht zu, dass deine Gefühle für dieses Mädchen dazu führen, dass sich die Dinge irgendwie überschlagen. Sie ist ohnehin nicht frei – so viel hat sie gesagt. Nicht verheiratet, aber auf andere Weise versprochen.

Roland war längst nicht das erbarmungslose Geschöpf, das er einmal werden sollte, aber der Keim dieser Erbarmungslosigkeit war bereits angelegt – kleine, steinerne Dinge, die im Lauf der Zeit zu Bäumen mit tiefen Wurzeln heranwachsen sollten… und mit bitteren Früchten. Nun platzte einer dieser Samen auf und ließ seine erste scharfe Klinge wachsen.

Was versprochen wurde, kann rückgängig gemacht werden, und was geschehen ist, kann ungeschehen gemacht werden. Nichts ist sicher, nur… Ich will sie.

Ja. Das wusste er mit Sicherheit, und er wusste es so sicher, wie er das Angesicht seines Vaters kannte: Er wollte sie. Nicht so, wie er die Hure gewollt hatte, als diese nackt und mit gespreizten Beinen auf dem Bett lag und mit ihren halb geschlossenen Augen zu ihm aufschaute, sondern auf eine Weise, wie er Essen wollte, wenn er hungrig war, oder Wasser, wenn ihn dürstete. In derselben Weise, vermutete er, wie er Martens staubigen Leichnam hinter seinem Pferd durch die Hauptstraße von Gilead schleifen wollte, um ihn dafür bezahlen zu lassen, was er Rolands Mutter angetan hatte.

Er wollte sie; er wollte das Mädchen Susan.

Roland drehte sich auf die andere Seite, schloss die Augen wieder und schlief ein. Sein Schlaf war unruhig und von den grobschlächtig poetischen Träumen heimgesucht, die nur heranwachsende Jungs hatten; Träume, in denen sexuelle Anziehung und romantische Liebe zusammenkamen und stärker widerhallten als jemals wieder im späteren Leben. In diesen durstigen Visionen legte Susan Delgado immer wieder ihre Hände auf Rolands Schultern, küsste ihn immer wieder auf den Mund, sagte ihm immer wieder, dass er zum ersten Mal zu ihr kommen, zum ersten Mal bei ihr sein sollte, dass er sie zum ersten Mal sehen sollte, sie sehr wohl ansehen solle.

 

 

2

 

Etwa fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo Roland schlief und seine Träume träumte, lag Susan Delgado in ihrem Bett, schaute zum Fenster hinaus und sah, wie der Alte Stern langsam in der Dämmerung verblasste. Der Schlaf war jetzt ebenso fern wie zuvor, als sie sich hingelegt hatte, und sie spürte ein Pochen zwischen den Beinen, wo die alte Frau sie angefasst hatte. Es war eine Ablenkung, aber nicht mehr unangenehm, weil sie es nun mit dem Jungen in Verbindung brachte, den sie auf der Straße getroffen und im Licht der Sterne impulsiv geküsst hatte. Jedes Mal, wenn sie die Beine bewegte, wurde das Pochen zu einem kurzen, süßen Schmerz.

Als sie nach Hause gekommen war, hatte Tante Cord (die in einer gewöhnlichen Nacht schon eine Stunde zuvor zu Bett gegangen wäre) in ihrem Schaukelstuhl am – um diese Jahreszeit erloschenen und kalten und von Asche gereinigten – Kamin gesessen und ein Spitzendeckchen auf dem Schoß liegen gehabt, das auf ihrem altmodischen schwarzen Kleid wie Gischt wirkte. Sie klöppelte mit einer Geschwindigkeit, die Susan nahezu übernatürlich vorkam, und hatte nicht aufgeschaut, als die Tür aufging und ihre Nichte, gefolgt von einer Windbö, hereinkam.

»Ich hatte dich schon vor einer Stunde zurückerwartet«, sagte Tante Cord. Und dann, obwohl es sich nicht so anhörte: »Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Aye!«, sagte Susan, und dann nichts mehr. Sie dachte, in jeder anderen Nacht hätte sie eine ihrer zaghaften Entschuldigungen präsentiert, die selbst in ihren eigenen Augen stets verlogen anmuteten – eine Wirkung, die Tante Cord ihr ganzes Leben lang bei ihr erzielt hatte –, aber dies war keine gewöhnliche Nacht. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine solche Nacht erlebt. Sie stellte fest, dass sie Will Dearborn nicht vergessen konnte.

Da hatte Tante Cord aufgesehen, und ihre dicht beieinander stehenden Knopfaugen hatten stechend und fragend über der scharfen Klinge des Nasenrückens geblickt. Manches hatte sich nicht verändert, seit Susan zum Cöos aufgebrochen war; sie konnte den Blick ihrer Tante immer noch spüren, der über ihr Gesicht und ihren Leib strich wie winzige Bürsten mit scharfen Borsten.

»Was hat dich so lange aufgehalten?«, fragte Tante Cord. »Gab es Schwierigkeiten?«

»Keine Schwierigkeiten«, hatte Susan geantwortet, aber einen Augenblick lang dachte sie daran, wie die Hexe neben ihr an der Tür gestanden und Susans Zopf durch die knotige Röhre einer locker geballten Faust hatte gleiten lassen. Sie entsann sich, dass sie hatte gehen wollen, und sie entsann sich, dass sie Rhea gefragt hatte, ob sie jetzt fertig seien.

Nun, vielleicht ist da noch eine winzige Sache, hatte die alte Frau gesagt… glaubte Susan jedenfalls. Aber was war diese Kleinigkeit gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber was spielte es schon für eine Rolle? Sie war Rhea los, bis Thorins Kind ihren Bauch wölben würde… Und wenn das Baby frühestens in der Erntenacht gemacht werden konnte, würde sie frühestens im tiefsten Winter auf den Cöos zurückkehren müssen. Eine Ewigkeit! Und es würde noch länger dauern, wenn sie nicht gleich empfangen würde…

»Ich bin langsam nach Hause gegangen, Tante. Das ist alles.«

»Und weshalb schaust du dann so aus?!«, hatte Tante Cord gefragt und die dünnen Brauen gegen die senkrechte Linie zusammengezogen, die ihre Stirn furchte.

»Wie denn?«, hatte Susan gefragt, ihre Schürze abgenommen, die Träger zusammengeknotet und sie am Haken an der Küchentür aufgehängt.

»Gerötet. Schaumig. Wie Milch frisch aus der Kuh.«

Sie hätte fast gelacht. Tante Cord, die von Männern so wenig wusste wie Susan von den Sternen und Planeten, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Gerötet und schaumig, ganz genau so fühlte sie sich. »Wahrscheinlich liegt es nur an der Nachtluft«, hatte sie gesagt. »Ich habe einen Meteor gesehen, Tante. Und ich habe die Schwachstelle gehört. Das Geräusch ist heute Nacht sehr laut.«

»Aye?«, hatte ihre Tante ohne großes Interesse gesagt, um dann zu dem Thema zurückzukehren, das sie wirklich interessierte. »Hat es wehgetan?«

»Ein wenig.«

»Hast du geschrien?«

Susan schüttelte den Kopf.

»Gut. Besser so. Immer besser so. Ich habe gehört, es gefällt ihr, wenn sie schreien. Also, Sue – hat sie dir etwas gegeben? Hat die alte Schachtel dir etwas gegeben?«

»Aye.« Sie griff in ihre Tasche und holte den Zettel heraus, auf dem

 

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geschrieben stand. Sie streckte ihn aus, und ihre Tante ergriff ihn mit einem gierigen Blick. Cordelia war in den vergangenen Monaten zuckersüß zu ihr gewesen, aber jetzt, wo sie hatte, was sie wollte (und nachdem Susan zu weit gegangen war und zu viel versprochen hatte, um noch einen Rückzieher machen zu können), war sie wieder zu der giftigen, hochmütigen und häufig misstrauischen Frau geworden, mit der Susan aufgewachsen war; die Frau, die von ihrem phlegmatischen Das-Leben-macht-was-es-will-Bruder zu allwöchentlichen Wutausbrüchen gereizt worden war. In gewisser Weise war das eine Erleichterung. Es war aufreibend gewesen, dass Tante Cordelia Tag für Tag Sybilla Sonnenschein gespielt hatte.

»Aye, aye, da ist ihr Zeichen, in Ordnung«, hatte Susans Tante gesagt und mit den Fingern über die untere Hälfte des Papiers gestrichen. »Es soll einen Teufelshuf darstellen, sagen manche, aber was schert uns das, hm, Sue? Sie mag ein garstiges, abscheuliches Geschöpf sein, aber sie hat es zwei Frauen möglich gemacht, noch ein bisschen länger in der Welt zurechtzukommen. Und du wirst sie nur noch einmal aufsuchen müssen, wahrscheinlich gegen Jahresende, wenn du empfangen hast.«

»Es wird später sein«, hatte Susan ihr gesagt. »Ich soll ihm erst beiwohnen, wenn der Dämonenmond voll ist. Nach dem Erntejahrmarkt und dem Freudenfeuer.«

Tante Cord hatte sie mit großen Augen und offenem Mund angesehen. »Das hat sie gesagt?«

Willst du mich etwa eine Lügnerin nennen, Tantchen?, hatte sie mit einer Schärfe gedacht, die ihr gar nicht ähnlich sah; normalerweise entsprach ihr Naturell mehr dem ihres Vaters.

»Aye.«

»Aber warum? Warum so lange?« Tante Cord war eindeutig außer sich, eindeutig enttäuscht. Bisher waren acht Silber- und vier Goldstücke bei der Sache herausgesprungen; sie waren dort versteckt, wo Tante Cord immer ihre Barschaft aufbewahrte (und Susan vermutete, dass das nicht wenig war, obschon Cordelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit Armut vorgab), und doppelt so viel stand noch aus… und würde fällig werden, sobald das blutbefleckte Laken in die Waschküche im Haus des Bürgermeisters gebracht werden würde. Noch einmal dieselbe Summe würde bezahlt werden, wenn Rhea das Baby und dessen Unversehrtheit bestätigte. Alles in allem eine Menge Geld. Eine große Menge für ein kleines Kaff wie dieses und kleine Leute wie sie. Und nun wurde die Auszahlung so weit hinausgeschoben…

Dann kam eine Sünde, um derentwillen Susan gebetet hatte (wenn auch ohne rechte Inbrunst), bevor sie ins Bett gegangen war: Sie hatte sich über den betrogenen, verzweifelten Gesichtsausdruck von Tante Cord gefreut – den Ausdruck eines Geizhalses, dem man einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

»Warum so lange!«, wiederholte sie.

»Ich nehme an, du könntest auf den Cöos gehen und die Hexe fragen.«

Cordelia Delgado hatte die ohnehin dünnen Lippen so fest zusammengepresst, dass sie beinahe verschwanden. »Bist du unverschämt, Miss? Bist du unverschämt zu mir?«

»Nein. Ich bin viel zu müde, um unverschämt zu jemandem zu sein. Ich möchte mich waschen – ich kann immer noch ihre Hände an mir spüren, das kann ich –, und ich will ins Bett.«

»Dann tu es. Vielleicht können wir uns morgen auf damenhaftere Weise darüber unterhalten. Und natürlich müssen wir zu Hart gehen.« Sie faltete das Papier zusammen, das Rhea Susan gegeben hatte, schien erfreut zu sein, dass sie Hart Thorin besuchen durfte, und bewegte die Hand zur Tasche ihres Kleides.

»Nein«, sagte Susan mit ungewöhnlich schneidender Stimme – so schneidend, dass die Hand ihrer Tante in der Bewegung erstarrte. Cordelia hatte sie unverhohlen erschrocken angesehen. Susan fühlte sich unter diesem Blick etwas verlegen, aber sie hatte den Blick nicht gesenkt, und ihre Hand zitterte nicht, als sie sie ausstreckte.

»Ich bin diejenige, die das aufbewahren soll, Tante!«

»Wer hat dir gesagt, dass du so sprechen sollst!«, hatte Tante Cord mit einer vor Entrüstung beinahe winselnden Stimme gefragt – Susan vermutete, dass es einer Blasphemie gleichkam, aber einen Augenblick lang hatte Tante Cords Stimme sie an das Geräusch der Schwachstelle erinnert. »Wer hat dir gesagt, dass du so mit der Frau sprechen sollst, die ein mutterloses Kind großgezogen hat? Mit der Schwester des armen toten Vaters dieses Mädchens?«

»Du weißt, wer«, sagte Susan. Sie hielt die Hand immer noch ausgestreckt. »Ich soll es aufbewahren, und ich soll es Bürgermeister Thorin geben. Sie hat gesagt, was danach damit geschieht, wäre ihr gleich, er könne sich den Hintern damit abwischen« (es war außerordentlich spaßig gewesen, mit anzusehen, wie das Gesicht ihrer Tante rot anlief), »aber bis dahin soll es in meiner Obhut bleiben.«

»So etwas habe ich noch nie gehört«, hatte Tante Cordelia geschmollt… Aber sie hatte ihr das schmutzige Stück Papier zurückgegeben. »Ein derart bedeutendes Dokument der Obhut eines so kleinen Krümels von einem Mädchen anzuvertrauen.«

Aber kein so kleiner Krümel, dass ich nicht sein Feinsliebchen sein kann, was? Dass ich nicht unter ihm liegen und seine Knochen knacken hören und seinen Samen empfangen und möglicherweise sein Kind austragen kann.

Sie sah auf ihre Tasche, als sie das Papier wegsteckte, weil sie Tante Cordelia die Verachtung, die in ihrem Blick lag, nicht sehen lassen wollte.

»Geh hinauf«, hatte Tante Cord gesagt und die Spitzenklöppelei von ihrem Schoß in das Nähkörbchen gefegt, wo sie in einem unüblichen Durcheinander liegen blieb. »Und wenn du dich wäschst, widme deinem Mund besondere Aufmerksamkeit. Reinige ihn von der Frechheit und Respektlosigkeit gegenüber denen, die viel Liebe für das Mädchen geopfert haben, dem er gehört.«

Susan war schweigend nach oben gegangen, hatte sich tausend Antworten verkniffen und war, wie so oft, die Treppe mit einer Mischung von Scham und Geringschätzung hinaufgestiegen.

Und nun lag sie in ihrem Bett und war immer noch wach, während die Sterne verblassten und die ersten helleren Töne den Himmel färbten. Die Ereignisse der gerade vergangenen Nacht gingen ihr wie ein phantastischer Bilderreigen durch den Kopf, gemischten Spielkarten gleich – und diejenige, die mit größter Beharrlichkeit aufgedeckt wurde, war die mit dem Gesicht von Will Dearborn. Sie dachte daran, wie hart dieses Gesicht werden konnte und wie unerwartet sanft schon im nächsten Augenblick. Und war es ein hübsches Gesicht? Aye, das dachte sie. Für sie auf jeden Fall.

Ich habe noch nie ein Mädchen gebeten, mit mir auszureiten, oder gefragt, ob sie einen Besuch von mir wohlheißen würde. Euch würde ich fragen, Susan, Tochter des Patrick.

Warum jetzt? Warum lerne ich ihn jetzt kennen, wo nichts Gutes daraus werden kann?

Wenn es Ka ist, wird es wie der Wind kommen. Wie ein Wirbelsturm.

Sie warf sich von einer Seite des Betts auf die andere und wälzte sich schließlich wieder auf den Rücken. Ihr war, als ob sie auch für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Sie konnte ebenso gut zur Schräge gehen, um dort den Sonnenaufgang zu betrachten.

Aber sie blieb weiter im Bett liegen und fühlte sich irgendwie krank und wohl zugleich, sah in die Schatten und lauschte dem ersten Zwitschern der Vögel, dachte daran, wie sich seine Lippen auf den ihren angefühlt hatten, ihre sanfte Rauheit und der Druck der Zähne unter den Lippen; an den Geruch seiner Haut und den rauen Stoff seines Hemds unter ihren Handflächen.

Diese Handflächen legte sie nun auf ihr Nachthemd und umfing die Brüste mit den Fingern. Die Brustwarzen waren so hart wie kleine Perlen. Und wenn sie sie berührte, loderte die Hitze zwischen ihren Beinen plötzlich und drängend auf.

Sie könnte schlafen, dachte sie. Sie könnte, wenn sie sich um die Hitze kümmern würde. Wenn sie nur wüsste, wie.

Aber das wusste sie. Die alte Frau hatte es ihr gezeigt. Auch ein Mädchen, das unberührt ist, muss nicht auf einen Kitzel dann und wann verzichten… Wie eine kleine Seidenknospe.

Susan legte sich im Bett anders hin und schob eine Hand weit unter die Decke. Sie verdrängte das Bild der glänzenden Augen und hohlen Wangen der alten Frau aus ihrem Denken – das war nicht schwer, wenn man es sich erst einmal vorgenommen hatte, stellte sie fest – und ersetzte es durch das Bild des Jungen mit dem großen Wallach und dem albernen flachen Hut. Einen Augenblick wurde die Vision in ihrem Kopf so klar und lieblich, als wäre sie wirklich und ihr anderes Leben nur ein trostloser Traum. In dieser Vision küsste er sie immer wieder, ihre Münder öffneten sich, ihre Zungen berührten sich; was er ausatmete, atmete sie ein.

Sie brannte. Sie brannte in ihrem Bett wie eine Fackel. Und als die Sonne kurze Zeit später schließlich über dem Horizont aufging, schlief sie tief, mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen, und ihr offenes Haar lag über einer Seite ihres Gesichts und auf dem Kissen wie gesponnenes Gold.

 

 

3

 

In der letzten Stunde vor der Dämmerung war es im Schankraum des Traveller’s Rest so ruhig, wie es nur sein konnte. Die Gaslichter, die den Lüster in den meisten Nächten bis gegen zwei Uhr in ein funkelndes Juwel verwandelten, waren zu flackernden blauen Pünktchen heruntergedreht worden; der lange, hohe Raum wirkte schattig und geisterhaft.

In einer der Ecken lag ein Durcheinander von Holztrümmern – Überreste von zwei Stühlen, die bei einem Streit wegen einer Partie Watch Me zertrümmert worden waren (die Kontrahenten residierten derzeit in der Ausnüchterungszelle des Hohen Sheriffs). In einer anderen Ecke befand sich eine ziemlich große Lache gerinnender Kotze. Auf dem erhöhten Podest am östlichen Ende des Raums stand ein arg mitgenommenes Klavier; am zugehörigen Schemel lehnte der Schlagstock aus Eisenholz, der Barkie gehörte, dem Mann fürs Grobe und Rausschmeißer des Saloons. Barkie selbst lag schnarchend unter dem Schemel, wo der nackte Hügel seines Bauchs über dem Saum seiner Kordhose aufragte wie ein Klumpen Brotteig. In der einen Hand hielt er eine Spielkarte: die Karo Zwei.

Am westlichen Ende des Raums standen die Kartentische. Auf einem lagen zwei Betrunkene, den Kopf auf dem grünen Filz, schnarchend und sabbernd. Ihre ausgestreckten Hände berührten sich. Über ihnen an der Wand hing ein Bild von Arthur, dem großen König von Eld, auf seinem weißen Hengst, sowie ein Bild, auf dem (in einer seltsamen Mischung aus der Hohen und der niederen Sprache) geschrieben stand: HADERE NICHT MIT DEN KARTEN, DIE DIR IM SPIEL UND IM LEBEN AUSGETEILT WERDEN.

Hinter dem Tresen, der sich durch die gesamte Länge des Raums erstreckte, war eine monströse Trophäe an die Wand montiert: ein Elch mit zwei Köpfen, einem Geweih, das wie ein dichtes Wäldchen aussah, und vier Glotzaugen. Dieses Tier trug bei den einheimischen Stammgästen des Traveller’s den Namen Wildfang. Warum das so war, konnte niemand sagen. Ein Witzbold hatte behutsam zwei Sauzitzen-Kondome über zwei Enden des Geweihs gestreift. Auf dem Tresen selbst, gleich unterhalb des missbilligenden Blicks des Wildfangs, lag Pettie das Trampel, eine der Tänzerinnen und leichten Mädchen des Traveller’s… Obschon Petties Mädchentage längst vergangen waren und sie bald gezwungen sein würde, ihrem Gewerbe hinter dem Traveller’s auf den Knien nachzugehen und nicht mehr oben in einer der winzigen Kammern. Ihre plumpen Beine waren gespreizt, eines hing an der Innenseite über den Tresen, eines an der Außenseite, dazwischen bauschte sich das schmutzige Durcheinander ihres Rocks. Sie atmete mit lang gezogenen Schnarchtönen und zuckte dann und wann mit ihren Füßen und Wurstfingern. Die einzigen anderen Geräusche waren der heiße Sommerwind draußen und das leise, regelmäßige Klatschen von Karten, die eine nach der anderen umgedreht wurden.

Neben der Schwingtür, die auf Hambrys Hauptstraße hinausging, stand ein kleiner Tisch abseits; dort saß Coral Thorin, die Besitzerin des Traveller’s Rest (und Schwester des Bürgermeisters), in den Nächten, wenn sie von ihrer Suite herabkam, »um an der Gesellschaft teilzunehmen«. Wenn sie herunterkam, kam sie früh – solange noch mehr Steaks als Whiskey über den zerkratzten Tresen geschoben wurden – und ging etwa zu der Zeit wieder nach oben, wenn Sheb, der Klavierspieler, seinen Platz einnahm und anfing, auf sein grässliches Instrument einzuhämmern. Der Bürgermeister selbst kam niemals hierher, obwohl allgemein bekannt war, dass ihm der Traveller’s mindestens zur Hälfte gehörte. Dem Thorin-Clan gefiel das Geld, das das Etablissement einbrachte; nur der Anblick nach Mitternacht gefiel ihnen nicht, dann wenn das Sägemehl auf dem Boden das verschüttete Bier und das vergossene Blut aufzusaugen begann. Dennoch hatte Coral, die vor zwanzig Jahren der Typ gewesen war, den man als »wildes Kind« bezeichnete, einen harten Zug an sich. Sie war jünger als ihr Politikerbruder, nicht so dünn, und mit ihren Glupschaugen und dem Wieselkopf auf eine eigentümlich herbe Weise hübsch. Niemand setzte sich zu ihr an den Tisch, solange der Saloon geöffnet hatte – Barkie hätte jeden daran gehindert, der es gewagt hätte, und zwar schleunigst –, aber jetzt war geschlossen, die Betrunkenen weitgehend gegangen oder oben umgekippt; Sheb schlief zusammengerollt in der Ecke hinter seinem Klavier. Der schwachsinnige Junge, der immer das Etablissement putzte, war seit etwa zwei Uhr fort (unter Johlen und Beleidigungen und ein paar fliegenden Biergläsern hinausgejagt worden, so wie immer; zumal Roy Depape verspürte keinerlei Zuneigung zu diesem speziellen Burschen). Gegen neun oder so würde er wiederkommen und den alten Amüsierpalast für eine weitere ausgelassene Nacht vorbereiten, aber bis dahin hatte der Mann, der an Mistress Thorins Tisch saß, das Lokal ganz für sich allein.

Vor ihm lag eine Patience: Schwarz auf Rot, Rot auf Schwarz, und über allem die bereits abgelegten Karten, genau wie es in den Angelegenheiten der Menschen sein sollte. In der linken Hand hielt der Spieler den Rest des Blatts. Wenn er die Karten eine nach der anderen umdrehte, bewegte sich die Tätowierung auf seiner rechten Hand. Es sah irgendwie beunruhigend aus, so als würde der Sarg atmen. Der Kartenspieler war ein älterer Herr, nicht so dünn wie der Bürgermeister und dessen Schwester, aber dennoch dünn. Sein langes, weißes Haar fiel ihm auf den Rücken. Er war braungebrannt, außer am Hals, wo er immer einen Sonnenbrand bekam; die Haut dort hing in Lappen herab. Sein Schnurrbart war so lang, dass die zerfransten weißen Enden fast bis zum Kinn hinabhingen – ein falscher Revolvermannschnurrbart, dachten viele, aber niemand hätte Eldred Jonas das Wort »falsch« ins Gesicht gesagt. Er trug ein weißes Seidenhemd, ein Revolver mit schwarzem Griff hing tief an seiner Hüfte. Seine großen, rot geränderten Augen wirkten auf den ersten Blick traurig. Ein zweiter, gründlicherer Blick zeigte, dass sie lediglich wässrig waren. Abgesehen davon blickten sie so emotionslos drein wie die Augen des Wildfangs.

Er drehte das Kreuz-Ass um. Kein Platz dafür. »Pah, du Miststück«, sagte er mit einer seltsam quäkenden Stimme. Sie zitterte obendrein wie die Stimme eines Mannes, der gleich in Tränen ausbrechen würde. Sie passte perfekt zu seinen feuchten, rot geränderten Augen. Er strich die Karten zusammen.

Bevor er neu mischen konnte, ging oben leise eine Tür auf und wieder zu. Jonas legte die Karten beiseite und die Hand auf den Revolvergriff. Als er hörte, dass es nur Reynolds war, der da in seinen Stiefeln die Galerie entlanggeschritten kam, ließ er die Waffe los und zog stattdessen den Tabaksbeutel vom Gürtel. Der Saum des Mantels, den Reynolds immer trug, kam in Sicht, und dann kam er selbst die Treppe herunter – mit frisch gewaschenem Gesicht und seinem roten Lockenhaar, das ihm über die Ohren hing. Bildete sich viel auf sein gutes Aussehen ein, der liebe alte Mr. Reynolds, aber warum auch nicht? Er hatte seinen Schwanz auf Erkundung in mehr feuchte und warme Spalten hineingeschoben, als Jonas je in seinem Leben gesehen hatte, und dabei war Jonas doppelt so alt.

Am unteren Ende der Treppe angelangt, ging Reynolds am Tresen entlang, blieb kurz stehen, um einen der plumpen Oberschenkel von Pettie zu drücken, und kam dann herüber zu dem Tisch, wo Jonas mit seinem Gewinn und seinem Kartenspiel saß.

»Abend, Eldred.«

»Morgen, Clay.« Jonas machte den Beutel auf, holte ein Blättchen heraus und krümelte Tabak darauf. Seine Stimme zitterte, aber seine Hände waren ruhig. »Möchtest du eine mitrauchen?«

»Könnte eine vertragen.«

Reynolds zog einen Stuhl heran, drehte ihn um, setzte sich und verschränkte die Arme auf der Lehne. Als Jonas ihm die Zigarette gab, ließ Reynolds sie über die Finger tanzen, ein alter Revolvermanntrick. Die Großen Sargjäger kannten eine Menge alte Revolvermanntricks.

»Wo ist Roy? Bei Ihrer Hochtrabendheit?« Sie waren jetzt etwas über einen Monat in Hambry, und in dieser Zeit hatte Depape eine Leidenschaft für eine fünfzehnjährige Hure namens Deborah entwickelt. Ihr o-beiniger, stapfender Gang und ihre Art, mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne zu schauen, weckten in Jonas den Verdacht, dass sie ein Cowgirl aus einer langen Reihe von Cowgirls war, wenngleich sie eine hochnäsige Art an sich hatte. Clay hatte angefangen, das Mädchen Ihre Hochtrabendheit zu nennen, Ihre Majestät oder manchmal (wenn er betrunken war) »Roys Krönungsfotze«.

Jetzt nickte Reynolds. »Es ist, als wäre er berauscht von ihr.«

»Der kommt schon wieder zu sich. Er wird uns nicht auffliegen lassen wegen einem kleinen Betthäschen mit Pickeln auf den Titten. Mann, die ist so dumm, dass sie Katze nicht buchstabieren kann. Nicht einmal Katze, nein. Ich hab sie gefragt.«

Jonas drehte eine zweite Zigarette, holte ein Schwefelholz aus dem Beutel und riss es mit dem Daumennagel an. Er zündete zuerst Reynolds’ Zigarette an, dann seine.

Ein kleiner gelber Köter kam unter der Flügeltür herein. Die Männer beobachteten ihn schweigend und rauchend. Er durchquerte den Raum, schnupperte zuerst an der geronnenen Kotze in der Ecke und machte sich danach daran, sie zu fressen. Sein Stummelschwanz wedelte hin und her, während er speiste.

Reynolds nickte zu dem Sinnspruch, nicht mit den Karten zu hadern, die einem ausgeteilt wurden. »Ich würde sagen, diese Töle da würde das verstehen.«

»Ganz und gar nicht, ganz und gar nicht«, widersprach Jonas. »Nur ein Hund, mehr ist er nicht, ein Hund, der Erbrochenes frisst. Ich hab vor zwanzig Minuten ein Pferd gehört. Zuerst kommen, dann gehen. Könnte es eine unserer angeheuerten Wachen gewesen sein?«

»Dir entgeht gar nichts, was?«

»Verlass dich nicht drauf, nein, verlass dich nicht drauf. War es so?«

»Jawoll. Ein Bursche, der für einen der kleinen Landbesitzer am östlichen Ende der Schräge arbeitet. Er hat sie kommen sehn. Drei. Jung. Babys.« Reynolds sprach das letzte Wort wie in den Nördlichen Baronien üblich aus: Babbies. »Also kein Grund zur Sorge.«

»Sachte, sachte, das wissen wir nicht«, sagte Jonas, der sich aufgrund seiner zitternden Stimme wie ein willfähriger alter Mann anhörte. »Junge Augen sehen weit, sagt man.«

»Junge Augen sehen das, was man ihnen zeigt«, entgegnete Reynolds. Der Hund lief an ihnen vorbei und leckte sich die Lefzen. Reynolds verabschiedete ihn mit einem Tritt, und der Köter war nicht schnell genug, ihm auszuweichen. Er rannte unter der Flügeltür durch und stieß dabei kläffende Laute aus, bei denen Barkie hinter seinem Klavier heftig schnarchte. Er öffnete seine Hand, und die Spielkarte fiel heraus.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Jonas. »Jedenfalls sind sie Bälger des Bundes, Söhne von den großen Anwesen im Grünen Irgendwo, wenn Rimer und dieser Narr, für den er arbeitet, es richtig mitbekommen haben. Das bedeutet, wir werden sehr, sehr vorsichtig sein. Behutsam auftreten, wie auf Eierschalen. Wir sind noch mindestens drei Monate hier! Und diese jungen Spunde könnten die ganze Zeit hier sein, dies zählen und das zählen, um alles aufzuschreiben. Leute, die Inventur machen, sind im Augenblick nicht gut für uns. Nicht für Männer, die in der Nachschubbranche tätig sind.«

»Komm schon, das ist eine Strafarbeit, mehr nicht – ein Schlag auf die Finger, weil sie Ärger gemacht haben. Ihre Daddys…«

»Ihre Daddys wissen, dass Farson mittlerweile den gesamten Südwestlichen Rand kontrolliert und fest im Sattel sitzt. Diese Bengel wissen es vielleicht auch – dass die Zeit des Bundes mit seinem Adelsgesindel so gut wie abgelaufen ist. Man kann nie wissen, Clay. Bei solchen Leuten kann man nie sagen, welche Richtung sie einschlagen. Im günstigsten Fall versuchen sie, eine halbwegs anständige Arbeit zu leisten, nur um sich wieder gut mit ihren Eltern zu stellen. Wir werden es besser wissen, wenn wir sie sehen, aber eins will ich dir sagen: Wir können ihnen nicht einfach die Revolver an den Hinterkopf halten und sie abknallen wie ein Pferd mit einem gebrochenen Bein, wenn sie etwas sehen, was sie nicht sehen sollen. Ihre Daddys mögen wütend auf sie sein, solange sie noch leben, aber ich denke mir mal, wenn sie tot sind, wäre alles vergeben und vergessen – so sind Daddys nun mal. Wir sollten vorsichtig sein, Clay; so vorsichtig, wie wir nur können.«

»Dann sollten wir Depape lieber raushalten.«

»Roy kommt schon klar«, sagte Jonas mit seiner zitternden Stimme. Er warf die Kippe seiner Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. Dann sah er dem Wildfang in die Glasaugen und kniff die Augen zusammen, als würde er rechnen. »Heute Nacht, hat dein Freund gesagt? Sie sind heute Nacht angekommen, diese Bengel?«

»Jawoll.«

»Dann, schätze ich, werden sie morgen Avery ihren Besuch abstatten.« Gemeint war Herk Avery, der Hohe Sheriff von Mejis und Polizeipräsident von Hambry, ein großer Mann, der so schlaff war wie ein Bündel Wäsche.

»Denk ich auch«, sagte Clay Reynolds. »Um ihre Papiere zu präsentieren und alles.«

»Ja, Sir, ja, wahrhaftig. Wie geht’s Ihnen, wie geht’s Ihnen, und noch mal wie geht’s Ihnen?«

Reynolds sagte nichts. Er verstand Jonas häufig nicht, aber er ritt seit seinem fünfzehnten Lebensjahr mit ihm und wusste, dass es für gewöhnlich besser war, nicht nach einer Erklärung zu fragen. Tat man es doch, bekam man meistens einen Manni-Kult-Vortrag über die anderen Welten zu hören, die der alte Geier durch, wie er sich ausdrückte, »besondere Türen« besucht hatte. Soweit es Reynolds betraf, gab es genug normale Türen auf der Welt, um ihn beschäftigt zu halten.

»Ich spreche mit Rimer, und Rimer wird mit dem Sheriff darüber reden, wo sie untergebracht werden sollen«, sagte Jonas. »Ich denke an das Schlafhaus der alten Bar K Ranch. Weißt du, wo ich meine?«

Reynolds wusste es. In einer Baronie wie Mejis lernte man die wenigen Orientierungspunkte schnell kennen. Die Bar K war ein menschenleerer Landstrich nordwestlich der Stadt, nicht sonderlich weit von jenem unheimlichen heulenden Canyon entfernt. In jedem Herbst entfachten sie ein Feuer am Anfang des Canyons, und einmal, vor sechs oder sieben Jahren, hatte sich der Wind gedreht und in die falsche Richtung zurückgeweht und den größten Teil der Bar K niedergebrannt – Schuppen, Stallungen und das Haupthaus. Aber das Schlafhaus war verschont geblieben, und es war ein guter Platz für drei Muttersöhnchen aus den Inneren. Es lag fern von der Schräge; es lag auch fern von dem Ölfeld.

»Gefällt dir, was?«, sagte Jonas mit einem übertriebenen Hambry-Akzent. »Aye, das gefällt dir sehr, sieht man dir an, mein Freund. Weißt du, was sie in Cressia sagen? ›Wenn du das Tafelsilber aus dem Esszimmer stehlen willst, sperr zuerst den Hund in die Vorratskammer.‹«

Reynolds nickte. Das war ein guter Rat. »Und diese Lastwagen? Diese Wie-nennst-du-sie-noch, Tankwagen?«

»Sind gut aufgehoben da, wo sie sind«, sagte Jonas. »Nicht, dass wir sie bewegen könnten, ohne die falsche Art von Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, hm? Du und Roy, ihr solltet rausgehen und sie mit Zweigen abdecken. Schön dicht und dick drauflegen. Das macht ihr übermorgen.«

»Und wo wirst du sein, während wir draußen bei Citgo unsere Muskeln spielen lassen?«

»Tagsüber? Mich auf das Dinner im Haus des Bürgermeisters vorbereiten, du Holzkopf – das Dinner, das Thorin geben wird, um seiner popeligen kleinen Gesellschaft seine Gäste aus der großen Welt vorzustellen.« Jonas drehte eine neue Zigarette. Dabei richtete er seinen Blick auf den Wildfang, nicht darauf, was er machte, und verschüttete trotzdem kaum ein Krümelchen Tabak. »Ein Bad, eine Rasur, einen Schnitt für diese verfilzten Altmännerlocken… Vielleicht wichse ich mir sogar den Bart, Clay, was würdest du dazu sagen?«

»Brich dir keinen ab, Eldred.«

Jonas lachte so schrill, dass Barkie zu murmeln anfing und Pettie sich unbehaglich auf ihrem behelfsmäßigen Bett auf der Bar rekelte.

»Also werden Roy und ich nicht zu dieser schicken Gesellschaft eingeladen.«

»Ihr werdet eingeladen werden, o doch, ihr werdet außerordentlich herzlich eingeladen werden«, sagte Jonas und reichte Reynolds die frische Zigarette. Er drehte eine weitere für sich selbst. »Ich werde euch aber entschuldigen. Ich werde euch Jungs keine Schande machen, verlasst euch auf mich. Gestandene Männer werden weinen.«

»Und alles nur, damit wir den Tag da draußen in Staub und Gestank verbringen und diese Wracks abdecken können. Du bist zu gütig, Jonas.«

»Ich werde auch Fragen stellen«, sagte Jonas verträumt. »Ich werde umherschlendern… geschniegelt aussehen, nach Myrte duften… und meine kleinen Fragen stellen. Ich habe Leute in unserer Branche kennen gelernt, die zu einem dicken, gutmütigen Kerl gehen, um den Klatsch zu erfahren – einem Saloonbesitzer oder Barkeeper, möglicherweise einem Mietstallbesitzer oder einem dieser pausbäckigen Burschen, die immer vor dem Gefängnis oder dem Gerichtsgebäude herumhängen und die Daumen in die Westentaschen einhaken. Was mich selbst betrifft, Clay, ich finde immer, dass eine Frau die beste Quelle ist, und je dünner, desto besser – eine, bei der die Nase weiter absteht als die Titten. Ich suche nach einer, die sich nicht die Lippen anmalt und das Haar streng am Kopf anliegen hat.«

»Schwebt dir schon jemand vor?«

»Yar. Cordelia Delgado ist ihr Name.«

»Delgado?«

»Du kennst den Namen, ich schätze, derzeit reden sie in der ganzen Stadt über nichts anderes. Susan Delgado, das zukünftige Feinsliebchen unseres geschätzten Bürgermeisters. Cordelia ist ihre Tante. Und nun eine Erkenntnis über die menschliche Rasse, die ich herausgefunden habe: Die Leute reden lieber mit jemandem wie ihr, der sie kurz hält, als mit den ortsansässigen kreuzfidelen Typen, die sie zu einem Drink einladen. Und diese Lady hält sie kurz. Ich werde mich beim Essen neben sie setzen, ich werde ihr ein Kompliment wegen ihres Parfüms machen, das sie zweifellos nicht auflegen wird, und ich werde dafür sorgen, dass ihr Weinglas immer voll ist. Hört sich das nach einem guten Plan an?«

»Einem Plan wofür? Das möchte ich gern wissen.«

»Für die Partie Kastell, die wir möglicherweise spielen müssen«, sagte Jonas, und auf einmal verschwand jegliche Heiterkeit aus seiner Stimme. »Wir sollen glauben, dass diese Jungs mehr zur Strafe hierher geschickt wurden, als um tatsächlich eine Arbeit zu erledigen. Und das klingt auch plausibel. Ich habe genügend Tunichtgute kennen gelernt, und es klingt wahrlich plausibel. Ich glaube es jeden Tag bis drei Uhr morgens, und dann kommen mir kleine Zweifel. Weißt du was, Clay?«

Reynolds schüttelte den Kopf.

»Ich habe Recht, zu zweifeln. So, wie ich Recht hatte, mit Rimer zu dem alten Thorin zu gehen und ihn zu überzeugen, dass Farsons Glaskugel vorläufig bei der Hexenfrau besser aufgehoben ist. Sie wird sie an einem Ort aufbewahren, wo selbst ein Revolvermann sie nicht finden würde, geschweige denn ein naseweiser Bengel, der sein erstes Stück Arsch noch vor sich hat. Es sind seltsame Zeiten. Ein Sturm braut sich zusammen. Und wenn man weiß, dass es windig wird, tut man besser daran, seine Ausrüstung festzuzurren.«

Er betrachtete die Zigarette, die er gedreht hatte. Er hatte sie, so wie Reynolds zuvor, über die Knöchel tanzen lassen. Jonas schob sein Haar zurück und steckte sich die Zigarette hinters Ohr.

»Ich will jetzt nicht rauchen«, sagte er, stand auf und streckte sich. Sein Rücken knackte leise. »Ich muss verrückt sein, um diese Zeit zu rauchen. Zu viele Zigaretten werden einen alten Mann wie mich wach halten.«

Er ging zur Treppe und kniff Pettie unterwegs in deren bloßes Bein, so wie es auch Reynolds zuvor getan hatte. Am unteren Ende der Treppe angekommen, drehte er sich um.

»Ich will sie nicht umbringen. Die Lage ist auch so kompliziert genug. Ich werde ein bisschen riechen, was mit ihnen nicht stimmt, aber keinen Finger rühren, nein, keinen einzigen Finger meiner Hand. Aber… ich möchte ihnen ihren Platz im großen Plan des Lebens klar machen.«

»Ihnen eins auf die Finger geben.«

Jonas strahlte. »Yessir, Partner, vielleicht möchte ich ihnen nur eins auf die Finger geben. Damit sie es sich späterhin zweimal überlegen, ob sie sich mit den Großen Sargjägern anlegen wollen, wenn es darauf ankommt. So, dass sie einen großen Bogen um uns machen, wenn sie uns auf der Straße sehen. Yessir, darüber sollte man nachdenken. Das sollte man wirklich.«

Er ging die Treppe hinauf, kicherte leise, und sein Hinken war deutlich zu sehen – spät nachts wurde es schlimmer. Es war ein Hinken, das Cort, Rolands alter Lehrmeister, möglicherweise erkannt haben würde, weil Cort den Schlag gesehen hatte, der es verursachte. Corts Vater hatte ihn mit einem Eisenholzschläger ausgeteilt und Eldred Jonas’ Bein im Garten hinter dem Großen Saal von Gilead gebrochen, bevor er dem Jungen dessen Waffe abgenommen und ihn, ohne Revolver, nach Westen geschickt hatte, in die Verbannung.

Mit der Zeit hatte der Mann, zu dem der Junge herangewachsen war, natürlich einen Revolver gefunden; Verbannte fanden stets Revolver, wenn sie lange genug danach suchten. Dass solche Waffen niemals dasselbe sein konnten wie die großen mit den Sandelholzgriffen, quälte sie möglicherweise für den Rest ihres Lebens, aber wer eine Schusswaffe suchte, konnte sie immer noch finden, selbst in dieser Welt.

Reynolds sah ihm nach, bis er außer Sicht war, dann setzte er sich an Coral Thorins Tisch, mischte die Karten und setzte das Spiel fort, das Jonas halb fertig liegen gelassen hatte.

Draußen ging die Sonne auf.