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Ich sehe die Nachricht sofort, als ich reinkomme. Sie lehnt auf dem Küchentisch an einer Vase. Die Handschrift ist typisch für einen Teenager: breit, weich, mit Kreisen als i-Punkten. Ich versuche, mich davon abzuhalten, mir einen Stift zu nehmen und die Fehler zu korrigieren (vor allem die fehlenden Personalpronomen).
Liebe große Schwester!
Habs mit meinem Exfreund geregelt und bin nach Hause gefahrn. Sorry wegen dem ganzen Ärger. War echt nett, das mit dem Wohnen bei dir, vor allem, wo ich doch weiß, wie beschäftigt du bist. War toll dich zu sehen. Und sorry, wenn ichs am Ende vermaselt hab.
C u soon (hoffe ich!)
Alles Liebe
Lex xxx
Das »Sorry, wenn ich’s am Ende vermasselt hab« schnürt mir für einen Moment die Kehle zu, aber um ehrlich zu sein, empfinde ich während des Lesens vor allem Erleichterung. Sie hat ihre Probleme gelöst – offensichtlich der Grund, warum sie überhaupt hergekommen ist –, und jetzt kann sie wieder gehen. Vielleicht war die kleine Unterbrechung, die ich ihr bieten konnte, ja alles, was sie brauchte.
Ich überlege kurz, ob es ein bisschen komisch ist, dass sie mir keine SMS geschrieben oder mich angerufen hat, um mir das zu sagen, aber man weiß ja, wie Teenager so sind. Theatralisch. Sie wollte vermutlich nicht den dramatischen Moment ruinieren, in dem ich ihren Abschiedsbrief finde.
Ich gehe in die Küche, und mich überkommt plötzlich ein Gefühl der Ruhe, weil ich das Haus jetzt wieder für mich allein habe. Geistesabwesend sortiere ich die Tee-, Kaffee- und Zuckerdosen wieder so, wie ich es mag, und beschließe, die Küche zu ent-Lex-en, indem ich die verstreuten Rice Krispies entferne, von denen einige den Weg in den Wasserkocher gefunden haben, und die roten Flecken von den Kacheln, die ihre tägliche Frucht-Smoothie-Zubereitung hinterlassen hat. Bevor ich mich versehe, schrubbe ich mit der Zahnbürste das Innere der Hähne. Ich bin dem Ruf der Küche gefolgt. Herrlich!
Gegen sieben setze ich mich mit einem großen Glas Wein hin. Gestärkt durch die Küchenreinigung denke ich darüber nach, bei Facebook reinzuschauen, wo ich mich gerne damit quäle, mir Bilder von Toby und Rachel anzusehen. Ich hoffe, dass durch das ständige Betrachten eine Immunität eintritt. Außerdem gibt es eins von ihr mit Doppelkinn, bei dem ich mich immer besser fühle. Mir ist auch aufgefallen, dass sie sehr schlecht geschnittene Jeans trägt. (Hör auf, hör auf, hör auf!)
Dann fällt mir ein, dass ich vielleicht schnell bei Dad anrufen und sichergehen sollte, dass er Lexi vom Bahnhof abholt. Es wäre sehr unhöflich, wenn ich nicht wenigstens nachfragen würde. Dad geht dran. Er klingt gedämpft und doch irgendwie ekstatisch. High. High von seinem Motivationsvortrag.
»Hi, Dad. Hier ist Caroline.«
»Hal-lo, Caro!« Er sagt es in einem Singsang und so übertrieben, als müsse er ein Baby beruhigen. »Wie geht es meinem Lieblingsmädchen?«
»Oh, prima. Ja, prima.«
Ich war nie besonders gut darin, mit Dads neuer Persönlichkeit zurechtzukommen, weil sie so ganz anders ist als die, mit der ich aufgewachsen bin.
»Wo bist du Dad? Du klingst so weit weg.«
»Ah, ja. Tja. Komisch, dass du das erwähnst …«
Er lacht sein nervöses Lachen. Drei kurze, völlig aufgesetzte »Ha!«, die mich total auf die Palme bringen, aber ich muss ruhig bleiben. Ich darf ihn nicht glauben lassen, dass es hier ein Problem gibt.
»Cass und ich sind eingeladen worden, einen Vortrag zu halten. Wir sind in …« Er sagt es ziemlich schnell, deshalb verstehe ich es nicht richtig, aber es klingt wie London.
»Was? Ihr seid in London?«
»Nein … Atlanta. Wir sind in Atlanta.«
»Atlanta?! Was zum Teufel macht ihr in Atlanta?«
Erst als ich den Schock überwunden habe, dass er in Atlanta, USA, ist, fange ich an, eins und eins zusammenzuzählen: Wenn er dort ist – wo ist dann meine Schwester?
»Wir bleiben nicht lange.«
»Wie lange?«
»Äh … dreizehn Tage.«
»Also zwei Wochen?«
»Na ja, nicht ganz.«
»Es sind zwei Wochen, Dad.«
Er räuspert sich.
»Richtig. Aber bei euch ist doch alles okay, oder? Ich meine, wir haben Lex gesagt, wo wir sind, und sie schien nichts dagegen zu haben. Es geht ihr doch gut, oder?«
Mein Gehirn schiebt schon Überstunden: Drogenhöllen, Kopfsteinpflastergassen, Müllcontainer.
»Ja, natürlich, ihr geht’s gut.«
»Es kam ganz kurzfristig, Schatz, und wir haben versucht, dich anzurufen, aber …«
»Mein Handy war ausgeschaltet.«
»Ja, dein Handy war ausgeschaltet. Und es ist eine großartige Chance, wir wären dumm gewesen, sie nicht zu ergreifen. Wenn wir in Amerika Erfolg haben …«
Was glaubt er, wer er ist? Susan Boyle?
»… dann können wir es mit Healing Horizons auf eine ganz neue Ebene schaffen.«
Er redet weiter, aber jetzt, wo ich über die Situation Bescheid weiß, will ich einfach nur auflegen. Jetzt sind Lexi und ich auf uns gestellt, und die Hälfte von uns fehlt. Ich habe das dumme Gefühl, dass das alles meine Schuld ist.
***
Das Wichtigste zuerst: Ich versuche, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber es erklingt erneut nur die bizarre Mailbox-Ansage, auf der Lexi »Lexi Stee-yel!« schreit, als säße sie in einer Achterbahn, die gerade von ganz oben herunterrast. Aber ich bin gerade dabei zu entdecken, dass Lexi fast ihr ganzes Leben so lebt, als säße sie in einer Achterbahn, die gerade von ganz oben herunterrast.
Ich hinterlasse eine Nachricht. Die dritte.
»Schon wieder ich. Hör zu, Lex. Ich weiß, dass du nicht nach Hause gefahren bist, weil ich gerade Dad angerufen habe, und er ist in Atlanta – wie du weißt. Also BITTE ruf mich an. Es tut mir leid wegen unseres Streits gestern Abend, ich bin nicht wütend auf dich, und du hast nichts falsch gemacht … Naja, abgesehen davon, dass du weg warst und dich betrunken hast, statt zu deinem Sportkurs zu gehen, und dass du mir nicht gesagt hast, mit wem du unterwegs warst. Deshalb mache ich mir jetzt solche Sorgen, weil ich nicht weiß, mit wem du unterwegs bist, und London ist nicht wie Doncaster. Du kannst nicht einfach …«
Piep. Piep. Piep.
Verdammt. Kein Platz mehr auf der Mailbox. Ich sitze am Küchentisch, das Telefon in der Hand, und kratze an einem Ekzem auf meiner Hand, das von Tag zu Tag schlimmer zu werden scheint. Was würde die Polizei in so einer Situation tun? Hat Lexi London überhaupt verlassen? Kann man, wenn man erst eine Stunde lang weiß, dass jemand nicht da ist, schon eine Vermisstenanzeige aufgeben? Ich schätze, ich sollte bei mir selbst anfangen. Nur am Küchentisch rumzusitzen bringt mich nicht weiter; ich brauche eine Liste, einen AP. Ich reiße eine Seite aus einem A4-Notizbuch und fange an:
• Carly: Sie wird wissen, wo Lexi ist. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich Carly kontaktieren kann. Ich kenne nicht mal ihren Nachnamen.
• E-Mail: Ich könnte mich bei Hotmail reinhacken und nachsehen, was sie gerade treibt, weiß aber das Passwort nicht.
• Facebook: Genial! Lexi ist einer meiner »Freunde«, also sollte ich auf ihre Pinnwand kommen.
• Wenn nichts funktioniert: Dann laufe ich durch die Straßen von London und suche sie selbst.
• Ich trommle einen Suchtrupp zusammen.
• Ich rufe Martin an. Nein, ich kann Martin nicht anrufen; er ist nicht mein Freund, er ist der Freund einer anderen.
Ich rufe Martin an.
Er kommt zwanzig Minuten später, und da haben mich die Bilder von den Müllcontainern schon völlig überschwemmt, und ich sitze auf dem Sofa, den Kopf in den Händen vergraben.
Martin steht vor mir, die Hände in den Taschen, und sein Bauch schaut unter seinem braunen Gap-T-Shirt heraus, während er ein komisches »Hmmm« vor sich hin brummt.
»Es ist alles meine Schuld«, sage ich. »Ich sollte auf sie aufpassen, ich war für sie verantwortlich, und dann hatten wir gestern Abend einen Streit, aber ich war so besessen von meiner verdammten Arbeit und To…«
Ich verstumme gerade noch rechtzeitig.
»To…tal beschäftigt, sodass ich vergessen habe, dass sie nicht zurückgerufen hat, und dann war es zu spät, und jetzt …«
»Ich glaube, anstatt in Selbstmitleid zu versinken, sollten wir lieber handeln, Caro, hmmm?«
Er hat natürlich recht. Das hat er immer.
Wir versuchen es zuerst bei Facebook. Alles, was ich auf ihrer Pinnwand sehe, ist jedoch ein Dialog zwischen Lexi und Carly Greenford. Das ist also ihr Nachname. Carly scheint mächtig wütend zu sein, aber ich wäre auch ziemlich wütend, wenn ich befürchten müsste, schwanger zu sein, und mein Freund mich gerade verlassen hätte.
Auf ihrem Profilbild hat Carly gewellte blonde Haare und runde Bäckchen. Sie sieht aus wie ein Engel. Aber sie schreibt:
Carly Greenford an Alexis Simone Steele: Habe beschlossen, wofür S steht: SACK. Er sollte mich vor zwei Tagen treffen, war aber nicht da, also kann er mich jetzt mal. Ich bin offiziell über ihn weg. Wem mache ich was vor? Ich werde nie über ihn wegkommen!
Alexis Simone Steele (riesiger Pelzmantel, Lidschatten, Schmollmund) an Carly Greenford: Vergiss ihn! Du hast was Besseres verdient als das. DGYF! I love you, Meerkatze. Muah xxx
Carly Greenford an Alexis Simone Steele: Aaaah! Ich liebe dich auch, Meerkatze. Was machen wir denn bloß? Wir sind irre schlaue Bräute und lassen uns von so Idioten verarschen. Grrr. Du warst auch viel zu gut für den. Der Kerl ist tot für dich. CM, okay? Muah xxx
»DGYF?«, murmelt Martin verwirrt.
»Damn girl you’re fine – dir geht’s gut, Mädchen.« Ich weiß das, weil Lexi mir das schon mal in einer SMS geschrieben hat.
»Oh, genau. Und CM?«
»Call me – ruf mich an.«
»Richtig«, sagt er und klingt zufrieden mit sich. »Es ist gar nicht so schwer, wenn man den Dreh einmal raushat, oder?«
»Also ist Lexi verlassen worden. Das ist los mit ihr«, sage ich halb zu mir selbst.
»Äh? Woraus liest du das?«
»Weil Carly schreibt: ›Er ist tot für dich.‹«
»Tot für dich?« Martin schiebt sein Kinn zurück, wenn er verwirrt ist, wodurch er – wie ich finde – langsam wie Gordon Brown aussieht.
»Ja, tot für dich, du weißt schon.«
Mann, wir haben ein Problem, wenn wir nicht mal Teenagersprache decodieren können.
»Es bedeutet, du bist über ihn weg, er spielt keine Rolle mehr für dich. Die Leute sagen das zu einem, wenn man verlassen wurde, um einen zu trösten.«
»Wirklich? Niemand hat das zu mir …«
»Ohmeingott!« Ich unterbreche ihn, als ich etwas lese, das mein Herz noch schneller schlagen lässt, als es das ohnehin schon tut.
Alexis Simone Steele an Carly Greenford: Weißt du, was du machen solltest? Internet-Dating. Das funktioniert! Hab gerade einen total geilen Typen kennengelernt. Er ist neunundzwanzig, sieht aber viel jünger aus, und du weißt ja, ich steh auf Oldtimer. Hab ihn schon getroffen.
»Scheiße!«
Ich schlage mir die Hand vor den Mund.
»Was?«, fragt Martin alarmiert. »Was ist los?«
»Ich muss in Lexis E-Mail-Account reinkommen«, sage ich und fuchtele mit den Armen herum. »Du bist ein IT-Mann, du weißt, wie man sich in so was reinhackt.«
»Das ist vielleicht gar nicht nötig«, erklärt Martin ruhig. Immer die Ruhe selbst. »Wenn du ihr Passwort kennst.«
»Aber das tue ich nicht! Warum zum Teufel sollte ich ihr Passwort kennen?«, fahre ich ihn an, und dann fühle ich mich schrecklich. Der arme Martin. Schließlich hätte er heute Abend nicht kommen müssen. Er hat eine Freundin, und ich sitze hier und mache ihn an, als wäre ich seine Freundin. Dabei habe ich mich nicht mal nach seiner Freundin erkundigt! Mein Gott, bin ich furchtbar.
Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. »Tut mir leid. Wirklich, ich weiß es zu schätzen, dass du gekommen bist. Ich bin nur so gestresst.«
»Ich weiß. Aber wir werden sie finden, okay? Konzentrier dich jetzt ganz auf die Suche nach dem Passwort.«
Ich versuche es mit »Carly«. Nein. Ich versuche »Simone«. Nein. Ich versuche »Meerkatze«, da das so eine Art Insider-Witz zwischen den beiden zu sein scheint, aber das ist es auch nicht.
»Versuch ›Caroline‹«, verlangt Martin.
»Machst du Witze? Ich muss für sie die meistgehasste Person auf dem Planeten sein.«
»Versuch es einfach.«
Ich tue es, und es funktioniert. Und irgendwie sorgt diese kleine Sache – dieser überraschende Hinweis darauf, dass meine Schwester etwas für mich empfindet – dafür, dass mir die Tränen über das Gesicht laufen, als ich hinter Martin her zur Battersea Park Station laufe.
***
Es ist vermutlich typisch für eine Siebzehnjährige, dass sie lächerlich schlecht darin ist, ihre Spuren zu verwischen, wenn sie mit einem Mann, der doppelt so alt ist wie sie selbst, nach Notting Hill abhauen will. Gott sei Dank. Fünf Sekunden Herumsuchen in ihrer Mailbox, und wir wissen die folgenden Dinge:
Sie trifft sich mit einem Typen namens Tristan, den sie bei Match.com kennengelernt hat.
Er klingt wie ein totales Arschloch.
Er wohnt in Notting Hill. Natürlich wohnt er da.
Sie treffen sich im Shoreditch House. (Eine schnelle Suche bei Google ergibt, dass das ein fünfstöckiger Club nur für Mitglieder in der Nähe der Liverpool Street ist.)
Ich muss sie retten.
Martin und ich reden wenig auf dem Weg dorthin. Martin weiß, dass ich mich nicht unterhalten kann, wenn ich gestresst bin, also pfeift er auf dem Weg zur U-Bahn die ganze Zeit. Martin gehört nämlich zu den Leuten, die Schweigen nicht ertragen können, selbst bei jemandem, den sie seit vierzehn Jahren kennen. Dann sind wir auf dem Weg die Bishopsgate entlang mitten ins Herz der Stadt. Es ist jetzt Viertel nach neun, und die aufragenden gläsernen Bürotürme, glatt wie Haifischflossen, die uns umgeben, leuchten in der untergehenden Sonne, während die letzten Angestellten in ihren Anzügen nach einem weiteren langen Tag auf dem Weg zur U-Bahn sind.
Martin rennt vor mir her, und seine Gap-Jacke flattert um ihn herum.
Ich rufe ihm nach: »Was sollen wir machen, wenn er ihr schon Rohypnol eingeflößt hat? Ich werde mir das nie verzeihen!«
Er: »Jetzt mal doch nicht so schwarz. Im schlimmsten Fall ist sie betrunken. Es wird schon gut gehen.«
Ich: »Aber sie ist siebzehn.«
Er: »Na ja, aber denk doch mal an damals, als du siebzehn, achtzehn warst. Du warst doch kein völliger Idiot, oder? Du konntest doch auf dich aufpassen?«
Ich: »Ja, aber mit achtzehn war ich schon mit dir zusammen.«
Er: »Stimmt.«
Wir keuchen beide, als wir das Shoreditch House erreichen. Der Türsteher – ein Berg von einem Mann mit einem blonden Schnurrbart – betrachtet uns misstrauisch.
»Haben Sie ein … ein Mädchen gesehen? Dünn … kurzes, dunkles Haar, trägt wahrscheinlich fast nichts und hat ein lächerliches Tattoo auf dem rechten Arm?«
Er hebt die Augenbrauen und sieht mich an.
»Also, haben Sie sie nun gesehen oder nicht?«
»Wir glauben, dass sie mit jemandem zusammen ist«, mischt Martin sich ein, die Hände auf die Knie gestützt, während er versucht, wieder zu Atem zu kommen. Ich weiß, was ihm durch den Kopf geht: Ich bin geliefert, wenn ich mich mit diesem Kerl anlegen muss.
»Irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?« Der Mann an der Tür gehört zu denjenigen, die beim Umgang mit Gästen Augenkontakt für unnötig halten.
»So ein Vollidiot namens Tristan.«
Martin stößt mich mit dem Ellbogen an.
»Tristan Banks. Mr Banks ist einer unserer angesehensten Gäste.«
»Ich wette, das ist er«, erwidere ich. »Hören Sie, können wir einfach reingehen und nach ihr suchen?«
Ich versuche, mich an ihm vorbeizudrängen, aber der Mann streckt den Arm aus.
»Dieser Club ist nur für Mitglieder, Madam. Das bedeutet, Sie müssen Mitglied sein, um reinzukommen.« Er mustert Martin. »Außerdem fürchte ich, dass Ihr Freund nicht entsprechend gekleidet ist.«
Ich betrachte Martin in seinem ausgeblichenen Gap-T-Shirt, das nicht über seinen Bauch reicht, und seiner schäbigen beigen Gap-Jacke, die er en gros kauft, und plötzlich empfinde ich einen Anflug von Mitleid und Liebe.
»Hören Sie, zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich nicht wusste, dass ich zum Shoreditch House kommen würde, als ich mich auf den Weg zu meiner …« Er sieht mich an. »… meiner Freundin gemacht habe«, erklärt Martin. »Bei allem Respekt: Was ich anhabe, ist nicht wirklich mein Problem. Mein Problem ist, dass die Schwester meiner Freundin, die erst siebzehn ist, hier mit einem Mann zusammen ist, den sie nicht kennt, und dass wir uns Sorgen um sie machen. Also lassen Sie uns bitte rein.«
Martin hebt triumphierend das Kinn, und ich möchte ihn plötzlich umarmen.
Der Türsteher nickt. »Sie sind auf dem Dach«, verrät er.
Unter anderen Umständen wäre es fantastisch gewesen. Als sich der Fahrstuhl öffnet, stehen wir in einer riesigen Lounge im Kolonialstil mit weißen Korbmöbeln und einem dunklen Holzboden. In der Mitte ist Holz aufgestapelt – vermutlich für einen Holzofen, den man während der Hitzewelle in London nicht braucht –, und dahinter wackelt an einer Granitbar ein Mädchen mit einer Afrofrisur zu einer ibizaesken Entspannungsmusik mit den Hüften. Ich scanne die weißen Lederstühle, auf denen Paare mit ineinander verschränkten Beinen einen zweifellos total überteuerten Sundowner genießen, aber Lexi entdecke ich nicht. Dann höre ich Martin hinter mir sagen: »Großer Gott, sieh dir das an.«
Ich drehe mich um, weil ich sehen will, was er meint. Hinter Glasschiebetüren, die offen stehen, befindet sich ein Dachpool. Er ist tropisch türkis und liegt vor einer absolut atemberaubenden Londoner Abend-Skyline, an der die Silhouetten von Kränen wie prähistorische Kreaturen aussehen und die Fenster der Hochhäuser leuchten und flimmern wie die Lichter einer Stereoanlage.
Dann ein hohes, freudiges Kreischen und ein »Lass das! Meine Bikinihose rutscht sonst runter!«
Mein Herz bleibt stehen.
»Sie ist in dem verdammten Pool!«
»Was sagst du?«, fragt Martin.
»Sie ist in dem verdammten Pool.«
Ich löse mich von der Stelle und lege meine ganze Kraft in das Öffnen der Türen, die wieder zugegangen sind. Jetzt stehe ich drinnen, Martin hinter mir, und nehme das in mich auf, was sich wie die ganze glitzernde Stadt anfühlt, die uns zu Füßen liegt. Nur sehe ich nicht auf die Stadt, sondern auf meine winzige Schwester. Sie planscht im Pool mit Tristan Banks.
Ihr Unterkiefer klappt herunter, als sie mich entdeckt.
»Caroline!«
Guter Gott, sie ist betrunken.
»Wassmastu’n hier? Ich wusste nicht, dass du auch Mitglied im Swadish House biss.«
»Bin ich auch nicht. Ich bin deine Schwester, und ich bin gekommen, um dich abzuholen. Und jetzt komm verdammt noch mal aus dem Pool, und zieh dich an. Wir gehen.«
»Was?« Sie tritt Wasser und geht dabei immer mal wieder unter. Ich entdecke zwei große Cocktails neben dem Pool. »Warum? Wir amüsieren uns grossartich. Echt. Tristan arbeitet in der Musikbranche. Erzähl ihnen von all den Leuten, die du unter Vertrag hast, Trischt. Hey, erzähl ihnen von dem Abend mit den Kills und Kate Moss in dem Hotel in Miami. Das war ja so krank.«
»Hi, Leute!« Tristan (offensichtlich Amerikaner), der bis jetzt jeden Blickkontakt vermieden hat, schwimmt zu unserer Seite und stemmt sich in einer eleganten Bewegung aus dem Becken. Er ist mindestens eins neunzig groß, schlank, extrem behaart und trägt eine dicke Silberkette um den Hals. Geübt schüttelt er sein Haar, sodass es im Rock-and-Roll-Stil über seiner Stirn liegt. Er sieht sehr gut aus, das muss ich ihr lassen.
»Ich bin Tristan Banks«, verkündet er. »Ist hier alles in Ordnung, oder haben wir ein Problem?«
»Wir haben ein Problem, und das sind Sie«, erkläre ich.
Hinter mir erscheint Martin, die Hände in die Hüften gestützt, mit seinem sieben Zentimeter hervorstehenden Bierbauch.
»Oh Gott, du schon wieder!«, stöhnt Lexi. »Ich weiß nicht, was du glaubst, wer du bist, was für ein Recht du hast …«
»Lexi«, falle ich ihr ins Wort, weil ich Angst habe, dass sie wieder von der Verlobungssache anfängt. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn du nicht unhöflich zu Martin wärst.«
Ich drehe mich zu Martin um. »Hör zu, ich glaube, ich komme jetzt klar. Ich schaff das allein. Vielen Dank, dass du gekommen bist, aber ich glaube, du weißt schon …« Ich drücke seine Hand.
»Na klar, sicher«, sagt er und geht zurück zu den Glastüren. »Du weißt ja, wo ich bin, falls du mich brauchst. Ich werde dann jetzt, äh …«
»Super«, nicke ich, weil ich möchte, dass er verschwindet.
»Nach Hause gehen. Ruf mich an, wenn du …«
»Das mach ich. Danke, Martin.«
»Weißt du, was dein Problem ist? Du bist frigide. Du bist analfixiert. Du würdest Spaß nicht mal erkennen, wenn man ihn dir hinten reinschiebt!«
Wir stehen jetzt an der Ecke vor dem Shoreditch House, und Lexi ist absolut unglaublich schrecklich betrunken.
»Wayne sagt, dass Leute, die fixiert darauf sind, ihre Umgebung zu kontrollieren, innerlich meistens ganz unglücklich sind …« Ihre Stimme wird leiser, während sie über ihre eigenen Füße stolpert und fast aufs Gesicht fällt.
»Lexi, steig einfach ins Taxi, okay?« Was zum Teufel hat sie diesem Wayne erzählt?
Der Fahrer hat runzlige Tränensäcke. Er lehnt an der Motorhaube und raucht, weil er weiß, dass das hier noch dauern kann.
»Nein, werde ich nicht!« Sie stolpert auf ihren High Heels durch die Gegend. »Ich werde mir von dir nicht sagen lassen, was ich tun soll, du has’ meine Verabredung ruiniert. Tristan war nämlich ein echt netter Kerl.«
»Er hätte dein Vater sein können und war völlig nüchtern, während du sturzbesoffen bist. Weißt du nicht, was das bedeutet?«
»Dass er keinen Alkohol braucht, um gut drauf zu sein?«
»Falsch. Dass er ein totales Arschloch ist und deinen Zustand ausnutzen wollte.«
»Oh, hör auf, so ein Drama daraus zu machen! Dann bin ich eben betrunken, ja UND?«, schreit sie, während ich meine Hand auf ihren Kopf lege und sie ins Auto drücke.
»Betrunken in einem Swimmingpool, Lexi. Hast du irgendeine Ahnung, wie gefährlich das ist? Was für ein Mensch würde zulassen, dass du so etwas tust?«, frage ich, während ich sie anschnalle.
»Du weißt überhaupt nicht, wie man lebt. Du bist so unglaublich LANGWEILIG!«
»Nein, Lex. Du bist diejenige, die langsam langweilig wird.«
Wir fahren jetzt über die London Bridge. Lexi ist in den Sitz gesunken und blickt mich feindselig an.
»Sei jetzt einfach still, bitte«, seufze ich. »Es ist halb elf, und ich bin total müde.«
»Ich wollte nach London kommen und den Sommer über Spaß haben. Spaß!«, lallt sie. »Aber ich schätze, du weiß’ nicht, wassas iss.«
Der Fahrer sieht mich im Rückspiegel an und hebt die Augenbrauen, als wenn er sagen wollte: »Das ist aber echt eine kleine Ziege.«
Wir fahren für eine Weile schweigend, vorbei an der düsteren Dickens’schen Atmosphäre des verlassenen Borough Market, vorbei an den Büros in der Southwark Street, eine Geisterstadt um diese Zeit. Wir kommen zu der Kreuzung Stamford Street und Blackfriars Road und wollen gerade nach links zum Elephant and Castle abbiegen, als Lexi plötzlich sagt:
»Halt den Wagen an!«
»Sei nicht albern, Lexi, du steigst hier nicht aus.«
»Halt das Auto an«, krächzt sie. »Ich muss kotzen.«
Jetzt reibe ich Lexis Rücken, während sie sich in meine Toilettenschüssel übergibt.
»Ich sterbe«, stöhnt sie.
»Oh, ich glaube, du hast noch ein paar Jahre. Du wirst zumindest die Nacht überleben. Morgen um diese Zeit wirst du schon wieder ein Glas Wein trinken wollen.«
»UURGHH!« Sie würgt erneut. »NIEMALS! Ich werde nie wieder trinken. Ichbinsodämlich«, lallt sie. Ich blicke nach oben. Wie lange wird diese Selbstgeißelung noch andauern? »Ich meine, sieh mich an. Ich bin lächerlich, ich bin ein Wrack, ich bin fett. Ich bin ein Totalausfall …«
»Lexi, du bist nichts dergleichen …«
»Niemand liebt mich, niemand findet mich gut«, schluchzt sie. »Es überrascht mich nicht, dass er mich nicht liebt. Es überrascht mich nicht, dass er mich verlassen hat«, sagt sie, und das ist der Zeitpunkt, an dem ich hellhörig werde.
»Es überrascht dich nicht, dass wer was gemacht hat? Wer hat dich verlassen, Lex?«
»Er!«, schreit sie und hebt den Kopf mit einem unfreiwilligen betrunkenen Ruck, sodass sie aus Versehen mein Gesicht trifft. »Loser, Arschgesicht, Schwanzlutscher, Wichser!«
Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu lachen. Es ist nur, – meine kleine, hübsche, elfengleiche Schwester flucht sternhagelvoll wie ein Bierbrauer …
»Meinst du Clark? Den Mann, der angerufen hat?«
Sie sieht mich unstet an, die Wangen voller Wimperntusche.
»Wie ich gesagt hab. Loser, Arschgesicht, Schwanzlutscher, Wichser.«
Dann schläft sie auf meinem Toilettensitz ein.
Schließlich schaffe ich es, sie zum Sofa zu schleppen, und stelle den Fernseher an: irgendeine späte Dokumentation über ein Mädchen, das Blut geweint hat. Eine Stunde später erklingt eine kleinlaute Stimme in der Dunkelheit.
»Es tut mir leid.«
»Oh, dann lebst du also noch? Geht es dir besser?«
»Kopfschmerzen«, ist alles, was sie sagen kann. »Er hat mir ständig Island Cream Teas zu trinken gegeben.«
»Du meinst wohl: Long Island Iced Teas. Davon kommen die Kopfschmerzen. Und dieser spektakuläre Kotzschwall im Taxi, der bis an die Windschutzscheibe spritzte.«
»Neiiin!«
»Und zum Teil auf den Kopf des Fahrers.«
Sie bedeckt ihr Gesicht mit den Händen.
»Er war böse, oder? Tristan?« Sie verzieht das Gesicht.
»Oh, er war vermutlich kein Axtmörder, aber auch kein geeigneter Kandidat für eine Beziehung, drücken wir es mal so aus.«
»Es tut mir leid … Auch für alles, was ich, du weißt schon, gesagt haben könnte.«
»Schon gut, aber wirst du mir was versprechen? Triff dich nicht mehr mit fremden Männern, die du im Internet kennenlernst. Du hättest mich fast frühzeitig ins Grab gebracht.«
Es folgt eine lange Pause, bevor sie sagt: »Caroline?«
»Ja?«
»Kann ich dich was fragen?« Ich blicke auf und sehe ihr kleines, blasses Gesicht über der Decke. »Willst du mich hier haben?«
Ich schlucke. Meine Güte, war ich so abweisend?
»Natürlich will ich dich hier haben«, versichere ich. »Und außerdem haben wir beide keine Wahl, denn unser nutzloser Vater und deine nutzlose Mutter sind in das verdammte Atlanta abgehauen, deshalb sitzt du hier bei mir fest, Kleines.«
Sie lacht zaghaft.
»Ich bin irgendwie froh darüber«, sagt sie.
»Ja, ich auch.«
Und auf eine merkwürdige Art bin ich das, wirklich. Vielleicht ist es einfach schön, gebraucht zu werden. Und ich komme langsam auch der Sache näher, die Lexi Sorgen macht. Ich muss nur noch herausfinden, wer Arschgesicht Schwanzlutscher Wichser ist, ob es Clark ist und was genau er getan hat, und dann wird alles gut. Dann werden wir das Problem lösen.
Ich finde die Broschüre zufällig, zehn Minuten nachdem sie ins Bett gegangen ist.
Ihr Handy hatte geklingelt. Ich dachte, ich sollte besser nachsehen, wer da angerufen hatte, für den Fall, dass es Dad war. Ich wühle in ihrer Tasche zwischen Taschentüchern und Make-up, und dann zieht mein Magen sich zusammen. Alles ergibt plötzlich einen schrecklichen Sinn.
»Was du tun kannst, wenn du glaubst, schwanger zu sein« steht auf der Broschüre.
Wie konnte ich nur so dumm sein und nicht merken, dass sie nicht über Carly gesprochen hatte, sondern über sich selbst?
Langsam fange ich an zu glauben, dass ich mir vielleicht mehr vorgenommen habe, als ich bewältigen kann.