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»Das hier ist Aaron. Aaron ist achtundzwanzig und auf dem Höhepunkt seiner Karriere.«
Regel Nummer eins für das perfekte Verkaufsgespräch: VERMENSCHLICHEN. Vor allem bei Darryl Schumacher. Darryl kann dem menschlichen Aspekt einfach nicht widerstehen. Es lässt ihn glauben (fälschlicherweise, völlig fälschlicherweise), dass er auch menschlich ist.
»Aaron ist ein erfolgreicher Versicherungsmakler. Er arbeitet in einem eleganten Hochhaus in Manchester.« (Schlüsselbild von einem eleganten Hochhausblock in Melbourne. Shona konnte keins von Manchester finden.) »Ihm gehört ein Apartment am Hafen im angesagten Canalside District, er fährt ein Audi-Cabrio, trinkt Staropramen- und Budvar-Bier und kauft seine Kleidung bei Ted Baker, Diesel und Reiss.«
Darryl fummelt an seiner Krawatte herum. Man kann sehen, wie er denkt: Muss auch mal zu Reiss gehen und herausfinden, ob die Sachen wirklich so toll sind.
»Sein Image ist Aaron sehr wichtig, und das liegt daran, dass GUTER EINDRUCK …«
Das Wort leuchtet in Fuchsia-Pink auf meinem Laptop auf. Darryls Schweineaugen weiten sich.
»… Aarons zweiter Vorname ist. Tagsüber muss er bei seinen Kunden einen guten Eindruck machen. Abends bei …«
Darryl tippt mit seinem angekauten Kuli auf seinen Notizblock. »Den Damen …«
»Genau«, stimme ich zu und unterdrücke das Bedürfnis, mich zu übergeben.
Ich hole tief Luft und wende den Blick wieder zur Leinwand.
»Aaron redet den ganzen Tag mit Menschen. Was er überhaupt nicht gebrauchen kann, ist Unsicherheit. Aber er ist ein Mann Mitte zwanzig, der voll im Leben steht. Er arbeitet hart, genießt sein Leben, kostet alles bis zum Letzten aus.«
Darryl löst seinen Hemdkragen. »Bis zum Letzten …« Auf welcher Skala genau?, kann ich ihn denken hören.
»Er trinkt morgens gerne einen doppelten Espresso, um richtig wach zu werden, raucht nach der Arbeit mehr als nur ein paar Marlboro Lights, um sich zu entspannen. Seine Café-Crème-Zigarre nach dem Mittagessen gehört genauso zu seinem Image wie seine Armani-Manschettenknöpfe. Kurz gesagt …«
Regel Nummer zwei für ein perfektes Verkaufsgespräch: Humor. Vor allem bei Darryl. Darryl hält sich für einen humorvollen Mann.
»… ohne Hilfe würde Aaron aus dem Mund riechen wie ein Kamel aus dem Hintern.«
Das Bild eines riesigen Kamelarschs erscheint auf der Leinwand. Aus irgendeinem Grund hatte Shona keine Probleme, dieses Bild aufzutreiben.
»Hahahahahahah!« Darryl wirft den Kopf zurück und lacht schallend. »Großartig!« Die Speckrolle in seinem Nacken rutscht wie eine Schwarte über seinen Hemdkragen. »Man kann sich immer darauf verlassen, dass Sie einen zum Lachen bringen, Miss Steele. Eine Frau mit Sinn für Humor. Ist selten in der Branche, wirklich selten.«
Ich erschaudere innerlich. Darryl lacht weiter. Dann hustet er, als müsste er seine schwarze Lunge direkt hier auf der beigen Auslegware ausspucken.
»Und da«, schreie ich fast über sein Husten, »kommt Mini Minty Me ins Spiel.« Ich hebe die kleine silberne Dose vom Tisch und gebe sie Darryl.
»Es bietet alle Vorteile der Minty-Me-Mundspülung – beseitigt 99,9 Prozent der Mundbakterien, beugt der Zahnsteinbildung vor, reduziert Plaque –, doch es wird in einem eleganten kleinen Spender angeboten, den Aaron sich zusammen mit seinem Portemonnaie in die Tasche stecken kann. Ein Mundwasser-plus-Atemerfrischer – und nur so groß wie ein Feuerzeug. Revolutionär, Darryl, da stimmen Sie mir doch sicher zu?« Ich zeige mein bestes Teleshopping-Lächeln.
Darryl nickt und reibt sich über die Stoppeln auf seiner Oberlippe, die blassrot ist und mich aus irgendeinem Grund an mein altes Meerschweinchen Graham erinnert. Ich war genau die Art von Kind, die sein Meerschweinchen Graham nennt.
Er hält die Dose ins Licht. Betatscht sie mit seinen Wurstfingern.
»Ist er alleinstehend?«, fragt er.
»Wie bitte?«
»Sie haben nicht gesagt, ob Aaron Single ist.«
»Nein, er ist kein Single!« Ich bin nicht sicher, ob mir die Richtung gefällt, in die sich dieses Gespräch entwickelt.
Darryl legt den Kopf auf die Seite. »Oh?«
»Ich meine, ja! Ja, natürlich ist er Single. Single, aber auf der Suche nach der Richtigen.«
»Ah, wer’s glaubt, wird selig. Ein gut aussehender, erfolgreicher Mann wie Aaron? Kommen Sie schon …« Darryls rot umrandete Schweineaugen starren direkt auf meinen Busen. »Okay, mit wie vielen Frauen hat er dieses Jahr geschlafen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Fünfzehn? Zwanzig?«
»Nein! Auf keinen Fall.«
»Zehn? Zwölf?«, drängt Darryl.
»Es waren definitiv nicht so viele.«
»Wie viele waren es dann?«
»Drei.«
»Was? Ein Alpha-Mann wie Aaron?«
»Okay, vielleicht sechs. Oh Gott, woher soll ich das denn wissen? Er ist nicht echt, ich habe ihn mir nur ausgedacht!«
Darryl lacht erneut. Ich spüre, dass meine Wangen brennen.
»Jedenfalls, Darryl, Mr Schumacher«, sage ich und schließe die Augen.
Versau’s jetzt nicht. Du hast es fast geschafft, diesen Deal hast du so gut wie in der Tasche …
»Zurück zum Produkt, einem großartigen Produkt, das bei Ihrer gesamten Konkurrenz ab Mitte August in den Regalen stehen wird. Ich denke, dass Langley’s hier die Möglichkeit zu einem Gewinn von 1,2 Millionen Pfund bei einer Gewinnspanne von fünfunddreißig Prozent hat, was höher ist als die durchschnittliche Marge in diesem Bereich.«
»Gekauft.« Schumacher klappt seinen Notizblock zu und verschränkt seine fetten kleinen Arme.
»Oh!« Das war einfach. »Das ist toll. Wirklich toll.«
»Ich bestelle sechshundert Einheiten für alle siebenundfünfzig Niederlassungen für August.«
Und da ist er. Der Kick. Das Hochgefühl. Die sprudelnden kleinen Bläschen des Erfolgs, die in meinem Magen anfangen und mir bis ins Gesicht steigen, das jetzt strahlt. Das ist der Grund, warum ich diesen Job mache. Der Grund, warum ich manchmal um sechs Uhr morgens aufstehe, an den Wochenenden und zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeite. Weil dieses Gefühl so toll ist. Verkaufen ist das Kokain des Arbeitslebens, wenn man mich fragt. Obwohl selbst ich mir zugegebenermaßen Sorgen mache, ob es wirklich gesund sein kann, wegen Mundwasser so euphorisch zu werden.
Ich schüttele Schumachers Hand. Er hat einen Griff, der sich anfühlt wie eine Salami: feucht, schlaff und fettig.
»Danke, Darryl.« Er schüttelt weiter. »Ich werde Ihnen morgen die Unterlagen zuschicken. Natürlich ist das alles erst offiziell, wenn der Vertrag unterschrieben ist, und es ist alles, Sie wissen schon …«
»Auf Treu und Glauben«, führt Darryl meinen Satz fort und zeigt eine Reihe von zahnsteinbedeckten Zähnen.
»Genau«, erwidere ich und hoffe, dass er nicht sieht, wie ich mir die Hand an meinem Rock abwische. »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit«, lüge ich.
»Ja, wir haben da einen echten Knaller, Caroline. Großartig«, meint er, und sein Blick bohrt Löcher in meine Bluse. »Und jetzt muss ich dringend ein paar Mails abschicken. Ich finde selbst raus.«
»Gut. Wir sprechen uns bald«, sage ich und gehe zur Tür.
Als ich sie schließe, sehe ich, wie er in seine Hände atmet, sie über seine Nase legt und schnüffelt.
»Ja! Geschafft! Schumacher ist im Sack!«
Erst als ich aufhöre, mit der Faust durch die Luft zu boxen, sehe ich, dass Shona und Toby mich anstarren.
Toby bricht in Gelächter aus.
»Mein Gott, dich macht das echt an, Mundwasser zu verkaufen, oder?«
Plötzlich komme ich mir lächerlich vor.
»Halt die Klappe, du bist ja nur neidisch.«
»Ich kann nicht glauben, dass du es aushältst, mit diesem Mann im selben Raum zu sein«, sagt Shona. »Sieh ihn dir an …« Sie beobachtet ihn durch die Scheibe. »Glupscht uns durch die Scheibe gierig an mit seinen kleinen Schweinsaugen.«
»Er ist in Ordnung«, versichere ich. »Schumacher und ich, wir verstehen uns.«
»Ihh. Abstoßend!« Shona schüttelt angewidert den Kopf.
»Mann, aber dein Gesicht«, lacht Toby.
»Ja. Das war absolut göttlich«, stimmt Shona ihm zu.
»Habt ihr uns beobachtet?«
»Natürlich haben wir das!«
»Das sollt ihr nicht! Vor allem nicht, wenn ich mit Schumacher zu tun habe. Er hat ständig irrelevante sexuelle Anspielungen gemacht, und dann war da dieses Bild von dem Kamelarsch. Weiß der Himmel, warum ich das für eine gute Idee gehalten habe. Der letzte Mensch, mit dem ich einen Witz teilen will – vor allem einen Witz über einen Arsch –, ist Schumacher. Er hat gelacht wie ein blökender Esel. Und dann … Ihr wisst doch, dass ich manchmal diese dunklen, perversen Gedanken habe, die mir einfach in den Kopf kommen und die ich dann nicht mehr loswerde?«
»Sicher«, sagt Toby und hebt die Augenbrauen.
»Na ja, ich musste ständig an Darryl und ein Kamel denken.«
»Heilige Scheiße.«
»Ja. Ich weiß, ich bin krank, krank im Kopf. Außerdem dachte ich die ganze Zeit, er würde mich anmachen.«
Toby gackert jetzt vor Lachen, und Shona hat den Kopf auf den Tisch gelegt und ein Auge geöffnet.
»Dein Gesicht sah so aus …«, sagt Toby und zieht eine Grimasse, irgendwo zwischen schockiert und beleidigt: aufgeblähte Nasenlöcher, weit aufgerissene Augen.
»Du sahst aus wie eine Kreuzung aus jemandem, dem man Kacke auf die Oberlippe geschmiert hat«, fügt Shona hinzu, die angestrengt nachdenkt, »und einem Hamster in Leichenstarre.«
»Danke.«
»Gern geschehen.«
»Hey, aber er unterschreibt den Vertrag, und das ist alles, was zählt.« Ich hebe meine Hand zum High Five. Toby schlägt ein bisschen zögernd ein. »Sechshundert Einheiten für alle Läden im nächsten Monat!«
»Was?« Das hat er nicht erwartet. »Du dumme Kuh. Wenn du diesen Preis gewinnst, dann bringe ich dich um.«
Für einen Moment empfinde ich schuldbewusste Freude darüber, vorn zu liegen. Also ist es nicht nur Rachel, die Preise gewinnt, vielen Dank.
Ich blicke Shona an.
»Es wird ein von zweifelhafter Moral beschmutzter Preis sein, was schade ist«, sagt sie.
»Meine Güte, Leute! Ich verkaufe Mundwasser, keine Kinder.«
»Aber trotzdem, gut gemacht«, fügt Shona hinzu. »Weil ich weiß, wie viel dir das bedeutet. Es ist nur, denk nicht, dass ich bloß, weil Schumacher jetzt offiziell an Bord ist, irgendein Gespräch mit diesem Arschloch führen werde, das nicht zwingend erforderlich ist, verstanden?«
»Das war laut und deutlich, Shona. Laut und deutlich.«
»Gut gemacht, Caroline.« Janine hat einen neuen, superkurzen Pony, der sie noch mehr wie eine lesbische Deutsche aussehen lässt, als sie das ohnehin schon tut. »Sie sind ganz offiziell der Wahnsinn!«
»Danke«, antworte ich kleinlaut. Ich komme mir immer wie eine Versagerin vor, wenn ich in Cross’ Büro bin.
Aber gleichzeitig fühlt es sich auch toll an. Der Abschluss des Deals. Wer würde annehmen, dass der Verkauf von Mundwasser einem Herzrasen bereitet? Aber ich glaube, genau das ist es: dass es eine so einfache Sache ist, dass nichts Wichtiges auf dem Spiel steht. Ich bezweifle zum Beispiel, dass ich mich so fühlen würde, wenn ich für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeiten würde oder als Lehrerin, wo es für die Menschen wirklich um etwas geht. Die Tatsache, dass wir alle sehr gut mindestens neunzig werden können, ohne jemals Mundwasser zu benutzen, erlaubt es mir, hundert Prozent zu geben, ohne das Gefühl zu haben, dass ich emotional auf der Strecke bleiben könnte. Und das ist toll, weil ich manchmal das Gefühl habe, dass die Arbeit der einzige Bereich meines Lebens ist, in dem ich mich sicher bewegen kann – als wäre der Job der einzige Raum auf der Titanic, der noch nicht sinkt.
Ich begegne Toby, als ich vom Klo komme. Er hat ein wichtiges Meeting am Hauptsitz von Tesco und trägt seinen besten grauen Anzug. Er sieht absolut überwältigend gut aus und könnte gut Werbung für Lynx-Computersysteme machen.
»Da bist du ja«, zischt er. »Ich habe nach dir gesucht. Komm schon, was ist passiert?«
»Was meinst du?«
Ich weiß genau, was er meint, aber ich möchte ihn so lange wie möglich in meiner Nähe haben. Ich möchte ihn einfach riechen.
»Meine Unterhose, Dummkopf«, lispelt er, und ich schmelze dahin. »Hat sie die Unterhose gesehen?«
»Nein, nein. Die Unterhose liegt sicher verstaut in der Küchenschublade.«
»Du bist so clever, CS.«
»Ich weiß. Ich bin ein Multitalent. Kann Deals abschließen, Unterhosen verstecken …«
Er beugt sich zu meinem Ohr vor.
»Und unglaublich gut blasen«, flüstert er. Trotz meines Entschlusses, immer eine unbekümmerte Femme fatale zu sein, werde ich rot.
»Leider haben Lexi und ich uns gestritten, nachdem du weg warst«, sage ich, weil ich unbedingt das Thema wechseln will. Toby scheint es nie etwas auszumachen, im Büro offen über sexuelle Dinge zu sprechen, was ich sehr schmeichelhaft, aber gleichzeitig auch unglaublich peinlich finde.
»Scheiße, echt? Hast du sie angemacht, weil sie betrunken nach Hause gekommen ist?«
»Ja, genau das habe ich. So etwas gibt es bei mir nicht. Ich weiß nicht, ob sie wirklich den ganzen Sommer bei mir bleiben kann, weißt du. Ich habe schließlich auch ein Leben.«
Er schiebt mir eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Und den Buchclub.«
»Ja, genau, den auch«, erwidere ich und versuche, nicht zu lächeln.
Er kommt noch näher. »Angesichts des Unterhosen-Fiaskos glaube ich, dass wir vielleicht keine andere Wahl haben, als uns im Rahmen des Buchclubs demnächst in einem kleinen Luxushotel mit einem Erotikroman zu beschäftigen, was meinst du?«
Hier ist deine Chance. Ruhig, distanziert. Du bist die Frau, die alles unter Kontrolle hat. Eine Frau, die in der Lage ist, die Dinge in Bereiche einzuteilen.
Also ziehe ich mich von ihm zurück und verschränke die Arme vor der Brust.
»Das sehen wir dann, ja?«, antworte ich, bevor ich sein Revers glatt streiche.
Dann gehe ich – mit meinen hohen Absätzen und meinem kurzen Rock – und schwinge dabei meine Hüften. Das war gut, Steele, das war sehr, sehr gut.
»Caroline«, ruft er mir drei Sekunden später nach.
»Was?«
»Dir klebt Klopapier unter dem Schuh.«
Es ist immer noch brütend heiß, als ich das Büro verlasse. Die Edgware Road bekommt eine neue Straßendecke, und der Geruch von Teer hängt in der Luft. Ich schiebe mich durch die Feierabend-Massen auf die U-Bahn zu, vorbei an dem arabischen Eisenwarenhandel und den Halal-Cafés, wo Männer in weißen Roben Pfeife rauchen und Karten spielen. Lächelnd erinnere ich mich an das Gespräch mit Toby und denke, dass ich bald, sehr bald neben ihm aufwachen werde. Und von da an wird dann alles besser für mich laufen.