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Lexi geht zur Spüle, um etwas Wasser zu trinken, und ich erkenne sofort meine Chance, schnappe mir die Unterhose und stopfe sie in die Küchenschublade. Sie setzt sich wieder und verfehlt dabei fast den Stuhl. Mein Gott, ich glaube, das brauche ich wirklich nicht.
»Lexi, bist du betrunken?«
»Nein.«
»Doch, das bist du. Du bist total besoffen.«
Sie verdreht die Augen, wackelt auf Teenagerart leicht mit dem Kopf, und ich bin plötzlich total müde. Außerdem bin ich ziemlich schlechter Laune und angefressen, weil sie hier einfach auftaucht, angezogen wie ein kleines Luder, und rumflirtet mit meinem, meinem – was ist er eigentlich? –, meinem Liebhaber? Meinem Komplizen? Meinem … Na ja, meinem jedenfalls; er gehört mir. Und ich mag es nicht, dass sie mir dieses komische Gefühl gibt, eine schreckliche Mischung aus eifersüchtiger großer Schwester – eine sehr unangenehme Regung – und nerviger, humorloser Mutter zu sein. Wo sie doch meine Schwester ist und ich einfach nur ins Bett und danach wieder zur Arbeit gehen und mein Leben so weiterführen will wie bisher.
»Was ist mit dem Bodycombat-Kurs passiert?«
»Ich hab einen Freund getroffen.«
»Lex, komm schon. Das hier ist London. Ich lebe hier schon seit zehn Jahren, und ich habe noch nie zufällig einen Freund getroffen.«
»Ich schon, okay?«
»Und was war das für ein Freund? Ein Mann?«
»Könnte sein.«
»Ist es dieser Jerome, den du im Zug kennengelernt hast?«
»Könnte sein.«
»Ist es Wayne?«
»Nein.«
»Lexi, hör auf damit.«
»Ich mache doch gar nichts«, seufzt sie und verdreht dramatisch die Augen.
»Und was sollte das Geflirte?« Ich weiß nicht, woher das kommt, aber jetzt ist es raus, und ich kann es nicht mehr zurücknehmen.
»Was für ein Geflirte?«
»Oh, komm schon, Lexi, du hast wie wild mit Toby geflirtet! Mit den Wimpern geklimpert, deine Schuhe weggekickt.«
»Habe ich nicht! Ich habe nur mit ihm geredet.«
»Geredet? Du hast ihm deinen Ausschnitt direkt vors Gesicht gehalten!«
Sie sieht eindeutig verletzt aus. Ich fühle mich schuldig, aber nicht sehr.
»So’n Quatsch. Und außerdem hat er mit mir geflirtet.«
»Das ist Quatsch. Du bist nur besoffen und bildest dir Sachen ein.«
»Wieso interessiert dich das überhaupt?«
Da hat sie recht. Warum interessiert mich das plötzlich?
»Er ist mein Kollege! Ich muss mit ihm arbeiten.«
»Wohoo, er ist also nicht dein Freund? Dann habe ich eben mit einem netten Typen geflirtet, der, der …« Sie fängt jetzt an zu weinen, was mir ein bisschen übertrieben vorkommt. Ich weiß, ich sollte sie jetzt vermutlich umarmen, aber mir ist nicht danach, so einfach ist das. »… der nett zu mir ist und mir Fragen stellt?«
Ich verdrehe die Augen. »Herrgott, Lexi. Es geht gar nicht darum, sondern um die Tatsache, dass du stinkbesoffen bist und ich verdammt noch mal auf dich aufpassen soll! Du bist hergekommen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und ich weiß nicht mal, wo du warst.«
In diesem Moment klingelt das Telefon. Erst starren wir beide es an, dann starren wir einander an.
»Wenn es Dad ist, ich bin nicht da«, sagt Lexi.
»Oh doch, das bist du.«
Ich gehe dran.
»Hallo?«
»Oh, hallo.« Es ist eine Männerstimme – die eines Mannes, nicht die eines Jungen. »Ist Lexi da?«
»Wer spricht denn da?«
»Sagen Sie ihr, hier ist Clark«, bittet er. Seine Stimme klingt, als sei er aus dem Norden, gebildet und ziemlich attraktiv.
»Es ist Clark«, sage ich ausdruckslos und halte ihr den Hörer hin, aber Lexis Gesicht verdunkelt sich sofort.
»Nein. Auf keinen Fall«, lehnt sie ab und schüttelt den Kopf. »Sag ihm, ich bin nicht da.«
»Sie ist nicht da.«
Lexi ist gegen die Wand gesunken und plötzlich totenbleich.
»Sind Sie sicher? Ich muss nämlich wirklich dringend mit ihr sprechen.«
Ich halte Lexi erneut den Hörer hin.
»Er muss wirklich dringend mit dir sprechen.«
Lexi schüttelt den Kopf.
»Scheiß drauf.« Sie weint jetzt wirklich, die Tränen laufen ihr über das Gesicht. »Sag ihm, ich will nicht mit ihm reden. Und wo du schon dabei bist …« Sie zeigt mit dem Finger auf den Hörer. »Sag ihm, er soll sich ins Knie ficken. Ich wünschte, er würde mich endlich in Ruhe lassen – und du auch!«
Dann rennt sie nach oben und lässt mich mit dem Telefon und der Frage, was dieser Auftritt gerade sollte, allein.
Ich hebe vorsichtig die Hand von der Muschel.
»Clark? Sie ist betrunken und regt sich über irgendetwas sehr auf. Ich würde es später noch mal versuchen, wenn ich Sie wäre.«
»Das werde ich«, sagt er.
***
Am nächsten Tag wache ich irritiert auf. So, als läge mein Leben vor mir und wäre in winzig kleine Fragmente zersplittert, so, als hätte ich nichts mehr unter Kontrolle. Dann bin ich eben selbstsüchtig, aber wenn ich meine Halbschwester schon für den Sommer bei mir aufnehme, dann erwarte ich einfach, dass sie nicht besoffen nach Hause kommt und ihre Beziehungsschwierigkeiten an mir auslässt. Und wir können den Buchclub auch nicht mehr bei mir stattfinden lassen, wenn Lexi jede Minute reinplatzen könnte, also sollten wir uns vielleicht gar nicht mehr treffen. Warum kriege ich bei diesem Gedanken plötzlich Panik? Jedenfalls habe ich heute ein wichtiges Meeting mit Schumacher – wenn ich bei der Präsentation meine Karten richtig ausspiele, könnte ich einen Deal mit Langley’s abschließen, was bedeuten würde, dass meine Chancen steigen, Verkäuferin des Jahres zu werden. Und ehrlich gesagt kann ich – obwohl ich schon spüre, wie schwesterliche Schuldgefühle meine Entschlossenheit wie Haarrisse durchziehen – auch gut ohne Lexis Beziehungsdramen auskommen.
Ich nehme mir meine Liste vom Nachttisch. Genau das brauche ich jetzt. Sauber aufgelistete Dinge, klare Aufgaben und die Möglichkeit, Prioritäten zu setzen. Ich fühle mich schon besser.
Dies hier ist meine Hauptliste, ich habe auch noch eine Einkaufsliste, eine Liste mit kulturellen Veranstaltungen, die ich besuchen muss, eine Büroliste, eine Geschenkeliste und eine Langfristige-Ziele-Liste.
Ich hole mein Notizbuch vom Nachttisch und mache mich daran, die Liste auf den neuesten Stand zu bringen.
Erledigen:
NICHT SO WICHTIG
• Etwas mit Quinoa kochen – noch offen.
• Augenbrauen zupfen – erledigt. (Erneut machen, wenn sie wieder zusammenwachsen.)
• Das Gästezimmer streichen – nicht mehr tun, Punkt aufgeben!
• Die Fotoalben sortieren (Fotoecken kaufen) – noch offen, aber ehrlich, wann?
• Bei der Verwaltung anrufen wegen Recycling – erledigt! (Obwohl ich dabei bleibe, dass es da ein kleines Arschloch im Wandsworth Council gibt, dessen Berufsbezeichnung »Leitende Schlaumeise« lautet, denn man scheint einen Uni-Abschluss zu brauchen, um den Müll richtig zu trennen.)
• Den tropfenden Wasserhahn reparieren
• Zu mehr lokalen Kulturveranstaltungen gehen. Kommendes Wochenende: Installation eines interessant klingenden deutschen Künstlers in der Pump House Gallery – erledigt! Was jetzt? (Liste mit den kulturellen Veranstaltungen durchgehen und etwas raussuchen. Keramik der Aborigines?)
• Lernen, wie man den iPod benutzt, den ich schon seit Weihnachten habe. Tu es einfach!!!
• (Ich habe eine Abneigung gegen Leute entwickelt, die mir Dinge schenken, bei denen ich dann die Zeit finden muss, um zu lernen, wie man damit umgeht, was auf so vielen Ebenen einfach falsch ist.)
• 3 x 12 Kniebeugen und 3 x 12 Sit-ups vor dem Schlafengehen (morgen damit anfangen) – morgen damit anfangen.
• An einem richtigen Buchclub teilnehmen.
WICHTIG
• Jedes Wochenende mindestens zwei Stunden Büroarbeit erledigen. Keine Ausreden! (Das wird kaum was werden, solange ich mich um einen Teenager kümmern muss.)
• Jeden Tag etwas für mich selbst tun, um Stress abzubauen, selbst wenn es nur zehn Minuten Atmen sind (nur das, und zwar konzentriert, nicht nur Atmen-Atmen). – Es wäre schön, wenn ich dafür Zeit hätte.
• Arbeit: einen Gang höher schalten. Zwei neue Verträge pro Woche mit neuen Klienten abschließen. – Bin dabei. Wenn das Treffen mit Schumacher heute gut läuft, dann habe ich die Hälfte schon geschafft.
• SO SCHNELL WIE MÖGLICH HerausFINDEN, WAS MIT LEXI LOS IST!!!
Um ehrlich zu sein, ist es mir derzeit ziemlich egal, was mit Lexi los ist, was mich – befürchte ich – zur schlechtesten Schwester der Welt macht.
Zumindest klopfe ich an ihre Tür, als ich zur Arbeit muss, nur um sicherzugehen, dass sie noch lebt.
»Lex?«
Keine Antwort.
»Lexi, bist du wach?«
Nichts.
»Wir reden später«, sage ich, weil ich annehme, dass sie beleidigt ist. »Ich habe dir einen Becher Tee vor die Tür gestellt. Also, du weißt schon, tritt nicht rein, wenn du rauskommst.«
Dann warte ich noch ein paar Sekunden, und als auf mein schwachsinniges Gefasel keine Antwort kommt, fahre ich zur Arbeit.
Die Victoria Station ist voller Touristen mit Kameras und Rucksäcken. Normalerweise werde ich nostalgisch, wenn ich Touristen en masse sehe, so wie hier; es erinnert mich an eine Zeit, als London für mich auch noch neu und aufregend war, als Martin und ich gerade aus den gemütlichen Hügeln von Yorkshire hierhergekommen waren und wir alles und jeden exotisch fanden.
Jetzt bin ich genau wie eine Million anderer abgestumpfter Londoner, die wünschten, sie würden alle verschwinden, die Stadt nicht wie eine Touristenattraktion behandeln und mir nicht auf dem Weg zur Arbeit den Platz wegnehmen.
Ein Zug nähert sich, und ich verfluche eine zwanzigköpfige Gruppe von halbstarken Schülern, die mir den Weg zur Tür versperren. »HALTET EUCH AN DEN HÄNDEN!«, ruft eine blonde Frau ohne Kinn, während die Kinder sich benommen in die Bahn drängeln. »Und denkt dran, wir steigen in Vauxhall aus.«
Vauxhall? Mein Gott. Muss ich das bis Vauxhall aushalten?
Die U-Bahn kreischt los, und ich klemme unter dem Arm eines Mannes fest, der nach frittiertem Hühnchen riecht, und gucke auf ein blasses, rothaariges Mädchen, das mich anstarrt und mit der Zungenspitze nach dem Schnodder tastet, der ihm aus der Nase läuft. Das hasse ich am meisten an der U-Bahn: die Tatsache, dass man ein Vermögen bezahlt, um dann um acht Uhr morgens – ohne es kontrollieren zu können – den abstoßendsten menschlichen Gewohnheiten ausgesetzt zu sein.
Schließlich ergattere ich einen Sitzplatz und frage mich, wann ich mich in eine so vertrocknete, mürrische alte Frau verwandelt habe. Ich bin sicher, ich war früher ein sonniges Mädchen, das an den kleinen Dingen des Lebens Freude hatte und anderen selbstlos gab. Oder so ähnlich.
Vielleicht liegt es daran, dass ich damals glücklicher war. Oder jünger. Vielleicht ist Glück ja auch die Jugend. Es ist komisch – oder nicht? –, dass das Glück sich abzuwenden scheint, wenn man älter wird. Als ich noch jung war, kam das Glück in Ausbrüchen von unverfälschter Freude. Es waren Momente, die mir wie Diamanten in einer Felswand in Erinnerung geblieben sind: wie ich an einem sonnigen Freitag im Oktober über den Uni-Campus ging und wusste, dass Martin in wenigen Stunden zu Besuch kommen würde; wie ich bei einem Frauenausflug an die Costa Brava betrunken vom Bacardi nur in meiner Unterhose ins Meer lief. (Jetzt würde ich nicht mal mehr im Bikini rumlaufen, wenn ich mein eigenes Gewicht in Bacardi getrunken hätte.) Wie ich mit Pippa, meiner ältesten Schulfreundin, in meinem klapprigen Polo durch die Yorkshire Dales fuhr und aus dem Fenster Kette rauchte. Wo ist Pippa jetzt? Als ich zuletzt von ihr hörte, lebte sie mit irgendeinem Schreiner in Otley zusammen und war hochschwanger. Und was tue ich? Ich lebe in London in einem schönen Haus, habe einen tollen Job und schlafe mit einem verheirateten Mann. Oh GOTT. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.
Ja, in letzter Zeit ist das Glück eher wie ein unzuverlässiger Wochenendvater. Man weiß nicht, ob es kommt, und selbst wenn es kommt, weiß man nie, wie lange es dauert, bis es wieder geht.
Mum sagte immer: »Warte, bis du dreißig bist, Caroline! Die Dreißiger sind die glücklichsten Jahre deines Lebens, denn dann weißt du, wer du bist und was du willst.«
Manchmal habe ich das Gefühl, dass das die größte Fehlinformation ist, die man mir je eingetrichtert hat. Tatsächlich habe ich manchmal das Gefühl: War’s das jetzt? Ist mein einziger Versuch, glücklich zu sein, schon vorbei?
Vielleicht geht es Toby genauso, wenn er über seine Ehe spricht. Und ich kann das nachempfinden; deshalb verstehe ich ihn. Denn wenn Erwachsensein bedeutet, dass man alles ganz sicher weiß, dann bin ich so weit davon entfernt, wie es einem Menschen überhaupt nur möglich ist.
Wir halten am Green Park. Ich denke an Lexi, wie sie im Bett liegt und zweifellos über das Leben nachgrübelt, über Clark, über unseren Streit gestern Abend. Wahrscheinlich steckt sie gerade Nadeln in eine Voodoo-Puppe. Vielleicht hat sie wegen der Trennung von ihrem Freund die Schule geschmissen – das dachte ich mir schon an dem Tag, als sie kam. Sie hält es wahrscheinlich für das Ende der Welt. Erst wenn man zweiunddreißig ist und zurückblickt, wird einem klar, dass es da gerade erst anfängt.