«Sie kommen nicht mit?» fragte Irene.

«Ob Sie wohl so nett sind und allein...?» sagte der Jüngere, nestelte einen Fünfzigmarkschein aus der Hose und verlangte eine Quittung. «Ich muß natürlich gleich ins Funkhaus.»

Sie eilten davon, Irene lehnte sich nach hinten und betrachtete den alten Mann, wie er, «Aah» und «Ooh» und «Papp» sagend, traurig auf der Rückbank hing. «Geht’s denn wieder?» fragte sie. Er lächelte sie an, antwortete nicht. Mensch, der hört ja nichts. Irene drehte das Radio bis zum Anschlag und hörte die Stimme des Mannes mit der Quittung.

 

«Adler, die kochen schon wieder», sagte Hajo zwei Tage später mit vorwurfsvollem Gesicht.

«Sollen sie doch. Wer kocht, sündigt nicht.»

«Aber sie waschen hinterher nie ab. Und sie sauen immer unheimlich die Töpfe ein. Außerdem mag ich das Zeug nicht, das sie kochen.»

«Du hast so was nur noch nie gegessen.»

«Habe ich nicht, und jetzt weiß ich, daß ich gut daran getan habe.»

Als Adler in das angewiderte Gesicht Hajos blickte, bemächtigte sich eine märchenhafte Vision seiner Phantasie.

Am nächsten Tag fuhr ein Mittelklasse-Wagen, mit Reinhold am Steuer, auf das Tankstellen-Gelände. Der Pkw zog einen hellgelben Wagen ohne Fenster, der an einen Wohnwagen erinnerte, dafür aber eigentlich zu groß war. Adler dirigierte den Wagen auf die Position, die er für die beste hielt: zwischen Tankstelle und Garagen, mehr zur Tankstelle hin. Reinhold half ihm, die Blenden vom Wagen abzunehmen.

«So», sagte Adler, händereibend den Imbißwagen betrachtend, «und jetzt Fett in die Pfanne.»

«Au ja», hetzte Hajo, «schön heiß und fettig. Das erfrischt richtig bei 29 Grad im Schatten.»

«Sonne kommt, Sonne geht. Aber unser Wagen, unser Wagen bleibt. Außerdem ist das eine tolle Tarnung für die beiden. Damit rechnet die Polizei doch als letztes, daß die hier halböffentlich rumlaufen.»

«Allround-Terroristen», sagte Hajo grimmig, «erst machen sie Blumen kaputt. Und jetzt unsere Mägen.»

«Ich glaube, ich hab’s», sagte Henry, der mit mehreren Zetteln aus einer Garage kam.

«Zeig her.» Adler las vor:

«Kitumbua — Fladen aus geröstetem Reis

Molo-Lamm — nicht aus Molo, aber aus Lamm

Samosas — Pasteten mit Fleischfüllung

Posho — mit Obst

 

Für den eiligen Gast:

Bananen — so und so

Kolbenmais — echtes Tankstellen-Essen

Pan — scharf und gut.»

 

«Köstlich», sagte Adler, schnalzte mit der Zunge und drückte Hajo den Zettel in die Hand. «Wann könnt ihr anfangen?»

«Frühestens Montag.»

«Dann fangt an», sagte Adler, «und am Wochenende machen wir die Preisliste. Na, Hajo, alter Griesgram, wie klingt dir das: ‹Preisliste›?»

Hajo lachte: «Das ist die Stelle, wo sie in den Comics immer Dollar-Zeichen im Augapfel haben.»

«Deutsch-Mark gut, was?» Ehe Adler sich wieder in die Gewalt bekam, hatte er Henry schon auf die Schulter geschlagen.

Und Hajo rief: «In euren Comics hängen wahrscheinlich Perlen in den Augen. Oder habt ihr schon das Geld erfunden?» Adler zog den Kopf ein.

Henry antwortete mit eisklirrender Sachlichkeit: «Es waren einmal Muscheln. Jetzt sind es Shillings. Wir nennen sie Bobs.»

«Bobs», wiederholte Hajo konsterniert. «Mein Vater heißt Bob.»

«Sag mal», Adler wandte sich an Henry, «was treibt ihr eigentlich in den Garagen? Das hat mein Untermieter gar nicht gern. Der ist so schreckhaft.»

«Wir wohnen da jetzt.»

«Wo?»

«In dem Büro, das da steht. Das hat Atmosphäre. Der Raum von dir, der hat... also der ist... ich meine...»

«...Schon gut», sagte Adler hilfsbereit. «Manchmal verstehe sogar ich.»

«Na, schwarze Schafe unter den Kunden?»

Hajo blickte hoch. Beinahe wäre er Golze auf die modisch beschuhten Füße getreten. «Da fehlt noch Gold.» Er zeigte auf die schwarz-rot abgesetzten Slipper des Kriminal-Assistenten.

«Meinst du?» fragte Golze bestürzt. «Ich fand’s eigentlich ganz schön so.»

«Du mußt es wissen», sagte Hajo. Früher habe ich mich auf diesem Gelände wohl gefühlt. Jetzt kann ich nirgendwo mehr hin. Neger, Fahrrad-Diebe, Dummschwätzer. Doris, wo bist du?

«Habt ihr euern Mörder?»

«Wieso unsern? Wir suchen den doch nicht zu unserem Privat-Vergnügen.»

«Für mich braucht ihr euch die Mühe nicht zu machen.»

«Na hör mal», Golzes Gesicht zeigte eifernden Ernst, «so darf man das aber nicht sehen. Die Polizei ist doch für den Bürger da.»

«Ich bin kein Bürger. Ich verdiene 1800 brutto.»

Golzes Versuch, Hajos Logik nicht aus den Augen zu verlieren, forderte den ganzen Scharfsinn des Kriminalisten. «Darüber müssen wir uns unbedingt bei passender Gelegenheit noch mal unterhalten», rief Golze dem davonschlurfenden Hajo hinterher.

«Keine Drohungen», murmelte Hajo.

Adler blickte zufällig hoch, scheuchte Henry ins Haus und ging zu Golze. «Hallo, Schnüffler», rief er.

Golze war geschmeichelt. «Man bemüht sich, man bemüht sich. Aber dazu fehlt mir doch noch einiges.»

Alles, Golze, alles. «Den Mörder hinter Schloß und Riegel?» Adler zog Golze am Arm vom Haus fort.

«Ach was», sagte Golze mißmutig. «Schöne Scheiße. Wenn du glaubst, daß es der Schatzmeister von ‹Penuntia› war, hast du dich aber getäuscht.»

«Jetzt habt ihr nicht mehr viel zur Auswahl.»

«Na, einen ja noch», entgegnete Golze hoffnungsvoll.

«Und der muß es jetzt sein, wie?»

«Wird ihm nichts anderes übrigbleiben.» Adler brachte Golze dazu, sich auf die Bank zu setzen, die vor den Garagen stand. «Ist eine neue Methode, die wir verfolgen: Den Täter dadurch einkesseln, daß man alle rauskriegt, die es nicht waren. Ist auch diskreter, findest du nicht?»

«Das kann man so oder so sehen.»

«Na klar», sagte Golze ernsthaft. «So ist das ja immer. Das macht die Chose ja so verdammt schwierig. Ach, wenn ich Tankwart wäre, hätte ich ein einfacheres Leben.»

«Wir haben auch unsere Sorgen.»

«Ja, was? Kann ich mir denken. Dieses viele Benzin. Und das stinkt ja auch.»

Das riecht ehrlicher als dein 8x4-Dufthammer. «Warum fällt denn der letzte Hauptverdächtige aus?» fragte Adler. Die Vorstellung, daß Henry und Gabriel in diesem Moment die Preisliste erstellten, machte ihm Golze erträglich.

«Warum! Warum! Weil er kein Motiv hat, dieser Spielverderber», erwiderte Golze muffelig.

«Aber wenn man tief genug gräbt, wird sich doch bestimmt was finden lassen.»

Golze lächelte ihn kumpelhaft an. «Klar, haben wir unsere Trickkiste. Wir haben auch dies und das probiert. Wenn es nur um Raub gegangen wäre, bißken Rauschgift, Pipapo, dann hätten wir den eingesargt, und der wäre weg gewesen wie Schmidts Katze. Aber es geht ja um Mord. Da wird man natürlich vorsichtiger. Mensch, Mord, stell dir das mal vor. Mord - das ist doch das höchste. Dahinter kommt doch nichts mehr.»

«Doppelmord.»

Golze wiegte nachdenklich den Kopf. «Stimmt auch wieder.»

«War es denn überhaupt Mord?»

«Natürlich war es Mord. Da ist doch die Mordkommission mit befaßt.»

«Ach so, dann natürlich.»

«Das mit den Schulden hat mir bis zuletzt Hoffnung gemacht», sagte Golze. «Der Schatzmeister hat nämlich bei der Leiche Schulden gehabt. Schulden und Schatzmeister und dann noch in einer Bank angestellt, da wird man doch wach. Ein paar Schulden habe ich auch, und du? Finanzen im Griff?»

In der Fahrrad-Garage fiel etwas um. Du mußt denen die Miete erhöhen.

«Lebt auf ziemlich großem Fuß, der Schatzmeister. Hat sich gerade eine Yacht gekauft. Na ja, was heißt Yacht? Mehr so ein Boot, wo man gerade nicht mehr selbst rudern muß. Aber das gibt’s auch nicht umsonst.»

«Vielleicht hat er einen Sack Kohle aus dem Karnevalsverein abgeschaufelt.» Adler hatte die Bemerkung nicht besonders ernst gemeint.

Golze sprang auf und riß Adler an den Schultern in die Senkrechte.

«Was hast du da eben gesagt? Sag das noch mal, was du da eben gesagt hast.»

Adler blickte ihn erstaunt an.

«Mußt keinen Schreck kriegen», stieß Golze hervor. «Das, was da so gefährlich blitzt in meinen Augen, das ist der Instinkt des Tigers, wenn er Blut gerochen hat. Dann verfolgt er die Fährte, und dann kann der Hirsch, oder was das ist, schon mal langsam an die letzte Ölung denken. Denn dann kommt Golze. Dann ist Schlachtfest.»

«Ich habe doch nur einen Gedanken geäußert.»

«Deshalb bin ich ja so alarmiert. Mit so was habe ich im Büro doch nie zu tun.»

«Na, wenn es so ist.» Adler fand Gefallen an dem blöden Spiel. «Dann guckt doch mal nach, ob der Schatzmeister für seine Yacht die Kasse vom Karnevalsverein angezapft hat.»

Das nächste, was Golze von sich gab, sagte er schon im Laufen. «Muß los, tut mir leid. Wenn das stimmt, kriegst du einen Orden.»

«Und was ist mit Benzin?» rief Adler. «Nachher bleibst du mit leerem Tank liegen.»

Golze stoppte, als wenn er gegen eine Wand gelaufen wäre. «Du denkst auch an alles.» Er tankte 9,8 Liter und wäre beim Herunterfahren vom Gelände beinahe mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Golze schoß mit dem Oberkörper aus dem Wagen:

«Was machst du Altig eigentlich, wenn du nicht hinter der Wand wartest, daß ich vorbeikomme, damit du mir vor den Kühler fahren kannst?»

Krausi machte das bekannte Fick-dich-ins-Knie-Zeichen. Aber Golze mußte ja los.

 

Fünf Minuten umschlich Hajo das Telefon und drehte Bohnsacks Visitenkarte um und um. Dann legte er sie auf den Tisch und wählte. Die Sekretärin stellte sofort durch.

«Bohnsack. Na, Sie Experte?»

«Herr Reiher, Herr Reiher, es ist etwas Schreckliches passiert.»

«Mein Wagen ist weg.»

«Woher wissen Sie das?» Hajo war so perplex, daß er alle Zurückhaltung fahrenließ.

«Weil ich eben einen Anruf bekommen habe, daß er in Ochsenzoll steht.»

«Das ist ein Ding.»

«Trotzdem Glück für Sie. Das Gefährt ist noch reparaturbedürftiger geworden. Wollen Sie immer noch oder soll ich ihn — wie es ja das einzig Vernünftige wäre — in meine Werkstatt geben?»

«Mir ist das Ganze ja so peinlich.»

«Das hoffe ich. Also holen Sie den Wagen in Ochsenzoll ab. Der Schlüssel steckt. Ich sage Ihnen jetzt die genaue Adresse...»

 

Johannes hatte einen Freund, der eine Schwester hatte, deren Freundin einen Journalisten kannte, der bei einem als seriös geltenden Magazin arbeitete. Während Adler mit Gabriel den Großmarkt nach Einkaufsquellen durchforstete, fuhr Irene mit Henry in ein Lokal an der Außenalster.

Der Journalist kam pünktlich. Nach wenigen Fragen wußte er, daß Henry aus Kenia stammte und sich in Mombasa auskannte. In der folgenden halben Stunde gingen die beiden die Hotels der Stadt durch, schwerpunktmäßig die Strandhotels im Süden. Das Leopard Beach hatte es dem Journalisten wegen der fünf Hektar bougainvilleabewachsenen Korallengärten angetan. Außerdem hatte er herausgefunden, daß die Telefonnummer des Hotels die gleiche war wie die Durchwahl-Nummer seines Büros.

Irene versuchte mehrmals, die beiden auf das Thema zu bringen. Doch die Männer stellten gerade fest, daß durch den Teil der Toskana, in dem sich der Journalist für einen Teil seiner fünfzehn Monatsgehälter im letzten Jahr ein bescheidenes Anwesen zugelegt hatte, Henry schon einmal mit der Eisenbahn gefahren war. Als auch das besprochen war, hatten sie marinierte Jakobsmuscheln, Seeteufel in Basilikum mit Zwergorangen sowie eine possierliche Wachtel auf Pilzen verspeist. Der Journalist zückte einen winzigen Block und machte sich freundlicherweise eineinhalb Notizen zu Henrys und Gabriels Aktion. Während Irene versuchte, zu Wort zu kommen, ging es über Sorbet sowie Lammrücken zum Käse. Ein geeistes Kokosnußmus mit Cassisfeigen schloß die Mägen. Danach mußte der Journalist dringend los.

Zu Hause mistete Irene mehrfach den ahnungslosen Johannes an, der einen Freund hatte, der eine Schwester...

 

«Wahnsinn», sagte Adler. Sie standen um die eingekauften Lebensmittel herum. «Und jetzt brauchen wir einen Lohnabhängigen. Ihr könnt ja schlecht gleichzeitig verkaufen und kochen. In den Ausschank stellen wir... ja wen? Reinhold?»

«Selber essen macht fett», sagte Hajo.

«Stimmt. Reinhold wäre für das Essen die Endstation. Wen denn dann?»

«Wir könnten einen arbeitslosen Lehrer einstellen», schlug Hajo vor. «Das hätte Stil irgendwie. Einen Akademiker als Fritten-Mann. Laß deine Kontakte spielen, du kennst doch solche Leute.»

«Von früher.»

«Natürlich nur von früher.» Hajo wußte, wo Adlers empfindliche Stellen lagen.

Noch am selben Abend kam der erste Lehrer. Er interessierte sich für die Sicherheit am Arbeitsplatz, für die Urlaubsregelung und die Altersversorgung. Sie komplimentierten den Mann hinaus.

Kandidat zwei trat am nächsten Morgen an, der dritte Lehrer kam gleich danach.

Reinhold machte es dann fürs erste.

«Und keine Freundschaftspreise», befahl Adler. «Kein Skonto bei Barzahlung und keine Preisverschärfung bei Taxifahrern.»

Henry und Gabriel bestanden darauf, sich in einem Fachgeschäft am Hafen mit zünftiger Kochberufsbekleidung auszustatten.

«Bißchen übertrieben, finde ich», sagte Adler.

Gabriel fand das überhaupt nicht: «Wieviel in der Welt auf Vortrag ankömmt, kann man schon daraus sehen, daß Kaffee, aus Weingläsern getrunken, ein sehr elendes Getränk ist oder Fleisch, bei Tische mit der Schere geschnitten, oder gar, wie ich einmal gesehen habe, Butterbrot mit einem alten, wiewohl sehr reinen Schermesser geschmiert.»

Auf die Kochmützen verzichteten sie bald, weil sie ihnen ständig am Türrahmen herunterfielen. Adler malte Stelltafeln und warb für die Eröffnung von «Schnell, Schwarz, Schonend — 1. schwarzer Imbiß der Stadt».

 

Der Tag der Eröffnung kam. «Das Wichtigste ist, daß einer am Stand steht und so tut, als ob er ißt und überlebt», sagte Adler. Er hatte für diesen Zweck seinen Freund Flynn engagiert. Flynn ließ sich immer dann, wenn ein Wagen auf das Gelände fuhr, eine Pastete oder Banane über den Tresen schieben. Hinter dem Imbiß-Wagen stand ein Zelt, in dem Henry und Gabriel die Küche bedienten.

Eine Urlauber-Familie aus Dänemark machte den Anfang. Nach dem letzten Bissen verriet Reinhold ihnen, daß sie die ersten gewesen wären und deshalb nichts zu bezahlen hätten. Henry und Gabriel kamen aus dem Zelt und bedankten sich per Handschlag bei den Dänen. Die Familie brach überstürzt auf, in der ersten Apotheke versorgten sie sich mit Bullrich-Salz und Kohletabletten. Erst südlich von Kassel entspannten sie sich wieder.

Dann kamen zwei Taxifahrer, die, sich gegenseitig Mut zusprechend, fünf Minuten die Speisekarte studierten und jeder eine geröstete Banane verzehrten.

Am Ende des ersten Tages waren sie rechtschaffen müde. Vom Reingewinn holte Adler eine Flasche Champagner, die sie andächtig aussüffelten. Danach packte Henry, unbeachtet von den Weißen, den Korken in einen Briefumschlag. Er hatte längere Zeit eine einfache Melodie vor sich hingesummt, bevor er den Korken in der Mitte durchschnitt.

 

Bohnsack erfuhr davon durch Zufall. Am Nachbartisch im Firmen-Casino saß die Sekretärin des Direktors und erzählte einem Bekannten von dem Briefinhalt, den sie am Morgen in den Papierkorb geworfen habe. Bohnsacks Blick wurde starr, er verschmähte das köstliche Birnenkompott und hetzte in den fünften Stock.

«Sie sollten Ihren Arbeits-Vertrag genauer lesen», lachte der Direktor, «Papierkörbe leeren gehört nicht zu Ihren Aufgaben.»

Bohnsack, der den Inhalt des Papierkorbs auf den Schreibtisch der Sekretärin gekippt hatte, holte die Korken-Hälften hervor. «Und so was schmeißen Sie weg!» sagte er anklagend.

«Erst mal habe nicht ich das weggeworfen, sondern Frau Kant. Zweitens hätte ich es bestimmt weggeworfen, wenn sie mir nicht zuvorgekommen wäre. Was pflegen Sie denn mit solchem Unfug zu machen?»

«Ich nehme das ernst», sagte Bohnsack. «Sie halten das wahrscheinlich für einen Korken, der zerschnitten wurde», fuhr er fort.

«Genau das mache ich.»

«Falsch», erwiderte Bohnsack vibrierend, «falsch. Das ist ein Zeichen. Es ist der Versuch, Kontakt aufzunehmen.»

«Warum schicken die Champagner-Leute dann nicht ein nettes Präsent-Paket, wie wir es alle lieben?» Der Direktor war amüsiert.

«Herr Direktor, das ist ein Zeichen von den Leuten, die uns mit dem Gift besucht haben.»

In diesem Moment kam die Chefsekretärin vom Essen zurück. Nur ihrer tadellosen Sozialisation war es zu verdanken, daß sie Bohnsack nicht das Gesicht zerkratzte. Gehorsam sammelte er den Abfall in den Papierkorb.

 

Der zweite Tag verlief mau, der dritte trostlos, aber dann war Kundschaft da. Henry und Gabriel kamen kaum noch zum Kartenspielen. Hajo mußte Reinhold ablösen, der sich den Magen verdorben hatte. Mit Cola und Bananen brachten sie ihn durch. Adler, dem das Finanzamt soeben fällige Vorauszahlungen gestundet hatte, nahm am Telefon den Glückwunsch seines Steuerberaters entgegen.

Gleich darauf klingelte es erneut.

«Kühn.»

«Adler? Er ist tot, einer ist tot.»

«Meine Güte, Henry. Wer denn? Kenn ich ihn?»

«Natürlich kennst du ihn. Ich habe dir doch erzählt, daß sie geschlüpft sind. Oder war es Hajo?»

«Ach so, ein Adler ist gestorben.»

«Jawohl, ein Adler. Du brauchst gar nicht so zu tun, als ob das ganz unwichtig ist. Wir alle hier sind niedergeschlagen.»

«Mensch, Henry, du weinst ja fast.»

«Und? Darf ein Mann nicht weinen? Muß ein Mann seine Tränen immer zurückhalten?»

«Nein, nein, wenn dir danach ist, wein ruhig ein bißchen. Du mußt entschuldigen. Wahrscheinlich bin ich gerade kein besonders guter Gesprächspartner für dich. Bei uns hat sich nämlich in der Zwischenzeit allerhand getan.»

«Aus dem Horst geworfen haben sie das Flaum-Knäuel. Da kennen die nichts. Friß oder stirb. Und wenn er stirbt, dann aus den Augen, aus dem Sinn. So ist die Natur eben. Es ist nur brutal, wenn man es hautnah miterlebt. Aber ich merke schon, ich störe. Tut mir leid. Ich wollte dir nicht deine wertvolle Zeit rauben.»

«Nun mach mal halblang, Henry.»

«Ich habe schon verstanden. Du mußt es mir gar nicht...» Das Gespräch brach ab. Ach, Henry. Ob Adler oder halbes Hähnchen. Flattermänner sind sie alle, und als Flattermänner müssen sie enden.

 

Irene telefonierte mit dem Journalisten der bekannten Zeitschrift. Und mit Egon. Der Journalist befand sich auf Recherche-Reise für einen Report über eine funkelnagelneue Sekte. Egon bereitete seine erste Foto-Ausstellung vor. Er hatte ihr den Titel «Neger im Tunnel — ein poetisches U-Bahn-Märchen für Schwarzfahrer» gegeben. Gerade an diesem Vormittag hatte er einen Termin bei der Hochbahn AG gehabt. Sie wollte seine Bitte, die Ausstellung mit 2500 Mark zu sponsern, wohlwollend prüfen.

 

«Hey! Du sollst neue Preisschilder malen und kein Kunsthandwerk herstellen.» Adler blieb im Detektiv-Büro stehen und sah zu, wie Gabriel den weißen Flamingo des Reiher-Direktors mit rotem Filzstift bemalte.

Henry hielt ein Papp-Täfelchen in die Höhe: «Gut so?»

«Bißchen krakelig. Aber die Gestaltung der Zahlen reißt alles wieder raus», sagte Adler. Nach der Woche mit Einführungspreisen wollte er es riskieren und voll zulangen.

Gabriel bestieg das Tankstellen-Fahrrad und brachte den Flamingo zum Briefkasten.

 

Seitdem die Schwarzen im Büro von Rochus Rose wohnten, schlief Adler zu Hause. Einen Abend schlich er ums Telefon und versuchte dann, nachdem er sich entschlossen hatte, Roswitha nicht anzurufen, ihre Nummer zu vergessen. Es war die sicherste Methode, sie unverlierbar ins Hirn zu brennen. Irene kam kurz vorbei und nervte Adler mit ihrem Aktionismus.

«Mensch, wenn keiner drauf einsteigt, dann können wir doch nichts daran ändern. Ich habe zufällig eine Tankstelle und keinen Rundfunksender.»

«Dann demonstrieren wir», trumpfte Irene auf. «Du weißt, was das heißt?»

«Das heißt Flugblatt, Text, Organisationen keilen, Demo anmelden, Demo machen, kalten Arsch kriegen im Winter, Sonnenstich im Sommer und eine Ladung Wasserwerfer rund ums Jahr.» Irene ging bald wieder.

Mehrere Sekunden gelang es Adler, das Klingeln in seinen Traum einzubauen. Dann öffnete er die Augen, stand auf.

«Was ist denn?»

«Herr Kühn? Machen Sie bitte auf, es ist dringend.»

Adler öffnete, im nächsten Moment sprangen die beiden Polizisten, die vorne standen, gegen die Tür und warfen Adler an die Wand des Flurs. Im Treppenhaus standen noch mehr Uniformierte. Angst gellte durch Adlers Kopf, Angst vor Schmerzen, körperlicher Gewalt, Schüssen.

Zwei Zivile aus dem Hintergrund betraten die Wohnung. «Herr Valentin Kühn?» Es war keine Frage. «Herr Kühn, wir nehmen Sie fest. Wollen Sie wissen, weshalb?» Adler nickte. «Verdacht auf Mitwisserschaft im Falle fortgesetzten schweren Diebstahls, Raub, Drogenbesitz...»

«...Drogenbesitz nicht», unterbrach sein Kollege.

«Drogenbesitz ist immer dabei, wenn man nur genügend gräbt», entgegnete der Unterbrochene störrisch. «Wo war ich stehengeblieben?»

«Bei Rauschgift», antwortete Adler.

«Sehen Sie», freute sich der Beamte. «Außerdem Hehlerei. Ob Banden-Kriminalität dazukommt, wird sich zeigen. Reicht aber auch so schon. Können wir nicht mal ins Wohnzimmer gehen? Ist doch ungemütlich hier.»

«Das ist das Wohnzimmer.»

«Ach so.»

Adler zog sich unter den wirklich diskreten Blicken eines Uniformierten Hemd, Hose, Strümpfe und Schuhe an.

«Und nun erklären Sie mir, was das soll.»

«Gerne», schmunzelte der Beamte. «Ich sage nur Krausi. Schon mal gehört?»

«Das ist mein Untermieter.»

«Ach ja? Sie geben es zu?»

«Warum nicht? Bringt 150 im Monat. Leider erst seit zwei Monaten.»

«Und was bringt es unterm Tisch?»

«Wieso unterm Tisch?»

«Schieben Sie sich die Tausender etwa in aller Öffentlichkeit in den Rachen?»

Adler schaute in alle Gesichter. Keiner wirkte besonders unfreundlich, keiner blickte besonders freundlich. Sie sahen sich alle ähnlich. «Bitte eine Erklärung», sagte Adler.

«Gerne.» Wenn man den Beamten um etwas bat, freute er sich. «Wir haben vor...» er blickte auf die Uhr «...vor 32 Minuten auf dem Gelände Ihrer Freien Tankstelle und Werkstatt im Stadtteil Billbrook eine Razzia durchgeführt und bei der Gelegenheit drei Männer festgenommen.»

Ogottogott, Henry, Gabriel, das tut mir so leid. Krausi tat ihm nicht leid.

«Weiter», sagte Adler bedrückt.

«Es handelt sich um die Herren Hans-Jürgen Glatt, genannt ‹Krausi›, Heinz-Henning Bollermann, Spitzname ‹der Pazifist› sowie Heino Meier, kein Spitzname.» Ihr schwarzen Teufelsbrüder, wo seid ihr bloß so schnell abgeblieben? «Wir trafen die Herren in der Garage mit der Laufziffer Numero eins, Klammer auf, eins, Klammer zu, an.»

 

Das Weitere erzählten sie Adler auf der Fahrt zur Tankstelle. «Die Brüder haben seit zwei Jahren den heimischen Fahrradklau-Markt zielstrebig monopolisiert. Angefangen als kleine Kraucher, hier mal eins, da mal eins. Dann erkannten sie die Segnungen eines Konzentrations-Prozesses und teilten sich nach Mafia-Manier die Stadt in vier Teile: Norden, Süden, Osten, Westen.»

«Wieso vier? Sie haben doch nur drei verhaftet.»

Die Gesichter der Polizisten zeigten vergnügte Mienen. «Nummer vier sitzt hier», frohlockte der wortführende Beamte. «Oder wollen Sie uns erzählen, daß Sie von nichts gewußt haben und den lieben Jungs nur auf Grund ihrer vertrauenerweckenden Pockennarben-Gesichter die geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt haben? Aber Herr Kühn, einen solch gemeinen Vorwurf der Blauäugigkeit erhebt niemand von uns gegen Sie. Das wäre ja geradezu beleidigend. Wir lieben intelligente Gegner. Sie werten indirekt ja auch uns auf. Glauben Sie, dem HSV würde es Spaß machen, Woche für Woche gegen Bad Segeberg oder Buxtehude spielen zu müssen?»

«Natürlich bin ich nicht der unbekannte Vierte.»

«Und was die da in der Werkstatt treiben, haben Sie auch nicht gewußt?»

«Habe ich nicht, nein.» Oh, ist das peinlich. Alle werden über dich lachen. Du mußt hier weg. Die Stadt wechseln, neuen Namen zulegen. Am besten ins Ausland.

«Ich finde das unfair, daß Sie uns so etwas zumuten», sagte der Beamte mit kokett-weinerlicher Stimme. «Das haben wir nicht verdient.»

«Hören Sie schon auf», knurrte Adler. Daraufhin schwiegen sie so beredt, daß Adler dem Fahrer fürs Einschalten des Radios dankbar war.

«Mit Paukenhöhle und Ohrtrompete — das neue Magazin für den...» das nächste Wort brüllte der Moderator: «hörbehinderten Hörer.»

Erschreckt schaltete der Polizist das Radio ab. Adler war die Stimme bekannt vorgekommen. Hat der früher nicht andere Sendungen gemacht? Mehr für Jüngere?

Und dann dachte Adler, er sähe nicht richtig. Auf dem Gelände standen kreuz und quer geparkte Fahrzeuge: Streifenwagen, Mannschaftswagen, Zivil-Fahrzeuge. Die müde Nachtbeleuchtung brannte noch. Hell zeichnete sich die weißgelbe Beleuchtung des Imbißwagens von der Morgendämmerung ab. Gedämpft sickerte das Licht des Küchen-Zelts durch den Stoff. Adler zählte. 18 Polizeibeamte belagerten den Imbiß. Eßgeräusche, Unterhaltungen und die Dämpfe aus der Küche lagen über dem Gelände. Der erste Esser bemerkte ihre Ankunft.

«Kommt her. Hier gibt’s was ganz Feines zu spachteln. Hört sich alles an wie Diktatoren aus Südamerika, aber ex-zel-lent.»

«Na, Herr Kühn, da haben Sie sich ja ein zweites, kulinarisches Standbein geschaffen», sagte der wortführende Beamte anerkennend. «Bißchen überteuert, wenn Sie mich fragen. Aber flinke Bedienung. Und alles frisch vom Feuer, das hat man gern.» Er winkte, bis die Bedienung im Wagen ihn bemerkte.

«Natürlich laden wir Sie ein», stellte der Beamte klar.

«Hajo», stieß Adler fassungslos hervor, «wie kommst denn du hierher?»

«Hallo, Chef», sagte Hajo gehetzt. Der Schweiß lief ihm in Rinnsalen über Gesicht, Hals und Ausschnitt des T-Shirts. «Nachdem sie mich freigelassen hatten, haben sie mich gleich hierbehalten, damit ich den Kellner mache.»

«Sie», sagte Adler zu dem Beamten, «der weiß aber von nichts. Das ist ein Angestellter von mir, der kümmert sich nicht um das, was hinter den Kulissen läuft.»

«Klingt aber nicht besonders kollegial, was Sie da sagen. Hatten Sie hier nicht mal die ganz große Sause vor? Kollektiv? Kasse machen? Kommunismus in Norddeutschland?»

«Woher wissen Sie denn das schon wieder?» Der Beamte lächelte selbstgefällig und nahm Hajo geröstete Bananen und Reisfladen ab. Da raste mit Blaulicht ein Streifenwagen aufs Gelände. Mit qualmenden Reifen hielt er knapp vor dem Imbißstand. Freudestrahlend sprang der uniformierte Beifahrer aus dem Auto und schwenkte zwei Flaschen Ketchup in den hoch erhobenen Händen. i8mal ertönten Rufe: «Aah, wie bei Muttern, mehr, mehr.»

«Schade, daß Sie eine Kanaille sind», drückte der kauende Beamte heraus, «Ideen haben Sie doch. Das muß doch fein was abwerfen.»

«Weiß ich nicht», entgegnete Adler lustlos, «wir machen das erst seit einer Woche.»

«Ich bin sicher, da bleibt ganz schön was hängen. Ihren beiden Hiwis da hinten in den Sielen werden Sie’s ja wohl nach alter Kolonial-Art nicht gerade aufdrängen, den Mehrwert, habe ich recht?»

«Hiwis?»

«Na, diese wieseligen Kongolesen.»

«Entschuldigen Sie mal kurz», sagte Adler hastig und eilte um den Wagen herum ins Küchen-Zelt. Gabriel wischte sich mit einem Handtuch das Gesicht ab. Er reichte es an Henry weiter, der seinen Schweiß dazuwischte. Dann knüllte er das Handtuch zusammen und warf es in den Topf, in dem das Hackfleisch schmorte.

«Guerilla-Taktik», erklärte Henry, mit einem Holzlöffel umrührend. «Wir bekämpfen sie gezielt an den Mägen. Dann sind sie in 100 Jahren ausgestorben, denn dann klappt es auch mit der Liebe nicht mehr, denn die Liebe geht ja durch...» Er stieß donnernd auf.

«Mensch, Henry, du bist ja betrunken», sagte Adler.

«Polizei, Polzei, Plotzei, Platzei, Platzerei, Plackei, Plackerei. Auf den Schreck mußten wir einfach was trinken. Wie sollten wir das sonst nervlich durchhalten?» Gabriel sah aus, als ob er gleich umkippen würde. «Und dann diese Bullenhitze.»

Draußen erhob sich Stimmengewirr, das schnell anschwoll und deutlich wurde. «Manni ran — noch ein Lamm!» Adler verließ das Zelt. «Kolbenmais — um jeden Preis!» Sie umringten einen Mann, der mit rotem Gesicht Speiseöl auf einen Maiskolben goß und den Maiskolben, ohne mehr als vier-, fünfmal zu kauen, verschlang.

Rauschender Beifall.

«Manni kann’s nicht lassen», sagte der wortführende Beamte, der plötzlich wieder an Adlers Seite war. «Neuer Rekordversuch. Nachdem der Kollege aus Bergedorf ihn mit den halben Hähnchen abgehängt hat, will Manni jetzt natürlich eine echte Marke setzen. Wer ißt schon Maiskolben im Akkord?»

Manni Wiener brachte es auf neun Kolben, dann mußte er zu einem Streifenwagen geführt werden, wo man ihn auf die Rückbank legte. Zwei Beamte begleiteten Adler zu Garage Nr. i. Als sie an einem Mannschaftswagen vorbeikamen, ertönten dumpfe Geräusche. Adler blickte auf die kleinen Fenster. Dahinter sah er Gesichter, einen Moment lang glaubte er Krausi zu erkennen.

«Donnerwetter», murmelte Adler, als er die Garage betrat.

«Das haben Sie auch noch nicht gesehen?»

«Noch nie.» Offensichtlich hatten sie immer erst abends richtig losgelegt. Was Adler nur als Klitsche erlebt hatte, war jetzt eine professionelle, mit allen Schikanen ausgerüstete Fahrrad-Werkstatt.

«Hiermit zum Beispiel», sagte der Beamte und hielt eine Feile in die Höhe, «dürften sie die Fabrikations-Nummern entfernt haben.»

«Wieviele Räder sind das denn?» fragte Adler beeindruckt.

«Wir zählen noch. Schätze, daß die täglich rund zwanzig Velos geklaut haben. Die haben beim Verkauf nicht unter 200 Mark gekostet. Die besseren das Doppelte.»

Adler schloß die Augen und rechnete. Die haben den Bogen raus. Das ist Stil.

Später versuchte Adler bei mehreren Gelegenheiten, Freunden und Bekannten von seiner Nacht im Untersuchungs-Gefängnis zu erzählen. Er gab es jedesmal nach wenigen Sätzen auf, weil er spürte, daß nur ein Bruchteil seiner Gefühle in den Sätzen vorkam.

Im Polizeipräsidium erhielt er ein frugales Frühstück. Ein Beamter führte ihn zur Vernehmung. Auf dem Flur begegneten sie einem Mann, der eine Pappnase und ein keckes Käppi mit Fasanenfeder trug. Sie hatten den Maskierten schon passiert, als er plötzlich rief: «Aber hallo! Was halten wir denn hiervon?» Sie drehten sich um, der Maskierte nahm die Pappnase ab, der Beamte erschrak.

«Tach, Golze, so sieht man sich wieder.»

«Na, aber sag mal», haspelte Golze, «das kann sich doch nur um einen grausamen Scherz handeln.» Er blickte den Beamten an. «Der Mann hier ist ein Informant der Polizei», sagte Golze laut.

Adler blickte sich um. Wenn das einer hört.

«Ich kenne diesen Mann seit vielen Monaten», fuhr Golze fort, «und zwar persönlich. Ich lege für diesen Mann meine Hand ins Feuer, einen Fuß noch dazu. Wer ist denn für diesen Skandal verantwortlich?»

Der Beamte nannte Namen und Kommissariat und zog mit Adler ab.

«Den Sonnenuntergang erlebst du als freier Mann», rief Golze ihnen hinterher.

 

Eine halbe Stunde später durfte Adler das Gebäude verlassen. Der unbekannte vierte Verantwortliche war gefaßt worden. Vor dem Eingang stand Hajo.

«Ein Freund in der Not», sagte Adler mit belegter Stimme und nahm den schüchtern lächelnden Monteur in die Arme. Adler war gerührt. Er verzichtete darauf, Hajo zu fragen, wer den Betrieb aufrechthielt.

«Da waren welche von der Presse, die wollten die Werkstatt fotografieren. Ich hab’s ihnen verboten. Da haben sie gesagt, sie dürften, von wegen öffentlichem Interesse. Da habe ich sie gelassen. Stimmt das mit dem öffentlichen Interesse?»

«Was weiß ich? Komm, ich lade dich zu einem sagenhaften Frühstück ein.»

Sie kehrten in ein Schnösel-Café im Universitäts-Viertel ein und vertrieben mit ihrer guten Laune die Leichenbitter-Atmosphäre des Ladens, der aussah wie ein Ausstellungsraum von Villeroy & Boch.

 

Zurück fuhren sie mit Hajos Scirocco, in den Doris eine ziemliche Delle gefahren hatte. Das erste, was Adler sah, war Irene in eklatant großer Monteurhose, wie sie einem peinlich berührten BMW-Fahrer mit großer Geste etwas überreichte. Reinhold mühte sich, die Reihe wartender Wagen abzufertigen. Aus dem Augenwinkel sah Adler, daß es rund um den Imbißwagen aussah wie im Volksparkstadion nach einem Heimspiel des HSV.

«Da», sagte Irene zum BMW-Fahrer, und drückte ihm den Pirelli-Kalender in die Hand, «da haben Sie was Bleibendes. Da können Sie immer an mich denken.» Herzliches Gelächter bei hubraumschwächeren Fahrern.

Adler ging in das Detektiv-Büro. Henry und Gabriel lagen da wie tot. Auf dem Schreibtisch stand ein Papp-Schild, es war an eine Zigarren-Kiste gelehnt. «Für den Chef. Kasse.» Adler öffnete, ihm wurde warm ums Herz.

«Hätte ich nicht gedacht, daß die alle ordentlich bezahlen würden», sagte Hajo. «In Wildwest-Filmen bezahlen die Viehdiebe doch auch nie.»

Draußen ertönten Stimmen. Adler befreite einen Jaguar-Fahrer vom polemisierenden Reinhold. Danach bedankte er sich bei ihm, daß er auf der Tankstelle ausgeholfen hatte. Und dann stand er Irene gegenüber. Sie hatte beide Daumen hinter den Latz der Hose geklemmt.

«Danke», sagte Adler.

Irene winkte großkotzig ab. «Pah. Gar nicht der Rede wert. Das fällt bei mir alles unter Solidarität.» Er küßte sie auf die Wange. Danach ließ er seine Wange noch ein bißchen an ihrer Wange liegen. Irenes Haut war heiß.

«Guck mal. So sieht das aus, wenn Schnecken Hochzeit machen.»

Sie fuhren auseinander. Till und Hajo standen hinter ihnen.

«Was du alles weißt», sagte Hajo beeindruckt.

«Kannst mich loslassen», meckerte Till.

Hajo lockerte den Griff um Tills Nacken. «Zwei Ventile», murmelte Hajo finster. «Dieses Kind ist für eine Tankstelle das, was Golze für die Polizei ist.»

 

«Vorsicht», hauchte Ulf Bohnsack mit vibrierender Stimme, «ganz, ganz vorsichtig. Um Gottes willen nicht berühren. Nicht tief einatmen. Wer hustet, wird sofort entlassen.»

«Na, na», begehrte der Direktor auf.

«Nun verschwinden Sie endlich, Mann! Für diese Freundlichkeiten haben wir hinterher noch genug Zeit.» Bohnsacks Tonfall zwang den Direktor aus dem Sessel. Sein Referent und die Sekretärin standen irritiert daneben. Auf dem Schreibtisch lagen braunes Packpapier und ein kleiner Karton, der offensichtlich schon mehrmals benutzt worden war. Den roten Flamingo hatte der Direktor voller Wiedersehensfreude sofort wieder auf seinen angestammten Platz gestellt.

«Mensch, Bohnsack, was haben Sie denn?» fragte der Direktor, sich aber doch der Tür nähernd. Bohnsack umrundete den Flamingo.

«Raus!» bellte er. «Wenn einer draufgeht, reicht es völlig.»

«Herr Bohnsack, fehlt Ihnen was?» fragte die Chefsekretärin erfreut. Ihre Apotheke war im ganzen Haus berühmt. Weniger bekannt war, daß sie eine penible Statistik über ausgegebene Kopfschmerz- und andere Mittel führte. Von Zeit zu Zeit warf der Direktor einen Blick auf diese Statistik.

«Was...?» begann der Referent.

«Kommen Sie», sagte der Direktor und verließ das Büro.

Bohnsack umkreiste den Flamingo, roch daran, berührte ihn zart, rieb die Fingerspitzen aneinander und roch an ihnen. Er ließ sich in den Sessel des Direktors sinken und wäre beinahe hintenüber geschlagen, weil die Federung butterweich eingestellt war. Bohnsack rutschte auf die Vorderkante der Sitzfläche, lockerte beide Hände und ergriff den Porzellan-Vogel. Andächtig wog er die Figur in beiden Händen. Zweimal klopfte er mit dem Fingerknöchel gegen das Tier. Dann griff er zum Brieföffner und schabte an der Farbschicht. In dieser Sekunde plärrte die Sprechanlage. Bohnsack ließ den Flamingo fallen. In der Sprechanlage ertönte ein Schmerzensschrei. Bohnsack eilte zur Tür. Direktor und Sekretärin beugten sich über den Referenten, der verspannt auf dem Teppich lag.

«Was ist denn?»

«Ich weiß nicht», murmelte der Direktor betroffen. «Er war an der Sprechanlage, wollte Sie fragen, wie es aussieht. Und dann hat er plötzlich geschrien und ist zusammengesackt. Als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Elektrischer Schlag an der Sprechanlage. So ein Quatsch.» Bohnsacks Augen wanderten zur Sprechanlage und von da zum Flamingo.

 

Am frühen Abend erschien ein Lkw, vier Männer luden die Fahrradwerkstatt auf.

«Au, wird das peinlich», sagte Adler, der mit Hajo die Aktion beobachtete.

«Wieso? Wenn wir doch nichts gemerkt haben.»

«Du bist naiv.»

«Ich denke, du bist naiv?»

«Das ist ja das Schlimme. Ich kann mir das nicht leisten. Mir sieht man jede Dußligkeit nach. Aber Naivität... das gibt Hohn und Spott.»

«Du hast vielleicht Sorgen», sagte Hajo erstaunt.

Henry und Gabriel kamen aus der Fahrrad-Werkstatt. Jeder schob ein Rad.

«Na, noch schnell lange Finger gemacht?»

Henry blickte ihn so finster an, daß Adler Beklommenheit ankroch:

«Wenn man so widerlegt wird, so weiß ich doch auch fürwahr nicht, was man mit Ehren noch tun kann, als allenfalls dem Gegner die Fenster einschmeißen.»

«Was hat er denn?» fragte Adler.

«Wir haben unsere gestohlenen Räder wiedergefunden», antwortete Gabriel. «Oder das meiste davon. Die Vorderräder sind jetzt neu.» Sie schoben weiter.

«Habe ich dir übrigens schon erzählt, daß Doris und ich in eine WG ziehen?» fragte Hajo scheu und doch stolz. «Haus, in Norderstedt. Unten ein befreundetes Paar und oben wir.»

«Norderstedt. Da wäre Dänemark aber die sauberere Lösung.»

«Adler.»

Adler rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab: «Letzter Versuch?»

«Doris und ich, wir haben uns gründlich ausgesprochen. Wir waren uns sogar einig. Entweder wir trennen uns, oder wir machen einen letzten Versuch.»

«Ihr in eine WG.»

«Ja und? Du hast doch selbst jahrelang in WGs gewohnt. Und Irene wohnt auch in so was. Und Reinhold sowieso.»

«Das liegt nur daran, daß man für Leute wie Reinhold solche Wohnform eigens erfunden hat.»

«Jedenfalls hatten unsere Bekannten das Haus an der Hand, und sie haben noch welche gesucht. Adler, ich glaube, diesmal klappt es.»

Falsch, Hajo. Diesmal wird es auch nicht klappen. Es wird nie mehr klappen, und das spürst du auch selber.

Hajo hatte noch etwas auf dem Herzen: «Ist natürlich nicht billig, so ein Haus.»

«Ist eben Ballungsgebiet und nicht der Bayerische Wald.»

Hajo wand sich. «Doris hat ja noch die Halbtagsstelle.»

«Ist doch toll. Welche Friseuse hat so was schon?»

«Sag mal, willst du mich nicht verstehen?»

«Hajo, nein. Es geht nicht. Es geht einfach nicht. Darfich dich daran erinnern, daß wir beide das gleiche verdienen mit dem geringfügigen Unterschied, daß ich einen Haufen Schulden am Hals habe? Und Verantwortung noch dazu.»

«Weiß ich. Das hat der frühere Chef von Doris auch immer gesagt.»

Du redest also wie ein Friseur. Ein Unglück kommt selten allein. «Es geht nicht, Hajo. In echt, wie Doris sagen würde.»

«Auch nicht 50 Mark?»

«Was helfen dir 50 Mark?»

«Kleinvieh macht auch Mist.»

«Vorschlag: Wir warten ab, wie sich der Imbiß entwickelt, und in einem Monat sprechen wir uns wieder. Einverstanden?»

«Ach», sagte Hajo und warf einen mißvergnügten Blick in Richtung Aufenthaltsraum. «Was da übrigbleibt, geht doch gleich wieder drauf. Irgendwovon müssen die Mohren ja auch leben.»

«Aber sie gelten als genügsam», sagte Adler.

«Soll Irene sie doch bei sich unterbringen, wenn sie dringend Neger braucht. Das hier ist eine Tankstelle. Und eine Werkstatt, praktisch eine Fabrik.»

«Ach, Hajo», sagte Adler, «das ist ein weites Feld.» So, mein Lieber. Das hat Doris’ Friseurmeister garantiert nicht draufgehabt.

«Weiß ich. Das sagt mein Vater auch immer.»

 

Als am Abend immer noch die Überreste der Polizei-Fresserei herumlagen, sprach Adler Gabriel darauf an. «Das ist ja nicht gerade appetitlich.»

«Dann mach es weg», entgegnete Gabriel scharf. «Du weißt, wo der Besen steht.»

Adler wollte ihm die gereizte Antwort geben, die er für angebracht hielt, als es sich draußen anhörte, als ob jemand fegte.

«Na bitte, geht doch», sagte Adler befriedigt und ging hinaus.

«Keine Panik, alles im Griff», sagte Golze, eifrig weiterfegend. «Dein Küchen-Boy hat mir einen Besen besorgt. Kann ja nicht so bleiben hier. Was macht das denn für einen Eindruck? Als wenn unser Verein keine Manieren hätte. Wir sind vielleicht unfähig und korrupt. Aber wir sind sauber. War die Presse schon da? Siehst du, das kommt davon. Und wir können dem Bürger unser schlechtes Image mühsam aus dem Schädel hämmern. Na, das haben wir gleich. Wo ist eine Mülltonne?»

Henry eilte mit einem Müllsack herbei. «Da hinten liegen in Form einer Pfütze noch die Reste von dem Maiskolben-Rekordversuch Ihres Kollegen», sagte Henry höflich. Golze überhörte die Bemerkung.

«Übrigens bin ich auch gekommen, um mich für die schlechte Behandlung von gestern nacht zu entschuldigen. Übereifer, purer Übereifer. Aber immer noch besser als Schlendrian, findest du nicht auch?»

«Nein, finde ich nicht.»

«Findest du nicht, aha. Na ja, freies Land, freie Meinung. Und wir sorgen dafür, daß es so bleibt. Ich habe mich umgehört, da und dort.» Golze kippte die Reste in den Müllsack und kam dicht an Adler heran. «Was ich dir jetzt sage, dürfte ich dir gar nicht sagen.»

«Tu nichts, was du nicht verantworten kannst.»

«Es ist so: Die waren gar nicht hinter den Fahrrad-Dieben her. Die hatten dich auf dem Kieker.»

«Du spinnst doch.»

«Wenn ich’s dir sage. Achim Golze lügt nicht, außer wenn es sein muß. Flieg, Adler Kühn. Sagt dir das was?»

«Doch, dunkel», entgegnete Adler vorsichtig. «Hat da nicht mal was in der Zeitung gestanden?»

Golze freute sich: «Staatsbürgerliche Pflicht erfüllt, fein, fein. Flieg, Adler Kühn, das ist der Name von dem Neger-Kommando, das hier wilde Sau gespielt hat. Immer rein in die Büros und die Duftmarken in die Ecke setzen wie Bello an der Laterne. Aber dann Fersengeld. 100 Meter in 10 Sekunden. Schnell sind sie ja, muß ihnen der Neid lassen. Leider auch schnell wieder weg. Das weiß ich alles von der Terror-Abteilung. Kaum war das damals im Radio durchgekommen, diese Flieg-Adler-Kühn-Kiste, da haben die flugs die Telefonbücher durchgeguckt, wie viele Kühns bei uns rumlaufen. Und die Adlers noch dazu. Und dann die Doppelnamen. Und alle Schreibweisen. Und dann alle die ohne Telefon. Und dann zusammengezählt, und dann haben sie gemerkt, daß es so ja auch nicht geht. Dann haben sie rausgekriegt, daß du diesen Spitznamen hast oder was das ist. Muß irgendwo eine alte Kartei geben, in die du mal reingeraten bist. Geht ja schnell so was. Na, hier war es für einen guten Zweck, und ab eine Viertelstunde später standest du unter Dauer-Bewachung, hat mir die Abteilung Terror erzählt. 24 Stunden am Tag, Junge, Junge, du sicherst Arbeitsplätze. Dankschreiben vom Personalrat kommt später. Aber sie haben nichts rausgekriegt, weil du, also ich will nicht indiskret sein, aber dieses Fräulein Grabowski, vorne Roswitha, die hätte ich nicht so schnell ins Kraut schießen lassen. Mann, die hatte doch was. War natürlich kein Meisterwerk, das Foto, das unsere Leute mir gezeigt haben. So wacklig aus der Hand geschossen. Aber Ottootto, da bleibt man doch am Ball. Oder besser an beiden Bällen.»

Golze lachte kehlig.

«Ist ja nicht gerade un-bunt, dein Vorleben, Respekt, Respekt. Und dann die Geschichte in Bremen, war 79, richtig? Oder 80. Mit Zahlen kannst du mich jagen, deshalb gewinne ich auch nie im Lotto. Wenn mir mal einer mein Auto klaut, ich müßte mir die Nummer aufschreiben, sonst wüßte ich sie nicht. Eine Telefonnummer gibt es natürlich, die habe ich mir sofort gemerkt, du wirst sie kennen. Liegt alles nur an der Bewohnerin, ach ja. Ihr wart ja mal zusammen, das habt ihr mir aber verschwiegen, ihr Ferkel.»

Golze drohte dem völlig fassungslosen Adler neckisch mit dem Finger.

«Na, nun hat’s nichts genutzt, nun weiß ich es doch. Merk dir das für später.»

Adler lotste ihn zum Imbiß und ließ sich zwei Cola reichen.

«Danke», sagte Golze. «Wo war ich stehengeblieben? Auf Irene. Du scheinst nicht gerade ein Experte in länger dauernden Beziehungen zu sein, was? Na ja, auch eine Taktik: scharf ran, abseilen, nächste Kundin. Manche lieben das. Ich nicht so, ich bin mehr romantisch veranlagt. Ich hatte mal einen Chef, der war auch romantisch veranlagt, der war eine Marke. Apropos Marke: das mit dem angeblich geklauten Golf, 81, oder war es 82? Das halte ich, im Vertrauen gesagt, für einen lupenreinen Versicherungsschwindel. Stimmt’s?»

«Der stand auf dem Fischmarkt und ist mir beim Hochwasser abgesoffen», stammelte Adler.

«Wer’s glaubt», rief Golze fröhlich. «War wahrscheinlich ein Platzregen, und der Wagen hat nasse Reifen gekriegt, aber maximal. Ist ja auch egal. Ist nicht meine Abteilung und außerdem... das hättest du wohl gern, daß ich dir die Geschichte von der Taucherausrüstung und der Pentax und der Reisegepäckversicherung damals in Griechenland erzähle. Aber mich legt man nicht so schnell rein. Ich bin nämlich ein Kriminaler, ein heller, und kein Schäfer oder Kleingärtner. Apropos Kleingärtner...»

«Golze», sagte Adler völlig geschafft, «das ist alles nicht wahr, was du hier abläßt. Sag mir, daß das alles nur ein schrecklicher Traum ist.»

«Die hatten dich auf dem Kieker. Und nur weil du ein anständiger Mensch bist, hoffen wir, daß es so bleibt...» Golze rempelte ihn vertraulich an, «...und weil hier ja nichts weiter los war. Nur dein Knecht Ruprecht ist ab und zu mal übers Gelände gelatscht. Doch wer kommt da des Weges? Unser freier Mitarbeiter Kommissar Zufall. Denn siehe, was läuft den Kollegen vor die Netzhaut? Genau: die Fahrrad-Diebe. So ist das gekommen, ganz einfach, wenn man’s weiß, wie? Aber ich rede hier und rede und muß doch längst meinen nächsten Fall aufklären. Danke für die Cola, oder war die gar nicht ausgegeben?»

Adler winkte müde ab, Golze freute sich.

«Finde ich auch okay so: Wir geben euch Sicherheit, ihr spendiert uns eine Cola. Ohne Rum, sind ja im Dienst. Ich bin da im allgemeinen eisern, aber wir haben ein paar Schluckspechte in unseren Reihen, Junge, Junge, wer nichts wird, wird Wirt. Adjöh, sagt Achim Golze, nichts für ungut und immer dran denken: Die Polizei schläft nicht.»

Golze stellte Adler den Müllsack vor die Füße und stieg in den Scirocco.

«Haste mal ein Bier, Reinhold?» Reinhold reichte es raus. Adler stürzte das Bier hinunter.

«Auf ein Wort noch!» Nein!!! Er drehte sich um, Golze drehte die Scheibe herunter. «Dein Tip mit dem Schatzmeister von ‹Penuntia› war nett gemeint, aber leider falsch. Der hat keinen Pfennig aus der Kasse genommen, weil in der Kasse nämlich Ebbe ist. So kann’s kommen. Aber wir bleiben dran. Und wenn du mal wieder einen Tip hast, ich wäre der letzte, der ihm nicht nachgehen würde. ‹Polizei und der Bürger/sind ein Paar wie Edgar Wallace und der Würger.› Geil, was? Zitat Manni Wiener aus seiner Büttenrede beim letzten Betriebsausflug. Das ist Volkshumor, wie wir ihn lieben. Noch mal, adjöh.»

 

Am nächsten Tag ging bei Reiher ein Brief ein, der ein Polaroid-Foto enthielt. Die Botenmeister hatten von Verkaufsleiter Bohnsack den Befehl erhalten, ihm alle Schriftstücke, die nicht an bestimmte Adressaten gerichtet waren oder sonstwie einen geheimnisvollen Eindruck machten, auf dem kurzen Dienstweg unverzüglich zuzustellen.

Um halb zehn hatte er das Bild auf dem Schreibtisch. Es zeigte eine Verkehrsampel, die auf Gelb stand. Im Hintergrund waren Häuser, Baumspitzen und Autos mehr zu erahnen als zu erkennen. Neben die Verkehrsampel waren mit Filzstift von oben nach unten die Zahlen 3, 2 und 1 geschrieben. Bohnsack stützte den Kopf in beide Hände. Langsam. Laß dir Zeit. Konzentrier dich. Kon-zen-trier dich. Tief eintauchen. Kenia, ich komme. Hand in Hand durchs Kaffeeland. Trotz der hermetischen Bräune glühten Bohnsacks Wangen eine Nuance dunkler. Und dann verstand er. Rot-Gelb-Gründie Phasen der Ampel. Grün-Gelb-Rot — diese Stadien durchlaufen Kaffee-Früchte während des Reifeprozesses. Reiher, Kaffee, Neger, alles hängt zusammen, alles fließt. Und du, du bist der Schleusenwärter. Bohnsacks Blick glitt zur Wand. Über dem Zweier-Element der Sitzecke hing ein Bild Emmanuel Reihers, des Gründers der Firma. Ich werde ihnen die Augen öffnen, Chef.

Das Telefon klingelte. «Bohnsack.»

«Lustig, von Bohnemann. ‹Sie liefern eine leere Tasse / wir liefern Bohnen, unsre Asse.› Genug gescherzt, ich habe hier was für Sie.»

Bohnsacks Herz machte einen Hüpfer. «Nun sagen Sie schon.»

«Ich würde es ja für Haare von einem Besen oder so was in dieser Preislage halten. Für was halten Sie es?»

Die nächsten Worte rief Bohnsack schon im Stehen: «Nichts anfassen, nichts verändern! Ich bin in einer Viertelstunde da. Zwanzig Minuten maximal.»

 

«n’Abend, verehrte gnädige Frau», nölte der Direktor von Reiher und hängte seine Nase über Robertas Handrücken. Er zählte bis zwei und kam wieder in die Senkrechte. Alle standen an der Glasfront, Bohnsack führte gerade die beleuchtete Blutbuche vor. Man war beeindruckt: drei leitende Herren von Bohnemann. Nach dem Reiher-Chef trafen noch Lustig, Bohnsacks Sekretärin und ein Chemiker von Reiher ein. Roberta war wie immer eine astreine Gastgeberin. Die an sich schon schöne Frau trug untergründige Eleganz und bot erlesene Tropfen an. Bis auf Bohnsacks Sekretärin, die solchen Luxus nicht oft mitgemacht hatte, gossen sich alle besinnungslos das Zeug rein.

Man talkte, scherzte, erzählte Anekdötchen, lästerte ein wenig. Dann schlenderte man zum Tisch im Eß-Bereich, der Platz für zwölf Personen bot.

«Ulf, Ulf, Sie lieben es dramatisch», sagte Bohnsacks Chef. Labberig hing sein Tonfall zwischen Vorwurf und Bewunderung. Der Vierklang schlug an, das Plaudern brach ab. Roberta lachte kurz und überraschend zickig. Bohnsack blickte in alle Gesichter. Er fühlte, daß sie ihm die Führerrolle überließen.

«Ich mache dann mal auf», sagte er mit fester Stimme.

Bohnsack kam, einer alten Frau den Arm zum Einhaken bietend, in den Wohnbereich zurück. Die Frau war höchstens einsfünfundfünfzig. Unter dem dünnen Mantel trug sie ein grell gemustertes Schürzen-Kleid. Die Schuhe waren schwer, wenn auch nicht klobig. Ihr Gesicht war mürrisch, von ungesundem Grau-Gelb. Die Fingerspitzen der linken Hand waren noch gelber.

Bohnsack öffnete den Mund, da quakte sie: «Zigarette.»

In fieberhafter Beflissenheit beeilte man sich, ihr eine Zigarette anzubieten. Mißtrauisch zuckte ihr Kopf, dann nahm sie ein Stäbchen und brachte ihre großporige Nase aus dem Einzugsbereich der entflammten Feuerzeuge. Ihre Augen waren flink, die Ohren strahlten etwas Lässiges aus: groß, wie durch häufiges Waschen ausgeleiert. Die Frau streifte den Mantel ab, Bohnsack fing ihn auf, reichte ihn Roberta weiter und geleitete die Frau zum Tisch.

«Recht so?» fragte er.

«Wird gehen», brummte sie. Die Frau besaß auch nicht ansatzweise den Charme alter Menschen.

«Setzen», blaffte sie los. Einige wollten amüsiert schmunzeln, doch sie nahmen Platz. Stühle rutschten über Parkett.

«Hochheben», kommandierte die Frau.

Bohnsacks Sekretärin kam mit einem Tablett aus der Küche, der Chemiker brachte den Rest. Wenig später hatte jeder eine Tasse vor sich stehen, daneben lag eine Serviette. In der Tischmitte stand eine bauchige Kaffeekanne.

«Milch und Zucker haben wir natürlich gleich weggelassen», sagte Bohnsack pfiffig zu der alten Frau.

«Zigarette.»

Bohnsack legte ihr ein Päckchen hin.

«Dann mal los», blökte die Frau.

Bohnsack dachte daran, wie ihm die Alte beim Vorgespräch gesagt hatte: «Sie müssen mich hassen, das tut ihrer Phantasie gut. Wenn sie mich mögen, werden sie schlapp. Das bringt nichts.»

«Tassen weg. Teller her», bellte die Alte. Sie befolgten die Anweisung. «Kaffee abgießen», lautete die nächste Order, «warten», die übernächste.

Während sie warteten, wollte kein Gespräch in Gang kommen. Jemand sagte einen Satz, ein anderer eine Entgegnung, dann brach es ab.

«Piekfeine Bude, das hier», sagte die Alte und hustete rücksichtslos über den Tisch.

«Sie wohnen wahrscheinlich in einem Hexenhaus», unternahm Lustig einen Versuch, in die Offensive zu kommen.

«Erbpacht, 99 Jahre, die Geier, die werden sich wundern», antwortete die Alte und lachte zum erstenmal wirklich herzhaft. Die Zähne waren zweifellos das Neueste an ihr, neuer vor allem als der Atem. Bohnsack servierte Cognac für die Herren, Marillen-Likör für die Damen.

«Kein Korn da?» Bohnsack mußte passen. Gnädig akzeptierte sie Aquavit.

«Reicht. Kann losgehen jetzt», blaffte die Alte. Alle rückten nahe an den Tisch. «Stromsperre, oder was?» Roberta mußte die Kerzen vom Tisch räumen und den Dimmer bis zum Anschlag aufdrehen.

«Ich hab es doch nur gut gemeint», murmelte sie entschuldigend.

«Das sagen alle», höhnte die Alte. Kotzbrocken. Der Kaffeesud wurde in einen Topf gegossen und in der Küche aufgekocht. Dann bekam jeder einen Klacks auf seinen Teller gehauen. Der Reiher-Direktor bekam auch einen Klacks auf die Hose. Interessiert sah die Alte zu, wie er das Gesicht verzog.

«Ist heiß, ja? Das ist gut. Muß heiß sein.»

Auf den Tellern sammelte sich die restliche Flüssigkeit.

«Abgießen. In die Tassen.»

Man goß.

«Und jetzt immer schön der Reihe nach.» Die Alte konzentrierte sich.

«Also. Was sehen Sie? Sehen Sie was?»

Jeder sah in seinem Kaffeesud Gegenstände und Figuren: Autoreifen, Fenster, einen Hund, Zahlen, einen Busen, ein Schwert, Brille, Sektflasche.

«Papperlapapp», sagte die Alte, stand auf und umrundete, bei jedem Teller stehenbleibend, den Tisch.

«Mein Beileid», sagte sie zur Sekretärin Bohnsacks. Die sah kläglich drein. «Kreuz. Kreuz ist nicht gut. Wissen doch, was Kreuz bedeutet?» Die Alte schnitt mit spitzem Daumen quer über ihren Hals. Die Sekretärin mußte trocken schlucken.

«Das ist nie und nimmer ein Kreuz», begehrte sie auf.

Die Nebenleute guckten. Es ergab sich eine Mehrheit für Kreuz.

«Fenster, klar. Oder hat einer was gegen Fenster?» Keiner hatte was dagegen. «Fenster ist nicht so schlimm wie Kreuz, aber schlimm genug. Einbruch. Empfehle Sicherheitsschlösser.»

«Aber hier», rief Lustig gutgelaunt, «ich habe nur einen Buchstaben. Das ist garantiert harmlos.»

«Ein H, Mann Gottes, wie haben Sie sich bis in Ihr hohes Alter so viel Naivität erhalten? H ist das letzte. Passen Sie bloß auf. Urlaub wäre nicht schlecht. Lassen Sie das hier hinter sich.»

Während sie weiterwanderte, versuchte Lustig flüsternd, Bundesgenossen für seine Meinung zu gewinnen, daß die Alte plemplem sei.

«Vierecke, drei Vierecke. Ach du Scheiße.»

«Aber warum bloß?» fragte Roberta erschrocken.

«Warten Sie’s ab. Ich würde an Ihrer Stelle das kleine Schwarze schon mal zum Lüften raushängen. Haben Sie ein kleines Schwarzes?» Roberta nickte betroffen.

«Sehen Sie.»

Dann kam sie zum Reiher-Direktor. Ihr Gesicht erstarrte. Im nächsten Moment saß die Alte auf seinem Schoß.

«Was ist denn? Fehlt Ihnen was?» fragte er besorgt.

«Mir? Sie sind gut.» Die Frau griff seine Hand, fühlte seinen Puls. Dann blickte sie ihm fortgesetzt in die Augen. Sie stand auf, legte eine Hand auf seine Schulter und murmelte:

«So jung noch. Es ist erschütternd.»

Dann ging sie zum nächsten. Sie wurde immer bedrückter. Ihre naßforsche Frechheit wich aufrichtiger Besorgnis.

Einige Aquavit tauten sie auf. Sie erlaubte Bohnsack sogar, seine Hand auf ihren Unterarm zu legen.

«Geht’s wieder? Soll ich einen Arzt holen?»

Sie blickte ihn an:

«Arzt? Wäre nicht schlecht. Aber nicht für mich. Für Sie. Holen Sie viele Ärzte. Mieten Sie sich ein Krankenhaus, wenn es so was gibt.»

«Müßte ich checken lassen», murmelte Bohnsack automatisch.

«Ich habe nun wirklich mein Leben lang im Kaffeesatz gelesen», sagte die Alte nüchtern. «Ist nicht einfach, wissen Sie, so gerne, wie ich Kaffee trinke. Man verliert die Unvoreingenommenheit. Ist immer analytisch dabei, entsetzlich.»

«Wie bei Sexualwissenschaftlern», krähte der Reiher-Chemiker dazwischen. Roberta und die Sekretärin dampften ihn mit Blicken ein.

«Nächsten Herbst sind es 50 Jahre», fuhr die Alte versonnen fort. «Meine Mutter hat es auf 42 Jahre gebracht. Hinten in Ostpreußen, das war das richtige Land dafür. Schottland stelle ich mir auch ganz schön vor, ich wollte immer mal hin. Fast 50 Jahre...»

«...49», sagte Lustig, der es nicht ertrug, wenn jemand mit Zahlen fahrlässig umging.

«Blasen Sie sich ruhig noch mal auf», sagte die Alte und bedachte ihn mit traurigem Blick. «Haben Sie Kinder?»

«Wieso?» begehrte Lustig auf.

«Zwei hat er», sagte Roberta.

«Die armen Hascherin», murmelte die Alte und zog etwas in der Nase hoch. «Es ist diese absolute Eindeutigkeit, die mich erschüttert. Ist ja immer mal ein Kreuz dabei. Oder eine Schlange. Bleibt nicht aus. So ist das Leben. Aber es kommen sonst auch Dreiecke vor, Häuser, ein Kreis. Boten für glückliche Ereignisse: Liebe, Heirat, Erbschaft.»

Die Frau hielt das Glas hin, Bohnsack goß ein. Der Chemiker wollte Roberta leise erklären, wie er das vorhin mit dem Sexualwissenschaftler gemeint hatte und ritt sich dabei immer tiefer rein.

«Ich führe Buch, mit heute sind es 4097 Lesungen. Heute ist das erste Mal, daß ich nur Schwarz sehe.» Sie blickte alle der Reihe nach an.

«Himmelherrgott», schrie die Alte plötzlich los, «warum ist bei euch noch nicht einmal ein Vogel dabei? Ein Adler meinetwegen. Was seid ihr bloß für Menschen?»

 

Am nächsten Tag ging bei Reiher ein gefutterter Umschlag ein, der 24 Zigaretten-Kippen enthielt. Zwei Kippen trugen Spuren von Lippenstift.

Am nächsten Tag war Samstag.

Am nächsten Tag war Sonntag.

Am nächsten Tag fand die Poststelle bei Bohnemann ein besonderes Päckchen. Es enthielt - nichts.

«Absolut nichts», stieß Bohnsack hervor. «Nichts, nichts, nichts, verdammt noch mal», rief er außer sich und schlug mehrmals auf den Schreibtisch, hinter dem der Direktor saß. In der Sitzecke kauerte ein Mann, dessen Augenlid zuckte und den der Direktor Bohnsack gegenüber als alten Schulfreund ausgegeben hatte. «Ein Unglück», rief Bohnsack, «die Luft vibriert, die Erde zittert, die Welt zieht sich zusammen. Jeden Moment kann es losgehen. Und was machen wir? Wir sitzen herum und schwatzen dummes Zeug. Das ist unerträglich.»

«Was sollen wir denn machen?»

Bohnsack beugte sich über den Tisch. «Sie nehmen es noch immer nicht ernst.»

«Muß ja wohl erlaubt sein.»

Bohnsack lachte auf. «Die Zeichen wollen zu uns sprechen. Aber wir hören nicht zu. Nur einen gibt es, der hört.» Er senkte seine Stimme zu heiserem Flüstern:

«Ich habe Ohren zu hören.»

«Sagen Sie mal, Bohnsack, warum versuchen Sie es nicht mit einer Kur?»

Bohnsack wich zurück. «Kur? Ich? Ausgerechnet jetzt?»

«Oder Urlaub. Mal richtig ausspannen. Alle fünfe gerade sein lassen. Packen Sie Badehose und Roberta ein und jetten Sie auf die Fidschis, Seychellen, Karibik, Kuba meinetwegen. Wenn’s nur hilft.»

«Sie», knurrte Bohnsack und bekam vor Anspannung kaum die Zahnreihen auseinander, «Sie sind ein Defätist.»

«Das nehmen Sie zurück», sagte der Direktor ruhig.

«Wissen Sie, was ich tun werde?» rief Bohnsack höhnisch. «Und das kann Ihr Herr Schulfreund ruhig mitanhören. Ich werde lachen. Lachen werde ich. Und wissen Sie auch wie?»

«Na?»

«Haha», rief Bohnsack unfröhlich. «Hahaha.» Und immer weiter und immer verzweifelter lachend, verließ er den Raum.

Der Direktor ging zur Sitzecke. «Na? Jetzt haben Sie’s mitgekriegt. Immer noch skeptisch?»

Der Mann wiegte den Kopf. «Ich habe starke Zweifel, ob es in diesem Fall mit einem Urlaub getan wäre.»

«Was schlagen Sie vor?»

«Der Mann muß hier weg. Wenn er erst Anhänger gewinnt, könnte eine Ketten-Reaktion entstehen.»

«Das tut mir leid», sagte der Direktor. «Es sah so aus, als ob Bohnsack eine Zukunft vor sich hat.»

«Ganz recht», sagte der Psychiater boshaft: «Es sah so aus. Sie gebrauchen die richtige Zeitform. Sie wissen, was Sie zu tun haben?» Der Direktor nickte.

 

Bohnsack vertraute sich Roberta an. Sie war sehr lieb, striegelte sein blondes Haar, bot ihm an, einen Pickel am Halsansatz auszudrücken und machte ihm Komplimente bezüglich seiner beruflichen Energie. Aber sie sagte auch: «Ausspannen kann nie schaden. Was hältst du davon, wenn ich dich für ein Wochenende nach Kämpen einlade?»

«Du nimmst mich auch nicht ernst», stieß er hervor.

«Aber Liebling», gurrte sie, sein Haupthaar gegen den Strich verwüstend, «warum bist du auf einmal nur so?»

«Ich hätte nichts dagegen, wenn ein anderer den Warner spielt. Aber es gibt keinen anderen. Es gibt nur mich. Ich kann mich dem nicht entziehen.»

In der Nacht schreckte Bohnsack aus unruhigem Schlaf hoch. Wieder hatte er das Gefühl, als ob der Sony im Rattan-Regal diesen merkwürdigen Glanz ausstrahlte. Mit brennenden Augen starrte er auf das Rechteck. Und dann sprang ihn der Gedanke an. Du mußt mit ihnen Kontakt aufnehmen.

 

Bevor er am nächsten Morgen ins Büro fuhr, begab sich Bohnsack zur Kleinanzeigen-Annahme der seriösen Tageszeitung und formulierte unter den erst spöttischen, dann ärgerlichen Blicken der Angestellten: «Stichwort Bohnemann und Reiher! Aktivposten bitte umgehend melden bei Seele, die im Gleichklang schwingt. Telefon...»

«Jux-Anzeigen haben wir an sich gar nicht gern», sagte die Frau.

Die Anzeige erschien in der nächsten Ausgabe. Zweimal riefen Witzbolde an, die Bohnsack schneidend abfertigte. Nach 17 Uhr verfiel er in dumpfes Brüten.

 

Am folgenden Vormittag gab er Anzeigen in allen örtlichen Tageszeitungen auf. Das Tages-Seminar für Firmennachwuchs aus der ganzen Republik brachte er mühsam hinter sich. Vom gemütlichen abendlichen Teil stahl er sich mit einer Lüge fort. Den nächsten Tag verbrachte er neben dem Telefon. Nachmittags rief ein Journalist an, der wissen wollte, wer oder was hinter den Anzeigen steckte. Bohnsack kanzelte ihn ab und ertappte sich dabei, wie er — wartend — auf seinen Fingernägeln herumkaute.

 

Irene bestand darauf, daß zwei Garagen leergeräumt wurden. Henry und Gabriel halfen, Reifen und Ersatzteile auszulagern.

Sie weigerten sich jedoch, auf der Versammlung zu sprechen. «Macht ihr euer Ding», sagte Gabriel, «wir machen unser Ding. Vor zwei Monaten hätten wir bestimmt geredet. Vor zwei Monaten wußten wir noch nicht, was wir heute wissen. Wir sind über das Stadium des Diskutierens hinaus.»

«Typisch», maulte Irene, «wir dürfen uns für euch in die Bresche werfen. Aber von Ausbeutung reden.»

Gabriel ließ sie stehen und ging ins Detektiv-Büro: «Fertig.»

«Dann fangen wir an», erwiderte Henry, der gerade das Polaroid-Foto von Ulf Bohnsack an den Rollschrank pinnte. «Mit größerer Majestät hat noch nie ein Verstand stillgestanden», fauchte er, Bohnsack betrachtend.

«Dabei wäre es so einfach», sagte Gabriel und stellte sich neben den Freund. «In jeder Fakultät sollte wenigstens ein recht tüchtiger Mann sein. Wenn die Scharniere von gutem Metall sind, so kann das übrige von Holz sein.»

«Balsa», höhnte Henry und ging zum Schreibtisch, wo die Wurfpfeile lagen.

«Genug», sagte Gabriel mit fester Stimme.

«Genug», sagte Henry, zielte, warf und traf.

«Verdammt noch mal, ihr mit eurer Erdbeertorte», brüllte Ulf Bohnsack und rieb sich die Stelle am Hals, wo ihn die Biene erwischt hatte.

«Möchtest du nicht doch ein Stück?» rief Roberta von der Terrasse.

«Warum eigentlich nicht?» murmelte Bohnsack, stand auf und knickte ein. Der Schmerzensschrei drang bis zur Terrasse. Roberta eilte um die Hausecke. «Liebling, was ist?»

«Nichts», drückte Bohnsack heraus. «Dieser verdammte Meniskus. Als wenn einer mit dem Messer reinfährt.» Er stützte sich auf Roberta und wurde an diesem Nachmittag von Stichen, Zerrungen, Dehnungen und ganz und gar unerklärlichen Schmerzen an diversen Körperteilen heimgesucht.

 

«Wie im Sommersemester 68», sagte Irene mit strahlenden Augen. Über 80 Besucher strömten an diesem Nachmittag zusammen. Die Sonne klebte an einem wolkenlosen Himmel.

«Hallihallo, da sind wir mal wieder», sagte Martin und schlug Adler auf die Schulter.

«Martin, wo hast du deine beeindruckende Urlaubsbräune gelassen?»

«Reden wir nicht darüber», bat Martin.

«Was hat er denn?»

«Bauherrenmodell», antwortete Martins Lebensgefährtin Yvonne. «Schwer reingefallen. Frißt uns die Haare vom Kopf. Scheiß Kapitalismus. Immer wenn du denkst, du hast ihn im Sack, stellt er dir ein Bein.»

«Guck mal hier», sagte Hans und rieb mit dem italienischen Hemdsärmel den roten Stern blank, der über dem Mützenschirm prangte. «Lohnt sich eben doch, die alten Sachen aufzuheben. Die Geschichte wiederholt sich.»

«Korrespondiert geschmackvoll mit der Farbe des Wägelchens», sagte Adler und blickte auf den fabrikneuen roten Mercedes 190 E, an dem für acht Tausender eine Rundum-Spoiler-Landschaft angebracht war.

«Der Wiederverkaufswert», erklärte Hans wichtig, «man hat das Geld ja nicht, um es zum Fenster hinauszuschmeißen. Was fährst denn du gerade? Immer noch diesen vergammelten Volvo?»

Adler deutete auf das Tankstellen-Fahrrad.

Ein Buchladen aus dem Universitäts-Viertel hatte einen Büchertisch aufgebaut; Irene und ein Mitdreißiger brachten über den Garagentoren ein Transparent an: «Solidarität mit den Opfern der Chemie-Konzerne». Hajo war mit dem Sound-Check der kleinen Lautsprecher-Anlage beschäftigt. Man schlenderte übers Gelände, guckte, fachsimpelte, holte sich schmutzige Finger. Henry und Gabriel waren im Küchenzelt, der Imbiß machte blendende Umsätze.

«Geil, was?» rief Irene Adler im Vorbeieilen zu.

Till kam, er hatte einen Haufen Kinder im Schlepptau: «Das hier ist der Chef. Was der Chef sagt, wird gemacht. Das kennt ihr nicht aus euren WGs.»

«Was sind We-ges?» krähte ein Junge. Till lächelte verächtlich und scheuchte den Trupp zum nächsten Besichtigungs-Punkt. Diese Kinder, wo haben die bloß alle diese Kinder her? Vor vier Jahren hatte keiner Kinder, und jetzt kommen die ersten schon zur Schule.

Die Frau, die gerade das Gelände betrat, strickte im Gehen. «Das ist die hohe Schule», murmelte Adler und rief ihr zu: «Was wird es denn?»

«Na, was wohl?» erwiderte die Frau. Und in ihrem verschleierten Blick hatte Adler schon die Antwort gelesen, bevor sie sich über den Bauch streichelte.

In Hajos Gesicht ging die Sonne auf. «Da kommt Doris.» Er rannte seiner Frau entgegen. Doris trug knallenge Jeans, auch ihre Bluse war sehr figurbetont.

«Hallo, Adler, sieht man sich mal wieder», sagte Doris lässig. Neben ihr wirkte Hajo wie ein Schuljunge.

«Immer noch Feuer und Flamme für die neue Wohnform?» fragte Adler. Der Blick, den Doris Hajo zuwarf, reichte ihm. Armer Hajo.

«Komm, ich zeig dir alles», hechelte Hajo und zog Doris am Arm davon. Sie warf Adler ein hochnäsiges Lächeln zu. Die lacht den aus, und der merkt das nicht. Betriebsblindheit. Aber so sind wir Männer, wenn wir erst mal richtig lieben. Wie mit 120 km/h durch den Nebel.

Irene rief zum Sammeln. Die wenigen Stühle waren für die Schwangeren und zwei Verstauchte. Alle anderen standen. Irene trug ein weißes Kleid. Der Rock hatte mehr Löcher als das Oberteil. Schon nach wenigen Sätzen kam sie zum Thema:

«Wir haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit auf dieses Unrecht aufmerksam zu machen. Die Dritte Welt ist darauf angewiesen, daß wir ihr beistehen. Wir haben jetzt aus todsicherer Quelle die Namen von zwei Firmen, die mit Ausbeutung und Todesfällen ihren Reibach machen. Wir haben die Kampagne, die seit Wochen in den Massenmedien gegen die Afrikaner gefahren wird, die nichts anderes getan haben, als Aufmerksamkeit zu wecken für die verzweifelte...»

«...Posho! Rote Grütze! Fladen! Wer will noch mal, wer hat noch nicht?» Zwei Schwarze, die ganz in Weiß gekleidet waren, drängten sich durch die Zuhörerreihen. Beide trugen einen Bauchladen, in dem leckere Nahrungsmittel dampften. Die Rote Grütze dampfte natürlich nicht.

«Guck mal, unmöglich!»

«Wir wollen Afrika helfen, und die machen hier den Neger.»

«Etwas kolonialistisch, aber Hunger kennt keine Weltanschauung.»

Irene hatte Lust, vor Wut ins Mikrofon zu beißen.

Als die Schwarzen alles verkauft hatten, eröffnete Irene die Diskussion. Die ersten Redner sprachen noch mit vollem Mund. Aktionisten wollten auf der Stelle losschlagen; Besonnenere wollten gleich nach dem Urlaub aktiv werden; Theoretiker forderten eine gründliche Einarbeitung in die Materie. Irene las ihren Vorschlag für ein Flugblatt vor. Die Zwischenrufe kamen postwendend:

«Üben! Üben!»

«Der gute Wille allein macht’s nicht.»

«Laß da mal den Vati ran.»

In zwei Minuten hatten sie den Text des Flugblatts völlig zerpflückt, Irene blickte sich hilflos um.

Die Kinder begannen zu toben. Hajo mußte sich stärker um die kleinen Destrukteure als um die gelangweilte Doris kümmern. Man beschloß eine Pause von fünfzehn Minuten, während der vier Leute sich den Text des Flugblattes vornahmen.

«Was soll ich denn nun schreiben?» rief verzweifelt der Redakteur der alternativen Tageszeitung. Der Egon-Nachfolger war noch neu in dem Gewerbe, auf seinen Notizzetteln sah es aus wie im Kopf von Helmut Kohl. Im Bestreben, die jeweils neueste Flugblatt-Version nicht zu verpassen, hatte er hektisch mitgeschrieben. Jetzt war sein Papier alle.

Adler genoß den Blickkontakt zu einer Frau, die er nicht kannte. Er hatte die Lage gepeilt und war sicher, daß sie ohne männliche Begleitung hier war. Nur eine Freundin. Zähneputzen, Hemd wechseln und dann deinen Charme versprühen, daß sie glaubt, sie sei die Garbo. Die Frau hatte mehr Ähnlichkeit mit Doris als mit Irene.

Während vorne der Flugblatt-Text immer noch einmal abgeändert wurde, näherte sich Adler zwanglos der Frau. Er hatte als Hausherr keine Schwierigkeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es ließ sich auch gut an, sie scherzten, lachten lauthals, und Adler blickte zuversichtlich in die Zukunft, besonders in die nähere. Am Rande bekam er mit, wie sich die Versammlung auflöste. Die Freundin der Frau schlenderte heran. Der drückst du jetzt 5 Mark für ein Eis in die Hand. Die Freundin lächelte Adler an, umarmte die Frau. Und dann küßten sie sich, daß erst das Räuspern eines Beobachters Adler darauf aufmerksam machte, wie fassungslos er die beiden anstarrte.

Er leistete Hajo, der Doris mit Hilfe von Bier vergessen wollte, Gesellschaft. Sie saßen zu viert im Küchenzelt, als Irene hereinkam.

«Flaschen zu Flaschen», sagte sie bitter und blickte auf den gelichteten Kasten Bier.

«Ach, Frauen», murmelte Hajo bitter.

«Ach, Frauen», sagte Gabriel. Bei ihm klang es optimistischer.

«Kommt einer mit baden?» fragte Adler.

«Ich schon mal garantiert nicht», sagte Hajo und wischte sich Schaum vom Mund. «Ich muß nach Ochsenzoll.»

«Aber, Hajo», rief Irene, «warum hast du uns denn nie davon erzählt, daß es so ernst ist?»

«Haha», sagte Hajo unlustig. «Ich hole den BMW ab. Der muß endlich fertig werden.»

«Fährst aber vorsichtig diesmal, ja?» sagte Irene mit milder Häme. Sie war so mild, daß Hajo sie immer wieder für aufrichtige Besorgnis hielt.

«Also, wer kommt nun mit baden?»

Es wurden vier Autos voll. Till stand, mit einem Schwimmring um den Bauch und zwei Ringen um die Oberarme, zwischen den Zapfsäulen. Adler schlich sich von hinten an, zog den Nippel aus dem Ventil. Till bekam einen Weinkrampf.

«Jetzt siehst du mal, wie sich das Auto fühlt», sagte Adler schadenfroh. Irene bot ihm Schläge an. Adler las in der Zwischenzeit den abgesegneten Flugblatt-Text. In einigen Tagen sollte vor dem Reiher-Werk eine Demonstration stattfinden.

«Wo stecken denn unsere schwarzen Edelsteine?» Irene blickte sich um.

«Schon da», rief Gabriel und kam tänzelnd näher.

Irene wandte sich ab.

«Du riechst wie zehn nackte Neger, wenn ich das mal so offen sagen darf.»

«Du darfst.»

Henry folgte in einer weiteren Duftwolke.

«Steh du mal den ganzen Tag in altem Fett herum. Da gelüstet es dich nach einem Duft, bei dem sich die Lungen weiten.»

 

Dreimal fuhr Ulf Bohnsack im Leihwagen über die mächtige Köhlbrandbrücke. Sie führt von der Autobahn über einen Nebenarm der Elbe in den Freihafen. Als er das dritte Mal am Häuschen der Zollbeamten vorbeikam, trat ein Zöllner auf die Straße. Bohnsack betätigte den elektrischen Fensterheber und verringerte das Tempo.

«Haben Sie ein Fernglas?» frage er den älteren Beamten.

«Logo», erwiderte der gemütlich.

«Dann nehmen Sie das Ding vor Ihre Optik und richten Sie es auf die Brücke», rief Bohnsack und beschleunigte mit durchdrehenden Reifen.

«He, Sie...» rief der Beamte, aber das hörte Bohnsack schon nicht mehr.

Während er bis zum Scheitelpunkt der 53 Meter hohen Brücke rollte, ließ Bohnsack den Plan an seinem geistigen Auge vorbeihuschen. So muß es gehen, so wird es gehen. Bohnsack war so zeitig aufgebrochen, daß es die Zeitungen in die morgigen Ausgaben hineinkriegen würden. Auf dem Rücksitz lagen — unter einem Popeline-Mantel verborgen — Steigeisen. Bohnsack wußte nicht, ob sie ihm an einem Stahlmast helfen würden. Auf die Blutbuche im Garten war er mit den Dingern ohne Probleme hinaufgekommen.

Wegen der rostenden Pylonen fanden den gesamten Sommer über Ausbesserungen an der Brücke statt. Ein kleiner Bauwagen, auf dem Seitenstreifen abgestellt, kündete von der Arbeit. Bohnsack fuhr den Wagen so dicht an die Seitenbegrenzung, daß Metall an Metall scheuerte. Ein entgegenkommender Pkw hupte ihn an. Bohnsack stieg aus, holte den Mantel von der Rückbank und zog ihn an. Diese albernen Steigeisen vergißt du besser. Er kletterte über die Leitplanke und blickte, das Geländer mit beiden Händen fest umgreifend, in die Tiefe. In diesem Moment konnte Ulf Bohnsack den Berufswunsch, Bergmann zu werden, leicht nachvollziehen.

«Mensch Meier», sagte der ältere Zollbeamte und drückte das Fernglas gegen die Brille. «Nun sag bloß, der Kerl...» Der jüngere Kollege griff zum Telefon.

 

Für einen Pförtner benahm sich der Mann in Ochsenzoll sehr manierlich. Natürlich waren seine Gesten zu wichtigtuerisch. Und er tat, als ob er die meisten Mediziner und Psychologen persönlich ausgebildet hatte. Mehrmals nannte er das Krankenhaus «mein Stall». Doch nebenbei fand er Gelegenheit, Hajo den BMW zu zeigen. Er stand gleich neben dem Haupteingang.

Hajo genoß das Schnurren der sechs Zylinder. Er fühlte sich so wohl, daß er das diffuse Gefühl ignorierte. Er suchte auf den Kassetten nach der Beschriftung, drückte Stevie Wonder ein und genoß den satten Sound. Und dann fühlte Hajo Metall im Nacken. Er verriß den Wagen, kam auf den Bürgersteig, steuerte gegen und kam wieder auf die Straße.

«Ruhig! Ganz ruhig bleiben. Musik aus. Langsam weiterfahren. Dann passiert dir nichts.»

Der Mann richtete sich auf. Hajo wollte den Kopf drehen, der Mann verstärkte den Druck der Waffe. Im Spiegel sah Hajo Trenchcoat, Schlapphut und Sonnenbrille. Sie war ungewöhnlich schwarz.

«Wieso? Was...?»

«Du hast Sendepause. Jetzt bin ich dran. Nächste Ampel links.»

«Wollte ich sowieso.»

«Schnauze.»

«Ist das eine Entführung?»

«Blitzmerker.»

Ogottogott, Doris, Adler, Christian. Dein Vater wird entführt.

«Nun mal los, bißchen schneller. Richtung Hauptbahnhof.»

«Warum Hauptbahnhof?»

«Klappe, Bohnsack. Das wirst du früh genug sehen.»

«Wer ist Bohnsack?»

Der Mann lachte: «Nicht mit mir, Bohnsack. Keine Bauerntricks.»

«Aber ich heiße nicht Bohnsack. Ich heiße Pillau.»

«Schluß jetzt.» Die Waffe im Nacken.

«Wenn ich’s Ihnen doch sage.» Hajo fühlte eine ungeheure Freude in sich aufsteigen. «Bohnsack ist der, dem der Wagen gehört. Ich heiße Pillau, Hajo Pillau. Ich überführe den Wagen nur. Ich repariere den doch.»

In Rochus Rose brach etwas zusammen. Er nahm die Sonnenbrille ab, lehnte sich über den Vordersitz, starrte Hajo an. Der versuchte, ein zuversichtliches Gesicht zu machen. In Rose schoß unbändige Wut hoch. Er drückte die Pistole gegen Hajos Hals. Der macht Ernst. Hajos Herzschlag setzte aus, er wurde blind vor Angst.

«Paß auf, Mensch! Da vorne!»

Hajo versuchte noch, den Wagen rechts vorbeizureißen, doch er streifte den wartenden Linksabbieger. Gott sei Dank nur ein Scirocco. Stoßstange, Scheinwerfer, Ausbeulen, Lack. 400 Mark an Material sind’s doch.

«Nicht stehenbleiben.»

«I wo. Fahrerflucht ist meine Spezialität.» Hajo fuhr rechts ran. Sein Herz hämmerte.

«Und jetzt raus», sagte er tonlos. «Die Entführung, oder was das war, ist zu Ende. Vielleicht klappt’s beimnächstenmal.»

Der Mann machte keine Anstalten, auszusteigen.

«Raus jetzt!» brüllte Hajo. «Ich kann auch gleich zur Polizei fahren.»

«Ich verstehe das nicht», murmelte Rose verzweifelt. «Alles war bis ins letzte geplant.»

«Komm, komm, Mann. Halbe Stunde Fußmarsch, und du bist wieder in der Klapsmühle. Wenn du gleich aussteigst, vergesse ich die Sache vielleicht auch.» Hajo wollte hier weg, nur weg.

«Warum willst du das tun?»

«Weiß nicht. Habe sonnabends immer meinen sozialen Tag. Andere Leute baden sonnabends. Ich bin sonnabends sozial.» Hajo lachte bitter auf.

«Wo ist Bohnsack? Hat er dich geschickt? Bist du sein Leibwächter?»

«Es ist gut. Der Film ist zu Ende. Hau endlich ab.»

Rose stieg aus, Hajo jagte den Wagen rücksichtslos auf 90 km/h hoch.

 

«Wenn Sie noch einen Zentimeter näher kommen, stoße ich mich ab. Wollen Sie das verantworten?»

Der Feuerwehrmann blieb stehen. Gelassen kratzte er sich an der Wange. Er wurde stets in die erste Reihe geschickt, wenn in der großen Stadt jemand irgendwo herunterzuspringen drohte. Seine verantwortungsvolle Aufgabe war ihm dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, daß er seit Jahren darauf verzichtete, Frei- oder Hallenbäder aufzusuchen. Dabei war er seit früher Kindheit eine richtige Wasserratte gewesen. Doch der Anblick von Menschen, die sich von Ein-, Drei-, Fünf- oder Zehn-Meter-Brettern in die Tiefe stürzten, wühlte ihn innerlich so auf, daß er danach nervlich völlig am Boden war.

Ulf Bohnsack stand in der Kabine, die 50 Meter über dem Wasser außen am Geländer hing. Bohnsack gab dem Kasten, mit dem Ausbesserungs-Arbeiten erledigt wurden, einen Schubs, wie man es auf dem Rummelplatz in der Schiffsschaukel tut. Ein junger Feuerwehrmann mußte sich abwenden. Bohnsacks Gesicht wäre schweißnaß gewesen, wenn nicht der starke, fast schmerzende Wind es ihm immer wieder trockengefegt hätte.

«Hören Sie zu», rief Bohnsack.

«Dafür bin ich da», sagte der Feuerwehrmann ruhig. Hinter ihm standen Feuerwehrzüge und diverse Streifenwagen. Zwei Notarzt-Wagen warteten im Hintergrund. Die Köhlbrandbrücke war seit 20 Minuten für den Verkehr gesperrt.

«Was macht er jetzt?» fragte der ältere Zollbeamte am Fuß der Brücke den Kollegen.

«Jetzt verhandeln sie. Wahrscheinlich will er, daß seine Frau erscheint und ihm ewige Treue schwört.»

«Du mußt nicht immer von dir auf andere schließen.»

«Hören Sie zu!» rief Bohnsack. «Ich nenne Ihnen jetzt meine Bedingungen. Erstens: Ich brauche ein Kofferradio.»

«Bei Ihnen piept’s wohl.»

«So eins nicht. Ich will eins mit astreinem Empfang. Grundig ist da, soweit ich weiß, ganz gut. Zweitens: Ich habe eine Nachricht. Ich verlange, daß Sie diese Meldung an den Rundfunk weitergeben. Sie soll jede halbe Stunde ausgestrahlt werden. Sie bringen mir das Radio, damit ich nachprüfen kann, ob meine Forderung erfüllt wird.»

«Was wollen Sie denn durchgesagt haben?» fragte der Feuerwehrmann. Bestimmt was Obszönes. Wundert mich sowieso, daß nicht schon längst mal einer auf den Trichter gekommen ist. Diese Sauigel.

«Haben Sie was zum Mitschreiben?» fragte Bohnsack. «Bleiben Sie stehen!» rief er aufgeregt und begann zu schaukeln.

Der Feuerwehrmann hatte sich in seiner unauffälligen Art der Kabine bis fast auf Reichweite genähert. Er wich zwei Schritte zurück. Sie dirigierten einen Streifenwagen heran. Ein Beamter hielt das Mikrofon so weit wie möglich in Bohnsacks Richtung.

«Also», rief er, «mein Name ist Ulf Bohnsack. Ich bin Verkaufs-Direktor in der Norddeutschland-Zentrale des Chemiewerks Reiher Aktiengesellschaft. Vor wenigen Wochen haben zwei oder mehrere schwarzhäutige Männer uns und einer zweiten Firma einen Besuch abgestattet. Ich fordere diese Männer auf, sich umgehend mit mir in Verbindung zu setzen. Zur Not auch mit meinem Chef...»

So, mit diesem ‹zur Not› hast du den Bogen endgültig überspannt. Der Direktor von Reiher saß im Auto, als die Aufnahme pünktlich zur halben Stunde aus dem Radio kam.

«...Ich wiederhole: Sie haben in mir keinen Feind zu fürchten. Lassen Sie sich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Nennen Sie uns Ihre Forderungen, wir werden uns einigen...»

Nach diesem Satz verschärfte der Direktor die Sanktionen noch. Nicht nur, daß Bohnsack mit sofortiger Wirkung seines Postens enthoben war. Er strich ihm obendrein die Abfindung, und als er die Aufnahme noch einmal hörte, auch alle Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung.

Insgesamt viermal hörte Bohnsack seine Botschaft aus dem Radiorecorder kommen. Der Himmel hatte sich bezogen, der Wind schmerzte auf der Kopfhaut und in den Ohren.

«Kannst du noch was sehen?» fragte der junge Zollbeamte am Fuß der Brücke.

«Eins a. Das ist ein Nachtglas. Hallo. Es gibt Bewegung. Jetzt ist er gesprungen oder...»

«Es reicht», sagte Bohnsack und ließ sich aus der Kabine helfen. Als er festen Boden unter den Füßen fühlte, wurden ihm die Knie weich.

 

Zweimal noch traf sich eine Kerngruppe und feilte an der Formulierung des Flugblatts. Als im letzten Moment wieder tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten aufflammten, einigte man sich auf eine Minimallösung. Der Text des Flugblatts umfaßte danach sieben Sätze.

 

Auf der kurzfristig einberufenen Betriebsversammlung berichtete der Direktor von Reiher über den Geschäfts-Verlauf des letzten halben Jahres, über den Abschluß der Reparaturarbeiten nach dem Überfall der schwarzen Terroristen und über die Berufung des neuen Verkaufsleiters Gerd Rann. Fragen nach dem Verbleib von Ranns Vorgänger Bohnsack beantwortete der Direktor ausweichend, indem er von einer «plötzlichen, schweren Erkrankung» Bohnsacks sprach. Gerd Rann, aus der Konzern-Zentrale eingeflogen und noch in einem Hotel logierend, stellte sich seiner Abteilung in einer kleinen Rede mit Umtrunk vor. Rann legte ein mörderisches Arbeitstempo an den Tag. Nach einer Woche strahlte Bohnsacks Herrschaft, die wirklich nicht ohne gewesen war, den milden Schein vorruheständlerischer Beschaulichkeit aus.

 

«Videorecorder, Espressomaschinen. Also nein, wie ordinär.» Angewidert blätterte Kriminalassistent Golze in der Akte herum und befühlte die Pflaster auf Nase und Stirn.

«Da weiß ich wenigstens, woran ich bin», sagte der Festgenommene auf der anderen Seite des Schreibtischs störrisch.

Golze kam von dem dumpfen Gefühl nicht los, daß ihm der Name Fred Frenzel bei anderer Gelegenheit schon mal untergekommen war. «Ganz stolz für 24 Jährchen», sagte Golze anerkennend, «aber die Regelmäßigkeit, mit der wir dich hopsnehmen, müßte dich doch mal zu fünf Minuten Gedankenmachen antörnen. Das wird doch nichts mit dir als Dieb.» Wieder befühlte er die Hinterlassenschaft des BMW-Fahrers, der seinen Scirocco von hinten angedellt, dadurch Golzes Kopf gegen das Lenkrad gestoßen und dann auch noch Fahrerflucht begangen hatte. Golze blätterte, las da einen Absatz und dort einen Satz. Er schmunzelte, gluckste, las laut vor:

«Gab F. bei der Einvernahme weiter an: ‹Ich hatte den Bus voll mit Espresso-Maschinen und Recordern. Alles Stereo und auch ein paar Kameras. Ich wollte gerade los, da hörte ich Lachen und Geblöke von der Straße her. Ich nahm durch das Fenster eine Inaugenscheinnahme vor bzw. guckte raus. Die vier Vatis waren stinkeduhn und verkleidet wie im Fernsehen beim Karneval. Sie sprachen in eindeutiger Weise über Nutten, wo sie wohl drauflos wollten. Der vierte wollte vorher urinieren. Die drei gingen schon vor. Der Urinant fing an, wobei er heftig schwankte. Da kam ein Auto. Der Scheinwerfer erwischte den Urinanten voll von vorne, wenn Sie wissen, was ich meine. Das Auto fuhr gleich weiter, aber der Urinant hatte wohl einen Schreck bekommen. Jedenfalls zappelte er plötzlich so merkwürdig rum. Er verlor dann das Gleichgewicht, fiel hin, zuckte ein bißchen und war dann aber still. Den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung kontere ich mit den drei Kumpels, die er ja dabeihatte. Die hätten doch...›»

Golze brach ab und blickte den festgenommenen Frenzel an. Er ärgerte sich, wie leicht es jedermann fiel, seinem Blick standzuhalten. Ausgerutscht! Weil ihm ein Auto seinen Ziesemann beleuchtet, wird meine Pappnasen-Leiche zappelig, schlägt lang hin und ward nicht wieder. Golze hatte plötzlich keine Lust mehr zu diesem Beruf. Nase und Stirn schmerzten höllisch.

 

«Hier, nun nehmen Sie schon. Das beißt nicht.» Wütend versuchte Irene, dem Angestellten das Flugblatt in die Hand zu drücken. Sie standen zu dritt vor dem Eingang von Reiher und streckten den Ankommenden Flugblätter entgegen. Ein Trupp von dreißig Menschen hatte sich vor einem meterlangen Transparent versammelt: «Solidarität mit den Opfern der Chemie-Konzerne».

«Na endlich», murmelte Irene, als der mit Technik vollgepackte Wagen des Hörfunks um die Ecke bog. Die Techniker hatten gerade aufgebaut, die Reporterin war kaum dazu gekommen, die erste Frage an Irene zu richten, als auf dem Bürgersteig das Getrappel schwerer Schuhe erklang. Im Laufschritt polterte ein Schwung Polizisten um die Ecke.

«Nicht appetitlich, aber nötig», sagte Verkaufsleiter Rann, der im fünften Stock am Fenster stand und zusah, wie die Demonstranten verhaftet wurden.

«Die wehren sich gar nicht», sagte seine Sekretärin beeindruckt.

«Was hier gefehlt hat», knurrte Rann, «waren klare Verhältnisse. In der letzten Zeit war dieses Haus nicht mehr von einem Urwald-Kral zu unterscheiden. Was hier fehlte, war der köstlich kühle Durchzug von abendländisch-technokratischer Denkweise.»

 

«Das sind die letzten», sagte in diesem Moment im Küchenzelt Henry zu Gabriel. Er legte die Bananen in die Pfanne und warf die Schalen über die Schulter nach hinten.

 

«Aaaiiiiiooooooahhh!» gurgelte es aus Ranns Kehle, dann rutschte sein Fuß auf einer Bananenschale weg, wurde nach vorne geschleudert und brachte den ganzen Mann ins Trudeln. Rann sah die Steintreppe, die er aus Fitnessgründen zu nehmen pflegte, auf sich zukommen. Er versuchte noch, sich am Geländer festzukrallen. Doch sein Schwung war viel zu groß, sein verzweifelter Klammergriff fand keinen Halt. Rann stürzte zwölf Stufen hinunter, fiel auf die Plattform, wollte sich aufrichten, setzte mit dem rechten Fuß auf, unter dem noch die halbe Bananenschale klebte, und stürzte weitere zwölf Stufen hinunter. Er beendete einen Klönschnack zwischen zwei Männern, indem er zwischen ihnen einschlug wie eine Kanonenkugel. Die Männer schrien vor Schreck und Überraschung auf, und ausgehend von dieser Quelle raste binnen weniger Sekunden eine Unruhe durch das Gebäude, die bei den sensibilisierten Menschen blitzschnell zu Panik mutierte und in einer entsetzlichen Massenflucht endete, in deren Verlauf ein halbes Dutzend Angestellter durch Fußtritte und splitternde Glastüren teilweise schwer verletzt wurden.

 

Irene und Adler konnten durch die Glasfront des Präsidiums schon die Außenwelt sehen, als es hinter ihnen rumorte. Golze eilte durchs Foyer.

«Mensch», stieß er hervor, «der Rechtsstaat ist schneller, als ich laufen kann. Na, wie habe ich das gedeichselt? Kaum drinnen, schon wieder draußen.»

«Die mußten uns laufen lassen», knurrte Irene, «das weißt du genau.»

«Stimmt schon», sagte Golze altklug, «aber sie hätten es noch ein wenig in die Länge ziehen können, wenn der gute Achim nicht Einfluß genommen hätte. Das erfordert Fingerspitzengefühl und...»

«Wieso erfordert das Fingerspitzengefühl, einem eins in die Schnauze zu schlagen?»

Golze starrte Adler an. «Menschenskind, das sehe ich ja jetzt erst. Was hast du denn mit deinem Kinn gemacht?»

Adler lachte bitter auf.

«Aber immerhin ein Pflaster auf Staatskosten», setzte Golze flink hinzu. «Im Blutungenstillen macht uns keiner was vor. So hat alles seine guten Seiten.»

Adler dirigierte Irene zum Ausgang.

«Halt!» rief Golze. Augenblicklich tauchten diverse Beamte auf und machten Anstalten, Irene und Adler einzukesseln.

«Das sage ich dir», stieß Adler mit einem plötzlich hochschießenden Ingrimm hervor, «wenn mir einer von den Kameraden zu nahe kommt, dem tu ich was an. Der kriegt ein Ding ab. Ich sage nur: Vorruhestand.» Entsetzt sah Irene, wie ein Beamter seine Dienstwaffe zog.

«Laß stecken», sagte Golze, der Komplikationen heraufziehen sah.

«Na, komm doch», forderte Adler den Polizisten auf und winkte ihn mit beiden Händen näher. «Komm, du mieser Faschist und leg mich in Notwehr um.»

«Faschist», murmelte Golze, «das wird teuer. Das hätte er nicht sagen dürfen. Alles kann ich auch nicht niederschlagen.»

«Komm doch», geiferte Adler.

So hatte Irene ihn noch nie erlebt.

«Hier!» Nun brüllte Adler regelrecht. Er zog die Lederjacke aus und riß sein Hemd mit beiden Händen bis zum Gürtel auf.

«Hierhin», rief er dem Polizisten zu und hielt ihm die nackte Brust entgegen.

Im Hintergrund wurde die Besuchergruppe aus Kenia, die sich in der Stadt über Ordnungsbehörden in westlichen Industriestaaten informieren wollte, unauffällig in einen anderen Gang dirigiert.

 

«Du Affenarsch», sagte Irene. Ihre Stimme war kalt vor Zorn. «‹Faschist›! Auf so was warten die doch nur.»

«Du mußt mir die Knöpfe wieder annähen», sagte Adler und dirigierte das Auto zwischen den Lastwagen, die Billbrooks Straßen beherrschten, Richtung Tankstelle. «Paß doch auf!» rief er einem Fahrer zu und zog knapp an dem Lastwagen vorbei. Der Fahrer schickte ihm die Lichthupe hinterher.

«Ich nähe dir natürlich keinen Knopf an», stellte Irene klar.

«Wir mischen jetzt die beiden Bimbos auf, damit die endlich mal wegkommen», knurrte Adler. «Entweder die unternehmen endlich was Richtiges, oder ich setze sie auf die Straße. Ist doch albern so was. Die mit ihrem Hokuspokus.» Rücksichtslos bremste er einen Pkw aus.

«Wo sind die Kerle?» rief er Hajo zu.

«Weiß ich nicht. Ich bin hier, um zu arbeiten», sagte Hajo und beugte den Oberkörper wieder in den Motorraum.

Adler eilte zum Imbißwagen. «Auch das noch! Zugesperrt. Dienstverweigerung.»

Adler rannte in den Aufenthaltsraum.

«So, ihr Spezialisten, jetzt reden wir...» Er hielt inne, Irene folgte ihm. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Er war gegen einen Kochtopf gelehnt.

«Lieber Adler! In dem Topf sind die Tageseinnahmen. Wenn du diese Zeilen liest, sitzen wir schon in der fliegenden Kiste. Danke für die Gastfreundschaft. Es ist nicht leicht, wenn man aus verschiedenen Ecken kommt. Dafür haben wir es gut gepackt. Das meinen Henry und Gabriel. Du mußt Irene küssen. Je einmal von jedem von uns. Wir haben es uns nie getraut. Und denkt daran: Alle unsere besten Gedanken haben wir in einer Art von Fieber-Rausch, im Fieber von Kaffee erregt.»

Irene hatte mitgelesen. «Na?»

«Los!» rief Adler. «Die kriegen wir noch.»

«Ja, wozu denn?»

«Ich will sie sehen. Die können nicht einfach verschwinden.» Er nahm das schnellste Auto, was auf dem Hof stand.

Adler fuhr wie eine besengte Sau.

Am Flughafen waren zu dieser Tageszeit schon wieder Parkplätze zu finden. Die Geschäftsreisenden kehrten mit den Abendmaschinen zurück. Adler fuhr den Porsche bis zum Eingang für Auslandsflüge und setzte ihn schräg auf den Bürgersteig. Sie sprangen heraus, mußten sich nicht mit Worten verständigen, liefen direkt zur Anzeigetafel.

«Da», sagte Adler seltsam ruhig. «Hamburg via Frankfurt nach Mombasa.»

«Zwei Minuten sind nicht viel, was?»

«Zwei Minuten zu spät sind wie ein ganzes Leben zu spät. Los, auf die Plattform!»

Als sie die Aussichts-Plattform erreichten, hob gerade eine Maschine ab.

«Ich weiß nicht, ob sie das sind», sagte Adler, «aber für den Rest meines Lebens werde ich jedem erzählen, daß ich gesehen habe, wie sie starteten.»

Sie standen am Geländer, kamen wieder zu Atem.

«Willst du die Hälfte der Küsserei jetzt gleich an Ort und Stelle haben?» fragte Adler, ohne den Blick von dem kleinen Punkt am Himmel zu nehmen.

 

«Freiheit», sagte Gabriel aufatmend und ließ den Gurt aufschnappen. Im gleichen Moment schnallte sich ein leitender Angestellter von Reiher in seinem Wagen los. Er lehnte sich über den Beifahrersitz zum Handschuhfach, als ihm der betrunkene Sportwagenfahrer hinten reinfuhr.

Sie orderten Whisky.

«Prost», sagte Henry und stieß sein Plastik-Glas gegen Gabriels. In diesem Moment knallte eine Möwe gegen das Panorama-Fenster im Sitzungssaal der Kaffeefirma Bohnemann, in dem Direktor Milz die erste Sitzung nach seiner Genesung leitete. Die Wucht des Vogels war so groß, daß Glassplitter meterweit in den Sitzungsraum fielen. Milz wurde von einem Stück im Nacken getroffen. Er spürte einen feinen Schmerz, griff sich an den Hals und starrte auf seine blutbesudelte Hand.

 

Bei Adler war der Dampf raus. Zeitweise fuhr er dermaßen vorschriftsmäßig, daß sich ein Streifenwagen hinter ihn klemmte und erst abbog, als er wieder auf 70 km/h gegangen war. Als sie die Tankstelle erreichten, war die Finsternis dabei, die Stadt zuzudecken. Die Nacht-Beleuchtung verbreitete ihr müdes Licht.

«Verwesung. Überall Verwesung», sagte Adler und blickte angewidert auf die Schmuddel-Ecken des Geländes.

«Da», flüsterte Irene und drückte Adlers Arm. «Da ist Licht.»

«Wo?»

«Da hinten. In der Garage.»

«Hajo, Hajo, Energie verpulvern können wir uns nicht leisten.» Adler näherte sich der Garage, Irene blieb an seiner Seite. «Das ist ja Nummer 4», sagte Adler verwundert. «Da steht doch das Detektiv-Büro.»

Das Garagentor stand so weit offen, daß sich ein Mensch hindurchdrücken konnte. Adler tat es als erster, wartete auf Irene.

Sie blieben stehen. Rose hatte die Stablampe über einen Wandhaken gehängt. Ihr scharfer Schein erhellte die zwölf Quadratmeter, die seine Möbel in der viel größeren Garage einnahmen. Was jenseits der Möbel war, lag im Dunkeln. Rose stand bewegungslos vor dem Schreibtisch. Dann streckte er die Hand aus, berührte die Tischplatte. Er strich über die Telefonbücher, nahm einen Bleistift, hielt ihn gegen das Licht, legte ihn wieder in die Schale.

«Mensch», flüsterte Irene.

In diesem Moment hatte auch Adler die Pistole entdeckt, die Rose in der am Körper herabhängenden linken Hand hielt. Sie sahen, wie er die Pistole in die Tasche des Trenchcoats steckte. Er trat vor den Rollschrank, in dem die Aktenordner standen.

«Klebstoff?» fragte er, ohne den Kopf zu drehen.

«Oben im Schrank», sagte Adler und mußte sich räuspern.

Rose nahm die Plastikflasche, griff den Ordner mit der Aufschrift ‹Reiher› und ging zum Schreibtisch. Er setzte sich, schlug den Ordner auf und suchte eine leere Seite. Er faßte in die Manteltasche und glättete den Zeitungsausschnitt. Dann klebte er ihn ein. Die Schlagzeile lautete: «Chemie-Riese kapituliert nicht vor schwarzen Terroristen. Reiher: (Einziger Grund für Schließung des Zweigwerks in Kenia ist Unrentabilität).»

Irene und Adler lösten sich aus dem Dunkel, traten ins Büro. Ihre Blicke trafen sich mit denen von Rose. Ruhe und Gewißheit war in allen Augen.

Dann blickte Rose auf ein leeres Blatt Papier: «Ein Henry hat angerufen. Er war sehr aufgeregt. Ich hatte Mühe, ihn zu beruhigen. Er hat gesagt, ich soll euch sagen: Der junge Adler ist ausgeflogen. ‹Flieg, Adler Kühn.›»