Ein böiger Nord-Nordwest und 4 bis 6 Grad plus sollten für eine durchschnittliche Novembernacht sorgen. Athen meldete 14 Grad Celsius, und vor Mallorca war eine komplette männliche Skatrunde aus Osnabrück ertrunken, als sie die laue Nacht zu einem Bad («Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.») nutzen wollte. Norderney verzeichnete den mildesten Spätherbst seit zwei Jahren, der Wintergerste ging es in der gesamten Bundesrepublik gut. Und doch hatte der erste Nachtfrost eine dünne Eisschicht über die Pfützen östlich des Hamburger Hauptbahnhofs gezogen. Der Nachthimmel schimmerte, sein stählernes Schwarzblau zeichnete sich scharf von den Fassaden der menschenleeren Bürohäuser ab. Grell schrillten die Schienen, wenn zwischen den Stationen Hauptbahnhof und Berliner Tor S-Bahnen unterwegs waren.

Ein Halbschuh zermalmte die papierdünne Eiskruste auf den Pfützen.

Der Mann war allein mit den leeren Bürohäusern. Auf einer nahen Straße scheuerten Autoreifen über Asphalt und gewannen schnelle Fahrt. Ein Streifenwagen schaltete die Sirene ein, und der Mann wich auch der nächsten Pfütze nicht aus.

Der Trenchcoat mochte bis 18 Uhr eine angemessene Bekleidung gewesen sein, jetzt war er ein Fähnchen im Wind. Der Mann schlug den Kragen hoch und schritt zielstrebig voran. Atemwolken hinter sich lassend, passierte er das Gebäude einer bundesweit bekannten Bausparkasse und danach die geduckt im Hintergrund kauernde Verwaltung einer kleinen Krankenkasse. Ohne sich umzusehen, wechselte er die Straßenseite. Auf dem nahen Parkplatz startete ein Motor, der aufflammende Autoscheinwerfer riß die Silhouette des stämmigen Mannes sekundenkurz aus der Nacht. Die Tür des Pkws wurde geöffnet, etwas Nasses klatschte auf den Schotter. Dann verließ der Wagen den Parkplatz und bog dicht vor dem Mann auf die Straße ein. Weder sah er das gleichzeitig erleichterte und gedemütigte Gesicht des Mannes hinter dem Steuer noch das verbindlich-höhnische Grinsen der verfroren aussehenden Frau.

An der Einfahrt zum Firmen-Parkplatz der Passau Paderborner Versicherung blieb er stehen. Sein Atem beschleunigte sich. Der Mann blickte zurück, niemand war ihm gefolgt. Eine S-Bahn ratterte Richtung Berliner Tor. Es war, als ob der Mann jedes Fenster des elfstöckigen Gebäudes einzeln musterte. Ein paar Straßen weiter splitterte Glas, der Mann lächelte. Zwei mächtige Peitschen-Laternen beleuchteten einen fast leeren Parkplatz. Nur ein zerbeulter Audi 100, der mit dem Heck einen Laternenmast gerammt hatte, stand herum. 50 Meter weiter, unmittelbar vor dem Haupteingang, parkte ein Opel Rekord. Seine Bronze-Braun-Metallic-Lackierung harmonierte mit den gedeckten Farben der behäkelten Klorolle auf der Hutablage.

Der Mann ging auf den Haupteingang zu. Er blickte noch mehrere Male zu den oberen Stockwerken hinauf und hatte beinahe den Opel erreicht, als plötzlich in der Pförtnerloge ein Lichtschein hin- und herwischte. Der Mann griff in eine Manteltasche und legte die Pistole auf das Dach des Wagens. In der anderen hielt er eine runde Dose mit Munition. Der Mann ließ das Magazin ausklinken, schob Patronen ein und brachte das Magazin mit einem Schlag in die richtige Stellung. Rückwärtsgehend, entfernte er sich einige Meter vom Gebäude. Dann hob er mit beiden Händen die Pistole und schoß das Magazin, von links nach rechts auf die Fenster des obersten Stockwerks zielend, leer. Die Scherben fielen in die Büros und auf den Parkplatz. Sie zersplitterten mit lautem Klirren. Der Mann näherte sich dem Opel, wollte nachladen. In diesem Augenblick stürzte der Nachtwächter aus dem Haus.

«Sie, lassen Sie das! Verrückt geworden, was?»

Der Mann faßte den Nachtwächter ins Auge und griff nach den Patronen. Der Nachtwächter stockte im Lauf und sagte zögernd, fast scheu:

«Das gibt doch Kratzer im Lack.» Er deutete auf die Munitionsdose, die auf dem Autodach stand. Der Mann schlug das Magazin ein und wandte sich dem Nachtwächter zu. Der floh ins Innere des Hauses. Während der Mann die nächsten Fenster fixierte und einen Fehlschuß aus der ersten Serie korrigierte, wählte der Nachtwächter rasend schnell eine Telefonnummer.

Die Dose enthielt 100 Schuß. Sie war nicht mehr halb voll, als Sirenengeheul ertönte. Die beiden Streifenwagen schossen aus der dunklen Straße auf den milde erleuchteten Parkplatz. Dabei kam der eine Wagen ins Schleudern und prallte trotz leidenschaftlicher Lenkrad-Kurbeleien des Fahrers gegen den zerbeulten Audi. Während der Mann nachlud, bemerkte er ohne besonderes Interesse, wie zwei mal zwei Fahrer und Beifahrer aus ihren Wagen sprangen und hinter den Türen in Deckung gingen. Der Schütze legte das vierte Stockwerk in Scherben, einer der Beamten rief:

«Achtung! Achtung! Hier spricht die Polizei! Sie sind umzingelt. Ergeben Sie sich!»

Der Schütze schoß, ging nachladen. In stummer Verzweiflung stand der Nachtwächter hinter den Scheiben der Eingangshalle.

«Noch mal», flüsterte ein Polizist, «vielleicht hat er nicht zugehört.» Vom anderen Wagen erscholl es:

«Aufhören, sofort aufhören! Wenn Sie nicht sofort aufhören, schießen wir. Dies war die erste, zweite und dritte Warnung.»

Der Mann im Trench schoß, er hatte seit vier Stockwerken kaum einen Fehlschuß zu verzeichnen.

«Mensch, wir müssen etwas tun», zischte ein Polizist, «der hört einfach nicht auf.»

«Ob wir mal vernünftig mit ihm reden...?» begann der Beifahrer des zweiten Wagens. Der Beamte hatte seit seiner Versetzung wegen fortgesetzter provozierender Milde gegenüber Rechtsbrechern keinen leichten Stand im neuen Revier.

«Verstärkung», sagte ein Polizist hocherfreut und forderte über Funk Verstärkung an.

«Ich mach’s», entschloß sich der Streifenführer. «Einer muß es ja machen.»

«Mach’s gut», sagte sein Beifahrer aufmunternd.

Der Streifenführer zielte.

«Laß dir Zeit.»

«Halt’s Maul», zischte der Streifenführer und zielte, was sein zusammengekniffenes Auge hergab. Viel war es nicht, weil es heftig tränte.

«Nimm das linke Bein», rief der Kollege, «die meisten sind ja Rechtshänder.»

«Keine Feinheiten. Ich bin schon zufrieden, wenn ich unterhalb des Schlipsknotens treffe.»

Der Mann im Trench schoß das Magazin leer und drehte sich um. Der Puls der Polizisten sprang auf gesundheitsfördernde 130 Schläge pro Minute.

«Nicht schlecht», flüsterte der Streifenführer, «in den Rücken kriegt er das Ding jetzt schon mal wenigstens nicht.»

Da warf der Mann die Pistole von sich, und dem Polizisten ging vor Schreck die Kugel los. Nachdem er den ersten Schock über die zertrümmerte Heckscheibe seines Wagens verwunden hatte, suchte der Nachtwächter in der Pförtnerloge trübsinnig nach der Nummer des Zentralrufs der Autoversicherer (33 44 66).

«Das ist ein Trick», mutmaßte der Streifenführer.

«Da ist was dran», erwiderte sein Kollege und begann, an der Unterlippe zu nagen. Währenddessen hatte der Minderheiten-Polizist den Mann erreicht.

«Mann Gottes», sagte er, «ich hoffe, Ihnen fällt eine verdammt gute Erklärung für das hier ein.» Er zeigte auf die Scherben und die Löcher im Gebäude. Der Mann blickte ihn an. Der Polizist bückte sich, hob die Pistole hoch. Aus dem Hintergrund stürmte ein Polizist und begann, den Arm des Schützen auf den Rücken zu hebeln.

«Ich ergebe mich», sagte der Mann.

Die Polizisten drängten den rabiaten Kollegen ab. Beim Einsteigen in den Fond des Streifenwagens nutzte der Streifenführer die Gelegenheit und rammte sein Knie in den Unterleib des Täters. Als der Streifenführer den Blick des Mannes sah, hätte er ihn am liebsten noch einmal getreten. Stück für Stück wurde die Stille der Nacht vom Geheul weiterer Polizeisirenen durchlöchert.

«So, du Knallschote, und jetzt zu dir», sagte der Streifenführer und fingerte Handschellen aus dem Handschuhfach.

«Ich bitte Sie, mich nicht zu duzen», erwiderte der Mann im Trench.

«Aber, hallo, was haben wir denn da?» sagte der Streifenführer.

Der Mann im Trench sah die ansatzlos geschlagene Hand nicht kommen. Der Handrücken traf ihn an der Wange und schleuderte seinen Kopf gegen die Schulter des Beamten, der auf der Rückbank neben ihm saß. Der Beamte schnüffelte: «Hat keine Fahne.»

«Nun komm schon», knurrte der Streifenführer, der die Handschellen anlegen wollte. Der Mann verbarg sein Gesicht in den Händen. Zu zweit rissen sie ihm die Hände herunter und ließen die Acht einschnappen. «Das ist für deinen Blick», fauchte der Streifenführer und zog die flache Hand noch einmal durch das Gesicht des Mannes.

 

Auf der Revierwache begutachteten alle Beamten den Fang. Der Festgenommene präsentierte einen Ausweis, der sich trotz eingehender Prüfung als nicht gefälscht erwies. Diverse Anfragen brachten Klarheit. Name: Rose; Vorname: Rochus; Alter: 45; Wohnort: Danziger Straße im Stadtteil St. Georg; Beruf: Nachtportier.

 

 

 

 

 

An einem frühen Märztag des folgenden Jahres rauschte ein BMW aus der Siebener-Reihe neben die Säule mit Superbenzin und begann sofort zu hupen. Hajo Pillau drehte den Kopf: «Kauf dir doch eine Tankstelle, du Pisser.» Nachdenklich betrachtete der Monteur dann wieder den Transit, er fand die Ursache für die wabbeligen Bremsen nicht. An der Bremsflüssigkeit — das stand zweifelsfrei fest — lag es nicht. Der Jetta-Fahrer, der von hinten eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Heck seines Wagens aufwies, zeigte mit neunmalklugem Gesicht auf das Selbstbedienungsschild. Mißmutig stieg der BMW-Fahrer aus, öffnete die hintere Tür, nahm das schneidige Jackett vom Haken und zog es an. Daneben sah der Jetta-Fahrer in seiner Hausjacke wie ein Beuteltier aus.

«Schöne Hupe haben Sie», sagte Hajo, als er am BMW vorbei zum Kassenraum ging.

«Wenn ich feststelle, daß ihr mir gepanschtes Benzin verkauft, mache ich euch zur Schnecke», erwiderte der BMW-Fahrer nicht unfreundlich. Während das Benzin einlief, blickte er über das Gelände. Sauladen. Wie nach einem Bombenangriff. Müßte von Grund auf renoviert werden. Alles flachlegen und vier bis sechs Klötze mit Eigentumswohnungen rauf. Den U-Bahn-Anschluß gleich mitbauen. Unvorstellbar, wie die sich hier in der Walachei halten können. Ist das überhaupt schon Hamburg? Der BMW-Fahrer fischte den Schal von der Rückbank.

Die Tankstelle besaß vier Zapfsäulen, zwei für Normal, je eine für Super und Diesel. In dem flachen Anbau waren der Kassenraum, ein Büro, eine kleine Küche, ein Aufenthaltsraum und ein Lagerraum untergebracht. Hinter einem überraschend großen Platz, der vom letzten März-Schnee schmutzig-weiß und matschig wirkte, lag eine Flucht von sechs Garagen, an die sich die Werkstatt mit einer Grube und einer Hebebühne anschloß. Die Tankstelle wirkte wirklich nicht besonders gepflegt. Doch alle technischen Einrichtungen waren erstklassig Schuß. Die Augen des BMW-Fahrers sprangen von den Reifen-Stapeln zu den vier Schrottautos in der Lücke zwischen dem flachen Anbau und einer unmotiviert auf dem Gelände stehenden, verwahrlosten Mauer. Zwei Wagen standen auf den Dächern der beiden anderen.

 

 

Falls dieses Buch weitere Auflagen erleben sollte, stellen wir die Tankstelle — uns dem Zeitgeist nicht verschließend — auf Bleifrei um.

 

 

«He, Meister, Kundschaft», knurrte der BMW-Fahrer und warf ungeduldig den Hundertmarkschein auf den zerkratzten Glasteller im Kassenraum.

«Kundschaft. Hast also Zeit, dir eine bessere Ausrede zu überlegen», schnaufte Adler im Büro ins Telefon. «Diese Ausrede ist mir nämlich zu billig.»

Mißmutig gab er dem BMW-Fahrer heraus.

«Haben Sie vielleicht mal ein Kleenex oder so was? Ist nämlich alles ein bißchen dreckig bei euch», sagte der BMW-Fahrer und bewegte geziert sämtliche Finger. Adler griff neben die schwarze Registrierkasse und stellte eine Rolle Toilettenpapier auf den Tresen.

«Süßigkeiten verkauft ihr wohl auch nicht?» fragte der BMW-Fahrer während des Wischens. Adler schüttelte den Kopf.

«Bißchen was zu trinken? Cola oder so?»

Adler schüttelte den Kopf und ging ins Büro.

«Hähnchen, du fauler Hund», rief er ins Telefon. «Wir sind auf dich angewiesen. Das weißt du genau. Ich habe sonst nur noch Reinhold.» Anscheinend redete sich Hähnchen heraus.

«Hähnchen», vibrierte Adler, «ich will dich deiner Traumfrau nicht entfremden, aber bedenk doch: Wenn ihr euch zwei Stündchen nicht seht, hat der Akku Zeit, sich aufzuladen. Da fahrt ihr heute abend gleich mit ganz anderem Schwung aufeinander zu.» Adler hörte zu, lächelte kalt. «Okay, Hähnchen, okay. Du hängst dich bei deiner Traumfrau rein, und ich hänge in den Seilen. So hat jeder was. Wirklich toll. Tschüs, du halber Hahn.»

Adler hängte ein und trommelte mit drei Fingern auf dem Tisch herum. Dann ging er durch die winzige Teeküche in den Raum, den er immer dann, wenn er keine Lust hatte, nach Hause zu fahren, zum Schlafen benutzte. Reinhold saß im Ohrensessel zwischen dem durchgesessenen Sofa und dem Tisch. Dort standen noch Meßgerät und Lötkolben. Haßerfüllt starrte Adler auf das handliche Computerspiel in Reinholds Händen.

«Wie du mit dem Ding 62 Durchgänge geschafft haben willst, ist mir völlig schleierhaft», sagte Reinhold. «Du bist doch sonst nicht der Typ, der die große Geduld hat.»

Auf dem Weg zu seinem Wagen kam der BMW-Fahrer an dem Transit vorbei. Der Lieferwagen war fünf Jahre alt und viel bewegt worden. Dank Hajos Pflege sah er tipptopp aus. Das matte Schwarz gab dem klobigen Wagen etwas Flottes. Auf beiden Seiten stand in leuchtendgelber Schrift «Wir bewegen die Welt - Adler Kühn». Darunter das Bild eines grob skizzierten Mannes. Der Mann breitete seine zu Flügeln umgebildeten Arme aus.

Ein Fiat-Fahrer quengelte. Hajo ließ vom Transit ab und brachte ihm die Heizung in Ordnung. Danach fuhr Hajo mit dem Transit durchs Gewerbegebiet. Am Wochenende waren kaum Menschen auf den Straßen von Billbrook. Am Rand der breiten Straßen standen Container, unter die sich Montag früh eine Zugmaschine schieben würde. Die Parkplätze der Betriebe waren leer, in windgeschützten Ecken lagen Schneehaufen. Auf den Kanälen hatte sich das angetaute, auseinandergebrochene und erneut gefrorene Eis zu hohen, zackigen Bergen geschichtet. Hajo bremste, mit kleiner Verzögerung sprach der Wagen an. «Muß reichen», murmelte er, zündete sich eine Zigarette an und fuhr zur Tankstelle zurück.

Als Hajo zum Kassenraum ging, rauschte ein Taxi aufs Gelände. Irene parkte neben dem Transit ein, ein etwa achtjähriger Junge ließ sich aus dem Wagen direkt vor ein Hinterrad des Transit fallen. Hajo sprang dazu und verhinderte das Schlimmste.

«Sag deinem Sohn endlich, daß ‹Ventile pfeifen hören› kein Spiel ist, sondern Sabotage», forderte er Irene auf. Sie drückte ein bißchen in Tills Nackenregion herum. Für Hajo sah es aus, als ob sie den Lümmel liebkoste.

Hajo mußte zu einer kaputten Heizung. Irene ging in die Küche und fragte Adler, wie lange der Tee schon gezogen habe. Vorsichtig zog sie das dunkelbraune Netz aus der Brühe. Und es sieht doch aus wie ein Präser. Irene setzte sich im Aufenthaltsraum auf die winzige Stelle des Sofas, auf der Adler keine Blinker und Bremsleuchten gestapelt hatte.

«Wir ziehen das jetzt durch, Punktum», trumpfte Adler auf. «Wir schaffen das schon. Reinhold und ich, das ist ja fast so, als ob wir zu zweit wären.» Liebevoll grinsten sich Irene und Adler an, Reinhold schaffte drei Durchgänge mit dem Computerspiel und wurde regelrecht euphorisch.

«Ich habe eine Schicht übernommen», sagte Irene ohne Begeisterung. «Meine ach so hilfsbereiten Mitbewohner sind alle ausgeflogen.»

Adler, der es nicht mehr mit ansehen konnte, nahm Reinhold das Computerspiel fort und drückte ihm einen Teebecher in die Hand.

«Maria ist um acht wieder da, also um zehn bestimmt. Sie schickt den Bengel in die Federn. Bis dahin ist Asche. Vielleicht könntet ihr? Aber ihr macht wohl eine Tour?» Irenes Stimme war am Schluß immer zaghafter geworden.

«Frag Hajo», knurrte Adler. «Der hat die besten Nerven. Und sag deinem Sprößling, er soll die Ventile in Ruhe lassen. Sonst kriegt er hier nämlich Platzverweis.»

Irene fragte Hajo. Gemeinsam kesselten sie Till ein und hielten ihm einen Vortrag über Sinn und Unsinn von Ventilen. Till nickte und nickte. «Na, dann komm, kleiner Mann», sagte Hajo. Er konnte den altklugen Knaben gut leiden.

Sie brachen gleichzeitig auf. Adler versuchte, Irene zu rammen, die wich geschickt aus und fuhr das Tankstellen-Fahrrad um. Till reckte den Arm in die Höhe, die Erwachsenen hielten dies für Winken. Er wartete, bis Hajo zum Fahrrad ging, um es aufzuheben. Dann faßte Till das erstbeste Ventil ins Auge. Und Vorfreude ergriff den Knaben.

 

Während Reinhold sich darüber verbreitete, was für eine nette Person Irene Lachmund war, steuerte Adler die Adresse im Stadtteil St. Georg an. In der Gegend kannte er sich aus, er wohnte selber dort.

In der Danziger Straße gerieten sie prompt in den Abmarsch des Gottesdienstes. Die katholische Kirche spielte an Wochenenden praktisch nonstop. Adler parkte den Transit halb auf dem Bürgersteig und wartete die Abfahrt der Wagen ab. Dann stellte er den Transit genau vor die Haustür. Reinhold holte die Handschuhe aus der Kiste, Adler öffnete gerade die Hecktür, als eine Frau aus dem Mittelklasse-Pkw vor ihnen stieg. Ein Mann folgte ihr. Reinhold kümmerte sich nicht um die Frau. Er machte für 50 Mark seinen Job, der Chef war Adler.

«Herr Adler?» sagte die etwa vierzigjährige Frau in dem grundsoliden Mantel mit Pelzaufsatz. Valentin Kühn registrierte diesen Irrtum seit Jahren nur noch am Rande.

Adler nickte, die Frau hielt ihm die Hand hin: «Drummer. Frau Drummer. Ich bin die Schwester von meinem Bruder.» Adler nickte dem Mann im Hintergrund zu. «Das ist er doch nicht», sagte die Frau ärgerlich, «das ist doch mein Mann.» Adler nickte freundlich. Bevor du mal heiratest, denkst du eine Nacht lang an solche Ehepaare.

«Ich habe Ihnen doch am Telefon erzählt, daß es um die Wohnung von meinem Bruder geht. Mein Bruder ist nach Südamerika ausgewandert. Das ist mein Mann. Der bleibt hier, was, Rolf Scheißerchen, du bleibst doch bei deiner kleinen Karin?»

Adler blickte den Mann nicht an. «Dann wollen wir mal», sagte er und rieb die Hände. «Kommen denn nicht noch mehr?» fragte die Frau.

«Wir sind bärenstark», entgegnete Adler munter und wurde wieder sauer auf Hähnchen und dessen Traumfrau. Sie gingen ins Haus.

Seitdem es mit der Tankstelle nicht so lief - also praktisch seit Anfang an vor zwei Jahren -, inserierte Adler in diversen Anzeigenblättern und im Regionalteil der alternativen Tageszeitung: «Wir bewegen die Welt — und Ihre Möbel auch.» Die Anrufe hielten sich in Grenzen. Im Monat kamen sie auf vier, fünf Umzüge, Wohnungs-Auflösungen und Entrümpelungen von Dachböden und Kellern. Die Frau, auf deren unteren Lendenwirbel-Bereich Adler beim Treppensteigen blickte, hatte die Sache sehr dringlich gemacht. Ihr Bruder, der Hallodri, sei ganz kurzfristig Richtung Südamerika verduftet, diesmal für endgültig, der Weltenbummler. Er habe sie, seine Lieblingsschwester, gebeten, die Wohnung aufzulösen, weil er alle Brücken hinter sich abreißen wollte.

Reinhold freute sich, daß sie nur bis in den ersten Stock mußten. Der Ehemann blieb im Hintergrund. Adler wurde das Gefühl nicht los, daß der Mann sich nicht wohl fühlte.

«Kleiner Rundgang, die Herren, bitte sehr», sagte die Frau mit aufgesetzter Munterkeit. Sie begannen in der Küche. Reinhold spielte Gewichtschätzen. Der Schrank war für ihn «200 Pfund», und als Adler ihn darauf hin wies, daß man das Oberteil abschrauben konnte, war er «130 zu 70».

Hier hatte ein Junggeselle gelebt. Ein Klo, die umgebaute Speisekammer faßte gerade die Duschkabine. Im Wohnzimmer hatte der Mann wohl auch geschlafen, das Sofa war ausgezogen, eine Decke und ein Wintermantel lagen neben einer Reisetasche, die ausgekippt worden war und dem Mieter als Werkzeugkasten gedient haben mußte. Sessel, Schrank und Teppich addierte Adler seufzend zu maximal drei Blauen. Ein paar Grünpflanzen waren vertrocknet. Hoffentlich bringt das zweite Zimmer was. Sonst können wir den Klumpatsch gleich auf den Müll kippen.

Adler betrat den Raum und stutzte mitten in der Bewegung eines Schrittes. Hektisch fuhr sein Kopf herum. Er stand in einem Büro, das er seit fünfzehn Jahren kannte. Ungefähr so lange war es her, seit er zum erstenmal einen amerikanischen Detektiv-Film gesehen hatte.

Waagerecht gestellte Jalousien nichts wert vor beiden Fenstern, ein Schreibtisch, dicht vor den Fenstern, mit einem einfachen Bürostuhl 20 DM, der aber Lehnen hatte. Auf dem Schreibtisch glatte 120 Märker ein schwarzes Telefon 30 Mark maximal, eine grüne Schreibunterlage, ein verblichen wirkender Tageskalender auf dunkelgelbem Holz. Eine schwarze, schmale, sehr längliche Schale mit Kugelschreibern, Büroklammern und Bleistiften Pipifax, ganz am Rand aktuelle Telefonbücher von Hamburg, Los Angeles und Asuncion Müll. An einer Schmalseite sowie zwischen Ecke und Fenster standen Rollschränke die Mechanik schien nicht ganz in Ordnung. Wenn ich die wieder hinkriege, bringt es jeweils mindestens einen Adler. Er liebte diesenach ihm benannten blaßblauen Flattermänner auf knitterigem Papier. Einen Rollschrank füllten zur Hälfte Fachbücher und Aktenordner. Neben dem Schrank stand ein Wasserbehälter. Wenn der noch funktioniert, lohnt er allein schon die ganze Chose. Verdutzt trat Adler vor den Behälter, der fast leer war. Er zog einen Pappbecher aus der Halterung und füllte einen Schluck Wasser ein. Er tat es nicht, weil er trinken wollte. Er mußte nur sofort den Beweis haben, daß das Ding funktionierte.

«Träum ich, oder wach ich?» ertönte Reinholds Stimme in Adlers Rücken.

«Das ist ja wirklich eine Überraschung», murmelte Adler.

«Nicht wahr?» sagte der Mann. Zum erstenmal verlor er seine verspannte Bedrücktheit.

«Rolf!» Mit einem Wort brachte ihn seine Frau zum Schweigen. Der Mann ging sofort hinaus. Reinhold strich mit der Hand über diverse Gegenstände und erzählte von Melville, Hammett, Cain, Fritz Lang und Cagney.

«Hat Ihr Bruder irgendwas mit Film zu tun?» fragte Adler. «Oder Fernsehen?»

«Rochus und Fernsehen», höhnte die Frau, «den hätten sie doch nicht ins Fernsehen gelassen. Verrückt war er, habe ich immer gesagt. Verrückt.»

«Wie, sagten Sie, ist der Name Ihres Bruders?»

«Rochus. Er heißt Rochus Rose», antwortete der Mann der Frau, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat. Die Frau wurde immer lauter:

«Ich habe den Namen bisher nicht genannt. Ich habe auch nicht vor, das in meinem Leben je noch einmal zu tun.»

«Aber Karin, Kati», sagte der Mann kläglich und versuchte, seiner Frau besänftigend über den bemäntelten Arm zu streichen. Abrupt entzog sie sich ihm.

Während das Ehepaar im Flur zischelnd miteinander stritt, trat Reinhold auf Adler zu. «Tolle Inneneinrichtung.»

Eine Tür schlug zu. Sie waren mit der Frau allein.

«Damit es keine Mißverständnisse gibt», sagte Adler, «150 fürs Leerräumen und der Verkaufserlös für uns, richtig so?»

«Ja, ja», sagte die Frau muffelig und zog ihr Portemonnaie. Adler wollte eine Quittung schreiben. «Sparen Sie sich die Mühe. Sie brauchen Ihre Kräfte noch», sagte die Frau. Sie ging bis zur Wohnungstür und drehte sich um. Auf einmal hatte ihr Gesicht die tiefen Kerben verloren. Adler glaubte, so etwas wie Wehmut zu erkennen. Aber du bist ein sentimentaler Hund, das können dir 200 Leute bestätigen.

«Ist noch was?» Die Frau zuckte zusammen.

«Nein, nein. Wir sind klar soweit. Die Schlüssel geben Sie bei den Nachbarn ab.» Sie schloß die Tür sehr leise.

Adler wollte endlich mit der Arbeit beginnen. Er wußte, daß sie mit dem Transit zwei Touren fahren mußten. Wir brauchen einen Lkw, verdammt noch mal. Und eine vernünftige Werkstatt. Und keine Schulden. Und eine Frau. Und endlich mal Urlaub.

Adler zerraufte sich die kurzen dunkelbraunen Haare, strich die abstehenden Seiten über die Ohren nach hinten und zog die Handschuhe an. Dann trat er Reinhold, weil der gerade so günstig stand, in den Hintern.

 

Die erste Fuhre luden sie gegen 18 Uhr in einer der Garagen ab. Da plärrte Till gerade und wollte zu seiner Mutter. Hajo hatte ihn an einem Ventil erwischt. Adler ging hin und ließ das Wort «Hausarrest» fallen. Till zog, was er in der Nase hatte, Richtung Stirnhöhle und verschwand im Aufenthaltsraum, wo er mit seinem Taschenrechner zu hantieren begann. «So macht man das», sagte Adler im Vorübergehen zu Reinhold.

 

Die zweite Ladung fuhren sie gegen 21 Uhr an. «Warum denn das noch abladen?» muffelte Reinhold. «Das kommt doch Montag sowieso alles zu den Händlern.» Sie standen vor der geöffneten Seitentür.

«Kann sein», sagte Adler versonnen.

«Willst du hier etwa ein Lager aufmachen?» fragte Hajo ziemlich scharf.

«Ich weiß noch nicht», sagte Adler. «Aber ich habe da was im Urin. Das da im Wagen ist das Büro von dem geheimnisvollen Mister X oder wie der heißt. Wir haben sogar die Scheibe aus der Tür mitgenommen.»

«Aha», sagte Hajo ohne Interesse. Beide fielen mit der Schilderung des Zimmers über ihn her. Danach hatten die Augen, mit denen Hajo die Ladung musterte, mehr Feuer.

«Ohne mich», sagte Reinhold und gähnte. «Ich starte jetzt ins Wochenende durch. Halb zehn, spätestens, war abgemacht.» Er streckte die Hand aus. Adler blickte Hajo an, der ging in den Kassenraum, Reinhold trottete hinterher. In der Tür drehte er sich zu Adler um, der gerade einen Lamellenschrank an den Rand der Ladefläche rückte. «Ich will ja nicht betteln.»

«Dann laß es», sagte Adler und kantete den Schrank.

«Aber einen Zehner könntest du ruhig noch rauftun. Ich habe genau gehört, was du mit der Tussi abgemacht hast. 150 De Em.» Hajo suchte Adlers Blick und legte einen Zehner drauf.

Müde atmete Adler aus und hob den Kopf. Eine der beiden Röhren im Innern des Tankstellenschildes war schon wieder ausgefallen. Der gelbe Flügelmann auf schwarzem Grund wurde nur einseitig erleuchtet. Flügellahm. Adler seufzte, als er die Schneeflocken wahrnahm.

«Manchmal», sagte Hajo, stellte sich neben ihn und ließ die Arme bis über die Ellenbogen in der Latzhose verschwinden, «manchmal, da weiß der Schnee nicht, ob er nun runterfallen oder ob er in der Luft stehenbleiben soll.»

«Bist du eigentlich mit Doris wieder klar?»

«Sand im Getriebe.»

Adler boxte dem Freund gegen die Brust, Hajo nahm Verteidigungsstellung ein und täuschte einige Schläge an, denen Adler nicht auswich.

«Wenn wir im Film wären, würden wir uns jetzt in die Arme fallen und auf unsere Männerfreundschaft eine Flasche Bourbon leeren», sagte Adler lachend.

«In solchen Momenten rauscht ja meistens eine Frau dazwischen», sagte Hajo und trat zur Seite, damit der Scirocco ihm nicht über die Zehen fuhr.

«Nicht schon wieder», stöhnte Adler und wandte sich den Möbeln zu.

«Das sind die Schattenseiten unseres Berufs», grummelte Hajo, holte tief Luft und zwang ein Lächeln herbei.

«Hallihallo», rief der Fahrer des Scirocco und warf eine Hand in die Höhe. «Ich werde langsam zum Stammgast bei euch, wie oder was?»

«Glaube ich nicht», murmelte Hajo. «Das würde ich auch nicht mehr erleben, weil ich nämlich vorher gekündigt hätte.»

Achim Golze trug eine grobe Cordhose, die er nachlässig in die Skistiefel gestopft hatte. Der mollige Skipullover war mit einem Muster geschlagen, das Golze wie ein Zebrastreifen in der dritten Dimension aussehen ließ. Dagegen wirkte das Halstuch fast zierlich. Kriminalassistent Golze hatte es bei einer Razzia im zweitbekanntesten Puff der Stadt unauffällig mitgehen lassen. Die Kürze des Tuches war für Golze wichtig. Seine vorletzte Freundin hatte ihm vor Jahren einen vier Meter langen Schal gestrickt, mit dem sich Golze in einer Drehtür fast besinnungslos gewürgt hatte. Der Halstuchträger führte die Zapfpistole ins Tankloch des Scirocco ein. Hajo sah ihm dabei so lange zu, bis Golze kurz davor war, eine zotige Bemerkung zu machen. Doch da waren die knapp zehn Liter schon drin, die ein befreundeter Schutzmann aus Golzes Tank abgesaugt hatte, damit er einen einleuchtenden Grund erhielt, die Tankstelle erneut anzufahren.

Hajo wärmte sich drinnen auf und sah zu, wie Golze mit langem Hals über das Gelände strich. Dann kam er zögernd in den Kassenraum. Hajo las den läppischen Preis ab und sagte: «Schluckt was weg, Donnerwetter aber auch.»

«Hajo. Ich glaube, ich habe das jetzt raus mit den Schweinen», sagte Till, der plötzlich in der Tür zwischen Teeküche und Kassenraum stand. Hinter dem Ohr steckte sein Bleistift, in einer Hand hielt er den Taschenrechner.

«Na, kleiner Mann, wie geht es uns denn so?» Till senkte den Kopf und schoß einen Blick auf Golze ab, daß dem die Knie weich wurden. Danach vergaß Till den blöden Neuen sofort. Als Hajo jedoch raus mußte, um einem Golf den Scheibenwischermotor zu richten, faßte Till den Neuen wieder ins Auge.

«Kommst du mit nach hinten? Dann erkläre ich dir die Sache mit den Schweinen.» Golze trottete hinter Till her.

Aus dem bißchen Schnee wurde ein solider Schauer. Adler fischte eine Pudelmütze ohne Bommel aus der Schmuddelecke der Garage und wartete, bis Hajo Zeit hatte, ihm beim Tragen des Schreibtisches zu helfen.

Irene kam. Hajo und Adler stellten den Schreibtisch ab und sahen zu, wie sie ausstieg. Der Wohnwagenfahrer aus dem Pfälzischen vergaß seine Mutti und gönnte sich ebenfalls einen Blick. Golze stand sieben Sekunden nach dem Ertönen des bulligen Diesel in der Tür. Locker wollte er seine Hand zur Begrüßung in die Höhe werfen, traute sich aber nicht. So kam ein abgebrochener Armwurf heraus.

«Mami, Mami, der kapiert das mit den Schweinen nicht», rief Till und eilte zu Irene.

«Du sollst nicht immer Mami zu mir sagen, verdammt noch mal, was sollen die Leute denken!»

«Aber wenn der das doch nicht kapiert», quengelte Till in genau dem Tonfall, der Irene noch nach acht Jahren an den Kindsvater erinnerte.

«Komm her, Schöne, Möbel gucken», rief Adler. Irene bekam die Geschichte von dem geheimnisvollen Zimmer erzählt und zeigte das Ausmaß an Begeisterung, das Adler sich erhofft hatte.

«Soll ich’s dir noch mal erklären?» fragte Till ohne viel Hoffnung. Golze winkte unwirsch ab. «Sonst geh ich an deinen Ventilen spielen», sagte Till leise. Golze winkte erneut ab, er hatte nicht zugehört. Till machte sich auf den Weg und pfiff mit gespitzten Lippen. Aber Ventile können das viel, viel besser.

Adler brachte Teewasser auf den Weg und ärgerte sich, daß er Golze für dessen Wunsch nach einem «Täßchen» Kaffee nicht einfach auslachte.

 

Sie saßen im Aufenthaltsraum um den Tisch herum. Adler biß die Wärme in den Augen, Hajo mußte immer wieder raus, kassieren. Aber zu selten, viel zu selten bei unserem Kontostand. Golze wurde es in seinem Pullover so warm, daß er bald einen ziemlich roten Kopf bekam. Er traute sich nicht, den Pullover auszuziehen. Dieses Hemd. Da gucken doch alle. Warum verläßt dich dein strategisches Genie immer beim Naheliegendsten?

Zwischendurch kam Till herein und strahlte so nachhaltig, daß Irene ihn aufmerksam musterte. Till mochte den Neuen jetzt eigentlich ganz gern, wenn er auch nicht in Raserei geriet, wie er das in jungen Jahren bei zwei, drei Liebhabern seiner Mutter getan hatte. Die meisten jedoch hatten sich bei ihm abgestrampelt wie eine Ratte, wenn sie in eine leere Badewanne fällt.

Golze suchte Irenes Blick, aber er fand ihn nicht. Adler war so nett: «Wie geht’s denn? Schon Erfolg gehabt?» Golze pumpte sich auf:

«Ich bin dran, hautnah. Im Haus heißt die Leiche nur noch ‹Pappnase›, weil es ihn ja beim Strullen erwischt hat und weil er doch diese Pappnase von der Karnevalsfeier von diesem Sparkassen-Verein... wie war gleich noch mal... ‹Penuntia› ist der Name vom Verein, wo er zum letztenmal in seinem Leben so richtig fröhlich gewesen ist, tragisch, tragisch. Und alles in dem Moment, als er den Hydranten umschiffen... Pardon, aber das kennt man doch, zwei, vier, acht Bier, und du glaubst, dir fliegt die Blase um die Ohren. Wenn du dann gerade noch rechtzeitig den Reißverschluß runterkriegst, das ist ein Gefühl, aber wem sage ich das...» Golze fing Irenes Blick auf und wurde von einer momentanen Sprachhemmung heimgesucht.

«Wir haben uns natürlich in den letzten Tagen schlau gemacht. Die Leiche hegt praktisch wie ein aufgeschlagenes Buch vor uns. Ha, ha, alter Pathologen-Scherz. Appetitlich sah er wirklich nicht aus. Ihr habt nichts versäumt, daß euch der Anblick erspart geblieben ist. Vorne der Hosenschlitz offen und hinten die Schädelplatte, ausgewogen irgendwie, wie beim Fernsehen.» Irene schickte Till aus dem Raum. Der wollte nicht, weil er hingerissen zuhörte. Sie versprach ihm, heute abend zehn Minuten seinen Kopf zu kraulen, und weg war er. Hajo kam rein. Er lehnte sich an den Türrahmen.

Golze merkte, daß es still war im Raum.

«Der Doktor hat ihn umgekrempelt wie eine Hosentasche. Heute morgen lag der Bericht auf meinem Tisch, ich kann euch sagen. Die haben Schrammen und Narben entdeckt, da wußte die Pappnase wahrscheinlich gar nicht, daß sie die hatte. Jetzt kann’s ihm ja egal sein. Obwohl, ich halte es für möglich, daß seine Frau Wert darauf legt, eine Kopie von dem Bericht zu kriegen. Das rundet die Sache doch irgendwie ab. Und wenn die Kinder mal groß sind... Fisch, Fisch hat er gegessen, einen halben Kutter voll. Und als Beilage Kartoffelsalat, war feste am Verdauen. Und dann natürlich gebechert wie die Kannibalen. Stichwort Karneval, kennt man doch, obwohl, also ich eigentlich nicht so. Ich komme ja aus Schwaben. Meine Mutter, die hat eigentlich ganz gern gelacht. Eins Komma neun acht Promille, für mich sind das ja schlicht und ergreifend zwei. Aber die Pathologen sind pingelig, sind im ganzen Haus bekannt dafür, richtige Popelzähler. Und was das Schönste ist: Personalausweis in der Aftertasche, wie es sich gehört. Aftertasche ist die hinten links und rechts auch, kennt ihr nicht, den Ausdruck? Ja, ja, geh zur Polizei, das weitet den Horizont, auch sprachlich.»

Golze schlürfte den restlichen Tee rein. Adler wurde immer müder, Hajo mußte kaum noch raus, weil am späten Samstag kaum jemand kam. Irene fing Till ein und verabschiedete sich. Golze sprang betroffen auf:

«Schon?» Irene deutete auf Till. «Ah ja, na klar, ist ja klar.» Golze wollte Till über den Kopf streichen, Till wollte nicht. «Na, du kleiner Butzemann, machst der Mami keinen Ärger. Augen zu, und morgen geht das Leben weiter. Du bist ja noch jung.»

Hajo folgte Irene in den Kassenraum. «Sag mal, glaubst du, daß wir dem irgendwie helfen müssen. Der braucht doch Behandlung, Arzt oder Monteur oder so was.» Irene lächelte.

«Ich hab ihn irgendwo ganz gern.» Und als Hajo sie fassungslos anblickte: «Ich weiß nur noch nicht, wo.»

«Guckt mal, da draußen», krähte Till, der mit dem Gesicht an der schmutzigen Scheibe klebte.

«Komm, Tilli, Abgang.»

«Gleich. Erst gucken Irene guckte und winkte Hajo herbei. Zwischen Bürgersteig und Auffahrt zur Tankstelle, neben dem handgemalten Schild ‹Erste menschliche Station nach der Autobahn› standen zwei Männer.

«Neger in der Nacht», sang Hajo. Irene deutete mit strafendem Gesichtsausdruck auf das Kind. Das Neonlicht beleuchtete die Schwarzen. Sie waren Mitte Zwanzig oder auch Dreißig. Einer trug einen voluminösen Skipullover. «Das hat uns der Detektiv da drin aber nicht verraten, daß er einen Zwillingsbruder hat», sagte Hajo. Irene wies wieder heimlich auf das Kind.

 

 

Warum sind es zwei, und warum sind sie schwarz?

 

1. Allein sperren sie dich ein (alternative Spruch Weisheit).

 

2. Dashiell Hammett (Autor von ‹Der Malteser Falke› und ‹Der dünne Mann›) beschäftigte in seinen wildesten Jahren auch zwei Schwarze, einen als Fahrer, den anderen als Koch. Die Schwarzen müssen raus aus der Dienstleistungsecke.

 

 

«Laß ihn doch, Mami», sagte Till. Der andere Schwarze trug einen schwarzen Mantel und trat von einem Bein aufs andere. Der mit dem Skipullover hielt ihm offensichtlich einen längeren Vortrag, wobei er abwechselnd auf das Schneegestöber und auf seinen Pullover zeigte. Sein Begleiter schien schlecht gelaunt zu sein. Neben den beiden standen ein Koffer, zwei Reisetaschen und ein Kanister, der mit Zeitungspapier umwickelt war.

«Mami, können Neger frieren?» Hajo blickte Irene an und verließ sicherheitshalber den Raum.

«Tschüs denn.» Irene schob Till zum Wagen.

 

«Nun hör endlich auf. Ich glaub’s ja», sagte Henry zu Gabriel. Der ließ sich aber nicht bremsen. «Das ist Hochmut. Nur weil du aus dem Morgenland kommst, glaubst du, die hier im Abendland haben kein eigenes Wetter. Das hast du nun davon.»

«Ja, ja», sagte Henry und schlug die Aufschläge des Mantels vor den Bronchien zusammen.

«Guck mal da, eine Eingeborene.» Gabriel drehte sich um. «Mit Jungem. Scheinen ganz zutraulich zu sein.»

Irene verfrachtete Till auf den Rücksitz und fuhr los. Neben den Schwarzen hielt sie an, stieß die Beifahrertür auf: «Ich fahre Richtung Innenstadt. Wollt ihr mit?»

Henry saß vorne, Gabriel und das Gepäck hinten neben Till. Im Rückspiegel beobachtete Irene ihren Sohn. Tu mir den Gefallen und halt deine Klappe. Nur einmal. Den Taxameter ließ sie aus.

 

«Du hast es auch nicht leicht, was?» sagte Adler. Golze nahm den Satz so dankbar an wie eine Meise die Brosamen im Winter.

«Darauf kannst du einen lassen. Man hat’s wirklich nicht leicht, aber leicht hat’s einen.» Adler verspürte ein Ziehen in der Gallengegend. «Bruno Gantenheim, kennt ihr zufällig Bruno Gantenheim?» Eine Sekunde dachte Adler ernsthaft nach, dann blickte er Golze an und ließ es sein. «Es gibt auch ein Foto», meinte Golze großspurig und stand auf. Hajo befürchtete, daß er jetzt den Pullover ausziehen und es sich gemütlich machen würde. Aber Golze fummelte nur eine Brieftasche hervor. «Hier, Bruno, als er noch jung und taufrisch war. Schwer zu erkennen, so ohne Pappnase. Das daneben könnt ihr vergessen, das ist seine Frau.» Gierig wartete Golze auf Beifall für seinen Scherz. Adler und Hajo blickten sich an. Dann eben nicht, ihr Ignoranten. «Heute mittag war ich bei Brunos Witwe, ich kann euch sagen. Die hat nicht nur geweint, die hat gegurgelt. Das waren Liter, ach, was sage ich, Zentiliter, oder wie heißt das, wenn es hundert Liter sind?»

«Bei einer Million heißt es Milliliter», sagte Hajo.

«Kenn ich doch», erwiderte Golze eingeschnappt. «Das ist wie bei den Zentimetern.» Hajo fühlte sich jung und unternehmungslustig. Wenn nur Doris nicht wäre. Ohne Doris wäre auch Christian nicht. Und der Möbelkredit auch nicht.

«Ich klingel, räusper mich, krieg den starren Blick, daß sie gleich merkt, was die Glocke geschlagen hat. Und dann: Tut mir leid, liebe Frau, aber so ist das Leben, je nachdem. Manche sind kalt wie Hundeschnauze, bei denen geht’s wohl später los. Aber dem Gantenheim seine, die konnte auf Kommando. Ich habe bis hundert gezählt, angeboten kriegt man ja meistens nichts, wenn sie gerade Witwe geworden sind. Kann ich verstehen, die haben wirklich andere Sorgen. Ich habe gleich gemerkt: Hier mußt du noch mal wiederkommen, heute bringt das nichts. Diener, Beileid zweite Folge und Abgang. Die Gantenheim ist beim Schneuzen, nebenan schlägt einer seinen Hund, und im Radio läuft diese Brüder-wir-denken-an-Euch-in-der-Ostzone-Sendung. Die Mädels aus Zwickau und der Vopo aus Magdeburg, der Freddy hören will, das hältst du nicht aus. Ich muß los, tut mir leid. War nett. Danke für den Kaffee. Und wenn ich wieder in der Nähe bin, schau ich vielleicht mal rein. Natürlich nur, wenn ihr nichts dagegen habt.» Hajo war kurz davor, Golze die Adresse von Irene zu geben. Denen in der Wohngemeinschaft, denen würde ich den Kerl gönnen.

Adler und Hajo standen in der Tür und sahen dem Polizisten nach. Das rechte Hinterrad hatte wenig Luft. «Ob die alle so sind?» fragte Hajo.

«Ich hau mich jetzt aufs Ohr», sagte Adler gähnend.

«Heute wieder nicht nach Hause?»

«Heute wieder nicht, nein.»

Adler holte sich Bettzeug aus einem Korb, drohte seinen Zähnen mit der Zahnbürste und räumte vor allem Golzes Tasse weg.

 

«Geschäftlich hier?» Irene blickte die Schwarzen an. Na los, Jungs. Für meine Freundlichkeit könnt ihr ruhig die Zähne auseinandermachen.

«Kann man sagen, daß uns Geschäfte hierherführen?» fragte Henry und beugte sich nach hinten. Gabriel nickte:

«Das entspricht den Tatsachen.»

«Obwohl...» Henry wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

«Na, laßt mal, wenn es euch Probleme macht», sagte Irene. «Wohin soll es denn gehen?» Gabriel nannte die Adresse eines Studentenheims im Stadtteil Ohlsdorf. «Kein Hotel?»

«Kein Hotel.»

Henry wiegte wieder den Kopf hin und her.

«Mami, der Mann wackelt so», sagte Till und sackte im Sitz zusammen, als Henry sich umdrehte. Henry drehte sich wieder nach vorn und lächelte Irene an.

«Ein schönes Land mit klugen Menschen. Wenn man das Richtige lernt, kann man viel lernen.»4

«Ihr wollt nicht darüber reden, weshalb ihr hier seid, oder?»

Die beiden Schwarzen strahlten.

«Mami, ich will nach Hause», flüsterte Till.

«Auf ein Wort noch», sagte Gabriel. «Kennen Sie die Adresse von Bohnemann, Kaffeefirma Bohnemann?» Irene schüttelte den Kopf. «Oder Reiher?»

«Das soll was sein?»

«Eine chemische Fabrik.»

«Seid ihr Vertreter oder so was?» Sie blickten sich an.

«Mami, ich will endlich nach Hause.»

«Was dagegen, wenn ich euch an der U-Bahn rauslasse? Ihr kommt klar damit? Nahverkehr, Automaten, alles easy?»

«Die können doch Schwarzfahren», sagte Till leise. Irene wurde knallrot.

 

Als Irene, mit dem müden Till auf dem Arm, den langen Flur entlangging, sprang ihr Maria aus der Küche entgegen. «Hallöchen, ihr zwei beiden. Kommt ihr noch auf ein Glas? Andreas und Ludmilla und Silke sind da, und wir verstehen uns gerade sooo gut.»

«Maria, wir hatten abgemacht, daß du Till um acht übernimmst. Wo warst du um acht?»

«Um acht? Ich? Oh.» Maria schlug sich mit der Geziertheit, die Irene haßte, auf den Mund. «Liebling», sagte sie und versuchte, Irene zu umarmen. «Ich vergehe vor Scham. Das ist mir ja noch nie passiert.»

«Dienstag das letzte Mal», sagte Till und brachte sich wieder in Irenes Halsbeuge in Position. Maria eilte in die Küche zurück, Irene machte ihren Sohn nachtfertig. «Irene, warum sind Neger schwarz und ich bin weiß?» Auf diese Frage hatte Irene mit vollkommenem Fatalismus gewartet. Sie verzog das Gesicht. «Mami, du hast gesagt, ich muß fragen, wenn ich was wissen will.»

«Du sollst mich nicht ‹Mami› nennen.»

«Auch nicht, wenn keiner dabei ist?»

«Auch dann nicht.»

«Die anderen dürfen ihre Mami aber Mami nennen», maulte Till. Irene brach einen Streit vom Zaun und erreichte ihr Ziel: Er vergaß die Neger.

Ludmilla lotste Irene dann doch noch in die Küche, wo sie vom Larzac-Wein probieren mußte, den Pierre gestern im Buchladen angeliefert hatte. Irene bekam von dem Wein regelmäßig Kopfschmerzen.

«Gebt mir ein Glas Essig, das kommt aufs gleiche raus.»

Keiner nahm das Angebot zum Streit an, Irene mußte eine neue Gelegenheit abwarten. Sie drückte der vom Klo zurückkommenden Ludmilla eine Flasche Sagrotan in die Hand: «Weil Hannes heute Putzdienst hatte.» Hannes entwickelte beim Rechtfertigen einen Einsatz, der ihm — nur zur Hälfte beim Putzen realisiert — nie den Ruf eines WG-Schweins eingetragen hätte. Der Streit eskalierte, Irene ging ins Bett.

 

Adler wurde immer saurer. «Gleich morgen fange ich an und lerne fliegen. Ich versprech’s Ihnen.»

«Nun werden Sie doch nicht gleich pampig», empörte sich die Frau in Turbo-Hosen und Turbo-Jacke. Genervt stieg Adler aus dem Wagen, wo er die Kupplung geprüft hatte.

«Warum fahren Sie eigentlich keinen Turbo?»

«Wie meinen Sie?» vibrierte die Frau. Adler winkte ab und blaffte ein hilfloses Männlein an, das seinen Tankverschluß nicht aufbekam. «Sie sind personell ein bißchen schwach auf der Brust», stellte die Frau fest.

«Ach nee, sagen Sie bloß», höhnte Adler und eilte zum Tankverschluß. An der Kasse warteten zwei Kunden. Frost herrschte immer noch, aber die März-Sonne brachte schon eine Ahnung von kommenden Zeiten. Als Hajo mittags aufs Gelände fuhr, übergab ihm Adler sofort den Betrieb.

«He, halt mal», rief Hajo, «wo willst du hin?»

«Henry den Arsch aufreißen. So geht das ja nun doch nicht. Vielleicht kam das bei seinen Schiffen auf ein, zwei Tage Verspätung nicht an. Bei mir kommt es darauf an.»

Seit elf Uhr hatte Adler alle 15 Minuten die Nummer von Henry Pietsch gewählt. Der ehemalige Seemann war für Sonntag fest eingeplant gewesen.

Die Frau, die öffnete, kam Adler bekannt vor. «Kühn, guten Tag. Henry nicht da?»

«Ich bin Frau Cathomen.» Henrys Geliebte, die wilde Beamtenwitwe. Sieh mal an.

«Es ist so, daß wir Henry dringend bräuchten. Sie wissen wohl nicht zufällig, wo er steckt?»

«Er ist bei den Adlern.» Der Witz war nicht von der Klasse, daß Adler seine Gesichtsmuskulatur behelligen wollte.

«Ich müßte ihn wirklich dringend sprechen.»

«Wenn ich’s Ihnen doch sage. Henry ist bei den Adlern.»

Adler überlegte, ob er die Frau ein bißchen würgen sollte.

«Und Henry sagt, er bleibt bis zum Sommer», fügte die Frau traurig hinzu.

«Sagen Sie mal, haben Sie getrunken? Kleinen Eierlikör? Und ehe man sich versieht, ist die Flasche leer, oder was?»

Die Frau kicherte: «Ich trinke nur Portwein. Aber Henry ist wirklich...»

 

Hajo fragte, indem er das Kinn hochzog. «Da war nur dieser flotte A 12-Feger, hat Henry mal von erzählt. Henry ist versackt. Treibt sich ‹bei den Adlern› rum, sagt die Witwe.»

«Kannst du nicht Irene anrufen? Vielleicht springt die ein.»

«Die springt im Quadrat. Außerdem rufe ich Irene nicht an.»

«Das schon wieder», murmelte Hajo. Er wußte nichts Genaues, aber soviel hatte er sich zusammengereimt: Ein nicht geführtes oder zu spät geführtes Telefongespräch war angeblich daran schuld, daß die Beziehung zwischen Irene und Adler nicht länger als zwei Wochen gedauert hatte.

«So geht das nicht weiter, Adler. Wir brauchen Hilfe. Das schaffen wir so nicht. Das frißt uns auf. Fertig macht uns das.»

«Ja, ja», wiegelte Adler ab. Wird ja nicht schöner die Wahrheit, wenn man sie auch noch laut ausposaunt, «Und hier?» er rieb Daumen und Zeigefinger. «Für Luft und Liebe? Für einen warmen Händedruck?»

«Guck mich nicht so an. Ich brauche meine lumpigen eins acht brutto. Kannst Doris fragen, ob das reicht.»

«Bevor ich Doris frage, müssen internationale Kriegshandlungen vor der Tür stehen», erwiderte Adler.

«Du könntest ruhig ein bißchen netter sein. Immerhin ist sie meine Frau.»

«Wer ringt denn immer Hände und Füße, wenn er von seinem Geldausgebeapparat zu Hause erzählt?»

«Ja, ja», knurrte Hajo.

«Wie geht’s denn überhaupt so?» fragte Adler versöhnlich.

«Gestern nacht Aussprache. In der rechten Hand den Blumentopf als Wurfgeschoß, in der linken den Taschenrechner. Alle zwei Minuten quakt Christian dazwischen, weil er Husten hat.»

«Dann seid ihr wieder nicht sehr weit gekommen, wie?»

«In der Tat.»

«Versöhnlicher Abschluß wenigstens?»

«Na ja.»

«Na immerhin. Besser als in die hohle Hand geschissen.»

Manchmal fand Hajo seinen Freund einfach ordinär. Er nahm sich vor, ihm das eines Tages mal zu sagen.

Adler dachte an Hajos Ehe. Die würde nicht mehr durch den TÜV kommen. Hajos Oberkörper verschwand im Motorraum eines verbeulten Audi. Der Besitzer des silbernen Wagens verfolgte Hajos Tun mit unsicheren Augen. Abwesend strich er über die auffällig große Zahl von Beulen. Als Hajo ein knurrendes Geräusch ausstieß, sprang er hinzu:

«Ist es was Ernstes?» Hajo wischte sich die Hände am schmutzigen Putzlappen sauber und sah, wie sich Adler der Garage näherte, in die sie gestern die Möbel gestellt hatten.

Adler öffnete das Tor, gleißende Sonne riß die Möbelstücke aus dem Dämmerlicht der fensterlosen Garage. Er drehte das Deckenlicht an, schloß die Tür und schnitt mit dem Sonnenlicht auch die Hektik des Tankstellenbetriebs ab. Er zwängte sich zwischen Rollschrank und Schreibtisch, schob beides ein wenig auseinander und hob den Aktenordner auf, der ihm vor die Füße gefallen war. Auf dem Rücken stand ‹Reiher AG›. Vielleicht doch nur ein Buchhalter. Adler legte den Ordner auf den Tisch, schlug ihn auf, blätterte. Zeitungsausschnitte, Flugblätter, eine Broschüre ‹Geschäftsbericht 1979›, Statistiken. Wacker, wacker. Ein Jäger und Sammler. Dieser Sammeltrieb hätte deiner universitären Karriere gutgetan. Mit rapide nachlassendem Interesse ließ Adler die Seiten der Broschüre an den Fingerspitzen vorbeigleiten. «Trotz zeitweise erheblicher Turbulenzen auf dem sensiblen Gebiet der internationalen Weltmarktpreise (siehe dazu auch: dirigistische Preistendenzen in einigen Staaten — drohende Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte) hat sich unser Haus im abgelaufenen Geschäftsjahr eine prächtige exotische Feder an den Hut stecken können. Bereits im sechsten Jahr nach Aufnahme der Produktion von Insektiziden und Pestiziden kann ‹Reiher Inc. Kenya› einen Reingewinn von sieben Millionen US-Dollar voll an die Muttergesellschaft transferieren.»

Adler lächelte. Sieben Millionen. Da muß ein armer Tankwart ganz schön lange für zapfen. Sagen wir mal, Dollar zwischen zwei und schlappen drei Mark, dann machen sieben Millionen Dollar... Valentin Kühn, du bist in der falschen Branche. In diesem Moment fiel ihm eine Notiz ein, die er vor wenigen Tagen im Wirtschaftsteil gelesen hatte. Ein Mineralölkonzern hatte im letzten Geschäftsjahr einen Reingewinn von vierzehn Milliarden Mark erzielt. Also nicht die falsche Branche. Nur am falschen Ende der Pipeline.

Das Garagentor flog zur Seite auf, Sonne flutete herein. Adler drehte sich um, kniff die Augen zusammen. «Sitzt du auf deinen Ohren?» rief Hajo erregt. «Ich habe zwei Arme zur Verfügung und keinen einzigen mehr. Würdest du deinen Dämmerschoppen vielleicht auf den Feierabend verlegen? Außerdem sind da ein paar Figuren, die wollen den Herrn Konzern-Chef persönlich sprechen.»

«Hey, Adler, alter Vogel.» Adler zog den Kopf zwischen die Schultern. Ilse hakte sich bei Klaus, dem Doppel-Doktor («Die Bestätigung tut mir einfach gut, weißt du.») ein. Chantal, die umsatzstärkste Wolladenbesitzerin der Stadt, hing an Martin, dem ‹fairen Versicherungs-Agenten aus der Szene für die Szene›. Sie umzingelten Adler und veranstalteten ihr übliches großes Hallo.

«Wie geht’s? Wie steht’s?»

«Immer noch nicht in den schwarzen Zahlen?» Sieben Millionen Dollar für Nichtstun, man glaubt es nicht.

«Kopf hoch, Junge, die Zeiten können nur besser werden.»

«Adler, Herz, du siehst abgespannt aus. Guck mich an. Klausi und ich waren in Chamonix.»

Vor zwei Jahren hatten Klaus und Martin zu der Gruppe gehört, die die Tankstelle dem kranken und resignierenden Pächter abgekauft hatte. Sechs Männer und eine Frau wollten einen alternativen Betrieb aufziehen. Sie planten eine Tankstelle, eine kommerzielle Werkstatt, eine Werkstatt zur Selbsthilfe und einen Fahrradhandel. Nach vier Monaten war Adler allein. Die Abgangsgründe in der zeitlichen Reihenfolge:

«Ich weiß nicht, aber irgendwie sind die vibrations raus».

«Der Prof hat einen Infarkt gekriegt. Jetzt rücken alle eins rauf in der Hierarchie, jetzt kann ich mich verankern.»

«Ina hat auch gesagt, daß ich den Posten annehmen muß. Und sooo tödlich ist Stuttgart nun auch wieder nicht.»

«Das dauert mir alles zu lange

«Ich will euch sagen, worauf ich Bock habe: auf Kohle, Kohle, Kohle. Man erbt nur einmal.»

«Der Wald stirbt, und wir futtern die Killerautos mit Benzin?»

«Weißt du, Adler», sagte Klaus und hakte sich ein. «Ich sage dir jetzt was, was ich dir eigentlich gar nicht sagen sollte. Nachher wirst du uns noch größenwahnsinnig.» Klaus drückte an Adlers Oberarmmuskulatur herum. «Du bist für uns alle so was wie eine letzte Hoffnung. Nein, ehrlich», fügte er schnell hinzu, als er Adlers Blick bemerkte. «Wenn wir beim Italiener zusammensitzen, da kommt das Gespräch schon noch manchmal auf dich. Ist doch klar. Das waren Zeiten, was, Adler? «Adler hält die Fahne hoch, nich, Ilse-Maus?» Aber Ilse-Maus mußte sich gerade am Luftdruck-Meßgerät die Hände einsauen und hatte keine Zeit, zuzuhören. «Vielleicht haben wir uns ja alle geirrt damals, als wir dich so schofel im Stich gelassen haben. Vielleicht sitzt du als einziger von uns auf dem richtigen Dampfer. Und wir sind in der Zwischenzeit allesamt Charakterleichen geworden, weiß man’s denn?» Klaus zwinkerte mit den Augen und ließ keinen Zweifel daran, daß er diese Möglichkeit noch keine Sekunde seines Lebens ernsthaft in Betracht gezogen hatte.

Sieben Millionen Dollar. Nur die Zinsen von einer Woche, das würde uns auf Jahre sanieren. Adlers Kopf dröhnte.

Martin drängte sich vor und forderte Adler auf, doch mal vorbeizukommen, falls ihm Haftpflicht- und Gebäude-Versicherung auf die Dauer zu teuer werden würden. Adler bekam eine Visitenkarte in die Hand gedrückt. Martin ging tanken. Während der Sprit einlief, leerte er den Aschenbecher aus und sagte zu Hajo: «Fenster und Öl nachgucken, Meister, bist du mal so nett?» Adler vereiste, Hajo blickte ihn an. Adler wich dem Blick aus, und Hajo begann, die Windschutzscheibe zu reinigen. Dann entdeckte Martin eine beängstigende Schramme am Wagen, Klaus mußte sie begutachten.

Immerhin brachte Martin es danach fertig, das Bezahlen sachlich über die Bühne zu bringen: «Das wär’s für heute, Alter. Halt die Ohren steif.» Adler spürte den Herzschlag im Magen. «Wir sehen uns wahrscheinlich in Zukunft häufiger. Wir haben in der Heide ein entzückendes Anwesen ins Auge gefaßt. Wir werden wahrscheinlich zuschlagen, man muß an sein Alter denken. Und wo sollen unsere Kinder denn später mal spielen? Venceremos, Adler.»

«Auf Wiedersehen.» Adler wartete ab, bis die letzte Wagentür zuschlug, dann knackte er einen der Flachmänner, die neben der Kasse standen, und kippte ihn rein.

«Na, na, junger Mann», sagte die sympathische Kundin, die aussah, wie Adlers Musiklehrerin ausgesehen hatte. «Das ist gefährlich, wenn man als Geschäftsmann sein bester Kunde wird.» Adler warf die halb ausgetrunkene Flasche in den Papierkorb. Ein strenger Geruch von Kräutern erfüllte den Raum. Sieben Millionen. Vielleicht war unser Mister X da ja hinterher. Würde sich wenigstens lohnen.

Henry und Gabriel hatten schon eine neue Freundin. Die angehende Theologin Maggie machte es sich zur Aufgabe, ihre Ankunft im Gästezimmer des Studentenheims zu verbreiten. Gegen 14 Uhr erschien ein Mitglied der studentischen Heimleitungsvertretung, begrüßte sie im Namen des Hauses und horchte sie ein bißchen aus. Dabei schlief Gabriel wieder ein. Henry warf sich in Positur:

«Wir haben eine Mission zu erfüllen für die Freundschaft unserer Völker.» Dem Studentenvertreter kam diese Formulierung gestelzt und politikerhaft vor, aber seitdem er mittelhochdeutsche Lyrik belegt hatte, war sein Verständnis für sprachliche Sperenzien gewachsen.

«Und der da?» fragte der Student und wies auf Gabriel. «Der gehört auch dazu?»

«Ich habe mit ihm zwei Jahre in einerlei Nachtgeschirr gepisset und kann also schon wissen, was an ihm ist.»

«Oh, das muß nicht sein», sagte der Student schnell. «Hier haben alle Zimmer Toilette, wenigstens auf dem Flur.» Gabriel erwachte, gemeinsam komplimentierten sie den Studenten hinaus.

 

Adler, der am Tisch saß und den Kopf in die Hände gestützt hatte, schnüffelte und sagte:

«Aah! Das ist doch was anderes als dieses Frikadellen-Unwesen.» Irene und Hajo beluden den Tisch mit halben Hähnchen, Dosenbier und einer Familienpackung Eis. Während sie aßen, beschwerte sich Irene über ihre Mitbewohner.

«Du mußt eben ausziehen», riet ihr Hajo, «du wirst langsam sowieso zu alt für so was.» Adlers Blicke flitzten über dem Hühnerbein zwischen den beiden hin und her. «Und für den Jungen ist das auch nicht gut», fügte Hajo hinzu.

«Es kann nicht jeder in solch vollkommener Harmonie leben wie du», entgegnete Irene und öffnete eine Dose. Alle schwiegen. Dann wollte Hajo wissen, wie der Dienstplan aussah, solange Henry verschwunden blieb.

«Wir müssen den Laden früher dicht machen. Ist doch eine Milchmädchenrechnung. Bei zwei Leuten.»

«Wo steckt denn Henry?» wollte Irene wissen. Adler verwies sie an Hajo. Er ging in die Garage, klemmte sich einige Aktenordner unter den Arm und breitete sich im Aufenthaltsraum aus. Hajo verabschiedete sich und fuhr nach Hause.

«Ist ja ein Ding», murmelte Adler beeindruckt. Er blätterte im Ordner ‹Reiher AG›.

«Das muß ein Journalist oder so was gewesen sein», sagte er.

«Du wirst doch wohl wissen, wem du die Wohnung leergeräumt hast.» Er erklärte es ihr. «Für 150 Mark drückst du aber ganz schön die Augen zu», sagte Irene mißbilligend. «Du weißt von dem Mann also nur, daß er der Bruder von der Tussi ist. Aber Beruf, Alter, Hintergründe, nix.»

«150 Mark sind für mich ein starkes Argument. Da kann ich ausnahmsweise sogar mal meine Neugier zügeln. Und morgen verscherbele ich die Reste. Da kommt noch was dazu.»

«Für die Ordner kriegst du doch nichts.»

«Die bleiben auch hier. Genauso wie die Einrichtung von dem Büro.»

«Zeig doch mal.»

«Ist aber kalt.»

«Macht nichts.»

Irene blieb in der Garage am Rand des Möbelhaufens stehen, Adler zeigte ihr die Telefonbücher aus den USA und Südamerika, die altmodischen Schreibtisch-Utensilien, den Inhalt des schmalen Kleiderschranks. «Mensch», sagte Adler enthusiastisch. «Stell dir doch mal vor, wie einer sein muß, bevor er sich so ein Büro einrichtet.»

«Warum nicht? Ich kann mir auch vorstellen, daß einer ganz allein gegen den Rest der Welt eine Tankstelle über Wasser halten will.» Kurzer Augen-Kampf.

«Und hier», sagte Adler eifrig, während er die Türscheibe aus dem Handtuch wickelte. Auf dem Milchglas standen halb-ellipsenförmig die Worte ‹Private Investigations›.

«Na, dann weißt du doch, was der war», sagte Irene und klopfte auf ihren Taschen herum. Adler stellte sich vor sie. Da er beide Hände brauchte, um die Scheibe festzuhalten, griff sie ihm in die Tasche. Die Zigaretten fand sie beim zweiten Versuch. «Auch eine?»

«Mmh.» Sie zündete ein Stäbchen an und steckte es ihm zwischen die Lippen. Einige Sekunden brannte in der Garage neben Lampe und Zigaretten ein weiteres Feuer. «So einen Detektiv habe ich noch nie gesehen», sagte Adler.

«Hast du denn schon mal einen Detektiv gesehen?»

«Nee. Du?»

«Einen. Damals, als die neue Herzallerliebste von Tills Vater unbedingt ticken wollte, ob er noch was mit der Mutter von Till hat.»

«Wenn das ein Detektiv war, dann hat er das getan, was Detektive eben tun. Er hat ermittelt, rumgeschnüffelt, in dieser Preislage.» Adler lehnte die Scheibe gegen den Schreibtisch.

«Wenn das so ist, dann hat er natürlich Aktenordner angelegt, um Material über seine Fälle zu sammeln. Ordentliche Buchführung ist die Seele vom Geschäft.»

«Woher weißt du das denn?»

«Hat mir mein Steuerberater gesagt, bevor er mich gebeten hat, mir einen anderen Steuerberater zu suchen. Er würde nämlich nur einmal leben und wollte die Zeit gern mit was anderem verbringen, als meinen Schuhkarton mit den Belegen zu sortieren.»

Adler trat die Zigarette aus. Irene warf ihre dazu. Er blickte Irene an, trat auch diese Zigarette aus.

«Ich muß jetzt nach Hause. Sonst füllen sie Tillmann in der Küche noch mit Rotwein ab.» Adler blätterte im Telefonbuch von Asuncion. An der Garagentür blieb Irene stehen. «Valentin?» Er blickte hoch. Irene kam sein Gesicht blasser vor als sonst. Er war unrasiert, die Pullover-Naht war unter einem Arm aufgerissen. «Du fährst heute aber nach Hause und kampierst nicht wieder hier. Versprichst du mir das?»

«Ich könnte es dir versprechen. Aber ich an deiner Stelle würde mir nicht trauen.»

Adler zog in den Aufenthaltsraum um und verbrachte eine lange Nacht über den Aktenordnern des unbekannten Bewohners. Er war müde und körperlich zerschlagen, doch er kam von den Ordnern nicht los. Der Gedanke, daß der geheimnisvolle Unbekannte sich etwas gedacht hatte, was Adler nicht kapierte, machte ihn aggressiv. Es war wie ein Wettbewerb, Adler wollte nicht der Dumme sein. Bei den Geschehnissen, die in den Ordnern abgeheftet waren, handelte es sich offensichtlich um Vorfälle, die in den letzten Jahren in der Stadt oder im Umland passiert waren: Diebstahl eines Containers mit Zigaretten; Scheckbetrug; Einbrüche in ein Hotel Deichgraf, ein mittelgroßer Rauschgiftring; wie eine Versicherung Beamte geschmiert hatte, um an die Baugenehmigung für ihre neue Verwaltungszentrale zu gelangen. Auf den letzten Seiten der Ordner klebten Berichte von einheimischen Tageszeitungen, in denen über die Vorfälle berichtet wurde.

Der Ordner mit der Aufschrift ‹Reiher AG› enthielt keine aufklärenden letzten Seiten. Also ist er an dem Fall noch dran. Nein: drangewesen. Jetzt ist er ja weg. Ob er nach Südamerika rüber ist, um weiter zu schnüffeln? Adler nahm sich vor, den Ordner morgen Hajo zu zeigen. Der bildet sich doch Wunder was ein auf seine technische Intelligenz. Soll er mal zeigen, was er draufhat. Das Telefon klingelte.

«Freie Tankstelle. Kühn.»

«Valentin?»

«Kühn.»

«Bist du’s, Valentin? Melde dich doch.»

«Kühn.»

«Valentin, du Lump. Ich weiß, daß du dran bist. Sofort meldest du dich.»

«Jetzt hör mir mal zu, Henry. Falls dein Gedächtnis noch so weit zurückreicht: Das hier ist eine Tankstelle, da hast du ab und zu einen Termin, um deine sowieso nicht gerade klägliche Rente aufzubessern. Heute zum Beispiel, Henry, heute war so ein Termin. Wo, bitte, warst du?»

«Valentin, hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Und Groschen auch nicht. Obwohl, ich sehe gerade, hier muß man gar keine Groschen... doch... siehst du, jetzt muß ich...»

Henry Pietsch steckte Groschen nach.

«Also Valentin, die Sache ist die. Ich helfe denen vom World Wildlife Fondue... so nennen wir den Verein hier immer, witzig, was? Wir liegen unter den Nestern auf der Lauer. Horste heißt das. Die letzten Seeadler.»

«Henry, wo bist du?»

«Habe ich doch eben gesagt.»

«Ich meine: wo genau?»

«Haha, das könnte dir so passen. Das soll ja gerade keiner wissen. Hier geht nämlich der Eierklau um.»

«Der was?»

«Eierklau. Wie die Bergsteiger, mit Rucksack, Steigeisen und Seil zum Abseilen. Hast du gewußt, Valentin, daß es nur noch eine Handvoll Seeadler gibt, die bei uns brüten?»

«Ich glaube, ich habe davon gelesen.»

«Reicht nicht, Valentin. Alles nur graue Theorie. Ich liege hier jetzt jedenfalls im Dreck unterm Baum und passe auf wie eine Nachteule. Im Juni bin ich wieder zurück. Oder Juli.»

«Sag das doch bitte noch mal.»

«Oder Juli. Je nachdem, wann die Küken geworfen werden. Danach richtet sich ja, wann sie erwachsen sind, also flügge. Was bei uns Menschen der 18. Geburtstag ist, du verstehst?»

«Jedes Wort.»

«Sehr gut, denn ich sehe gerade, ich habe keine...»

Der Apparat rauschte und tickte. Adler wartete noch ein bißchen, aber es klingelte nicht mehr.

 

«Hier», sagte Maria und schob Till ins Zimmer. «Ich bringe dir deinen unappetitlichen Sohn. Ich kann nämlich nicht frühstücken, wenn er neben mir sitzt und über sein Lieblingsthema palavert.»

Till hatte Taschenrechner, Papier und Kugelschreiber dabei und war sauer. Bekümmert blickte Irene ihn an. «Geht es immer noch um die Meerschweine?» Die bloße Erwähnung des Namens reichte aus, um Till neue Energie zuzuführen.

«Ich habe jetzt alles rausgekriegt. Die stellen was an mit den Tieren. Das kann ich beweisen, ich kann es dir vorrechnen. Soll ich mal...?» Till breitete seine Unterlagen auf dem Tisch aus. Du bist seine Mutter. Du mußt ihm zuhören, auch wenn es eklig ist. Er hat ja sonst niemanden.

«Na, dann mal los», sagte sie und zwang sich ein zuversichtliches Gesicht ab. Till strahlte.

«Das ist so, Mami, ich meine Irene. Im Zoo bei Hagenbeck gibt es 24 Meerschweinchen, jedenfalls im Durchschnitt, denn ich war ja...»

«Hatten wir schon. Weiter.»

«Ich habe jedesmal ein Schwein gegriffen, was ich kriegen konnte und nachgeguckt. Da gibt es also Frauen und Männer. Markieren durfte ich ja nicht.»

«Allerdings nicht», sagte Irene empört. Sie hatte ihn gerade noch davon abhalten können, den Schweinen ein Ohr einzureißen, damit er sie später wiedererkannte.

«Wenn Meerschweinchen kleine Meerschweinchen machen, dauert es vier Wochen, bis die kleinen Schweine fertig sind. In dem Buch stand drin, daß die Mutter jedesmal sechs bis zehn Kinder kriegt. Ich habe mit sechs gerechnet, und das heißt: Selbst wenn nur jeder zweite Schweinemann und jede zweite Schweinefrau kleine Schweine machen, müßten alle paar Wochen aber viel, viel mehr Schweine im Käfig sein als sind. Bei Hagenbeck sind aber immer nur ungefähr zwanzig Meerschweine im Käfig.» Till blickte seine Mutter an. «Und nun frage ich mich natürlich, Mami Irene, was machen die mit den Schweinen, weil sie doch nicht mehr werden?» Irene bemühte sich, dem Blick des Forschers standzuhalten.

 

«Na, jetzt geht das aber richtig los hier», sagte Gabriel beeindruckt, als sie eine weitere Runde um das Firmengelände begannen. Er bückte sich und hielt Henry eine grüne Kaffeebohne entgegen. Würzig und scharf hing der Geruch der Rösterei in allen Nebenstraßen.

«Eine Viertelstunde mag das ja ganz exotisch für die Eingeborenen hier riechen. Aber dann?»

«Soll ich dir aus dem Dossier vorlesen?» Henry winkte ab:

«Die Bundesrepublik Deutschland ist Weltmeister im Kaffeetrinken. Jedes Jahr 170 Liter pro Einwohner, Säuglinge und Greise mitgerechnet. Das ist ja entsetzlich. Die paar Hundert, die an der Nadel hängen, die jagen sie. Aber ein komplettes Volk hängt an der Tasse.» Sie beobachteten die Firmenangehörigen.

«Für mich sehen die alle gesund aus. Abgesehen davon, daß einige zu dick sind. Hier sind wir falsch.»

«Dann los», sagte Henry, «Adresse zwei.»

Eine Dreiviertelstunde später blickten sie über die Straße auf das Messingschild der ‹Reiher AG Hauptverwaltung Nord›.

Es war mal wieder soweit: Adler machte Kassensturz. Hajo fürchtete sich vor diesen Tagen. Dann wurden Adlers eh schon ernste Gesichtszüge noch verkniffener. Er war kaum ansprechbar, rannte hektisch herum und sammelte seine Unterlagen zusammen, bevor er eine Kanne Kaffee kochte, im Büro verschwand und sich jede Störung verbat. Im letzten Herbst war das schriftliche Angebot eines Mineralöl-Konzerns mit einem guten Preis für Adlers Freie Tankstelle gekommen. Adler ließ die Abrechnungen wie ein aufgefächertes Kartenspiel durch die Finger laufen. Er trank den starken Kaffee mit viel Zucker. Wenn Adler nervös war, brauchte er schlagartig mehr Süßigkeiten als sonst. Er stand auf, wollte zum Fenster gehen und stieß versehentlich gegen einen Karton mit Schlußleuchten. Es schepperte, einige Leuchten verrutschten. Das Mißgeschick deprimierte Adler noch mehr. Wütend blickte er sich im Raum um.

Klopfen. «Was ist denn?» Hajo drückte sich herein.

«Reinhold ist gekommen. Ist es dir recht, daß er solange die Kasse macht?»

«Wie lange?»

«So lange, wie ich brauche, um von dir zu hören, daß du den Laden nicht über Bord wirfst.»

«Hast Schiß, was?» Adler bot Kaffee an, Hajo lehnte ab. Unter Irenes Einfluß war er zu Tee konvertiert.

«Bei mir sind zur Zeit so viele Sachen wackelig im Leben. Wenn das hier auch noch wegbricht, ist alles Asche.»

«Na, na.»

«Ich kann den ganzen Stress zu Hause nicht auch noch als Arbeitsloser durchstehen. Dann gehe ich ein.»

«Du bist doch jung, sonnige 23. Ich könnte glatt dein acht Jahre älterer Bruder sein. So einer wie du findet jederzeit was Neues.» Adler grinste unverschämt, Hajo stachelte ihn zu weiterem Grinsen an, und als er nach zehn Minuten Reinhold beim Wechseln aus der Patsche helfen mußte, hatte er das Wichtigste erreicht: Adler war aufgemuntert. Oft klappt das nicht mehr. Irgendwann merkt er das.

 

«Schwarz?» fragte die gemütliche Frau mit dem schiefen Käppchen im Haar. Das Käppchen hatte die gleiche Farbe wie ihr Kittel, der wiederum die gleiche Farbe wie die gesamte Dekoration des Ladens besaß.

«Pechschwarz», sagte Henry. «Alle unsere besten Gedanken haben wir in einer Art von Fieberrausch, im Fieber von Kaffee erregt.»

«Dann würde ich ihn an Ihrer Stelle aber nicht schwarz trinken», riet die Frau freundlich.

 

 

Nach einer Untersuchung der Zeitschrift «Natur» ist der in der Bundesrepublik verkaufte Kaffee frei von chemischen Rückständen. Also kein Grund zur Aufregung.

 

Sie standen an einem hohen runden Tisch und blickten sich, während sie im Kaffee rührten, um. «Hättest du das gedacht?» sagte Gabriel bedrückt. Es war der vierte Kaffee-Laden, den sie heute von innen kennenlernten.

«Hätte ich nicht. Das hat ja Ausmaße, das ist eine eigene Kaffee-Welt. Das ganze Leben wird von dem schwarzen Sud beherrscht.»

Der Mann, der mit ihnen am Tisch stand, rückte seine Tasse einige Zentimeter zur Seite.

«Schmeckt’s?» fragte Henry. Der Mann ignorierte ihn. Henry kostete mit gespitzten Lippen. «Mir schmeckt’s. Wie, sagten Sie, schmeckt es Ihnen?» Der Mann stürzte den Kaffee hinunter und verließ zügig den Laden. «Ihre Tasse», rief Henry. Dann brachte er die Tasse des Mannes zur Abgabe.

«Oh, danke, das wäre aber nicht nötig gewesen», sagte die Frau. Henry winkte gönnerhaft ab. An den Wänden hingen neben Plakaten, die auf Sonderangebote hinwiesen, bunte Bilder, die Szenen aus Afrika zeigten: lachende Plantagenarbeiter bei der Ernte. Sie warteten, bis sich zwei Frauen an ihren Tisch stellten. Es waren die einzigen freien Plätze. Sie ließen den Frauen drei Löffelumdrehungen Zeit, dann begann Henry:

«Entschuldigen Sie. Aber wenn ich Ihnen sagen würde, daß ein Onkel meines Freundes auf einer Kaffeeplantage ums Leben gekommen ist, würden Sie mir glauben?» Henry deutete auf eines der Bilder. Die Frauen vergewisserten sich mit flinken Blicken. Als sie keine Möglichkeit sahen, schweigend aus der Situation herauszukommen, sagte die eine:

«Ein Unglück?»

«Mord.»

Sie lachte unsicher. «Oh, Mord? Na ja, Morde kommen in den besten Familien vor. Mein Beileid.» Das ging ihrer Begleiterin zwar zu weit, doch sie schwieg.

«Die Mordwaffe kam durch die Luft geflogen», fuhr Henry fort. Gabriel beobachtete gespannt, es war ihr erster Versuch. Henry hatte die Neugier der Frau geweckt.

«Ein Messer?» fragte sie.

«Kein Messer, Gift.»

«Das geht doch nicht», begehrte sie auf. «Wenn Sie mich hier veralbern wollen...»

«Nein, nein», sagte Henry schnell, «Gift aus der Luft. Sie nennen es hier Pflanzenschutzmittel. Wir haben uns informiert.»

Die Frauen verstanden nicht. Gabriel blickte bekümmert drein. So wird das nichts. Die sind blind wie junge Katzen. Von nichts eine Ahnung und saufen den schwarzen Sud eimerweise. Die sind wie Kinder, diese Weißen. Unschuldig und grausam. Wir werden noch viel Arbeit mit ihnen haben. Wir müssen ganz von vorn anfangen.

«Wir schuld? Sie sind ein Spaßvogel», rief die andere Frau. «Was kann denn der Pilot dafür, wenn Ihr Herr Onkel nicht rechtzeitig in Deckung geht, wenn das Flugzeug kommt? Also wirklich, ich muß schon sagen.» Gabriel ging zu der Frau, die im vorderen Teil des Ladens Kaffee verkaufte.

«Guten Tag, eine Frage bitte. Waren Sie schon einmal in Afrika? Oder in Mittelamerika?» Die Frau stutzte.

«Ich? Nie. Viel zu teuer. Meine Cousine und ihr Mann, die waren letztes Jahr in einem von diesen Ferien-Clubs in Nigeria, glaube ich. Oder war es die Elfenbeinküste, jedenfalls am Wasser.»

«Ich komme aus Kenia.»

«So? Aha.»

«Wissen Sie, wo Kenia liegt?»

«Ja, Afrika, denke ich.»

«Ich meine, wo genau?»

«Wie wo genau?»

«Norden, Süden, Osten, Westen.»

Die Frau überlegte. «Also, Tunesien ist oben, das weiß ich genau, und Südafrika ist unten. Ist ja klar, sagt ja schon der Name. Madagaskar ist... warten Sie mal... das ist eine Insel, nicht wahr?» In diesem Stil ging es weiter. Gabriel und Henry schnappten sich die Kunden, stellten sie zur Rede. Kaum jemand wurde unfreundlich. Manche Weißen ließen ihrer Schwatzhaftigkeit freien Lauf. Henry und Gabriel hatten dann Mühe, bei der Sache zu bleiben. Sie lernten viele Gesichter und Geschichten kennen. Immer aber trafen sie auf gutes Gewissen.

«Ich verlange ja wohl nicht zuviel vom Leben, wenn ich mir am Morgen eine gute Tasse Kaffee leisten will. Da soll bloß keiner kommen und versuchen, mir dieses kleine Vergnügen madig zu machen. Da werde ich aber ganz falsch, werde ich dann.» Henry und Gabriel waren zu höflich. Niemand begriff, um was es ihnen ging. Am Abend dieses Tages waren sie kräftemäßig am Ende. An den folgenden Tagen erging es ihnen nicht anders.

 

Adler kassierte einen Taxifahrer ab. Der Mann hatte eine aufdringliche Art, sich umzusehen. «Bißchen dürftig hier, wie?»

«Och, kann ich nicht finden.»

«So ungefähr habe ich mir das eigentlich auch vorgestellt nach dem, was uns Kußmund erzählt hat.» Adler fragte mit den Augen. «Müßtest du kennen, eine Frau. Sieht ziemlich gut aus, wenn man auf den Typ steht. Muß aufpassen, daß sie später nicht mal dick wird. Also füllig, wenn du verstehst, was ich meine.» Mit zwei hohlen Händen verdeutlichte der Taxifahrer an seiner Brust, was er meinte.

«Irene, glaube ich. Und hinten Lachmund. Bei uns heißt sie Kußmund. Liegt uns seit Tagen in den Ohren, daß wir nicht immer nur unsere alten Adressen anfahren, sondern euch was Gutes tun. Ihr hättet es nötig, hat Kußmund gesagt. Habt ihr es nötig?»

«Danke für den Einkauf. Empfehlen Sie uns weiter.»

«Man wird sehen.»

 

Gabriel versuchte es auf die persönliche Tour. «Ich habe einen Onkel, er heißt Gikonyo. Gikonyo ist arm. Ich sage nichts über seine Frau und über ihre Kinder. Ich habe euch Deutsche im Verdacht, daß ihr dann ständig an niedliche braune Babys denkt und nur noch gefühlsduselig seid. Gikonyo wohnt direkt neben der Kaffee-Plantage. Das ist vernünftig, weil er auf der Plantage arbeitet. Seine Frau auch. Es ist seine zweite Frau, und deshalb ist sie nicht meine richtige Tante. Als der Besitzer der Plantage die Arbeiter eingeteilt hat, Pflanzenschutzmittel, Unkrautvernichtungsmittel, Insekten-Bekämpfungsmittel und Pilzvernichtungs-Mittel zu sprühen, haben sie das Gift direkt aus den Tonnen auf die Pflanzen versprüht. Sie haben das Gift eingeatmet, und einige sind krank geworden. Mein Onkel blieb gesund. Bis das Flugzeug kam. Der Besitzer fand heraus, daß es schneller geht, wenn das Gift aus einem Flugzeug über die Pflanzen gesprüht wird. Der Konzern, der ihm die Chemikalien verkauft hat, hat ihm das Flugzeug vermietet. Das Flugzeug ist gekommen, es ist sehr tief geflogen, und alles war klatschnaß. Gikonyo bekam Schmerzen in der Lunge und im Hals. Fieber, Husten, Gliederschmerzen, Erstickungsanfälle, ein Herzanfall, und mein Onkel war tot. Er hat geholfen, den Kaffee anzubauen, den Sie in Deutschland so gerne trinken.» An dieser Stelle hörte Gabriel auf. Er hätte lieber schon eher aufgehört, aber Henry hatte gemeint:

«Bis zu dieser Stelle mußt du es machen. Das ist am sichersten, dann klappt das.»

Der Bus kam. Sieben von neun Leuten, denen Gabriel an der Haltestelle die Geschichte erzählt hatte, stiegen ein. Zwei blieben.

«Das tut mir ja so leid für Sie», sagte eine junge, attraktive Frau und legte eine Hand auf Gabriels Arm. «Daß es so kommen mußte. Ihr armer Onkel. Sind denn wenigstens die Kinder versorgt? Oder müssen sie Hunger leiden?» Gabriel erklärte, daß Hunger nicht das Problem sei. Die Frau erklärte ihm, daß Hunger sehr wohl das Problem sei.

«Sie sind wohl schon längere Zeit nicht mehr in Ihrer Heimat gewesen?» sagte die Frau betrübt. «Sie haben den Überblick verloren. Sie müssen unsere Zeitungen lesen und unser Fernsehen ansehen. Da wird es Ihnen erklärt. Uns wird es da auch erklärt. Die Menschen in Afrika hungern, und wir spenden alle, soviel wir können, damit sie eine Schüssel Reis bekommen. Besonders die armen Kinder. Diese Augen, wenn diese Augen Sie einmal angesehen haben, überlegen Sie es sich aber gründlich, ob Sie in dieser Woche unbedingt noch einmal auswärts essen gehen müssen.»

Gabriel war zu aufgerissen, um die Frau in die gewünschte Bahn zu lenken. Sie driftete vollends in das Hungerthema ab, lullte sich mit weinerlichen Reden ein und fragte zum Schluß:

«Haben Sie denn gar keine Sammelbüchse dabei? Ich habe zwar schon gespendet, dreimal. Aber ich bin natürlich gerne bereit...» Sie kramte ihr Portemonnaie hervor und drückte Gabriel ein Fünfmarkstück in die Hand.

Die fünf Mark legten sie einem Stadtstreicher in den Hut.

«Denen dürfen Sie nichts geben», rief eine Passantin. «Die kaufen sich da nur Schnaps von.» Gabriel schlug den Mantelkragen hoch.

 

Da sich niemand um den Nächsten kümmerte, achtete auch keiner auf den fünfundvierzigjährigen schweren Mann, der langsam, und sich bisweilen umblickend, durch die Straßen ging. Einmal benutzte er einen Schaufenster-Spiegel, um zu sehen, wer hinter ihm war.

Rose begegnete niemandem, den er kannte, das war ihm recht. Auch im Haus kam er unerkannt bis vor seine Wohnungstür. Sie war nur zugeschlagen, nicht abgeschlossen. Rose kannte einen Trick, dann stand er in dem Raum, der sein Wohnzimmer gewesen war. Auf dem Fensterbrett die grüne Weinflasche mit der goldgefärbten Rose, daneben die Hälfte einer Tabakdose mit Zigarettenkippen. Sonst war der Raum leer. Das Arbeitszimmer war leer, die Küche war leer, Flur und Bad waren leer. Angst sprang Rose an. Die Schritte fielen ihm schwer, seine Augen brannten. Es war, als ob sie sich heiß rieben an dem, was sie sahen. Auf der Toilette steckte zwischen Wand und Abflußrohr noch die Plastik-Imitation der Rankenpflanze. Rose zog das dunkelgrüne Büschel hervor, ließ es fallen. Dann drehte er sich um.

Die Nachbarin lief ihm praktisch in die Arme. Sie starrten sich an. Die Frau wand sich in einer Mischung aus Peinlichkeit und Angst. Rose trat einen Schritt auf sie zu, wollte etwas sagen. Die Frau zuckte zusammen, ihre Augen wurden fahrig. Rose ließ sie stehen. Auf der Straße nahm er nichts mehr wahr.

Reinhold hatte einen Fünf-Liter-Karton Rotwein spendiert, den süffelten Irene, Adler, Hajo und der edle Spender aus. Niemand fragte nach Adlers Geldsorgen, deshalb war die Stimmung entspannt. Sie hechelten Freunde durch, lästerten über ein frischgesprengtes Paar, erzählten einen neuen Kohl-Witz, und Hajo gelang es zu lachen. Adlers altes Spulen-Tonband lief, unter Kratzen und Rauschen waren Pretty Things, Small Faces und Cream zu vernehmen. Hajo kam vom Telefon zurück.

«Na?»

«Nichts.»

Doris war überfällig. Sie hatte den Scirocco und wollte um halb neun vorbeigekommen sein, um Hajo abzuholen.

«Geil, die geheimen Unterlagen von unserem Detektiv», sagte Reinhold und stöberte die Aktenordner durch.

«Ich bin kein Stück mit der Dechiffrierung weitergekommen», sagte Adler.

«Zeig mal.» Irene nahm den Ordner. «Ist doch ganz einfach», sagte sie lässig, schlug ein paar Seiten um, las sich fest und war nicht mehr so sicher.

«Wißt ihr, was ich toll finde?» sagte Adler nachdenklich. «Wir suchen hier wie besengt...»

«...Du suchst.»

«Ich suche wie besengt nach dem Sinn in diesem Ordner. Und keiner verschwendet einen Gedanken daran, daß es vielleicht gar keinen Sinn geben könnte.»

«Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen», tönte Reinhold.

«Warum verstellst du dich dann immer so?» fragte Irene. Hajo ging telefonieren. «Laß dir doch eine Standleitung schalten», rief Irene ihm nach.

«Das geht auf den Pinsel, wenn man unbemannt ist, was?» versuchte Reinhold einen Konter zu landen.

Irene nahm Maß. «Manchmal schon. Aber wenn ich dich ansehe, fällt mir der Verzicht leichter.» Das nächste Glas Wein trank Reinhold zügig leer.

«Los, kommt», rief Adler plötzlich und sprang auf. «Wir machen jetzt Nägel mit Köpfen.»

«Darf Reinhold trotzdem bleiben?» Irene sah Reinholds waidwunden Blick, stand auf und zerstrubbelte ihm zärtlich sein bißchen Haupthaar. Adler eilte in die Garage, wühlte in den Umzugskartons. Die Kleider waren ziemlich klamm. Er raffte alles an sich, preßte Hosen, Hemden und Mäntel gegen die Brust und schleppte sie zu den anderen hinüber. Hajo war zerschmettert.

«Sie hat gesagt, ich könne sie mal gern haben.» Irene stand auf und umarmte ihn.

«Dann bleibst du noch ein bißchen?» rief Adler hocherfreut, verteilte den Klepper, den schweren Ledermantel und für sich selbst ein weites, eierschalenfarbenes Hemd sowie eine Hose mit rötlich-dunkelbraunen Streifen. Reinhold mußte nehmen, was übrigblieb. «So», sagte Adler eifrig und begann, die Möbel umzustellen. «Und jetzt das Büro. Der Tisch ist Schreibtisch, der Stuhl ist... warum ist kein Stuhl da?» Er holte den Stuhl aus dem Kassenraum, stellte ihn an den Tisch, trat nach hinten, drehte den Schirm der Lampe gegen die Decke, prüfte den Eindruck.

«So wird das nichts», mäkelte Adler. «Los, Hajo...» Und als er Hajo anblickte: «...Los, Reinhold, hilf mir mal.»

Minuten später schoben Adler und Reinhold je einen Heizradiator in Richtung Garagen. Irene trug eine altmodische Heizsonne, die noch einen silbernen Schirm besaß. Hajo trug den Wein-Karton und die Gläser. Im Gehen stieß Irene ihn an. Als er überrascht aufsah, blickte er in ihr lächelndes Gesicht. Hajo wurde warm ums Herz, Irenes Lächeln brach ab. «Muß reichen», brummte sie.

 

Die vier waren in der Garage, in der die Gegenstände aufbewahrt wurden, die in dem Büro des geheimnisvollen Rose gestanden hatten. Adler arrangierte alles so, wie sie es in der Wohnung vorgefunden hatten. Reinhold, der das Büro auch gesehen hatte, half, so gut er konnte. Irene süffelte Wein, ließ Adler nicht aus den Augen. Du kannst ja, wenn du willst. Warum willst du bloß nicht häufiger? Und warum willst du zur Abwechslung nicht mal was Vernünftiges und nicht immer nur solchen Pritzelkram? Bei den Hunderten von Blicken, die hin- und herflogen, konnte es nicht ausbleiben, daß sich Irenes und Adlers Augen trafen. Hätte Reinhold dazwischen gestanden, hätten sie ihm eines seiner rosigen Ohren angesengt.

Hajo kam mit Stablampen.

«Vier Stück», freute sich Adler. «Das ist mehr, als ich dachte.»

«Komm, Hajo», sagte er, schlug dem Freund auf die Schulter und nahm sein Gesicht in beide Hände. «Vergiß Doris. Vergiß sie eine Stunde lang. Danach kannst du meine letzte Rolle Klopapier vollflennen, einverstanden?» Hajo gab sich Mühe. Er ging auch freiwillig Verlängerungskabel holen. Sie brachten die Lampen an den vier äußersten Punkten der Zimmer-Einrichtung an.

«Das ist wie im Film», sagte Reinhold beeindruckt.

«Das ist schöner als Film, weil du das alles anfassen kannst», rief Adler und legte die Telefonbücher von der rechten Schreibtischseite auf die linke. Dann griff er in einen Karton und förderte einen schlappen Hut zutage.

«Lulle», rief er Hajo zu und bekam eine Zigarette.

«Also, ich bin der Privatdetektiv, und du bist die blonde Schöne», sagte Adler zu Irene. Alle blickten auf ihre dunklen Haare. «Ich sitze am Schreibtisch», sagte Adler, sich an den Schreibtisch setzend. «Ich lege die Beine hoch.» Er tat es. Er nahm sie wieder herunter. «Wirkt zu lässig. Immerhin bin ich im Dienst.» Er zog die mittlere Schublade heraus und legte die Beine darauf. «Trinken tu ich nichts, weil ich gerade erst gekommen bin. Also los. Es klopft an der Tür. Apropos Tür.» Er winkte Reinhold heran. «Bist du mal so nett und spielst die Tür.» Reinhold lächelte verlegen. Irene kam und trat ihm gegen das Schienbein.

Reinhold stöhnte. «Soll denn das?»

«So pflege ich gegen Türen zu klopfen», sagte Irene ohne Mitleid. Sie ging zu Reinhold und drehte ihm die Nase um.

«Irene!» rief Adler.

«Die Nase ist der Türknauf. In US-Filmen gibt es Türknäufe zum Drehen und keine Türklinken.»

«Stimmt», stellte Adler verblüfft fest. «Los, Reinhold, reiß dich zusammen. Du hast zwar nur eine stumme Rolle. Doch es gibt auch Oscars für die beste Nebenrolle.»

«Aber nicht für die beste Tür», sagte Reinhold klagend.

«Ich bin die Hauptrolle.» Adler spreizte sich eitel und lockerte einen imaginären Krawattenknoten. Sie schenkten sich den Türknauf, Irene betrat das Büro. Adler ließ die Lulle aus dem Gesicht fallen und schoß hinter dem Schreibtisch hervor. «Mir fehlen die Worte», sagte er hechelnd.

«Damals haben dir zwei Groschen gefehlt», zischte Irene, und Adler rief: «Aus! Aus! Aus! So geht das nicht. Könnt ihr eure persönlichen Scharmützel nicht vor der Tür des Saloons austragen? Bitte noch einmal auf die Ausgangssituation. Lilly, würden Sie bitte diese etwas schwergängige Tür nachölen. Und du», rief Adler und pikte auf Hajo, der betroffen aufstand. «Du gehst raus. Ich habe keinen Assistenten. Ich teile meine Siege mit niemandem. Und meine Niederlagen erst recht nicht.»

Adler befand sich im Stadium der Euphorie. «Du könntest der Regisseur sein. Traust du dir das zu?»

Hajo riß an den Trägern seiner Monteurhose. «Aber immer.»

«Vielen Dank. Aber wir spielen voll improvisiert. Such dir also eine andere Rolle.»

«Ich gebe meinen Türjob gerne ab», bot Reinhold an, «ich könnte ja Fußabtreter sein. Ich glaube, in der Fähigkeit zu leiden, zeigt sich die wahre Schauspielkunst.»

So ging es hin und her. Am Ende war Hajo die Bundespolizei FBI, und zwar vom obersten Chef bis hinunter zum Lakaien.

Irene drehte an Reinhold, Adler flitzte um den Schreibtisch.

«Guten Morgen, Herr Privatdetektiv.»

«Donnerwetter, welch kapitales Weib. Das ist jetzt natürlich nur zur Seite gesprochen. Jetzt gilt es wieder: Guten Tag, meine Dame. Wollen Sie nicht Platz... ich sehe, Sie sitzen bereits. Sie wissen sich zu helfen.» Irene holte die Zigaretten-Packung aus der Manteltasche. Adler entzündete das Feuerzeug.

«Danke.»

«Einen Drink? Wärmt durch, lockert die Zunge, schafft die Grundlage für ein vertrauensvolles Gespräch.» Adler schnappte Irenes Weinglas, trank es aus, eilte zum Wasserbehälter.

«Reinhold, du lausiger Requisiteur. Kannst du mir erklären, wie ich meiner Mandantin einen Schuß Soda in ihren Drink donnern soll, wenn kein Wasser drin ist?»

Adler kehrte zum Schreibtisch zurück. «Ihnen ist also Ihr Herr Gemahl abhanden gekommen, wer hätte das gedacht?»

Irene warf beide Arme in komischer Verzweiflung von sich. «Gestern war er noch da. Ich habe ihn gesäugt und gepudert und über sein Himmelbettchen eine neue Ration Beißringe gespannt. Und heute morgen...» Irene wischte in den Augenwinkeln herum.

Adler begann, Schreibtisch und Irene zu umrunden. «Und nun? Wollen Sie ihn wiederhaben?»

«Oh ja, das wäre nett. Er fehlt mir doch so. Wenn ich nur wüßte, wo er steckt.»

«Hier» rief es aus dem Dunkel. Alle drehten sich um. Achim Golze trat ins Licht.

Die Szene dampfte. In dem Geviert, das die Lampen aus der Dunkelheit schnitten, mischten sich der Rauch der Zigaretten und der Atem der Anwesenden.

«Ich glaube, ich störe», sagte Golze und zog die Winterjacke aus dem Spezialgeschäft für extreme Bergtouren aus. «Ein Viertelstündchen. Mehr Zeit habe ich ja auch gar nicht. Laientheater, was?» sagte Golze. Adler hätte ihm gern verboten, den Schreibtisch anzufassen. Aber Golze holte vom Eingang einen Karton mit sechs Weinflaschen. Selten war die Beliebtheit eines Menschen in Sekundenschnelle dermaßen in die Höhe geschnellt. Und wenn wir das nächste Mal mit dem Zoll zusammenarbeiten, kriegt ihr wieder was ab.

Dann saßen sie um den Schreibtisch herum.

«Wie geht’s denn der Leiche so?» fragte Hajo.

«Danke der Nachfrage, grünes Licht für die Verwesung, kann in den nächsten Tagen unter die Erde.» Golze wies nach draußen. «Den Mörder haben wir noch nicht, dazu ist der Fall ein ganz klein wenig zu verzwickt. Da muß sich erst die Spreu vom Weizen und so weiter.»

«Aber man liest doch immer», warf Reinhold ein, «daß die Spuren, die man in den ersten 48 Stunden nicht entdeckt, daß die für immer verloren sind. Dabei sollen sie die wichtigsten sein.»

Schüchtern hob Golze sein Glas und schwenkte es gegen Irene. Sie sieht mich an, das ist die halbe Miete. Jetzt muß ich sie nur noch allein erwischen, ohne die Kerle. Und dann... und dann... «Die Spuren waren alle gut, wegen der Kälte draußen. Wir haben den steifen Kandidaten Gantenheim doch gleich gefunden und eingesammelt. Danach waren wir an der Witwe dran, habe ich schon von erzählt, oder habe ich noch nicht...?» Sie nickten heftig. «Jetzt sind wir an den Busenfreunden dran: der Schatzmeister von ‹Penuntia›, diesem Karnevalsverein; ein Kollege, mit dem der Tote in besseren Zeiten in einem Büro gesessen hat, und ein dritter Kandidat, Nachbar von zwei Stock drüber.»

«Von denen war es wohl einer?» fragte Reinhold.

«Möchte man ja spontan annehmen. Aber ihr habt die Kerle nicht gesehen, die würdet ihr nicht zum Brötchenholen schicken, weil man glaubt, sie sind damit überfordert. Tun harmlos, daß man sich fragt, wie die es schaffen, sich allein anzuziehen, besonders der eine von denen, dieser Nachbar. Wie Kalle Doof aus Laatzen, kennt ihr Laatzen? Liegt bei Hannover. Manni Wiener, mein neuer Chef, kommt aus Laatzen. Der Verein hatte ja sein Kappenfest an dem bewußten Abend am Berliner Tor. Am nächsten Morgen finden wir die Pappnase bei euch um die Ecke. Frage: Wie kommt der Mann da hin? Und vor allem: warum? Wohnen tut er in der anderen Ecke, Bahrenfeld. Möglichkeit eins: Der hat sich die Birne vollgegossen, wollte zu Fuß nach Hause und hat sich in der Himmelsrichtung geirrt. Möglichkeit zwei: Der wollte da hin, der hat das mit Absicht gemacht. Seine Busenfreunde wissen natürlich von nichts. Die wissen gerade, wie er ausgesehen hat, als er noch gelebt hat. Mich interessiert ja besonders dieser Nachbar. Der stand nämlich in der Stube, als wir unseren zweiten Besuch bei der Witwe abgespult haben. Kennt sich blendend in der Wohnung aus und greift sich die Witwe zum Zwecke der Tröstung. Fand die gar nicht schlecht, lag wie hingegossen an seinem Brustbein. Der kannte auch genau die Stelle zwischen Wirbelsäule und Steißbein, wo er streicheln muß, damit sie die Schluchzerei mäßigt. Und da läuft mein Kriminalistenhirn aber aus dem Stand volle sechzehn Zylinder. Denn merke: Der Gatte hat gerade seinen letzten Strahl in den Nachtfrost gesetzt, und der Nachbar schrubbt der Witwe auf dem Rücken rum. Na?» Golze zog mit dem Zeigefinger das untere Augenlid bis knapp übers Kinn. «Holzauge, sei wachsam, warum in die Ferne schweifen, sieh, das Motiv liegt so nah. Der Junge kennt sich einfach zu gut auf dem Rücken der Witwe aus. Nun, Erwin natürlich gleich, Erwin ist ein Kollege von mir: ‹Wo’s für einen langt, langt es auch für zwei.› Aber wenn Erwin sich schon zu Fragen von Mann und Frau äußert, kann ja nur kalter Kaffee bei rauskommen. Also nichts Unfreundliches über Abwesende, aber Erwin ist auf diesem Gebiet dumm wie Schifferscheiße, Pardon. Holla, bei wem piept es denn da?» Golze sprang auf, legte eilig seine Winterkleidung an und fand dabei Zeit, den Euro-Piep aus der Tasche zu ziehen: «Für Manager, Politiker und Polizisten, für alle, von denen Wohl und Wehe unseres Landes abhängt. Der Piep findet dich, egal wo du steckst. Da kennt der nichts. Mittagsschlaf oder mal gemütlich mit der Bildzeitung aufm Klo, der piept und piept, und dann heißt es abkneifen, abwischen und an den nächsten Apparat. Tschau Freunde, bis bald mal wieder.»

«Und ich war so gut drauf», sagte Adler ärgerlich. «Aber dieser Wichtel, das ist doch gemeingefährlich, wie der redet.»

«Und so viel», sagte Hajo beeindruckt. Sie blätterten noch ein bißchen in den Aktenordnern, aber der Bann war gebrochen. An diesem Abend fuhr auch Adler nach Hause.

 

Gabriel stürmte in die Eingangshalle der Chemie-Firma. Während er den Pförtner ins Auge faßte, kam Henry ein wenig lustlos hinterhergetrottet.

«Guter Mann, mein Name ist Gabriel Ekbono, und das da ist Herr Henry St. Galleon. Wir kommen aus Kenia, einem der, wie Sie sicher wissen, größten Exporteure von Kaffee, gerade in die Bundesrepublik. Wir hätten nun gerne in einer sehr dringenden Angelegenheit einen Ihrer leitenden Angestellten gesprochen. Wäre es wohl möglich, daß Sie uns diesen Termin vermitteln?» Gespannt blickten die Schwarzen den Pförtner an.

Als sie draußen waren, starrten sie auf die Eingangstüren.

«‹Ich bin nicht zuständig. Das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Dafür werde ich nicht bezahlt›», äffte Gabriel verbittert den altklugen Tonfall des Pförtners nach. «Das war eine Lektion in Deutschsein. Diese... diese.»

«Laß es», riet ihm Henry. «Wir wußten vorher, daß es nicht leicht werden wird.»

«Und wir schaffen es doch», sagte Gabriel. Zum erstenmal hatte seine Stimme einen Unterton, der zu der immer noch verbindlichen Mimik nicht recht passen wollte.

Auf dem Weg in die Innenstadt begegneten sie einem Mann von Anfang 40. Er trug teures Tuch, strömte Pflege und Körpertraining aus, und seine Haut war gleichmäßig gebräunt.

«So braun wie wir wird der nie», zischte Gabriel seinem Freund zu, als sie den Mann passiert hatten. Verkaufsleiter Ulf Bohnsack drehte sich verblüfft um.

 

Als Irene ihn in den Arm nehmen wollte, wurde Till steif wie ein Brett. «Blöd, blöd, blöd. Noch blöder wie Johannes.»

«Als.»

«Als wie Johannes.»

«Was war denn?» Till knuffte die Sofakissen, als wenn sie seine persönlichen Feinde wären. «Nun hör auf damit und red endlich. Ich muß gleich los.»

«Nie bist du da, wenn ich dich brauche», sagte Till, kam um den Tisch herum, legte seinen Kopf in den Schoß der Mutter und erlaubte ihr, seinen Kopf zu kraulen.

«Till, hör auf damit. Sonst gehe ich los und suche dir einen Vater, der dir garantiert nicht gefällt.»

«Adler wäre gut.»

«Adler ist ganz nett, aber viel zu wenig erwachsen.»

«Für dich?»

«Für uns beide.»

«Den hätten wir schon hingekriegt. Du sagst immer, daß man alles lernen kann.»

«Schweif nicht ab. Hast du in der Schule wieder die Meerschweine angebracht?»

«Ich wollte nur wissen, wer dafür zuständig ist. Ob Sachunterricht oder Rechnen. Von wegen der Wahrscheinlichkeit. Frau Behrens hat mir verboten, das Thema noch einmal zu erwähnen. Sie hat mir gedroht. Dabei bin ich viel schwächer wie sie.»

«Als.»

«Als wie sie. Erwachsene können ja so fies sein.»

«Ich wär soweit», rief Adler von draußen.

«Kommst mit?»

«Geh nur. Du willst bestimmt mal allein sein.» Von wem hat er das nur?

«Wie alt ist Till jetzt eigentlich?»

Irene setzte sich an den Küchentisch und fragte mißtrauisch: «Acht. Warum?»

«Mal angenommen, seine Altklugheit verdoppelt sich jedes Jahr, was willst du dann mit ihm machen, wenn er 12 ist?»

Sie beschloß, das Thema nicht weiter zu vertiefen. «Hübsch sieht das aus.» Adler hatte ein zweites Frühstück auf den Tisch gestellt.

Plötzlich stand Maria in der Küche. «Oh. Ein lauschiges petit déjeuner?»

«Bis eben noch», erwiderte Irene, «jetzt ist es wie rush hour.» Sie waren wieder allein, redeten über dies und das und kamen schnell auf das Thema, das sie beide bewegte.

«Also nicht, daß ich irgendeinen Verdacht haben würde», sagte Adler, an seinem Kaffee riechend, «aber ich muß in den letzten Tagen immer wieder an die Stimmung denken.»

«Beim Entrümpeln?»

«Beim Entrümpeln. Manchmal glaube ich, daß ich spinne, aber manchmal bin ich auch ganz sicher: Da war was faul.» Sie machten ‹Schwupp-Di-Wupp› um die letzte Scheibe Corned Beef. Als Adler großmütig anbot, die Scheibe zu teilen, lehnte Irene noch großmütiger ab und bekam verstärkten Speichelfluß, als sie Adler beim Verzehr der Scheibe intensiv zusah.

«Als ich die Frau, die angebliche Schwester, gefragt habe, wieso denn so schnell und warum sie und nicht der Mieter selbst, da hat sie mich angelogen. Ich kann’s nicht beweisen, aber ich sehe noch das verkniffene Gesicht von dem Mann vor mir. Wenn der nicht gerade Durchfall hatte oder sonst einen Grund, sich unwohl zu fühlen, dann hat er sich wegen seiner Frau unwohl gefühlt. Oder wegen der Art und Weise, wie sie die Wohnung leergemacht haben.»

«Südamerika hat sie gesagt, hast du gesagt. Hat sie sonst noch was gesagt?»

«Nicht daß ich mich erinnere.»

«Du bist aber auch ein Tiffeltoffel. Die haben vielleicht ihren Erbonkel totgeschlagen, und du beseitigst ihnen die Spuren.»

«Na, hast die Sjöwall-Wahlöö-Phase hinter dir und bist wieder bei Agatha Christie angelangt? Nebel an der Themse, und im Schloß marschieren die Ritterrüstungen los?»

«Kümmer du dich lieber um deine eigene Lektüre. Diese vielen Selbständigen-Ratgeber, die bei dir rumflattern, sind literarisch ja auch nicht gerade das Gelbe vom Ei.» Sie nutzten die Pause, um zu essen und zu trinken.

«Südamerika?» fragte Irene. «Könnte ein Seemann sein. War was in der Wohnung, was nach Seemann aussieht?»

«Kein Buddelschiff, kein Faß Rum und im Badezimmer kein Plastikschiff.»

Maria kam in die Küche und versuchte, etwas aus dem Kühlschrank zu holen, ohne die beiden zu beachten. Im nächsten Moment stand sie zornbebend am Tisch.

«Wo ist mein Corned Beef geblieben? Das war mein Corned Beef. Ihr habt kein Recht, mein Corned Beef...»

«Ich könnte mich kurz übergeben», bot Adler freundlich an. «ist garantiert noch nicht verdaut.» Die Tür schlug zu.

«Respekt», lobte Irene, «das war nicht untalentiert. Warum lebst du eigentlich nicht in einer WG?»

«Weil es doch mein Traum ist, mir dir und deinem neunmalklugen Naseweis in einer Dreieinhalb-Zimmer-Neubauwohnung mit Blick auf den Nachbarbalkon zu leben», sagte Adler und legte eine Hand auf Irenes Arm.

 

Sie war bis zum Schluß nicht sicher, ob sie es tun würde. Aber dann hatte Irene zwei Touren zu einem Hotel am Hauptbahnhof Das ist ein Zeichen, und fuhr zu der Adresse. Die Wohnungstür war angelehnt, drinnen lief ein Kassettenrecorder. Ein blutjunges Paar teilte mit, daß sie die Wohnung ab nächsten Ersten bewohnen würden.

«Jetzt renovieren wir. Und das hier», sagte der Junge strahlend, «das hier wird unser Schlafzimmer.»

«Oder auch nicht», sagte das Mädchen knallhart.

«Wieso?» fragte der Junge verblüfft. Während sie begannen, das Gedudele des Recorders überschreiend, die Zimmer-Aufteilung zu thematisieren, klingelte Irene an der Tür der Nachbarwohnung.

Als die Frau statt eines Vertreters Irene erblickte, entspannte sich ihr Gesicht.

«Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Es ist... ich bin Taxifahrerin. Ich habe gerade eine Tour in die Nebenstraße gehabt. Da sehe ich das Haus und denke mir: Das ist doch das Haus, da gehst du doch gleich mal vorbei. Alte Freundschaft soll nicht rosten, was?» Irene lachte. «Ich also die Treppe hoch, und was sehe ich da? Weg ist er. Junges Gemüse baut sich ein Nest...»

«Ein leises Nest hoffentlich», ergänzte die Frau zähneknirschend.

«Aber mein alter Freund, futsch ist er», fuhr Irene fort und warf beide Hände in die Luft. «Sie wissen nicht zufällig, wo er abgeblieben ist?» Würde mich sehr wundern, wenn du es nicht wüßtest.

Die Nachbarin blickte kurz ins Innere ihrer Wohnung, dann beugte sie den Oberkörper nach vorn und bewegte mit auseinandergespreizten Fingern eine Hand mehrmals vor ihrem Gesicht auf und ab.

«Plemplem?»

«Aber völlig», bestätigte die Nachbarin wichtig. «Und wenn Sie mich fragen, nicht erst seit letztem Herbst, sondern schon ein bißchen länger.»

«Der da?» Irene zeigte auf die Wohnungstür, hinter der Musik und Schreie zu hören waren.

Die Nachbarin nickte, ihr Gesicht bewölkte sich: «Allerdings war er ruhig, das muß man ihm lassen.»

«Ist er tot?» fragte Irene und hätte hinterher nicht sagen können, wie sie auf diese Frage gekommen war.

«Irrenanstalt.»

«So schlimm war es?»

«Schlimmer.»

«Und wo?» Die Frau zuckte die Schultern.

«War das die Schwester, die seine Wohnung aufgelöst hat?»

Die Nachbarin nickte, ein abstoßendes Grinsen zog in ihrem Gesicht auf. «Am liebsten hätte die den ganzen Klumpatsch in die Luft gesprengt. Mit Nitro... mit Nitro...»

«Nitroglyzerin», rief eine männliche Stimme aus der Wohnung. In der Nachbarwohnung gewann das Schreien des streitenden jungen Paars das akustische Übergewicht.

Von Hausnummer 160 an gab Adler regelmäßig Hausnummern-Zwischenstände durch. «Laß das», bat Irene.

Sie blickte Adler an. «Gestern habe ich einen Mann kennengelernt», sagte sie träumerisch. «Nicht zu schön und nicht zu häßlich. Nicht zu alt und nicht zu jung.»

«Nicht zu klug und nicht zu schlau», sagte Adler und wechselte das Thema:

«Und die auf dem Ortsamt haben dir die Adresse wirklich ohne Sperenzien gegeben?»

«Was für Sperenzien denn?»

«Datenschutz, Intimsphäre, was der Mensch so braucht.»

«Ich habe gesagt, daß ich Entrümpelungsunternehmerin bin und der Rose noch Geld von mir zu kriegen hat», sagte Irene und lachte.

«320. 328. Konnte ich nicht erkennen. Wieder nicht. Fahr langsamer. Und was machen wir, wenn wir da sind?»

«Wir peilen diskret die Lage, und wenn wir gut drauf sind, können wir ja klingeln.»

«Wenn er wirklich Seemann ist, könnte er natürlich auch in Afrika sein.»

«Dann wissen wir es wenigstens endlich.»

«Guck mal, hier fängt schon Ochsenzoll an. Der Rose wohnt also entweder knapp davor oder knapp dahinter.»

«Oder mittendrin.»

«In einer Klaps... in einer Nervenklinik? Da kann man gar nicht wohnen. Da kann man nur vegetieren.»

Dahinter kamen aber schon Sechshunderter-Zahlen. Irene fuhr rechts ran, wartete eine Lücke ab, wendete. Sie fuhren ein zweites Mal an dem Gelände der großen Nervenklinik vorbei. Dann hielt Irene an: «Die Nachbarin hatte also recht.»

«Wer hätte das gedacht?» sagte Adler kleinlaut.

«Ich nicht», gab Irene zu.

«Komm, wir gucken uns das an.»

Nichts deutete daraufhin, daß es verboten war, das Landeskrankenhaus zu betreten. Eine Scheu hielt sie davon ab.

«Das war’s dann wohl», sagte Irene. «Wenn der Rose hier ist, ist er gut aufgehoben.»

«Was in der Wohnung rumstand, sah auch nicht so wertvoll aus, daß man eine Erbschwindelei befürchten müßte. Diese übergeschnappte Schwester war dafür auch eine Nummer zu klein. Nicht cool genug. Und dann erst der Mann.»

«Warst du schon mal hier?» fragte Irene.

«Nullmal. Meine Bekanntschaft und Verwandtschaft hält sich gerade noch im Rahmen des Erlaubten, obwohl... obwohl...» Adler verkniff sich den müden Witz.

«Also, ich finde das komisch», sagte Irene. «Das ist doch ein Riesending, ein Stadtteil für sich. Die sind doch richtiggehend autark hier. Guck mal die Kirche. Hier leben bestimmt Hunderte von Leuten. Und was wissen wir von deren Leben?»

«Ja, ja», sagte Adler. «Worum soll ich mich denn noch alles kümmern?»

 

 

An einem Novemberabend des vorigen Jahres begann es.

«Kundschaft», rief der Polizist dem Pfleger zu, der aus der Aufnahme des Landeskrankenhauses Ochsenzoll kam.

«So eine Ladung haben Sie ja lange nicht gebracht», sagte der Pfleger zu Rochus Rose. «Drei auf einen Streich und alle als Ordnungshüter verkleidet.»

Das war für lange Zeit das letzte Mal, daß Rose lächelte.

«Sie müssen mich verstecken», flüsterte er im Untersuchungszimmer den beiden Ärzten zu, die Rose untersuchten. Organisch war er tipptopp, er wirkte lediglich etwas schwer. Die Ärzte befragten Rose zur Schießerei.

«Sie haben meinen Vater auf dem Gewissen, und jetzt sind sie hinter mir her. Ich habe ihnen die Fassade heruntergerissen, das verzeihen sie mir nicht. Sie müssen mich schützen» und so weiter. Den Ärzten stellte sich der Tatbestand folgendermaßen dar: Rose gab der Passau Paderborner Versicherung die Schuld am Tod seines Vaters Willi. Willi Rose, 74, war vor wenigen Tagen ums Leben gekommen (vorbereitende Literatur siehe rororo thriller, Band 2700, S. 144 sowie S. 5-218).

Mitten im Gespräch brach Rose zusammen. Während er «Es ist nichts, es ist nichts» stammelte, wurde er von Zittern und Schluchzen geschüttelt. Er bekam zehn Milligramm Haldol zur schnellen Beruhigung. In den folgenden Tagen pendelte sich seine Tagesdosis bei dreimal zehn Milligramm Haldol ein. Weil Rose auf das Medikament wie jeder Patient mit Schlafstörungen reagierte, bekam er zusätzlich Valium.

Physisch erholte sich der Mann relativ zügig. In mehreren Gesprächen mit den behandelnden Ärzten sprach Rose immer wieder von dem ‹Konzern› oder auch der ‹Firma›, die es auf sein Leben abgesehen hätten. Er, Rose, habe nämlich etwas herausgefunden, was von allergrößter Brisanz sei. Die Ärzte der Landesnervenklinik Ochsenzoll hätten gern gewußt, was das denn war. Aber Rose schwieg. Er wollte in Ochsenzoll bleiben, weil er sich nur hier sicher fühlte. Man gewöhnte sich an ihn. Rose benahm sich unauffällig, mehr mußte er nicht tun. Er war einer von 1 239 Patienten.

 

 

Rochus Rose saß am großen Tisch des Speiseraums in Haus 24. Er war allein. Vor ihm lagen Papierstapel verschiedener Formate und Höhe. Roses Arme hingen kraftlos am Körper herab. Bisweilen schwankte sein Kopf. Der Schatten seines Körpers teilte den Tisch in Hell und Dunkel. Gut und Böse. Im Gegenlicht verdunkelten sich die Gesichtszüge des Patienten. Er trug das blaßgrüne Anstaltshemd, darüber einen hellen Trenchcoat. Rose nahm ein Blatt in die Hand, las, ließ es sinken und begann, die Papiere und Karteikarten durcheinanderzumischen. Mehrfach schichtete er die Zettel um, zögerte, stapelte große und kleine Haufen, bildete auf dem Tisch Diagonalen, Quadrate, Halbbögen von sich überlappenden Papieren. Er zählte, ordnete und war ganz in den Kosmos auf dem Tisch eingewoben.

«Sehen Sie», sagte Dr. Wüsthoff zu einem Kollegen, mit dem er in der Tür stand und Rose beobachtete, «sehen Sie, wie verzögert seine Bewegungen sind. Er hat große Schwierigkeiten, die Zettel aufeinanderzustapeln. Haldol, das — wenn Sie mich fragen — verdammte Haldol. Er steckt wieder voll damit.»

«Aber wenn es doch das kleinere Übel ist», warf der Kollege ein, machte jedoch auch kein begeistertes Gesicht.

«Besser als Suizid», sagte Wüsthoff. «Er hatte einen neuen Schub, als er von seinem Ausgang zurückkam. Da muß irgendwas passiert sein. Jedenfalls hat der Bereitschaftsdienst ihm gleich die hausübliche Dosierung verpaßt, noch bevor wir ihn befragen konnten. Dabei war der Patient vorher schon wieder ganz zugänglich.»

«Was mich interessieren würde, Herr Kollege...»

«Ja?»

«Was hat er denn auf seine Zettel draufgeschrieben, der Herr Rose?»

 

 

Wir wissen nicht, was Rochus Rose vorhat, aber wir halten sehr viel für möglich.

 

 

«Kein Wort. Er sagt, er hat alles im Kopf, was er braucht. Und er sagt auch», fuhr Wüsthoff fort, «es sei besser so, wenn er keine Notizen hinterläßt. Notizen könnte man ihm stehlen und gegen ihn verwenden. Was er im Kopf hat, habe er sicher, meint Herr Rose.»

Die Ärzte verließen den Raum. Rose stupste den Papierhaufen von allen Seiten in eine korrekte Form. Dann nahm er das oberste Blatt und studierte es.

 

Die Fahrt vom Landeskrankenhaus zurück zur Tankstelle verlief anfangs durchaus entspannt. Dann pfiff Adler leise. Irene guckte ihn kurz von der Seite an.

«Das war’s dann wahrscheinlich für dich.»

«Wieso?» fragte Adler arglos. «Ist doch alles klar. Oder nicht?»

«Oh, natürlich», stimmte Irene höhnisch zu, «da sitzt einer in der Klapsmühle, und du hast das Gefühl, daß alles klar ist.»

«Das schon wieder», sagte Adler gedehnt.

«Jawohl, das schon wieder», knurrte Irene und bremste den armen Polo-Fahrer halb auf den Bürgersteig. «Verpiß dich», knurrte sie, in den Rückspiegel blickend. «Hättest Fußgänger bleiben sollen. Und du brauchst gar nicht so zu grinsen», zischte sie.

«Ist doch wahr», sagte Adler und wollte versöhnlich wirken. «Irene Lachmund als Gewissen der Unterdrückten und Ausgepowerten der gesamten Welt. Albern so was.»

«So», sagte Irene, «ich bin also albern.»

 

«Wo steckt mein Fleisch und Blut?» fragte Irene kurz, kaum daß sie ausgestiegen war.

«Den habe ich interniert», erwiderte Hajo müde. «War die einzige Möglichkeit, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.»

Irene kam dicht an Hajo heran. «Und wie du redest», sagte sie mit viel Betonung, «das paßt mir auch nicht. Seit langer Zeit schon nicht mehr.» Hajo suchte Beistand von Adler, der winkte genervt ab und ging in den Aufenthaltsraum.

«Ach nein», sagte Adler und blickte auf das Durcheinander. Till hatte im Aufenthaltsraum die Aktenordner gefleddert, vielleicht auch nur einen. Papier lag herum. Till war gerade damit beschäftigt, es einzusammeln und in einem Ordner abzuheften.

«Was soll denn das?» herrschte Irene ihren Sohn an. Sie drängte Adler zur Seite. «Heh, Butzemann, was soll das?»

«Ich mache ja alles wieder zusammen», antwortete Till mit altklugem Tonfall.

«Was machst du zusammen?» fragte Adler uninteressiert.

«Na, die Zettel von dem Privatdetektiv.» Adler merkte erst nach einiger Zeit, daß die Antwort zu seiner Frage gehörte.

«Da», sagte Till und drückte Adler den Aktenordner in die Hand. Adler begann zu blättern, Irene suchte Tills Sachen zusammen.

«Reiher AG. Chemiewerk. Kleiner Multi, Export von Schädlingsbekämpfungsmitteln. Sitz der Konzern-Zentrale in Heilbronn, Sitz der Zentrale Nord in Hamburg. Bohnemann, Kaffeefirma und Rösterei. Sitz in Bremen und Hamburg. Reiher exportiert nach Kenia. In Kenia wiederholt Gerüchte über Vergiftungen in großem Stil durch rücksichtslosen Einsatz der chemischen Gifte auf Kaffeepflanzungen. Im Spätsommer letzten Jahres zum erstenmal handfeste Erwähnung in einer Zeitung: Diverse Tote nach Flugzeug-Einsatz mit Giftversprühen. Kaffeefirma Bohnemann bezieht den größten Teil ihres Afrika-Kaffees aus Kenia.»

Irene, die schon lange aufgehört hatte, Tills Sachen zu suchen, nahm Adler den Ordner weg.

«Gib her. Kann ja nicht sein.» Sie las, blätterte, blätterte zurück, guckte Till an, las, guckte Adler an. Dann legte sie eine Hand auf Tills Stirn. Unwillig wich das Kind nach hinten und stieß gegen Adler, der ihm den Puls fühlte. «War Hajo das?» fragte Irene.

«Der?» rief Till empört. «Der kann so was nicht. Der hat doch keine Phantasie. Hajo kann nur mit Autos. Mit Kindern kann er auch nicht umgehen. Ich kann das beurteilen, denn ich bin...»

«Sei so lieb und halt den Mund, ja?» bat Adler. Er las zusammen mit Irene. Ihre Köpfe hingen dicht nebeneinander über den Seiten.

«Stark, mein Sohn, was?»

«Nicht untalentiert, das Kerlchen. Mußt aufpassen, daß er nicht zur Kriminalpolizei geht. Willst du später mal zur Polizei?» fragte Adler.

«Haben die da Phantasie?» fragte Till zurück.

«Das ist eine lange Geschichte», sagte Adler, ging zur Tür und rief: «Hajo, wenn du Luft hast, komm doch mal nach hinten.»

Erst ertönte ein Trompeten, dann erschien Hajo. «Ich habe mich erkältet», klagte er. «In jedem Frühling ist es dasselbe. Doris erkältet sich nie.»

«Das geht ja auch nur über Tröpfchen-Infektion», erklärte Irene. «Ihr kommt euch eben nicht mehr nahe genug.»

«Mama, haben Meerschweinchen Schnupfen?»

«Geh ein bißchen spielen», kommandierte Irene. Adler drückte Hajo den Aktenordner in die Hände.

«Also doch ein Privatdetektiv», murmelte Hajo danach.

«So ein bißchen Bogart, bißchen Schimanski. Oder auch der Matula.»

«Wenn du die drei in einen Topf wirfst und durchrührst, kommt unten ein Tappert raus», behauptete Irene.

«Mach keine Sachen», rief Adler erschrocken, «mit so was treibt man keinen Scherz.» Sie begeisterten sich an der neuen Ordnung, die Till in den Aktenordner gebracht hatte.

«Wie hat er das denn geschafft?» fragte Hajo beeindruckt. «Stehen da irgendwo doch Seitenzahlen drauf?» Hajo hielt eine Seite schräg gegen das Fenster.

Irene schnappte den Sohn und drückte ihn zärtlich an sich. «Ich will wirklich nicht mit meinem Kind angeben», sagte sie unheimlich angeberisch, «aber es muß doch mal gesagt werden: Von nichts kommt nichts.»

«Meinst du damit Doris und mich?» fragte Hajo schneidend.

«Das hier gibt der ganzen Sache neuen Schwung», sagte Adler vehement und schlug mehrmals auf den Ordner mit der Aufschrift ‹Reiher AG›.

«Wir sind uns natürlich einig», unterbrach ihn Irene, «daß wir den armen Mann da sofort rausholen aus dem Krankenhaus. Der hat da doch überhaupt nichts zu suchen. Das kann sich nur um einen Justizirrtum handeln.»

«Wenn der in Ochsenzoll sitzt, dann hat der auch was gemacht, daß er zu Recht nach Ochsenzoll gekommen ist», gab Hajo zu bedenken.

«Du Piffer», zischte Irene. «Du biegst dich unter der Macht des Faktischen wie ein Blatt im Wind.»

«Adler, hat sie mich soeben beleidigt?»

«Das mußt du gar nicht ernst nehmen. Immer wenn Irene aus ihrem Studi-Ghetto herauskommt, braucht sie einen halben Tag, um den schlimmsten Studenten-Slang durch die Rippen zu schwitzen.»

«Aber ich bin doch nie länger als einen halben Tag...» rief Irene, erkannte ihren schweren Fehler und begann, an der Unterlippe zu nagen.

Adler grinste und fuhr fort: «Ich denke mir das so: Dieser Rose ist ein Schnüffler. Er kommt einer Chemie-Geschichte auf die Spur, egal wie. Baldowert die dicke Connection aus, und damit die Gegenseite ihm keine Schläger...»

«...oder Leute mit Scheckbuch», ergänzte Hajo träumerisch.