Gegen 19 Uhr schlug Jo Puttel vor, die Feier in eine Kneipe zu verlegen. «Hier an unser aller Arbeitsplatz ist ja wohl nicht der richtige Ort», sagte sie und strahlte die Anwesenden an. Acht Augenpaare suchten die zwei Sektflaschen. Kein Zweifel, sie waren leer. Jo hatte nicht geahnt, daß sich die Nachricht von ihrer Beförderung zur Chefreporterin dermaßen schnell herumsprechen würde. Manfred Zahn war gekommen und hatte ihr schöne Grüße vom Chefredakteur bestellt. Er würde sich freuen, Jo um 15 Uhr sehen zu können. Fahrig hatte sie ein kleines Mittagessen hinuntergeschlungen und war überpünktlich gewesen. Der Chefredakteur hatte wenig Worte gemacht, weil er selbst für launige kleine Reden mittlerweile zu faul war. Er war nur aufgestanden, hatte Jo warm die Hand geschüttelt und sie zu der beruflichen Entwicklung der letzten Zeit beglückwünscht. «Zur Chefredakteuse hahaha hat es noch nicht ganz gereicht. Aber der Posten einer Chefreporterin ist ja nun auch nicht ohne. Herzlichen Glückwunsch und so weiter.»

Unter beträchtlicher Lärmentwicklung stieg die Runde in zwei Personenkraftwagen. Jo hatte geistesgegenwärtig noch kurz vor 16 Uhr zwei Euroschecks zu Bargeld gemacht. Die Scheine brauchte sie jetzt auch, denn anders als andere Kollegen war sie bisher nicht im Besitz eines Rufs. Deshalb mußte sie im New Yorker bar und sofort bezahlen. Das wird anders ab heute. Ich kriege meinen Zettel und dazu das intime Lächeln von Josty. Die Kellner wissen nach einer Woche auch Bescheid, und die Laufkundschaft sieht mir nach, wenn ich das Lokal verlasse: Herrlich. Ich gehöre dazu, ab heute gehöre ich endgültig dazu. Jo war sehr stolz, daß sie die Beförderung durch saubere journalistische Arbeit geschafft hatte und nicht durch halbseidene, mit dem Ethos der Journalisten nicht zu vereinbarende Zurechtbiegungen von Informationen. Sie hatte noch nicht einmal einen Kollegen ausstechen müssen. Jos frühere Skrupel gegenüber der Mitarbeit bei einer Boulevardzeitung waren nicht mehr vorhanden. Sie hielt sich nur noch einige kokette Schlenker für den Fall in Reserve, daß sie in eine Runde geriet, deren Zusammensetzung es ihr vorteilhaft erscheinen ließ, sich kritisch zu geben. Doch kam Jo mit zunehmender Dauer ihrer Beschäftigung bei der Allgemeinen kaum noch in solche Kreise. Es war ihr nicht unlieb so. Sie machten sechs Flaschen Sekt leer, und Jo bekam feuchte Augen, als Josty sie nach einem kurzen Blick auf den Verzehrbon noch in derselben Nacht in die Runde seiner besseren Gäste aufnahm.

 Borbet saß mit Hildegard im Keller beim Geldzählen. Die Deckenlampe strahlte auf die umgedrehte Gemüsekiste, so daß Borbet dachte, er sei im Kino. So waren die Lichtverhältnisse, wenn in Filmen Pokerrunden gezeigt wurden. Im Keller mußte drückende Schwüle herrschen, sonst hätte Borbet nur noch einen Grund gewußt, warum Hildegard und er die Oberbekleidung abgelegt hatten. Bis hierher, fand Borbet hinterher, ging der Traum ja noch. Dann jedoch bat ihn Hildegard, die restlichen Scheine aus dem Tresor zu holen. Sie wollte unbedingt die Million vollkriegen. Borbet öffnete die Tür. Im Tresor saß, zusammengekrümmt wie ein Kind im Mutterleib, Marianne. Sie sagte kein einziges Wort, sie blickte ihren Mann nur an. Der Blick ging Borbet durch und durch. Er mußte sogleich aufstehen und im Badezimmer ein Glas Wasser trinken. Er stützte die Hände auf das Waschbecken und blickte sich lange im Spiegel an. Weil er schon in der Nähe war, pinkelte er auch gleich noch.

Diesmal wollte Elfriede Frenzel nicht wieder ins offene Messer laufen. Als das charakteristische Geräusch anzeigte, daß Borbets Wohnungstür über ihr ins Schloß gezogen wurde, griff sie nicht zum Mülleimer. Sie scheute ein erneutes Zusammentreffen mit Borbet. Dieser Giftzwerg. Rumschreien, das kann er. Und mich für so dumm halten, daß ich ihm die Geschichte mit dem Geburtstagsgeschenk glaube, das kann er. Aber seine Kinder erziehen, das kann er schon mal nicht. Und ein Auto so einparken, daß ich die Kratzgeräusche nicht bis ins Wohnzimmer höre, das kann er auch nicht. Und in diesem Trainingsanzug sieht er aus wie ein Warnlicht mit Beinen. Elfriede Frenzel hielt ihr linkes Ohr — das bessere — an die Wohnungstür. Tatsächlich ging Borbet in den Keller. Elfriede Frenzel wurde einiges klar. Und sie war fest entschlossen, ihren Verdacht nicht für sich zu behalten.

Borbet holte aus und ließ die Faust auf den Tresor fallen. Die Tür blieb zu. Er versuchte sich daran zu erinnern, ob der Verkäufer im Tresor-Geschäft irgendeinen Trick angewendet hatte, der das Metall in besondere Schwingungen versetzte. Über diesen Versuchen schlug sich Borbet die Handkante blau. Ist ja alles Quatsch. Pipifax. Wie sich Karlchen Miesnik das vorstellt. Ab jetzt machst du Nägel mit Köpfen. Nitroglyzerin, Zweizentnerbomben, Hartgummigeschosse.

Elfriede Frenzel blickte auf die Uhr. Geschlagene vier Minuten war der verdächtige Nachbar in seinem Kellerraum geblieben. Sie ging im Wohnzimmer hin und her. Anrufen, kurz und schmerzlos. Aber was sagst du denen? Die Polizei will immer alles so genau wissen. Das ist ja das Gute bei denen. Kann aber auch lästig werden. Der Borbet hat Dreck am Stecken, da verwette ich mein vierundzwanzigteiliges Service drauf. Elfriede Frenzel griff den Telefonhörer und zögerte. Sie zählte noch einmal alle Argumente auf, die für Borbets Unschuld sprachen. Außer seiner netten Frau fiel ihr keins ein. Elfriede Frenzel wählte 1, 1 und 0. Während es in der Leitung noch rauschte, fiel ihr Blick auf die eingelassene Glasplatte des Couchtisches. Nein! Alles an Elfriede Frenzel versteifte sich. Dreck. Schmutz. Ränder. Fred, du Ferkel. Wozu gebe ich dir für deine stinkenden Biergläser eigentlich immer die wunderschönen Bastuntersetzer aus dem Spanien-Import-Laden? «Polizeirevier 37, guten Tag, Sie wünschen?» Frau Frenzel legte den Hörer auf. Du kannst die Herren von der Polizei unmöglich in so einer dreckigen Wohnung empfangen. Hier gehst du erst einmal mit Wasser und Putzmittel durch. Dann blitzt das wieder. Und dann können sie kommen, die Herren. Aus dem Werbefernsehen kannte Elfriede Frenzel zahlreiche Reinigungsmittel. Sie hatte sie der Reihe nach durchprobiert und war schließlich an Chlorestos hängengeblieben. Nicht der Preis hatte den Ausschlag gegeben. Als sich nach einer halben Verschlußkappe sogar die notorischen Pinkelränder von Fred in Nichts aufgelöst hatten, hatte Frau Frenzel gewußt, welches Putzmittel für sie das richtige war. Sie wollte vorher nur die Haare zusammenbinden. Als sie das Band nicht sofort fand, stülpte sie in der Eile die knallgrüne Duschkappe über die Dauerwelle. Dann schraubte Frau Frenzel die Kappe des Putzmittels auf.

 

In der Mittagspause kam Borbet mit ins Casino. Er saß neben Hildegard, zwischen ihnen waren nur das Tablett und der Anstand. Belmondo erzählte irgendein dummes Zeug, in dem es um Frauen, Autos und die Vorteile der hinteren Reihen im Autokino ging. Erna Degenhardt hörte nicht zu. Sie dachte über das Gespräch vorhin im Betriebsratsbüro nach. Dort hatte sie erfahren, daß die Einführung der Datensichtgeräte beschlossene Sache war. Allerdings könne der Betriebsrat im gegenwärtigen Stadium nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil er an die Schweigepflicht gebunden sei. Borbet hörte Belmondo zu. Autokino, warum nicht? Da kann selbst ich alter Fachmann vielleicht noch was lernen. Sein Blick glitt zu Hildegard. Abwesend gabelte er den gemischten Salat. Erst als Belmondo sich sehr laut räusperte, merkte Borbet auf. Hildegard lächelte ihn tapfer an. Doch es war kein Zweifel möglich. Die letzten Bissen hatte sich Borbet vom Salatteller seiner Vorgesetzten gepiekt.

 

Der Krankenwagen und die beiden Streifenwagen standen direkt vor dem Haus. Da Borbet aus der Innenstadt kam, sah er sie erst im letzten Moment. Er hatte den Lenker schon nach rechts eingeschlagen. Borbet bremste, schlug den Rückwärtsgang rein, fuhr mit quietschenden Reifen auf die Hauptstraße — der Polizist im Streifenwagen drehte sich nach ihm um — und jagte nach vorn. Fahren, fahren, raus aus der Stadt, Richtung Norden, über die Grenze, weg, nur weg. Hundert Meter weiter fuhr Borbet rechts ran. Er hörte seinem rasenden Puls zu. Du mußt jetzt laufen, fliehen. Tu was. Sitz nicht dumm hinterm Steuer. Das geht alles aufs Herz. Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr sich Borbet übers Gesicht. Warum ist die Polizei schon da? Das ist unmöglich. Das geht doch nur, wenn mich einer verpfiffen hat. Aber es weiß doch keiner. Borbet fuhr zum Flughafen. Er wußte nicht, ob er fliegen würde. Aber er wollte an einem Ort sein, der ihm die Möglichkeit eröffnete, sich abzusetzen. Die Fahrt verlief quälend langsam. Die Ausfallstrecke nach Fuhlsbüttel war gespickt mit Staus.

Am Flughafen fand Borbet schnell einen Parkplatz. Die ersten Geschäftsflieger kehrten zu ihren Autos zurück. Borbet holte seinen alten, schmuddeligen Trenchcoat aus dem Kofferraum. Er drückte mit beiden Armen kräftig auf die Hinterachse. Sie gab butterweich nach. Stoßdämpfer, habe ich ja gleich gesagt. Lange stand Borbet unter der Anzeigetafel und studierte die Flüge, die heute noch abgingen. Die Welt steht dir offen. Vor Aufregung bekam Borbet einen beißenden Heißhunger. Aber er hatte nicht genug Geld dabei, um sich ein Essen zu genehmigen. Diese Eigenart besaß er seit der Pubertät. Wo anderen der Appetit verging oder sie mit Durchfall reagierten, mußte sich Borbet den Bauch vollschlagen. Langsam ließ die Anspannung nach, Borbets Blickwinkel wurde weiter.

Er sah nicht mehr alles wie durch einen engen Schlauch. Er nahm auch wieder mit den Augenwinkeln wahr, beispielsweise die Reihe der Telefone.

«Borbet.» «Marianne, ich bin’s, Heinz, dein Mann.» Marianne lachte. «Aha. Und? Warum bist du nicht schon zu Hause?» «Äh ja, warum, warum nicht. Ich komme gleich. Ich wollte mich nur kurz melden.» Borbet holte tief Luft und fragte hastig: «War was in der Zwischenzeit? Ich meine, irgendwas, was ich wissen müßte?» «Allerdings war was. Frau Frenzel ist tot. Was sagst du nun?» Na, ein Glück. Borbet verstand noch nicht die Zusammenhänge, aber das Wichtigste wußte er nun. «Also ich komme dann.»

Borbet fuhr nach Hause. Der Krankenwagen und ein Streifenwagen waren verschwunden. Neben dem zweiten Streifenwagen — schmunzelnd registrierte Borbet, daß es sich um einen BMW handelte — standen ein junger Polizist und ein offensichtlich ausländischer Arzt. Borbet gab sich beim Einparken große Mühe. Dann stellte er sich wie beiläufig zu den beiden Männern und nickte ihnen zu. Sie nickten zurück und unterhielten sich anekdotenreich über den Amtsweg von Leichen. Borbet klopfte auf die Herzgegend, sofort faßte der Arzt seine Tasche fester. Borbet lächelte und fischte ein Päckchen Zigaretten aus der Innentasche, wo er es für den Fall aufbewahrte, daß er auf der Arbeit Besuch empfing. «Mmh?» sagte er und hielt die Packung den Männern entgegen. Der Arzt schüttelte den Kopf, der junge Polizist guckte verbissen auf die Schachtel und zog hektisch einen Zahnstocher aus der Tasche, auf dem er sodann nervös herumbiß. «Meine Frau hat mir schon erzählt», sagte Borbet und nickte in Richtung erster Stock. «Was ist denn die Ursache? Ich meine, woran ist sie denn genau gestorben?»

«Putztod», antwortete der Arzt. Borbet verstand nicht. «Putztod. Ihr Deutschen seid ein komisches Volk», sagte der Arzt und ging über die Straße, wo er in einen Pkw stieg. Der Polizist erklärte es Borbet: «Die Frau hat zuviel von dem Putzmittel eingeatmet. Das soll man ja auch nicht tun, steht laut und deutlich auf der Rückseite. Sie ist ohnmächtig geworden und gestürzt. Mit dem Kopf gegen die Kloschüssel, dann gegen den Badewannenrand und dann noch voll auf den Fliesenboden.»

«Dann kann man sagen, sie hat nichts ausgelassen», sagte Borbet beeindruckt.

Er bemerkte, daß der Polizist verzweifelt die Zigarettenpackung beäugte, die er immer noch in der Hand hielt. Er steckte sie in die Tasche. Der Polizist entspannte sich. «Na, dann noch einen schönen Abend», sagte Borbet. «Gleichfalls, danke. Ich warte noch.»

«Aha. Auf wen?»

«Die Kripo ist drin.»

«Ja um Himmels willen», rief Borbet und wurde sofort wieder wacklig in der Seele, «warum ist denn die Kripo da?»

«Die kommt doch immer bei ungewöhnlichen Todesfällen.» Borbet verabschiedete sich endgültig von dem Polizisten, eilte in den Keller und rüttelte an seiner Tür. Danach war er beruhigt. Auf dem Weg in die Wohnung wurde er ganz langsam, denn die Tür von Frau Frenzels Wohnung stand offen. Borbet hörte Stimmengemurmel und sah kurz einen Mann im Trenchcoat. Borbet wunderte sich, daß auch dieser Polizist einen Zahnstocher im Mund hatte. Ist vielleicht ein Erkennungszeichen bei denen, wie die Sicherheitsnadeln bei den Punkern. Plötzlich brüllte der Mann im Trenchcoat los: «Natürlich findest du an der Espresso-Maschine blitzsaubere Fingerabdrücke, du Pilch du, wenn dein bescheuerter Kollege sich gleich einen Kaffee kochen muß, weil er den Anblick von blau angelaufenen toten Frauen mit grüner Duschhaube nicht aushält. Eines Tages werde ich einen Krimi lesen, und in dem Krimi wird die Rede sein von zwei völlig verhauenen Spurensicherern. Und ich werde an euch denken müssen.» Die Tür von Frenzels Wohnung wurde zugeschlagen.

 

 

Polizeirat Pilch ist Chef der Wiener Mordkommission und trinkt leidenschaftlich gern Kaffee, was sein Kollege Kottan zu verhindern weiß.

 

 

«Heinz, ist das nicht schrecklich?» rief Marianne und warf sich gegen die Schulter ihres Mannes. Borbet zog seine rechte Hand ein paarmal über Mariannes Rücken. Nachdem er meinte, sie ausreichend gestreichelt zu haben, kniete er sich vor den Kühlschrank und stellte den Inhalt auf den Küchentisch. «Es ist dir also auch nahegegangen mit der armen Frau Frenzel», sagte Marianne und blickte auf ihren mampfenden Mann. «Logisch», drückte Borbet zwischen einer Gewürzgurke und zwei eingerollten Scheiben Bierschinken hindurch.

«Ist ‘ne Wohnung frei geworden im Haus», rief Jutta, als sie in die Küche kam. Marianne hielt ihr sofort eine Rede über Pietät und Anstand. Mit hungrigen Augen hing Jutta auf dem Stuhl. Aber sie traute sich nicht zu essen, während ihre Mutter so ernsthaft mit ihr sprach. Nun gönn deinem alten Herrn doch auch mal was Gutes. Wenn wir erst mal reich sind, schenke ich dir ein Fleischer-Fachgeschäft.

Borbet dachte ernsthaft, daß es ihm heute gelingen könnte, einen Punktsieg über Jutta zu landen. Erste Zweifel stellten sich ein, als Marianne für kurze Zeit die Küche verließ und Jutta sich ein kaltes Kotelett zu Gemüte führte. «Ah, das gibt Tinte auf den Füller», sagte sie genießerisch. Borbet fand, daß neben einer Ansprache über Pietät jetzt auch der Zeitpunkt für einen sexualtheoretischen Monolog gekommen war. «Liebe Jutta, deine Wortwahl...» «Laubenpieper», knallte sie dazwischen und nagte am Knochen des Koteletts herum. «Deine Eßsitten sind ein Schlag ins Gesicht von 500 Jahren abendländischer Zivilisation, auch und gerade, was die Beherrschung von Messer und Gabel betrifft.» «Spruchkaspar», sagte Marianne und schneuzte sich in ein Zellstofftaschentuch, das sie danach irritiert betrachtete. «Na, wieder voll durchgeschlagen, was?» lachte Jutta. Die Eltern blickten sich an. «Wieviel verlangst du für einen Kinoabend?» fragte Borbet lauernd. «Ihr wollt mich loswerden, was?» «Die Schnelligkeit, mit der du kapierst, wird nur noch von deiner Unverschämtheit übertroffen», erwiderte Borbet. Jutta stand auf, trat vor ihn hin und hielt die Hand auf. Widerwillig holte er einen Zehn-Mark-Schein aus der Tasche. Jutta schüttelte den Kopf. «Dafür gehe ich nicht.» Borbet legte ein Zwei-Mark-Stück nach. «Dafür bleibe ich eine Viertelstunde länger und keine Sekunde mehr.» Borbet nahm das Zwei-Mark-Stück zurück und legte einen zweiten Zehn-Mark-Schein in die Hand. Die Hand klappte zu. «Tschüs, Laubenpieper», sagte Jutta lachend und lief türenknallend hinaus. «Was meint sie denn damit?» fragte Marianne. «Ach, mußt du gar nicht drauf hören», antwortete Borbet vorsichtig. «Die plappert. So macht das ihre Generation eben. Sie plappert. Wir dagegen —» er holte tief Luft — «wir dagegen handeln.» «Meinst du», sagte Marianne. «Allerdings, und darum gehe ich jetzt auch in den Keller.» Mariannes Gesicht leuchtete auf. «Das ist lieb, tu das.» Borbet verschloß seinen Magen mit Gorgonzola und stand auf. «Meine Güte», sagte Marianne, «wenn ich daran denke, daß mir Frau Frenzel erst gestern ihre neue Espresso-Maschine gezeigt hat.» Marianne schneuzte sich. «Gestern hat sie noch gelebt, und heute...» «Heute ist sie tot», kam ihr Borbet zu Hilfe. Marianne sah ihn so vorwurfsvoll an, als ob er auf dem Bürgersteig einem kleinen Kind ein Bein gestellt hätte. «Vielleicht hat ihr sauberer Neffe, dieser Fred, die Espresso-Maschine geklaut. Der arbeitet ja sehr unregelmäßig. Hat keine Phantasie», sagte Borbet versonnen. «Was heißt ‹keine Phantasie›?» fragte Marianne erstaunt. «Ich finde das sehr schlimm, wenn einer Espresso-Maschinen stiehlt.» «Pfffft», sagte Borbet und machte eine verächtliche Handbewegung. «Kleinkram, Kraucher. Hat doch kein Niveau so was.» «Ach», sagte Marianne angriffslustig, «und was hat in deinen Augen Niveau?» «Einen Tresor zu stehlen», schmetterte Borbet spontan heraus. Marianne lachte, stand auf und umarmte ihn. «Du Träumer», sagte sie, «jetzt mußt du aber in den Keller gehen. Denk dran, du hast etwas Wichtiges zum Erfolg zu führen.» «Das habe ich, Marianne, das habe ich wirklich», antwortete Borbet mit ergriffener Stimme.

Im Keller zog er sich feste Handschuhe an. Dann räumte er die Farb- und Lackdosen zur Seite. Ganz hinten an der Wand stand die Flasche mit dem Totenkopf. Borbet betrachtete das Etikett: «Vorsicht! Salzsäure! Nur in kleinen Schlucken trinken.» Er konnte sich weder daran erinnern, zu welchem Zweck die Säure angeschafft worden war, noch vermochte er sich vorzustellen, daß er es gewesen war, der diesen erbärmlichen Witz auf das Etikett gemalt hatte. Das ist ja toll. Sogar der Humor ändert sich, wenn man reich ist.

Borbet schraubte den Verschluß ab und tröpfelte Säure auf den Tresor. Dabei hielt er unwillkürlich die Luft an. Die kleine Pfütze begann zu qualmen. Freudig erregt sah Borbet zu, wie sich die Säure in den Lack fraß. Er schien leicht zu kochen und Blasen zu werfen. Weiter so, nur immer weiter so. Unter der Stahlwand liegt der Kies. Der kleine Rauchfaden riß ab, die Blasen erstarrten. Das hatten sie mit Borbets Gesichtsausdruck gemeinsam.

 

Fred spürte Angst. Noch nie hatte er so deutlich gefühlt, wie eine dünnflüssige Soße in seinen Därmen schlingerte. Sein Schweiß kam ihm heute besonders unangenehm riechend vor. In Verbindung mit dem Deodorant, das angeblich für den männlichen Mann gemacht worden war, nahm er einen bestialischen Gestank an. An der Theke der Eckkneipe zog sich Fred den vierten Malteser rein. Der Wirt betrachtete ihn argwöhnisch. Guck nicht so, du Mickertyp. Du verdienst doch daran. Vor einer knappen halben Stunde war Fred nach Hause gekommen. Der Anblick des Polizeiwagens hatte ihn in schrille Panik versetzt. Mit äußerster Beherrschung war er an einen Wagen getreten und hatte gefragt. Die Tante war tot, das tat Fred leid. Zu tiefer Trauer war er im Moment nicht fähig. Dazu war der Schreck über die Polizei vor seiner Wohnung zu groß gewesen. Fred orderte trübsinnig einen fünften Malteser. Du hast kein Zuhause mehr. Die suchen dich doch jetzt garantiert überall. So viele Stereoanlagen in einer Wohnung, und alle neu.

Fred zahlte, griff sich, ermutigt durch die Wirkung des Alkohols, ein Damenfahrrad, und fuhr zu Bruno. Renate öffnete die Tür. Fred schloß den Mund. Er hatte Angst, daß ihm die Spucke fadenziehend aus den Mundwinkeln fallen würde. Was für eine Frau. Bruno, du bist und bleibst mein Freund. Mühsam fragte Fred nach Bruno. «Der ist im Garten. Wo denn sonst?» Fred wollte es zumindest mal versuchen: «Na, zum Beispiel bei seiner entzückenden Frau.» Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Renate lächelte geschmeichelt. Er verabschiedete sich und fuhr wie immer, wenn er Renate verließ, mit einem Gefühl von dannen, eine große Gelegenheit versäumt zu haben.

 

 

Wir grüßen Gärtner Pötschke

 

 

Auf dem Weg zu Brunos Parzelle fiel Fred auf, daß vor dem Vereinsheim großer Betrieb herrschte. Bruno stand am Gartenzaun und betrachtete den Auflauf mit strahlender Miene. «Guck mal», sagte er gutgelaunt zu Fred, «unser verehrter Vorsitzender kommt ins Schwitzen.» Fred wollte die Geschichte mit der toten Tante los werden, Bruno wollte über die geheimen Pläne mit dem Schrebergartengelände berichten. Beide redeten gleichzeitig und versuchten, sich zu überschreien. Als Fred dreimal gerufen hatte, daß seine Tante gestorben war, brach Bruno ab. «Mein Beileid, Junge», sagte er gedrückt, «mein aus tiefstem Herzen kommendes Beileid.» Er trat auf Fred zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und guckte ihn mit dem Blick an, von dem Bruno überzeugt war, daß er zu Todesfällen paßte. «Danke, danke», murmelte Fred und kam zur Sache. «Bruno, die Polizei ist hinter mir her. Steht ein bißchen viel Glitzerkram in der Bude. Kann ich bei dir unterkommen?»

«Da müßte ich Renate fragen.»

«Nee, nee, hier meine ich.» Fred zeigte auf die Laube. Bruno überlegte. «Du bist ein Idiot. Ich habe dir immer gesagt, daß sich diese kleinen Gaunereien nicht lohnen. Das hast du jetzt davon.»

«Ach nee», höhnte Fred, «und du sitzt breit und bräsig auf einem wohlgefüllten roten Tresor, was?» Bruno guckte verbissen. «Das war Lehrgeld. Das wird beim nächstenmal alles viel besser.»

«Na ja», sagte Fred versöhnlich. «Da haben wir uns beide nicht besonders intelligent angestellt. Wie geht es ihm denn, unserem neuen Goldstück?»

«Trocken ist er jedenfalls», erwiderte Bruno mürrisch, «dafür kann ich in der Natur rumpinkeln.» Sie gingen zum Klo neben der Laube. Bruno riß die Tür auf, Fred tippte mit dem Zeigefinger auf verschiedene Stellen. «Trocken.» Versonnen blickte Bruno auf den Tresor. «Wenn ich mir vorstelle, das wäre der richtige...»

«Ja, ja», sagte Fred. Beide hingen ihren Gedanken nach. «Ich rufe morgen vormittag Wegemann an und bestelle ihn für den Abend an die Stelle, die wir verabredet haben.» Bruno scharrte mit einem Schuh im Sand herum. «Ist was?» fragte Fred gereizt. «Mir kommt das alles ein bißchen riskant vor», sagte Bruno schüchtern. «Quatsch. Wir müssen Wegemann den Schrank in einer Gegend übergeben, wo wir quasi Heimrecht haben. Irgendein Ort, wo er noch nie war.»

«Und du bist sicher, er macht den Tresor wirklich nicht auf?»

«Bruno, das haben wir lang und breit beredet. Wegemann will seinen Tresor. Wir bringen ihm seinen Tresor. Wegemann hat nichts vom Inhalt gesagt. Und weißt du auch, warum?»

«Nee», sagte Bruno. Fred glaubte ihm jedes Wort. «Junge, dem Werbemann wird der Tresor geklaut.»

«Weiß ich doch», sagte Bruno beleidigt, «das waren wir doch.» Fred zählte still bis zehn. «Also: Tresor weg, im Tresor viel drin. Wegemann doll traurig. Polizei doof. Wegemann Köpfchen, gassi gassi nach New York. Pipi machen mit Bruno. Will bitte bitte Schrank wiederhaben. Hast du’s kapiert?» Bruno schüttelte den Kopf. «Also zuerst habe ich dich gut verstanden, aber zum Schluß nicht mehr.»

Sie gingen in die Laube, Fred inspizierte den Kühlschrank und warf enttäuscht die Tür zu. «Meine Theorie ist: In dem Tresor liegt nichts drin, was wertvoll ist.»

«Aber in der Zeitung stand doch eine lange Latte von all dem Zeug, das drin war. Ich darf gar nicht daran denken», sagte Bruno betrübt. «Stimmt schon. Aber überleg doch mal.»

«Mach du’s für mich, ja?» Fred warf sich auf das durchgesessene Sofa. «Bruno, laß es. Sonst kriegst du noch eine Beule am Kopf vom vielen Denken. Wir ziehen unseren Plan durch. Morgen um Mitternacht sind wir um 5000 Mark reicher. Treffpunkt Hafenbecken, klar?» Bruno nickte. «Schön, und was ist nun mit der Laube?»

«Wie stellst du dir das denn praktisch vor?»

«Ich kriege den Schlüssel von dir, besorge mir was zu essen und zu trinken, eine Decke, ein Radio. Und du hältst deine Frau in der nächsten Zeit vom Garten fern. Oder du erzählst ihr was.»

«Was denn?»

«Zum Beispiel die Wahrheit. Das ist vielleicht ungewöhnlich, aber das einfachste.»

 

Die Nacht verlief für Borbet verhältnismäßig ruhig. Enttäuscht von dem kläglichen Ergebnis des Salzsäure-Versuchs hatte er Mariannes Nähe gesucht und nach kurzer Gegenwehr auch gefunden. Hinterher sprachen beide nicht mehr über den Vorfall. Es muß auch solche Beischläfe geben. Dann fallen die wirklich wahnsinnigen wenigstens auf. Am Morgen fing Borbet Jutta im Flur ab. «Paß auf», zischte er ihr zu und blickte schon zur Küche, in der Marianne rumorte, «du irrst dich. Ich war nicht in der Laube. Das heißt, ich war schon da. Aber das hat einen anderen Grund.» Jutta hörte erst mit überraschtem, dann mit spöttischem Gesicht zu. «Das meine ich ja, daß es einen anderen Grund hatte.»

«Und ich sage dir, daß die Sachen in der Laube etwas mit Muttis Geburtstag zu tun haben.» Jutta lachte. «Dein Vater ist ein treuer Ehemann, da brauchst du nur deine Mutter zu fragen. Außerdem geht dich das überhaupt nichts an. Und wenn du jetzt nicht mit diesem blöden Grinsen aufhörst, werde ich eine Runde mit dem Vater eines gewissen Ulf reden.»

«Das tust du nicht», sagte Jutta unsicher. Der Tonfall gefiel Borbet schon bedeutend besser. «Das werde ich nicht, wenn du aufhörst, Andeutungen über außereheliche Aktivitäten deines Vaters zu machen. Haben wir uns verstanden?»

«Ja, ja», sagte Jutta maulig. Allein für deinen Tonfall müßte man dir viel öfter eine Kopfnuß verpassen. Oder den Hals von hinten zusammendrücken wie damals Heinckes, unser Mathelehrer. Die wußten noch, wie man quält, die alten Pauker. Das gerät heute doch alles in Vergessenheit.

Auf der Fahrt zur Versicherung bildete sich der Plan in Borbets Kopf zu kristallklarer Form aus. Schaden im dritten Stock. Die bearbeiten doch jetzt Wegemanns Fall. Die haben die Akte, wenn überhaupt einer außer Wegemann die Nummer der Kombination hat, dann steckt sie in der Akte. Ein Stockwerk über dir, das muß man sich mal vorstellen.

Er war wirklich keiner der letzten am Arbeitsplatz, trotzdem war der Parkplatz schon wieder voll. Borbet kurvte einmal herum, dann stellte er den Wagen auf einen der Plätze, die Besuchern vorbehalten waren. Er betrat das Gebäude und strebte dem Paternoster zu. «He! Hallo, Sie da mit der weiten Jacke!» So. Das kriegst du wieder. Diese Jacke paßt mir wie angegossen. Borbet atmete tief ein, spannte die Nackenmuskulatur an und drehte sich um. Der Pförtner kam aus dem Glaskasten heraus und humpelte auf ihn zu. Typisch! Geht wie auf Eiern, aber große Klappe. Warum habt ihr Burschen eure Behinderung nicht im Rachen- und Gaumenbereich? Gibt es keine Zungenlähmung? Der uniformierte Pförtner baute sich vor ihm auf. Befriedigt registrierte Borbet, daß der Mann höchstens 1 Meter 70 groß war. «Sie. Das ist ein Besucherparkplatz. Da dürfen Sie nicht stehen», ereiferte sich der Mann. «Ich bin Besucher», erwiderte Borbet und hätte zu gerne sein Gesicht in einem Spiegel überprüft. Er war sicher, daß er souverän aussah. «Ich bin sogar regelmäßiger Besucher dieser Anstalt. Ich komme jeden Tag hierher, nur Sonntag und Samstag nicht.» Borbet lächelte. So, Junge, wenn du einen natürlichen Sinn für Würde und Autorität hast, trollst du dich. «Herr, ich weiß Ihren Namen nicht...» «Das merke ich schon die ganze Zeit», pflichtete ihm Borbet bei. «Soll ich ihn Ihnen nennen?» «Wen?» fragte der Mann verblüfft. «Na, meinen Namen», sagte Borbet. Er zersprang fast vor guter Laune. Sie wurden von Angestellten umspült, die ihren Büros zustrebten. «Na ja», sagte der Pförtner. Er hatte den Faden verloren. «Borbet», sagte Borbet und tat das, worauf er sich schon die ganze Zeit gefreut hatte. Er klopfte dem Pförtner auf die Schulter. «Machen Sie sich nichts draus, guter Mann. Sie sind wohl heute mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden, wie?» Dabei zwinkerte er ihm vertraulich zu. Der Pförtner guckte empört und wollte etwas sagen. Borbet winkte ab und ließ den Mann stehen. Als er in den Paternoster stieg, sah er ihn in seinem Glaskasten telefonieren.

 

 

Borbet erhielt später für diese Tätlichkeit eine Geldbuße von DM 800.

 

 

Gleich nach der wie immer sehr herzlichen Begrüßung mit Hildegard klingelte Borbets Telefon. Nachsichtig lächelnd nahm er ab. Er war sicher, die keifende Stimme des Pförtners zu hören. «Heinz, da ist ein Brief gekommen. Von der Polizei», rief Marianne aufgeregt. «Das ging aber schnell, mein Schatz, ich glaube, ich vergaß, dir von dem kleinen Vorfall zu erzählen», sagte Borbet lässig. Er betrachtete seine Fingernägel und genoß es, daß Belmondo vor lauter Neugier schon wieder auf dem Tisch lag. «Allerdings. Was soll denn das heißen? Körperverletzung, Nötigung. Was hast du denn gemacht?» Borbet erzählte es ihr, Belmondo schien beeindruckt. Borbet war sauer, daß Hildegard gerade auf einer Gruppenleiterbesprechung weilte. Wo Erna steckte, war ihm gleichgültig. Sie steckte im Betriebsrat. «Ja, aber Heinz. Warum machst du denn so was. Hattest du getrunken?» So ist sie, die liebe Marianne. Von Herzen gut, aber eben ein wenig einfältig. «Nein, mein Schatz, ich war stocknüchtern. Wie immer übrigens, wenn ich Auto fahre.» Marianne lachte anzüglich. Borbet beschloß, es zu überhören. «Es war mir in der Lage nur einfach ein Bedürfnis.» «Es war dir ein Bedürfnis, einen wildfremden Menschen zu Boden zu schlagen?» Marianne brachte die Frage kaum heraus. Ach, Marianne, du fragst genauso schön, wie wenn einen einer auf dem Rücken an genau der richtigen Stelle kratzt. «Ich habe mich gewehrt gegen die Unverschämtheiten eines Schnösels», sagte Borbet. «Und so wird es in Zukunft allen ergehen, die mir dumm kommen.» Hingerissen hörte Belmondo zu. Borbet riskierte es: «Ist dir an mir eigentlich nichts aufgefallen?»

«In den letzten Tagen. Eigentlich ja. Du wirkst irgendwie so ausgelassen, so leichthin. Heinz!» Sein Name kam als Schrei aus dem Hörer. «Heinz, hat dir der Arzt etwas gesagt, etwas Schlimmes? Hast du etwa... Ist es bösartig?» Borbet war Mitte letzter Woche beim Arzt gewesen. Der Arzt hatte ihm eine Salbe gegen seine Hämorrhoiden verschrieben. Borbet lachte. «Ich bin so gut wie kerngesund, das ist es nicht.»

«Ja, was ist es denn dann?» fragte Marianne verzweifelt. «Sogar Jutta hat mich darauf angesprochen.»

«Ich ziehe hier meinen Stiefel durch, und du machst uns heute abend etwas Schönes zu essen. Nur für uns zwei beide. Einverstanden?» lockte Borbet. «O ja», sagte Marianne, «und dann erzählst du mir, was los ist.»

«Man wird sehen», erwiderte Borbet geheimnisvoll.

 

Nach diesem Morgen stand Fred der Liquidation der Nachtigall noch nachsichtiger gegenüber. Die erste Nacht in Brunos Laube war um halb fünf vorbei gewesen. Dann begannen Tausende von Vögeln einen Lärm, der so lange anhielt, bis Fred hellwach war. In dem Moment brach der Lärm abrupt ab. Fred blickte sich in der Laube um. Penibel ist Bruno, da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Luftmatratze war ein wenig weich, dafür lang genug. Fred hatte Vorräte gebunkert. Im Moment war er ganz zufrieden. Am meisten beunruhigte ihn, daß er sich eine neue Wohnung suchen mußte. Und er wollte endlich raus aus seiner Arbeitslosen-Existenz. In dieser Stadt leben 2000 Millionäre und werden ununterbrochen beklaut. Jeden Tag berichten die Zeitungen über einen Bruch. Teppiche, Schmuck, Bargeld, Kunstgegenstände. Die Hehler kennst du doch auch fast alle. Sorgen bereitete Fred der lange Atem. Wenn sich ein Bruch lohnen sollte, mußte man einige Wochen für Ausspähen und Vorbereitung dransetzen. Bruno, der kann das, der hat es nicht eilig. Fred fand, daß er selber der ideale Handtaschenräuber war. Zupacken, Sprint, weg. Bei diesen Gedanken kam für Fred Freude auf. Du bist eben ein typisches Produkt dieser Gesellschaft. Nur auf schnelle Bedürfnis-Befriedigung aus. Unfähig zur mittelfristigen Sehweise. Liest man doch immer wieder. Fred trat ans Fenster. Willi Rose stand auf seinem Rasen. Er trug nur eine Turnhose und machte Kniebeugen. 30 Stück guckte Fred sich an. Dann wandte er sich verbittert ab und guckte in den kleinen Rasierspiegel. Da steht so ein Tattergreis, geht 30mal in die Hocke und kommt wieder hoch wie nix. Und du bist unrasiert, stinkst aus dem Mund und lebst ein verpfuschtes Leben. Für ein kleines Licht bist du zu helle. Aber für einen großen Fisch bist du ein Stichling, bestenfalls. Fred wußte nicht, wie er diesen Tag Überstehen sollte.

 

«Mittagszeit, schöne Zeit», sagte Hildegard perlend und schlug die Akte zu. Vor diesem Moment hatte sich Borbet gefürchtet. Er griff zum Telefonhörer und wählte eine dreistellige Zahl, die es unter den Hausanschlüssen nicht gab. Als sich Hildegard seinem Schreibtisch näherte, legte er den Hörer auf. «Müssen Sie heute wieder was besorgen?» Borbet brach fast das Herz, als er sich in dieses offene Gesicht eine Lüge hineinsagen hörte: «Ich muß die Terminsache noch unbedingt rausknallen.» Er griff zu einem Ordner, den er für diesen Zweck bereitgelegt hatte. «Das hat doch Zeit», lockte Hildegard. «Ehrgeiz», lachte Borbet. «Kommen Sie, Chefin. Man soll die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen», mischte sich Belmondo ein. «Ja, geht nur schon vor. Heinz Borbet arbeitet in Windeseile und kommt dann nach.» Borbet tippte erneut die dreistellige Nummer ein.

Vorsichtig guckte er über die Trennwand. Er war allein. Borbet griff den Aktenordner und machte sich auf den Weg. Es hatte ihn ein paar Minuten Fragerei gekostet, bis er herausgefunden hatte, welcher Kollege in der Abteilung Schaden die Wegemann-Sache bearbeitete. Er kannte ihn vom Sehen. Als Borbet die Tür am Ende des Großraumbüros aufdrückte, spürte er, daß er nasse Hände hatte.

Er benutzte die feste Treppe. Das Großraumbüro im dritten Stock war eine Kopie der Räume im ersten und zweiten. Die Abteilung Schaden lag im vorderen Teil. Kein Mensch war zu sehen. Borbet schlenderte den Mittelgang entlang und bog zügig nach rechts ab. Vier Schreibtische, eine Grünpflanze, die’ bedeutend besser im Futter stand als in Borbets Abteilung. Er setzte sich an den Schreibtisch des Wegemann-Sachbearbeiters. Das fand Borbet zwar gefährlich, aber auch sicher, weil er vom Mittelgang aus nur schwer zu entdecken war. Das Ordnungssystem aus einer Kombination von römischen Ziffern und Buchstaben kannte Borbet nicht. Hastig begann er, den Aktenhaufen abzutragen. Schon die zweite Mappe rutschte ihm aus der unsicheren Hand. DIN-A4-Bögen und kleine Schmierzettel mit handschriftlichen Notizen flatterten auf den Teppichboden. Borbets Herz schlug immer schneller. Auf dem Fußboden kniend und hastig die Zettel zusamenraffend, hielt er plötzlich inne. Der große Raum war vollkommen still. Die Klimaanlage arbeitete mit leisem Zischen.

Auf dem Schreibtisch lag der Vorgang Wegemann nicht. Enttäuscht lehnte sich Borbet zurück. Sein Blick schweifte über die anderen Schreibtische. Die Idee kam aus dem Nichts. Er sprang auf, eilte zum Tisch des Gruppenleiters und suchte dort. Die zweite Akte war Wegemanns. Du bist ein kluges Köpfchen. So sind sie eben, diese Sachbearbeiter. Immer schön alles dem Chef vorlegen, damit man aus dem Schneider ist, wenn mal was passiert. Der Vorgang Wegemann besaß einen festen Aktenordner. Wer es dazu gebracht hatte, galt im Haus als besserer Kunde. Borbet schnappte die Zwange auf und blätterte mit fliegenden Fingern die Seiten durch. Police, Schadensmeldung, fotokopierte Zeitungsausschnitte aus der Allgemeinen, handschriftliche Notizen, eine Notiz von Kahl persönlich. Borbet konzentrierte sich auf das Schreiben von Wegemann. «118276.— kapitalisierte Rente zugunsten Sophie Wegemann geb. Schlappner.» Borbet ließ den Zettel sinken und blickte auf den Kübel mit den Grünpflanzen. Einhundertachtzehntausend. Das sind... Das sind zwei Jahresgehälter. Schnell las er weiter. «Brosche wie schon am Tatort beschrieben. Zusätzlich liegt bei: eine Expertise von Juwelier Hähnchen, Pforzheim. Er gibt den materiellen Wert mit 19 000 DM an. Gleichzeitig betont er, solche Schätzung sei bei solchen Preziosen völliger Blödsinn. Bei Verkauf seien für die Brosche jederzeit 30 000 zu erzielen. Bei Verkauf an einen Liebhaber entsprechend mehr, eventuell das Doppelte.» Ach, das tut gut, so was zu lesen. Und jetzt die Kombination. Borbet las sorgfältig, nirgends stand die Nummer der Kombination. Borbet las ein zweites Mal. Er war so in die Arbeit vertieft, daß er den Kollegen nicht bemerkte, der den Mittelgang entlang kam und in den hinteren Teil des Büros ging. Erst als von Ferne zwei Frauenstimmen ertönten, zuckte Borbet zusammen. Hektisch legte er den Ordner an seinen Platz zurück. Die Frauen erreichten die Abteilung Schaden. Über die Trennwand hinweg nickten sie Borbet zu. Borbet strich sich über die Stirn. Er spürte, wie das völlig durchweichte Oberhemd sich schmatzend von der Armbeuge löste.

Und plötzlich stand ein Mann in der Abteilung. Borbet erstarrte. Der Mann lächelte ihn an und blickte munter zwischen den Schreibtischen hin und her. «Da oder da?» fragte er und wies auf zwei Tische. Borbet wollte freundlich gucken. Er war sicher, daß er knallrot war und dumm glotzte. «Der Wehrhahn, der alte Angler, das ist doch sein Tisch, wie?» Erst jetzt nahm Borbet wahr, daß der Mann eine Angelrute in der Hand hielt. Borbet schluckte, das Geräusch dröhnte im Kopf. «Äh...» sagte er und ließ seine Hand in der Luft herumpendeln. «Danke, danke, habe ich ja gleich gesagt», lachte der Mann und stellte die Angelrute an den Aktenschrank. «Petri Heil», sagte er und legte die Hand an die Schläfe. «Petri Dank», sagte Borbet. Der Mann strahlte. «Donnerwetter, Angelfreund?» Borbet lächelte kläglich. Der Mann verschwand. Mit staksigen Schritten ging Borbet zur Tür. Wie betäubt fuhr er mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß und ging den nur Eingeweihten bekannten Schleichgang durch einen Lagerraum hinaus ins Freie. In den Beinen begann es und setzte sich in den Armen fort: Borbet begann zu zittern. Er hatte das Gefühl zu frieren. Erstaunt nahm er wahr, wie seine Zähne gegeneinanderschlugen. Ruhig, Heinz. Das will alles gelernt sein. Ganz ruhig werden. Du warst schon ganz gut für den Anfang. Alles unter Kontrolle. Hinter ihm klopfte es. Borbet fuhr herum und starrte in die vier Meter hohe Glasfront des Casinos. Hildegard, Belmondo, Erna Degenhardt und ein unbekannter Mann saßen am Fenster und gestikulierten gutgelaunt herum. Er hatte total vergessen, daß die Tür neben dem Casino ins Freie führte. Borbet grinste, hob den Arm, bewegte ihn albern hin und her. Dann ging er ins Casino.

 

Fred fand es deprimierend, daß er den Anruf aus einer Telefonzelle tätigen mußte. Eine Frau war dran. Schnippisch fragte sie, ob es dringend sei, dann stellte sie durch. «Wegemann.»

«New York, Pissoir, drittes Becken von links, capito?» Fred lachte. «Aha. Und?»

«Wir haben Ihren Tresor.»

«Mmh.»

«Übergabe heute abend, 23 Uhr. Kennen Sie sich am Hafen aus?»

«Landungsbrücken, Köhlbrandbrücke, Freihafen, sowas?»

«Das alles gerade nicht. Schuppen 23 A, das ist dieses lange Bauwerk, wo an der einen Seite Wasser ist und an der anderen die Bahn langfährt.»

«Werde ich finden. 23 Uhr?»

«23 Uhr und 5000 Mark mitbringen, sonst läuft nämlich nichts.»

Nach dem Telefongespräch streifte Fred durch die Straßen. Die Tageszeitungen berichteten keine Zeile über Tante Frieda. Fred wußte nicht, ob er das beruhigend finden sollte. Er ging bald in die Kolonie zurück. Mißmutig stapfte er durch den Garten und zog ein paarmal an Grünzeug herum. Fred hatte die stille Hoffnung, daß sich darunter vielleicht ein Radieschen oder eine Mohrrübe befanden. Als er Bruno davon erzählte, wollte der ihm auf der Stelle eine Einführung in den Zeitplan der Natur geben. Entsetzt winkte Fred ab. «Warum bist du überhaupt schon hier?»

«Heute ist Freitag, mein Gartentag. Außerdem möchte ich dabeisein, wenn Fritz rumtönt. Hier, das lag heute im Briefkasten.» Fred hielt die Einladung zum alljährlichen Sommerfest von «Blüh auf» in der Hand. Der letzte Absatz lautete:

Da sich in der letzten Zeit Gerüchte häufen, daß der Weiterbestand unserer geliebten Kolonie gefährdet sein könnte, sieht sich der Vorstand veranlaßt, das Sommerfest am übernächsten Samstag mit einer Informationsveranstaltung zu verbinden. Vertreter der Passau-Paderborner-Versicherung werden sich den Fragen von uns Kleingärtnern stellen. Danach werden dann hoffentlich die feige im Schutz der Anonymität agierenden Dunkelmänner ihre Verleumdungskampagne aufgeben. Liebe Vereinsmitglieder und Freunde, denkt daran: 15 Uhr Informationsveranstaltung mit nachfolgender Möglichkeit zur Diskussion. Ab 18 Uhr großes Sommerfest mit Tanz und Bowle auf dem Vorplatz des Vereinsheims.

 

Kommissar Fleischhauer ließ das Blatt sinken. «Da gratuliere ich aber auch schön», sagte er zu der vor ihm sitzenden Jo Puttel. «Das ist dann ja wohl quasi Ihr Antrittsbesuch in der neuen Funktion.» Jo Puttel lächelte gequält. Sie konnte nach der sektseligen Nacht dermaßen ausführliche Monologe noch nicht gut ab. «Geschenkt», sagte sie, «es ist so, daß wir den Fall Wegemann dermaßen ausgelutscht haben, daß uns nur noch die Betterlebnisse unseres Helden fehlen.» Fleischhauer lächelte nicht. «Wir werden das Ding vom Montag an herunterfahren. Schließlich warten schon die nächsten dynamischen Selbständigen. Deshalb bin ich hier.»

«Ich bin kein Selbständiger», wehrte Fleischhauer ab. «Ich bin hier, um zu hören, ob es neue Spuren im Fall Wegemann-Tresor gibt.»

«Ach Gott, Spuren», erwiderte Fleischhauer, «was sind Spuren?» Jo legte Stenoblock und Bleistift auf den Oberschenkel. «Kennen Sie das New Yorker? Jo blickte auf. «Wieso? Ja, kenne ich.»

«Verkehren Sie da auch?»

«Bisweilen.» Sie lächelte eitel. «In der nächsten Zeit wahrscheinlich häufiger.»

«Aha.»

«Wieso aha?»

«Ist ein buntes Völkchen, das da verkehrt, wie?»

«Kollegen von mir, Rundfunk, Werbung, was eben nach Feierabend noch gern gut essen und trinken geht.»

«Das tu ich auch, und ich gehe da nicht hin», sagte Fleischhauer. «Um es kurz zu machen, das New Yorker ist wahrscheinlich die Quelle... äh, vorher noch: Wir führen gerade ein Vier-Augen-Gespräch. Alles ist Hintergrund, nichts verläßt den Raum, klar?» Jo nickte. «Schön. Also in dem Lokal geht die Mär um, daß sich unser Freund Wegemann sehr darum bemüht, seinen Tresor zurückzubekommen. Wie finden wir das?»

«Ich finde das sehr ordentlich von ihm. Bei dem vielen wertvollen Zeug, das da drinliegt.»

«Er will 5000 Mark für den Tresor zahlen.»

«Oh», sagte Jo. «Ja, ja», sagte Fleischhauer und betrachtete seine Fingernägel. «Das muß nichts zu bedeuten haben.»

«Hat es sicher nicht», pflichtete ihm Jo bei. «Das kann aber was zu bedeuten haben, wenn man mal für einen Augenblick vergißt, daß unser Freund Wegemann natürlich koscher bis auf die Knochen ist.» Nachdenklich blickte Jo auf Fleischhauers Geheimratsecken. Etwas in ihr begann zu rumoren und Fragen zu stellen.

 

Kurz vor Feierabend meldete sich noch Personalchef Dr. Kohl, der in der Versicherung den Beinamen «nicht verwandt und nicht verschwägert» trug. Er hatte selbst damit angefangen, dann hatte sich der Scherz selbständig gemacht. Heute war er für jedermann Teil von Kohls Namen. «Lieber Herr Borbet, ich rufe Sie der Ordnung halber an. Heute vormittag hat sich einer unserer Pförtner über Sie beschwert.»

«Ach ja», sagte Borbet, «ich hatte es schon ganz vergessen. Eine kleine Meinungsverschiedenheit. Der Herr Pförtner war gereizt, ich hatte es eilig, es war früher Morgen.»

«Na ja, na ja», sagte Kohl gelangweilt, «wir wissen alle, daß gerade die Angehörigen unserer, wie soll ich mich ausdrücken, unserer unteren Dienstränge über ein besonders ausgeprägtes Pflicht- und Ehrgefühl verfügen. Der Herr Kienzle ist jedenfalls sehr erzürnt. Es wäre schön, wenn Sie das bei Gelegenheit unter sich ausräumen könnten.» Mann, hast du einen armseligen Job. Mußt Türsteher anhören und dann für die Sprachrohr spielen. Ich möchte nicht mit dir tauschen. «Geht klar, Herr Dr. Kohl. Wie war gleich noch mal der Name?»

«Kohl.»

«Ich meine den Namen des Pförtners.»

«Kienzle.» Kohl kicherte. «Wie die gleichnamige Uhr.» Kohl kicherte verstärkt. «Kienzle, danke. Auf Wiederhören, Herr Dr. Kohl nicht verwandt und nicht verschwägert.» Borbet unterbrach schnell die Verbindung. Hildegard schüttelte den Kopf. «Sie haben es ja auch gut, Heinz. Was soll man mit Ihrem Namen schon anfangen?»

«Wieso? Borbet ist ein guter Name.»

«Das meine ich ja. Ich kenne niemanden sonst, der Borbet heißt.»

«Wir Borbets sind eben selten», sagte Borbet, «uns muß man mit der Lupe suchen. Westfalen, ganz im Osten, da soll es ein Nest geben. Dickschädelig, kantig, sympathisch, richtige Charaktere eben.» Borbet warf sich voll in Hildegards Augen. Sie atmete ihm entgegen. Über dem Spannteppich trafen sich ihre Blicke.

 

Wegemann lief durch die Räume. «Los, los, laßt euch nicht hundertmal bitten. Rainer ist soweit.» Alle trudelten im Arbeitsraum von Kurz ein. Kunze brachte einen Sechserpack Bierdosen mit. Roswitha ordnete ihr Halstuch, das den Knutschfleck verdecken sollte. Jedem war das Tuch aufgefallen, und das Rätselraten über seinen Zweck dauerte schon seit dem frühen Morgen. Von züchtigen Vermutungen («Knutschfleck») war es unaufhaltsam in handfestere Bereiche gegangen.

«Sadomasochistische Male, wa?» fragte ausgerechnet Kurz, der mit schnell aufeinanderfolgenden «ch»- und «sch»-Lauten sowieso gehörige Probleme hatte. Seit Jahren wurde Kurz auf Parties und Gelagen zu fortgerückter Stunde um das Nachsprechen des Satzes «Charly Chaplin scheißt in Chicago mit Chuzpe vor einen Schießstand» gebeten.

Kurz guckte auf das Bier und fragte Kunze freundlich: «Warum hast du denn für uns nichts zu trinken mitgebracht?» Tita ging in die kleine Küche. Kurz hakte beide Daumen zwischen Bauchspeck und Hosenrand fest. «Mitarbeiter, Freunde...» Tita kam mit Wein- und Mineralwasserflaschen zurück. «Mitarbeiter, Freunde, Tita. Die Präsentation steht. Passau und Paderborn sind uns sicher. Und wem haben wir das alles zu verdanken? Unserem verehrten...» Wegemann fühlte sich sehr geschmeichelt. Er stand auf und wollte sich gerade verbeugen, als Kurz seinen Satz fortsetzte. «...unserem roten kleinen Tresor.» Wegemann setzte sich wieder hin. Diese Gemeinheit zahle ich dir bei Gelegenheit heim.

«Wir haben eine Familie. Nennen wir sie Spielmann. Vater, Mutter und zwei Kinder. Sohn und Tochter, 3 und 8. Mutter 31, Vater 35. Und einen Hund haben sie, Cocker-Spaniel, Rüde, 2 Jahre alt.»

Kurz stockte, ging zum Schreibtisch, blätterte lautstark in Papier, ging zur Wandtafel zurück. «Ich vergaß die Oma. Alternativ einen Opa. Alternativ Oma und Opa. Müssen wir mal sehen. Eigenheim mit Einliegerwohnung, Stadtrand. Im Dunst des Smogs siehst du die Skyline der Satellitenstadt, den Antichrist in Beton, wo sie nie hin wollten, die Spielmanns. Sie haben gespart und gespart. Die Großeltern haben sich nicht lumpen lassen. Gespart, gespart, und sie haben es geschafft. Verschuldet bis in die Puppen, das erleben die gar nicht mehr, wenn der ganze Klumpatsch abgezahlt ist. Aber sie haben was Eigenes und können um ihr Eigentum einmal herumgehen. Deshalb wollten sie auch ums Verrecken kein Reihenhaus. Na, ist das eine geile Ausgangslage?» Kurz hielt inne. Wegemann schüttelte leicht den Kopf. Kurz, Kurz, du läßt dich hinreißen, und du willst doch ein Profi sein. Denk daran, Junge, alte Hurenregel: Im Schritt trocken bleiben, das ist die richtige Berufsauffassung. Kurz nahm einen Schluck. «Das wäre also unsere Familie. Durchschnitt, piefig, wenn man’s häßlich sagen will. Liebenswert, typisch, wie du und ich, wenn man es freundlich sagen will. Und das wollen wir doch. Der Witz der Idee ist nun, daß wir Wände, Decken und Fußböden dieser liebenswerten Familie niederreißen und Glaswände, Glasdecken und Glasfußböden einziehen. Wir machen sie durchsichtig, die Spielmanns. Durchfall, Verstopfung, Streit, Erektionsprobleme, der Sohn hat eine Rotznase, der Oma fallen die Haare aus.»

Kurz kratzte sich am Kopf. «Spielmanns machen sich total durchsichtig für den Fernsehzuschauer, den Zeitungsleser und den Illustriertenleser auch. Was immer ihnen oder einem von ihnen widerfährt, sofort steht unser Schlaumeier von der Passau-Paderborner in der Tür, hat das Mikrofon quer im Maul, der Schaum rinnt von der Schnur ins Erdreich, der Humus teilt sich, und aus ihm erwächst in Windeseile eine Blume, knallgelb, leuchtendrot, versonnen-hellblau. Sechs Blütenblätter hat sie, und auf ihnen steht reihum: ‹Passau-Paderborner — und die Zukunft bekommt Wurzeln.›» Kurz war regelrecht ergriffen. Roswitha und Tita pfiffen anerkennend. Kurz trank und fuhr fort. «Wann immer unsere Familie irgendein Problem hegt, steht unser rasender Reporter in der Tür, ein Spielmann öffnet, freut sich halbtot, weil der Passau-Paderborner-Mann da ist, und dann zieht der das Zukunftspaket aus der Tasche: Alle Versicherungen aus einer Hand: von der PP. Das spart Zeit, Kosten, Organisation. Und die PP kann einen Mengenrabatt geben oder wenigstens Vortäuschen. Leute, wir hintertreiben einige Jahrzehnte bundesdeutschen Familienlebens. Adieu Jägerzaun. Tschüs Sicherheitsabstand. Von wegen Tür zu und Rolläden runter. Unsere Spielmanns sind nach allen Seiten offen. Sie kennen keinen Feierabend und keine Intimsphäre. Sie sind völlig schamlos, machen theoretisch die Beine breit. Spielmanns sind ständig bereit», rief Kurz. Darauf erhob sich kollektives Gewiehere der Männer. «Was immer das Problem ist, Passau-Paderborn hat die Lösung parat. Die bietet sie an. Spielmanns gucken bescheuert in die Kamera, halten Thing wie die Germanen, und nach 30 Sekunden unterschreiben sie.» Kurz wischte sich Schweiß von der Stirn. «Schnitt, Gong, Bong, was weiß ich. Jedenfalls nächste Einstellung: Spielmanns im schützenden Licht der neuen Versicherung. Alles geht leicht, alles ist easy. Sie haben die goldrichtige Entscheidung getroffen und können nur jedem empfehlen, es ihnen gleichzutun.» 20 Minuten später beendete Kurz seine Ausführungen unter dem rauschenden Beifall von acht Händen.

Fehlt bloß noch der Nebel, ein Hund heult und Klaus Kinski guckt um die Ecke. Götz Wegemann wollte unwillkürlich den Mantelkragen hochschlagen. Doch er trug seine abgewetzte Lederjacke, sie hatte keinen Kragen. Wegemann steckte sich eine Zigarette an große Ausnahme ehrlich und ging auf und ab. Er hatte den Range Rover direkt vor der Tür geparkt, neben der 23 A aufgemalt war. Der Jaguar stand seit Mittag auf dem Hof der Alternativ-Werkstatt. Den Rover hatte sich Wegemann von Friedhelm ausgeliehen. Eben fuhr ein Zug in Richtung Hauptbahnhof. Wegemann zählte die Waggons. Der Zug rollte vorbei. «Aaaahhh!» Wegemann dachte, sein Herz blieb stehen. Er schleuderte herum, Brunos Hand wurde von Wegemanns Schulter gerissen.

«Na, na, zappeln Sie doch nicht so rum.»

«Mann Gottes», sagte Wegemann keuchend, «das machen Sie bitte nicht noch mal.»

Bruno winkte ihm zu, Wegemann verstand nicht. Er sah, wie Bruno die Tür des Schuppens aufschob und im Inneren verschwand.

«Na los», kam es von innen. Wegemann blickte auf den Rover und folgte Bruno. Gegen den milchig-dunklen Hafenhimmel sah er Brunos Gestalt durch den Schuppen auf die offene Tür an der gegenüberliegenden Seite zugehen. Wegemann beeilte sich. Er hatte keine Angst, doch die Situation war ihm vollständig fremd. Neben einem Poller blieb Bruno stehen. Etwa 50 Meter entfernt hatte ein Frachter festgemacht. Wegemann kam näher. Bruno zeigte nach vorn. Wegemann trat vor den Tresor.

«Und jetzt das Geld», sagte Bruno aggressiv.

«Erst mal werde ich ja wohl gucken dürfen», zischte Wegemann. Er ging in die Hocke. Ist ja nicht zu fassen. Das ist er. Ist er das wirklich?

«Das Geld», zeterte Bruno. Wegemann winkte unwirsch ab. Bruno trat auf ihn zu und versuchte, ihn in die Höhe zu ziehen.

«Ich will das Geld, und zwar sofort.»

Wegemann wußte nicht, was das da war in Brunos Gesicht: Angst oder Wut.

«Laß mich los, du Idiot. Wenn das mein Tresor ist, gibt es vielleicht auch sechstausend.»

Bruno trat einen Schritt nach hinten.

«Sechstausend», sagte er völlig verblüfft. Mensch, bist du blöd.

Plötzlich ging eine Sirene los. Wegemann fuhr herum, der Polizeiwagen war noch nicht zu sehen.

«Polizei», fuhr er Bruno an. Der Tresor. Wegemann packte den Tresor, kantete ihn, der Tresor fiel zur Seite. Wegemann faßte erneut zu und kippte noch einmal. Mit einem satten Klatschen fiel der Tresor ins Wasser.

«Los komm», rief Wegemann Bruno zu und stürmte durch das Tor von Schuppen 23 A. Als er die Tür des Rover aufriß, hörte er, wie die Sirene abbrach. Jetzt sind sie da. Wegemann verließ in halsbrecherischer Fahrt das Hafengelände.

Bruno stand an der Kaimauer und starrte aufs Wasser. Fred kam aus dem Nachbarschuppen und lief mit der Sirene in der Hand auf ihn zu.

«Ins Wasser geworfen», sagte Bruno tonlos.

Fred verstand Wegemanns Handlungsweise zwar nicht, aber sie interessierte ihn auch nicht besonders.

«Das Geld. Zeig her. Endlich mal ein Erfolgserlebnis.»

«Kein Geld», sagte Bruno dumpf.

Sein Tonfall bewirkte, daß Fred den Satz nicht für einen Scherz hielt.

«Bruno nein.»

«Doch, Fred, doch.»

«Wir hatten abgemacht, daß du, wenn Wegemann das Geld rausgerückt hat, laut und deutlich ‹fünftausend!› sagst. Das war für mich das Zeichen, die Sirene anzuwerfen. Damit er Schiß kriegt und keine Gelegenheit hat, den Schrank aufzumachen. Du hast ‹fünftausend› gesagt.»

«Ich habe ‹sechstausend› gesagt.»

Sie brauchten einige Minuten, um das Mißverständnis aufzuklären. Danach stellte sich Fred neben Bruno und starrte ebenfalls auf das Wasser.

«Sag mal, Bruno, kannst du schwimmen?»

«Wie ein Aal.» Mist. Nichts klappt. Völlig niedergeschlagen ging Fred durch den Schuppen auf die Seite, wo die Züge fahren. Er machte sich zu Fuß auf den Weg.

Um kurz nach Mitternacht war Fred in der Laube. Er kippte die halbe Flasche Korn in die dreiviertel Flasche Birnenkompott und becherte den Sud unter der Überschrift «Rumtopf» rein. Anschließend übergab er sich auf Brunos Komposthaufen. Er reinigte sich, so gut es ging, unter dem Kaltwasserhahn, wühlte in der Reisetasche herum und wechselte Socken, Unterhose und T-Shirt. Mit einer Taxe fuhr er auf den Kiez, wo er sich ausnahmsweise nicht in Richtung Davidstraße zu den blutjungen Huren orientierte, sondern seine Frustration und Wut auf einer Enddreißigerin im Eros-Center herunterzappelte. Die Hure war Rheinländerin und schwatzhaft, das machte es für Fred nicht leichter.

 

«Heinz, du fällst», rief Marianne entsetzt und schlug beide Hände vor den Mund. Du hast ja so recht. Es knallte, Borbet sackte vor der Kommode auf den Läufer. Am nächsten Morgen wußte keiner mehr genau zu sagen, wer als erster auf den Gedanken gekommen war, daß ein Sprung von der Kommode auf das Bett den geeigneten Beginn für einen leidenschaftlichen Liebesakt darstellen könnte. Marianne gestand mit allen Anzeichen von Schamgefühl, daß sie die Vorstellung als sehr aufregend empfunden hatte. «Du liegst einfach so da. Und während du nichts Böses ahnst, senken sich die dunklen Schwingen des angreifenden Adlers über deinen Körper.» Nach diesem Geständnis war Borbet gar nicht mehr so sicher, ob er seine Frau wirklich in- und auswendig kannte, wie er bis heute gedacht hatte. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, beschwerte er sich bei Marianne, daß sie ihm nicht zu Hilfe gekommen war. Sie kicherte albern, Borbet lief ins Badezimmer und checkte seinen Körper auf blaue Flecken durch. Dann lief er wieder nackt durch den Flur ins Schlafzimmer. Einerseits fühlte er sich sehr mutig, daß er mit 43 Jahren durch ein quasi öffentliches Gelände wie einen Wohnungsflur hetzte. Andererseits hätte er zu gerne gewußt, wo sich Jutta in dieser Sekunde herumtrieb.

Vorsichtig warf er sich neben Marianne. «Mein ein und alles», hechelte er, den Mund dicht an ihrem Ohr. Borbet, der nun schlagartig die Wirkung der eineinhalb Flaschen Sekt verspürte, ärgerte sich, daß er Marianne nicht schon während des Spätfilms im Fernsehen angedeutet hatte, daß er ihr etwas Wichtiges sagen wollte. Du mußt es ihr sagen, das ist sicherer. Sie erfährt es ja sowieso, dann kann sie es auch gleich hören. Schließlich ist sie deine Frau. Während sich Marianne an ihn kuschelte, war Borbet mit den Gedanken sehr weit weg. «Liebling», sagte er. «Mmh», kam es von Marianne. Sie rückte ihm noch dichter auf den Leib. «Liebling, ich muß dir etwas sagen.»

«Aber ich weiß doch, ich verstehe das. Das war heute ein harter Tag für dich.» Borbet blickte sie an. Ach, Marianne, warum verstehst du mich nie?

Am nächsten Morgen erinnerte sich Borbet, daß er gegen halb zwei das letzte Mal auf den Wecker geschaut hatte. Jutta war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Hause gewesen. Als er mit Marianne am Frühstückstisch saß, kam seine Tochter völlig übernächtigt in die Küche geschlichen. Sie klemmte sich zwischen Tisch und Stuhl, damit sie nicht umfiel. Borbet hatte das Gefühl, daß eine strenge Befragung nötig gewesen wäre. Doch er verspürte starken Widerwillen, sich mit diesem maulenden Wesen herumzuärgern. «Muß ich heute wieder mit in den Garten?» Das wollte Borbet nun doch klarstellen. «Niemand zwingt dich, mit in den Garten zu kommen. Das machst du auf freiwilliger Grundlage, und du weißt auch warum. Auf dem Balkon ist die Sonne ab halb eins verschwunden. Und seitdem du in einer deiner Frauenzeitschriften gelesen hast, daß Sonne gut ist gegen Pickel, bist du ganz wild auf den Garten.»

«Ist doch auch schon besser geworden», sagte Marianne versöhnlich und strich Jutta die Haare aus der Stirn. Jutta rührte sich ein Müsli an. Borbet klaute ihr einige Nüsse. Später wurde Jutta von einer Freundin abgeholt. Borbet ging mit Marianne einkaufen. Er fand es köstlich, wie sie darauf bestand, daß die Verkäuferin einen Korb Erdbeeren auswog. Rührend, Marianne, rührend. Sei ruhig noch ein bißchen preisbewußt. Wenn wir nächsten Sonnabend einkaufen gehen, machen wir das ganz anders: Dann kaufen wir den Laden. Quatsch: Wir lassen einkaufen.

 

 

Genauso, wenn auch nicht auf Bierkästen, sitzt eine bisher viel zuwenig bekannte Gestalt der Kriminalliteratur. Es ist der Wachtmeister Studer, Geschöpf des schweizerischen Friedrich Glauser.

 

 

Mittags zog es Borbet in den Keller. Er schmunzelte, als er Marianne wissend lächeln sah. Borbet rückte einen Bierkasten genau vor den Tresor. Dann setzte er sich in seiner Lieblingsstellung auf den Kasten: die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet. Jetzt steht das Ding schon fast eine Woche hier unten, und du bist keinen Schritt weitergekommen. Wut und Hilflosigkeit platzten in Borbet auf. Was kann ich denn machen, verdammter Mist noch mal? Er schlug mit der Faust auf den Tresor. Da hilft Gewalt und sonst gar nichts. Das ist wie im Leben. Sengen, Brennen, Morden, Zündeln. Das ist den Schweiß der Edlen wert. Schweiß. Schweißen. Andreas. Junge, wie schön, daß es dich gibt. Borbet nahm sich vor, morgen seinen Sohn zu besuchen. Von dem läßt du dir unauffällig erklären, wie man ein Schweißgerät bedient. Dann wird so ein Ding besorgt und dann Feuer frei.

 

 

Was kostet die Freiheit?

 

Flug Hamburg — Acapulco 1950,- DM

1 Woche Fünf-Sterne-Hotel 1400,- DM

Outfit: Anzug, Schuhe, Sonnenbrille etc. 950,- DM

diverse Drinks 300,- DM

Postkarte incl. Porto mit Grüßen für die Lieben daheim 1,50 DM

 

 

Borbet war sicher, daß noch kein Tag im Garten so langweilig gewesen war wie dieser.

Er versuchte, der satten Abgespanntheit nachzugeben, die sich wie an jedem Wochenende auf ihn senkte. Er döste einige Viertelstunden, schmökerte in der Zeitung und in einem Krimi und wurde immer wieder zum Immobilienteil der Zeitung zurückgezogen. Das muß ja nun langsam mal Form annehmen. Reihenhaus, Doppelhaushälfte, freistehendes Eigenheim, Bungalow oder mit Dach zum Ausbauen, Reihenhaus. Igitt nee, kein Reihenhaus. Große Altbauwohnung, Eigentum natürlich. Borbet studierte die Preise. Unverschämt. Na, wir können es uns ja leisten. In diesen Minuten kam der Buchhalter in ihm zum Vorschein. Borbet ärgerte sich, daß er nicht gleich heute zu Andreas gefahren war. Schließlich hatte er einen Grund. Die Stoßdämpfer des Audi waren eindeutig angebrochen. Zwar hatte Borbet Angst, mit einem Wagen zu fahren, an dem Andreas und seinesgleichen herumrepariert hatten. Den Wagen gibst du danach in eine anständige Werkstatt. Man muß mit seiner Lebenserwartung ja nicht vorsätzlich Schindluder treiben. Doch er hatte mit Marianne abgemacht, daß in dieser Woche Samstag der Gartentag war. Borbet wollte keinen Verdacht erregen. Er hatte eine hohe Meinung von Mariannes Kombinationsgabe. Nur auf die Sache mit Hildegard, da ist sie dir noch nicht draufgekommen. Ist ja auch geschickt eingefädelt. Keine Mitwisser. Als Borbet dann klar wurde, daß wahrscheinlich noch nicht einmal Hildegard zu den Mitwissern gehörte, sackte er im Liegestuhl leicht nach unten durch. Plötzlich nervte ihn die Sonne, lärmten die Vögel zu laut, und der Rasenmäher von Bruno Kalkowski funktionierte anscheinend auch nur zwischen 13 und 15 Uhr. Borbet hielt hartnäckig die Augen geschlossen. Er stellte sich vor, daß er ab sofort 15 Zentimeter größer wäre. Seine Höhe von 173 Zentimetern (ohne Schuhe) war langfristig gesehen der größte Makel, den er an sich kannte.

Irgendein Vieh kitzelte ihn im Gesicht. Borbet schlug nach dem Insekt. Es war sofort wieder da. Er schlug erneut zu und knallte sich dabei ein paar. Marianne lachte. Borbet öffnete die Augen. Marianne kniete vor ihm und hielt noch den Grashalm in der Hand.

«Ich möchte dir nur sagen, daß du der beste Mann auf der Welt bist», sagte sie zärtlich. Mehr, Marianne, die Richtung stimmt. Viel mehr. Ich könnte dir stundenlang zuhören. Borbet küßte seine Frau zärtlich auf die vollen Haare. Anschließend pulte er mit der Zunge im Mund herum, um das lange Haar herauszubekommen. Mariannes nächster Satz war von leichten Würgegeräuschen ihres Mannes begleitet.

«Ich finde, wir haben es sehr schön miteinander, findest du nicht auch?»

«Ja, ganz schön schon. Aber ein bißchen was fehlt noch.» Borbet war sehr gespannt.

«Ein Sechser im Lotto», lachte Marianne.

«Zum Beispiel», sagte er ernst, «oder überhaupt so viel Geld, daß wir uns etwas leisten können.»

«Aber Heinz, was sollen wir uns denn leisten?»

«Das, was sich alle wünschen und was wir uns auch wünschen.» Marianne setzte sich auf die Lehne des Liegestuhls.

«Wir haben ein neues Auto, wohnen in einer ganz schönen Wohnung, und der Bausparvertrag ist in gut einem Jahr zuteilungsreif. Unsere Kinder sind wohlgeraten. Im großen und ganzen sind sie wohlgeraten. Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln. Wir haben eine eiserne Reserve auf dem Konto, fahren jedes Jahr in Urlaub. Was willst du mehr?»

Borbet erkannte, daß Marianne mit dem neuen Leben größere Probleme haben würde als er. Er beschloß, ihr fürs erste einen VW Golf als Zweitwagen und eine Haushaltshilfe zur Verfügung zu stellen. Borbet dachte sofort an eine ausländische Putzfrau. Er fand den Gedanken angenehm nachkolonial.

Am späten Nachmittag raffte er sich aus dem Liegestuhl hoch und hackte eine Runde Unkraut. Dabei wurde er Zeuge, wie Renate Kalkowski in der Laube nebenan den Arbeitskittel auszog und ein extrem geblümtes Sommerkleid überstreifte. Renate war das einzige, worum Borbet seinen Parzellennachbarn Bruno beneidete. Es war ein zwiespältiger Neid. Borbet war nicht ganz sicher, ob diese kolossale Frau ihn nicht in Angst und Schrecken versetzen würde. Mensch, wenn die angreift, die zerdrückt dir glatt den Brustkorb. Da pumpst du wie ein Maikäfer. Wie schafft Bruno das eigentlich, so eine Plautze von Bauch zu behalten?

Über den Gartenzaun hielt Borbet mit Bruno einen kleinen Plausch. Bruno schien unlustig und deprimiert zu sein. Borbet sprach ihn darauf an. «Ach, das hat nichts zu bedeuten. Mir ist nur ein Projekt in die Grütze gegangen. Unangenehme Sache. Wird nicht wieder vorkommen», sagte Bruno. Seine müden Augen schweiften über Borbets Schulter.

«Da, das ist aber ein Ding», sagte er aufgeregt und blickte in Borbets Garten. Einen Augenblick fürchtete Borbet, daß Bruno seiner Frau beim Umziehen zusah.

«Da», sagte Bruno und wies auf den Komposthaufen.

«Ja, was ist denn?» Borbet fühlte sich nicht besonders wohl.

«Der war letzten Sonntag aber noch bedeutend höher, der Komposthaufen.»

Borbets Nebennieren schwammen in Adrenalin wie ein Schaschlik in Fett. «Ach das.»

Er lachte ausführlich, um Zeit zu gewinnen. «Schnellkompostierer», sagte er und lächelte Bruno erleichtert an.

«So schnell geht das mit dem Schnellkompostierer?» Bruno staunte.

«Ein Teufelszeug, man kann dabei zusehen», bestätigte Borbet.

«Da geht es hoch her. Die stoßen animalische Schreie aus, diese Bakterien, wenn sie sich über den Abfall hermachen. So richtig kleine spitze Lustschreie.»

Bei diesen Worten beugte sich Borbet über den Zaun und rempelte Bruno kameradschaftlich mit der Schulter an. Wollen doch mal sehen, ob du diesen Unsinn schluckst.

«Lustschreie?» Brunos Augen funkelten irritiert. Und der Garten kommt als erstes weg. Man kann sich ja vor unseren neuen Freunden nicht sehen lassen mit solchen Dummis als Nachbarn. «Kauf ich mir. Gleich am Montag», sagte Bruno entschlossen, «Lustschreie. Ist ja ein Ding.»

«Wahrscheinlich solche Dinger, wie sie nachts immer bei Bernburgers aus der Laube kommen.»

«Wie?» fragte Borbet ernüchtert.

«Ja, entweder erlebt der alte Bernburger mit seiner Gisela den dritten Frühling. Oder der Ulf, ihr Sohn, legt in der Laube die kleinen Mädchen flach.» Brunos Augen strahlten, er rempelte gegen Borbets Schulter und lachte. Indigniert zog sich Borbet auf seine Parzelle zurück.

 

«Nun hör doch endlich auf damit. Das arme Tier verliert noch sein Fell von dem vielen Streicheln», sagte Götz Wegemann gereizt. Hastig stürzte er den Rotwein hinunter, was sonst nicht seine Art war. Mona sendete unter langen Wimpern einen beleidigten Blick in seine Richtung. Wegemann fühlte, daß er in den letzten Monaten immer häufiger die Augen zusammenkniff. Erst gestern wieder, als Rainer Kurz die Familie Spielmann an der Tafel skizziert hatte, war ihm das aufgefallen. Schöner Mist, du brauchst eine Brille. Guten Tag, Gevatter Wegemann, wollen die Augen nicht mehr so richtig? Und das Gehör? Ich sagte: und das Gehör? Ja, ja, keiner wird jünger, und manch einer wird besonders schnell alt. «Götz, was hast du denn?» Unter Monas Wimpern kam einer dieser besorgten Blicke hervor, mit denen sie ein Interesse signalisierte, auf das Wegemann immer wieder hineinfiel, bevor er Minuten später feststellen mußte, daß Mona den Blick nicht ernst gemeint hatte. So ist das eben bei den Frauen. Entweder du handelst dir eine Mutter ein oder mehr was fürs Auge. Die paar Hans im Glück, die beides in einer Person finden, die kannst du doch an einer Hand... Wegemann rutschte zur Seite. Der Schein der Abendsonne, den er auf der Bank vor seiner Kate im Landkreis Lüchow-Dannenberg sonst so genoß, regte ihn heute auf. Mona streichelte weiter auf der schwarz-weiß-roten Katze herum. Wegemann ging auf die Rückseite des Hauses. Dort stellte er sich zwischen die Holzstücke, die er am Vormittag zersägt hatte. Wie besessen arbeitete Wegemann zwei Stunden mit der Axt. Er hätte sich gern etwas vorgemacht, doch das Gefühl kannte er. So war es, als Britta wegging. Und so war es, als die Agentur im ersten Jahr einfach nicht auf die Beine kam. Der Tresor ist weg, das ist sehr gut. Aber wenn doch noch irgendwas rauskommt, dann kannst du deine Sachen packen. Dann kriegst du hier kein Bein mehr an die Erde. Jetzt bist du das arme Opfer, jetzt haben dich alle lieb. Dann bist du der hinterlistige Täter. Typisch Werbemann Wegemann, den tun wir in die Acht. Ab nach Sibirien. Sümpfe des Amazonas. Helgoland, irgendwas ganz Schreckliches. Es war keine Angst, es war die Unruhe, daß er etwas übersehen hatte. Vielleicht gab es doch noch eine Ecke, aus der Wegemann Gefahr drohte. Er kannte sie nicht, aber er hielt es für möglich, daß sie existierte.

 

Borbet befand sich gerade in einer schicksalsträchtigen Entscheidungssituation, zwischen Hildegard auf der einen Seite und einer völlig aufgelösten Marianne auf der anderen — Hildegard lag mit knappem Punktvorsprung vorn -, da griff Marianne an den Oberarm des Gatten. «Guck mal da», zischte sie, «das ist doch Fred.»

«Was will denn der hier?» Unwillkürlich redete Borbet leise. Marianne zuckte die Schultern. «Die kennen sich eben, Fred und Bruno.»

«Oder Fred und Renate», lästerte Borbet und grinste schmierig. «Komm», sagte Marianne, «den überraschen wir jetzt.» Die Überraschung gelang ihnen vortrefflich. Als Fred plötzlich die Nachbarn am Zaun stehen sah, brach ihm der kalte Schweiß aus. «Ja, Herr Frenzel, das ist aber eine Überraschung», lachte Borbet. Marianne drückte freudestrahlend seinen Arm. Bruno, der durch wildes Hin- und Herschießen des Kopfes die Situation nach einigen Momenten voll im Griff hatte, spielte sich als Gastgeber auf und wollte Borbets unbedingt auf sein Terrain locken. Borbets widerstanden, man einigte sich darauf, daß alle, am Zaun stehend, einen Birnenkompott tranken. Er schmeckte stark nach Alkohol, und Fred mußte eine Erklärung abgeben. Borbets wünschten herzliches Beileid, Fred brummelte etwas. Marianne fragte nach dem Termin der Beerdigung. «Der Termin? Der Termin steht noch nicht fest», sagte Fred schnell. Bruno erzählte, daß er und Fred seit einem guten Jahr befreundet waren. «Kennengelernt haben wir uns in der Kneipe, wie sich das für Männer gehört, was, Fred?» Bruno schlug dem Freund vehement auf den Rücken. Nachdem Borbets erste Überraschung versiegt war, langweilte er sich bald. Fred hatte ihn schon nicht interessiert, als sie Nachbarn gewesen waren. Da fiel Borbet noch etwas ein: «Haben Sie denn eigentlich mit der Polizei noch Ärger gekriegt, wegen der Stereoanlagen und der Espresso-Maschinen?» Marianne, die für so etwas eine Antenne hatte, spürte, wie Renate ihren Gatten erzürnt anfunkelte. Mit Brunos Jovialität war es fürs erste vorbei. Fred setzte ein Ohrfeigengesicht auf: «Wieso Ärger?»

«Na, wozu braucht der Mensch zwei Espresso-Maschinen?» sagte Borbet lachend. Während er noch lachte, erschlossen sich ihm alle Zusammenhänge. Und es stimmt doch. Fred ist ein Dieb. Noch einer. Was ist denn das bloß für ein Haus? Fred versuchte eine lässige Handbewegung. «Ach was, Mißverständnisse alles bloß.» Borbet wollte es ihm nicht schwerer machen, als es für ihn sowieso schon sein mußte. Er nickte beruhigend. Fred fühlte sich trotzdem zu einer Antwort aufgefordert. «War eine günstige Gelegenheit, an die Maschinen ranzukommen. Da habe ich zugegriffen. Sonderangebote ausnutzen, hat Tante Frieda auch immer gesagt.» Fred lächelte kläglich.

Während Borbets sich zu ihren Liegestühlen begaben, ging Renate mit den Männern in die Laube. Borbets kannten die Geräusche. Erst wurde die Tür, dann wurde das doppelflügelige Fenster geschlossen. Dann war es einige Sekunden ruhig, dann brüllte Renate mit einer Wucht los, daß Borbet zusammenzuckte.

Im Verlauf des Samstagabend wurde Borbet sehr unlustig. Er fand, daß der Tag aus einer Abfolge von Banalitäten und dummerhaften Ritualen bestand. Borbet tat folgendes: Fernsehen in der Reihenfolge Sportschau, Tagesschau, die Viertel-nach-acht-Unterhaltungs-Show, Ziehung der Lottozahlen, Spätfilm. Zwischen Sport- und Tagesschau duschte er. Die Ziehung der Lottozahlen sah er sich nur Marianne zuliebe an. Sie hatte für vier Mark getippt, und als tatsächlich drei Richtige herauskamen, freute sie sich. Sie bestand darauf, daß ihr Mann sich mitfreute. Im Bett las Borbet einen Kriminalroman, Marianne blätterte in einem Versandhaus-Katalog. Weil er schwer war, legte sie ihn auf die Matratze und stützte ihren Kopf in die Hand. Dabei wendete sie Borbet den Rücken zu. Erst guckte er, dann drückte er seinen Rücken gegen ihren und las weiter.

Jutta hatte geweint. Sie war viel schweigsamer als sonst. Die Eltern blickten sich an. Jutta bekam den Blick mit und rutschte unlustig auf dem Stuhl hin und her. Sie verzog sich bald in ihr Zimmer. Ein infernalischer Lärm begann. «Unerhört», murmelte Borbet, «und das in einem Totenhaus.»

«Aber Frau Frenzel ist doch schon abtransportiert», sagte Marianne erstaunt. Borbet stürmte in Juttas Zimmer. Sie lag in ihrem Sessel und starrte auf den kleinen Schwarzweiß-Fernseher. Borbet hatte den Mund schon offen, da blickte er auf das Bild. Er schloß den Mund und trat dicht an den Apparat. Eine Rockgruppe spielte. Im Vordergrund schlug ein junger Schnösel mit einem Vorschlaghammer auf einen Amboß. «Einstürzende Neubauten», sagte Jutta. «Mich erinnert das an faulende Großhirnrinde», erwiderte Borbet. Er stürmte aus dem Raum, rannte durch den Flur, rief: «Ich muß mal kurz in den Keller» und verschwand. Keine Minute später ertönte hinter der verschlossenen Tür des Borbetschen Kellers ein helles metallenes Geräusch. Es dauerte fast fünf Minuten, dann brach es ab.

 

«Renate, kann ich jetzt wieder reinkommen?» Bruno stand vor der Schlafzimmertür und drückte die Hände in den Rücken. Renate antwortete nicht. «Renate, ich kann auf dem Sofa nicht liegen. Mir tut alles weh», jammerte Bruno. «Renate, wenn ich jetzt meinen Hexenschuß kriege, mußt du mir wieder den Rücken einschmieren.» Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Als Bruno die Tür aufdrückte, sah er Renate gerade noch unter der Decke verschwinden. Zögernd setzte er sich auf den Bettrand. «Renate, nun sei doch nicht so», sagte er leidend. «Ich bin aber so», sagte die Bettdecke. «Ich hätte es dir bestimmt noch gesagt. Ich hatte es mir ganz fest vorgenommen.»

«Haha», höhnte die Bettdecke. «Fred ist doch mein bester Freund. Und seinem besten Freund muß man helfen, wenn er in der Scheiße sitzt.»

«Mäßige deine Ausdrucksweise, ja?» Bruno strahlte. «Ach Scheißerchen», sagte er und legte seine Hand auf das erste beste, was er unter der Bettdecke fand. «Bruno!» Brunos Hand zuckte zurück. Renate guckte unter der Decke hervor. «Du steckst doch garantiert wieder mit drin», grollte sie. «I wo», sagte Bruno eifrig, «das kann ich dir schwören.» Bevor sie ihn daran hindern konnte, hatte er schon geschworen. «Bruno, wenn die Polizei erfährt, daß du Fred versteckt hast, dann bist du mit dran.»

«Na ja, sie darf es eben nicht erfahren», sagte er gedehnt und drehte am Bettzipfel. «So schlau wie ihr zwei ist die Polizei schon lange.»

«Da gehört ja auch nicht viel zu», sagte Bruno. «Wo steckt er denn jetzt, dein sauberer Freund? Ich kann ihn sowieso nicht leiden. Er guckt mich immer so komisch an.»

«Der mag dich.»

«So?» Ihre Stimme klang ein wenig versöhnlicher. «Na klar. Der müßte ja blind sein, wenn er nicht vor Neid zerplatzen würde, daß ich mit einer so schönen Frau gesegnet bin.»

«Ach Bruno.»

«Nichts ach Bruno», trumpfte Bruno auf. «Was wahr ist, muß wahr bleiben. Fred ist eben kein Kostverächter. Genau wie ich. Deshalb verstehen Fred und ich uns ja auch so gut.» Renate lüpfte die Bettdecke, und Bruno machte, daß er drunter kam.

 

Zehn Minuten ging Borbet im Einbahnstraßen-Gewirr des Stadtteils Ottensen verloren. Er fühlte sich nicht besonders sicher bei der Aussicht, Andreas zum erstenmal in seiner neuen Umgebung zu treffen. -  Die Irrfahrt machte ihn zusätzlich nervös und gereizt. Noch eine Straße, die er nicht fahren wollte, und Borbet kam wieder am Bahnhof Altona heraus. Exakt hier war er in den Dschungel Ottensen eingedrungen. Das könnt ihr mit mir nicht machen. Borbet bremste und setzte rückwärts in eine Toreinfahrt, wobei er beinahe einen kleinen Türkenjungen breitgefahren hätte. Das Heck des Wagens schwamm, Borbet drehte wie rasend am Lenkrad. Im Rückspiegel bekam er mit, daß der kleine Türke freundlich winkte. Die lieben die Gefahr, die kleinen Exoten. Er brauste 20 Meter Einbahnstraße in der falschen Richtung zurück, durfte dann nicht links abbiegen, bog links ab und war in der richtigen Straße. Borbet parkte ein und legte den Kopf gegen die Nackenstütze. Es muß sein. Augen zu und durch. Vielleicht wird es ja auch gar nicht so schlimm.

Von vorn sah das Haus nicht gut aus. Borbet war milde gestimmt. Als Mitglied im Mieterverein wollte er dieses Manko dem Hausbesitzer und nicht Andreas vorwerfen. Borbet suchte das Klingelbrett, es war keins vorhanden. Er betrat einen dunklen, muffigen Flur. Leise fluchend quälte er sich durch die hingeschmierten Namensschilder der Briefkästen. Neben dem letzten Briefkasten hing ein Zettel. Fünf Namen, einer davon: Andreas Borbet. Daneben wies ein Pfeil nach noch weiter hinten.

Borbet ging dem Pfeil nach und gelangte in eine Art Hinterhof. Er ging um die Ecke und blieb verdutzt stehen. Auf einem bepflasterten Hof stand ein großer Tisch. Um den Tisch saßen acht junge Menschen, drei Jungen und fünf Mädchen. Sie frühstückten. Ein Mädchen entdeckte den zögernden Borbet. Sie tippte Andreas an. Andreas drehte sich um Andreas, bitte und stand auf. Langsam kam er auf Borbet zu. Dann standen sie sich gegenüber. Borbet hielt seine Hand hin, Andreas sah sie ziemlich spät, schlug dann sofort ein. «Ja, Vater, also ich muß schon sagen, ich bin überrascht.»

«Und ich erst», sagte Borbet. Er hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Beide lachten. Durchatmen, durchatmen und viel lockerer in den Schultern. Ein Mädchen kicherte unterdrückt, als Andreas mit seinem Vater an den Tisch kam und Borbet während des Gehens zweimal windmühlenartig aus der Schulter heraus mit den Armen wedelte. «Leute, ihr dürft einen großen Moment miterleben», sagte Andreas. Borbet fand, daß der Sohn bedeutend schneller seine Selbstsicherheit zurückgewonnen hatte als der Vater. Kunststück. Der hat Heimvorteil. «Leute, dies ist mein Erzeuger und Namensgeber, Heinz Borbet.» Borbet war auf alles gefaßt. Alle blickten ihn freundlich an, nicht alle gleich freundlich. Doch spuckte keiner vor ihm aus. Andreas stellte ihm die jungen Leute vor. Borbet hörte sieben Namen und vergaß sechs davon auf der Stelle. Einen merkte er sich: Jezebel. Erstens, weil er ihn komisch fand, zweitens, weil er dem Mädchen gehörte, das neben Andreas gesessen hatte. Sie sah niedlich aus. Irgend jemand eilte ins Haus und kam mit einem Klappstuhl zurück. Borbet mußte sich setzen. Dann ging das Frühstück weiter, als ob nichts passiert wäre. Borbet war fest davon überzeugt gewesen, daß sich alle Augen an ihm festsaugen würden. Er wußte, daß er in dieser Lage wieder wie ein Hampelmann herumgestikulieren würde. Auch neigte er bei stressigen Situationen dazu, sein Heil in anzüglichen Witzen zu suchen. Halt bloß das Maul, sonst hast du hier gleich Verschissen. In den nächsten 20 Minuten lauschte er dem Geplapper am Tisch. Er nahm von einem Mädchen sogar einen Teller Müsli an. Es schmeckte grauenvoll. Wie Pappe. Zum Schluß fragte ihn ein Mädchen, das wie eine Eule aussah, ob er nicht auch meinte, daß die neuen Mietgesetze zum Mißbrauch geradezu einluden. Borbet setzte sich in Positur und lud einen altklugen Monolog ab, in dessen Verlauf sich die Eule beide Schuhe auszog und an den Fußnägeln herumzureißen begann.

Als Borbet merkte, daß er nicht den richtigen Ton getroffen hatte, redete er nur deshalb weiter, weil er sich nicht traute, unvermittelt aufzuhören. Es war Jezebel, die ihn erlöste. «Sie möchten bestimmt mal sehen, wie die Leute hier wohnen und arbeiten.» Borbet nickte sich beinahe den Kopf vom Hals. In der nächsten Viertelstunde zeigte ihm Jezebel die Wohnräume, die Gemeinschaftsräume und die Werkstatt. Borbet war beeindruckt. Jezebel schilderte plastisch, wie es hier zur Zeit des Einzugs vor einem guten Jahr ausgesehen hatte. «Wohnen Sie auch hier?» fragte er. «Nein, ich bin Gast, Schlafgast.» Jezebel lief rot an. «Ja, ja, der Andreas», sagte Borbet mit leicht verdrehten Augen. «Ja, ja, der Andreas», bestätigte Jezebel, «das ist schon ein Lieber. Aber ich finde Ernie eigentlich noch toller.» Borbet blickte sich nach allen Seiten um. «Ja, warum machen Sie denn dann mit Andreas...»

«Mach ich doch gar nicht. Ich mach mit Ernie», sagte Jezebel.

Andreas erlöste ihn. «Geil, was?» sagte Borbet hinter Jezebel her und stieß seinem Sohn in die Seite. «Doch», erwiderte Andreas. «Ganz gut schon. Aber bißchen jung. Weißt du. Da fehlt die Erfahrung.»

«Ist denn deine Freundin nicht da?»

«Ich habe keine Freundin. Zur Zeit nicht.» Ja, warum lebst du denn dann so, wie du lebst? Laß doch wenigstens die Puppen tanzen. Dann hast du was, das kann dir keiner mehr nehmen.

Fünf Minuten später fuhr Borbet den Audi auf die Grube. Andreas forderte den Vater auf, mit in die Grube zu kommen. «Kann nie schaden, wenn man weiß, wie die Apparate funktionieren, die man benutzt. Die haben nämlich eine Seele», sagte Andreas ernsthaft. «Ach nee», erwiderte Borbet. «Du verstehst das noch nicht, merke ich», sagte Andreas. Borbet war kurz davor, sich diesen Ton zu verbitten. Da klopfte Andreas schon an der Hinterachse herum. «Die Stoßdämpfer sind jedenfalls im Eimer. Hast du Kohlen transportiert?» Auf diese Frage war Borbet nicht gefaßt. «Und was nun? Willst du neue Stoßdämpfer reinhaben?»

«Ja, könnt ihr denn so was?»

«Ich noch nicht. Aber Ernie ist schon sehr gut drauf. Das kriegen wir hin.» Entsetzlich. Das müßte verboten werden. Das ist ja wie Russisches Roulette.

Andreas klopfte hier und da gegen die Unterseite. «Das kriegen wir hin, kein Problem», sagte er händereibend, als sie aus der Grube kletterten. Da sah Borbet das Schweißgerät. Es stand an der Wand gleich neben einem der großen vergitterten Fenster. Am Fenstergriff hing die Gesichtsmaske. Borbet trat auf das Schweißgerät zu. «Ist ja toll», murmelte er. Als Andreas ihm nicht folgte, sagte er lauter: «Ist ja wirklich toll.» Andreas kam. «Was ist denn? Ah ja, das Schweißgerät.» Andreas drehte sich um. «Komm, wir können uns noch ein bißchen in mein Zimmer setzen.»

«Wirklich beeindruckend.» Borbet drehte sich zu Andreas um. «Weißt du, warum ich das Schweißgerät so faszinierend finde?»

«Nee», sagte Andreas völlig uninteressiert. «Weil mein Vater früher auch mit so einem Ding gearbeitet hat, und er hat mich nie rangelassen.» Hoffentlich war das Schweißgerät damals schon erfunden. «Aha», sagte Andreas. Junge, nun beiß doch endlich an. Borbet nahm die Düse in die Hand. «Also, ich traue mich ja kaum, es zu sagen.» Eins zwei drei. «Aber ich würde zu gerne einmal in meinem Leben mit so einem Ding wirklich richtig arbeiten, wenn du verstehst, was ich meine.»

«Klar, ist ja nicht schwer zu verstehen», murmelte Andreas. Dann zeig’s mir endlich, du Depp, und stell dich nicht so begriffsstutzig an. Borbet drückte Andreas das Gerät in die Hand. «Ja, meinst du, ich soll’s dir jetzt gleich zeigen?»

«O ja, bitte, bitte», sagte Borbet und nickte heftig. Ernie, ein muskulöser Bursche von untersetztem Wuchs, kam in die Werkstatt. In seinem Schlepptau befand sich Jezebel. «Na, Meister», rief Ernie und winkte Borbet kumpelhaft zu, «will der Tresor nicht aufgehen? Brauchen Sie ein sauberes Punktschweißgerät? Da sind Sie bei uns genau richtig. Lehrling Borbet, rühren. Zeigen Sie dem Kadetten, wie man schweißt.» Was ist denn an dem Gesabbel alternativ? «Gut, dann komm, ich zeig’s dir.» Danke, Sohn. Du hast soeben dein Erbe gesichert. «Ich zeig’s dir am besten gleich in action.» Andreas blickte sich suchend um. «Aih Män, action, all right», hörte Borbet sich sagen. Aua aua, ist das peinlich. Andreas schien nichts zu merken. «Hörnchen, fahr mal den Silberfisch auf die Grube», brüllte Andreas. Borbet mußte den Audi zwei Meter nach vorne rollen. Ein alter schöner Jaguar bog um die Ecke und rollte auf die Grube. Borbet schätzte den Jungen auf vierzehn, bevor Andreas ihm sagte, daß Hörnchen letzten Monat achtzehn geworden war. Andreas schleppte das Gerät in die Grube. Am Jaguar vorbei ging Borbet auf die Treppe zu. Der Wagen war silber-metallic gespritzt.

 

 

«Guck mal da», sagte Andreas, «da und da und da. Das ist Rost. Oben hui, unten pfui. Alter Mechanikerscherz.» Andreas kicherte albern und fummelte am Brenner herum. Er setzte den Gesichtsschutz auf und klappte ihn herunter.

Götz Wegemann schlug auf das Holz ein. Er stand bis zu den Knien inmitten der Scheite. Mona kam um die Ecke. «Dein Nachbar war da. Er hat gesagt, wenn wir wollen, können wir nachher rüberkommen. Er macht ein Kehraus, bevor es wieder in den brutalen Alltag geht, hat er gesagt.» Fuzzi. Kein Licht im Haus, Plumpsklo im Garten und dann auf netten Nachbarn machen. «Danke, kein Bedarf», bellte Wegemann und schlug voll auf einen Ast. Scheiße verdammte. «Och, nie hast du Lust», maulte Mona und begann wieder, an den herrlichen Spinnweben herumzuzupfen, die zwischen Regenrinne und Hauswand gesponnen waren und die Wegemann unter seinen persönlichen Schutz gestellt hatte. «Laß bitte die Netze in Ruhe», forderte er Mona mühsam beherrscht auf. Sie riß das Netz mit einem Ruck herunter.

«Was ist nun? Kommst du?» Wegemann spaltete ein Stück in der Mitte, nahm eine Hälfte und traf sie fast in der Mitte, faßte die Axt ganz vorn und spaltete den nun ziemlich kleinen Scheit mit liebevoller Vorsicht. Mona sah erstaunt zu. «Ich komme, ich komme ja», sagte Wegemann muffelig. «Das ist schön», jubelte Mona und verschwand um die Hausecke.

 

«Nun komm schon, Irene», sagte Fred vibrierend und genierte sich für den in die Tür gestellten Fuß. «O nein, nicht schon wieder», entgegnete Irene bestimmt, «du kommst nur noch, wenn die Kacke am Dampfen ist. Sonst kennst du mich überhaupt nicht mehr. Ich möchte meine Ruhe haben. Verpiß dich.» Das hast du nicht verdient. Ein Flüchtling hat Anspruch auf Asyl. In den nächsten Minuten versuchte es Fred auf die Mitleidstour. Er bekam nicht mehr als einen Fuß in Irenes Wohnung. Fred fühlte sich müde und zerschlagen. Er sehnte sich nach einem bequemen, nicht zu harten und nicht zu weichen Bett, in dem er achtzehn Stunden nonstop wegratzen wollte.

«Irene, sie sind hinter mir her. Ich komme nirgendwo mehr zur Ruhe. Selbst mein Freund Bruno hat mich rausgeworfen», log Fred.

Nichts fruchtete. Nach fünf weiteren Minuten gab er auf. Mit der Schulter gegen die Tür, und du bist drin in der Bude; sieht man in jedem Film. Warum kannst du das nicht? Du hast keine Zuhause mehr. Du bist ausgestoßen. Wegemann, dieses Schwein, dem geht’s gut. Und der Bolzen, der den Tresor abgestaubt hat, der lacht sich scheckig, ist wahrscheinlich schon auf den Bahamas. Fred bestieg einen Bus, von dem er wußte, daß er zwischen zwei Haltestellen dicht an der Elbe entlangfuhr.

 

Punkt 7 Uhr 30 war Borbet schon sauer. Es reichte wieder nur zu einem Parkplatz in einer der Nebenstraßen. Aber nicht mit mir. Er würgte den Audi in die zu kleine Lücke auf dem Parkplatz und kam dabei ziemlich schräg zum Stand. Der Wagen schwamm hinten immer noch. Andreas war sehr enttäuscht gewesen, als Borbet auf Ernies Kfz-Künste verzichtet hatte. Als er den Glaskasten sah, verspannte sich seine Nackenmuskulatur. Borbet trat an die Tür der Pförtnerloge. «Guten Morgen, ja, ja, ich weiß, soll auch bestimmt wieder vorkommen. Und bei Kohl nicht verwandt und nicht verschwägert würde ich mich an Ihrer Stelle nicht noch mal beschweren, sonst lacht der Sie nämlich aus. Mal hören, wie sich das anhört? Ha, ha, ha. Guten Tag noch.» Auf dem Weg zum Paternoster betrieb Borbet Manöverkritik. War gut, Junge. Das vergißt der so schnell nicht. Völlig verdattert blickte der Pförtner dem wildgewordenen Angestellten hinterher. Das muß ich unbedingt Kienzle erzählen, wenn er mich nachher ablöst.

Borbet eilte an seinen Arbeitsplatz. Er war gut gelaunt und zukunftsfroh. Er hatte das Programm des Tages fertig im Kopf. Er dachte ausschließlich an Gutes und lief voll in den gräßlichen Anblick hinein. Borbets Schreibtisch war verschwunden. Er sah es, aber er dachte nichts. Es war, als ob die Verbindung von den Augen zum Gehirn unterbrochen war. Langsam erst sickerten einzelne Fetzen durch. Weg, Tisch weg. Gekündigt. Und dann gleich der Tisch weg. Wie im Film. Und keiner hat ein Wort gesagt. Borbet drehte sich um. Alle Schreibtische waren verrückt worden. Borbet näherte sich dem Blumenkübel. Zwei Füße ragten darunter hervor. Sie steckten in schwarzen Arbeitsschuhen. «Ich hab’s», brüllte der Mann, dem die Beine gehörten. «Was hast du?» fragte Borbet unwillkürlich. «Hier ist der Kabelkanal. Hier können wir durch.»

«Na bitte, dann stimmt die Zeichnung also doch. War ja auch gar nicht anders möglich», sagte eine andere Stimme. Ein Mann kam hinter der Sichtwand hervor. Der Mann unter dem Blumenkübel rappelte sich hoch. «Tach», sagten sie zu Borbet. «Guten Morgen», erwiderte der sehr förmlich. Er hatte sich von dem Schreck noch nicht erholt. «Was bitte soll das, was Sie hier treiben? Ich bin eigentlich gekommen, um zu arbeiten.»

«Kann gleich losgehen», sagte einer der Männer. Fünf Minütchen noch, dann schieben wir Ihnen Ihren Tisch an Ort und Stelle.»

«Wir wollten eigentlich fertig sein, bevor die ersten kommen», sagte der andere, «wir kontrollieren die Kabelschächte für die Datensichtgeräte.» Er wandte sich ab. «Welche Datensichtgeräte?» fragte Borbet. Der auskunftsfreudigere der beiden Männer notierte sich etwas in eine Zeichnung und antwortete: «Wissen Sie das nicht? Der Fortschritt kommt auf Sie zu.»

«Im Sauseschritt», fiel sein Kollege ein. «Im Sauseschritt», lachte der Freundliche. «Da müssen die Anschlüsse stimmen, sonst geht’s drunter und drüber.» Borbet half den Männern beim Zurechtrücken der Schreibtische und Stühle. Darüber ärgerte er sich hinterher besonders. Mensch, so was darf dich doch gar nicht mehr anmachen. So was berührt dich peripher, aber höchstens. Verstört spürte er, daß der alte und der neue Borbet zusammengeprallt waren. Da kam ihm Belmondo gerade recht. «Morgen, Kollege Borbet, am Wochenende allen Pflichten nachgekommen, die ehelichen nicht ausgeschlossen?» In das gackernde Kichern hinein fragte Borbet: «Morgen, Kollege Rettig. Was macht die Körpergröße? Wieder nichts zugelegt?»

«Hoijoijoi, war wohl nicht so gut, Ihr Wochenende.» Erna Degenhardt und Hildegard Klingebiel kamen gemeinsam. Borbet erzählte von seinem Schreck. «Ist aber auch zu ungeschickt von der Org.-Abteilung», meinte Hildegard nachdenklich.

Erna Degenhardt nahm ihre Aktentasche auf den Schoß und holte einen Stapel Blätter heraus. «Nicht auf nüchternen Magen», sagte Belmondo gequält. Erna legte Borbet ein Blatt auf die Schreibunterlage. «Hier, Heinz. Jetzt hast du ja Gelegenheit gehabt, dich endlich mal mit dem Problem zu befassen.» Borbet nahm den Zettel in die Hand.

«...protestieren wir hiermit gegen die kurzfristige und überraschende Einführung der Datensichtgeräte in den Abteilungen Schaden Sach und Leben. Wir fordern die Geschäftsleitung auf, sofort mit dem Betriebsrat in Verhandlungen einzutreten. Ihr Ziel muß sein: eine Vereinbarung über Einsatz und Folgen der neuen Technologie.» Es folgten einige konkrete Forderungen, die Borbet übersprang. Am Ende des Aufrufs war Raum für Unterschriften gelassen. Auf der Liste stand bisher nur ein Name: Erna Degenhardt. «Bißchen mager, was?» sagte Borbet. «Das wird schon noch», erwiderte Erna eifrig. «Wir fangen ja erst an. Wenn du unterschreibst, sieht es schon freundlicher aus.» Borbet unterschrieb. Kostet ja nix. Und ist für einen guten Zweck. Hildegard und Erna sollen es schließlich gut haben, wenn ich nicht mehr da bin.

«Und unsere kleine Stimmungskanone, möchte die auch unterschreiben?» fragte Borbet maliziös und wedelte mit dem Blatt in Richtung Belmondo. «Pech gehabt, Kollege», erwiderte Belmondo munter. «Vor einer Woche hätte ich mir das sogar noch überlegt. Aber jetzt ist es zu spät. Ich scheide aus aus diesem grausamen Spiel. Ich unterschreibe in Zukunft nur noch Versicherungs-Policen und sonst gar nichts.»

«Warum denn das?» fragte Borbet erstaunt. «Glauben Sie etwa den Unfug, den Versicherungsvertreter erzählen?» Belmondo strahlte. «Ihr dürft gerne staunen. Kollege Rettig wirft den Griffel hin. Ab ersten neunten bin ich nicht mehr popeliger Sachbearbeiter bei Schaden Sach. Ab ersten neunten bin ich Bezirksleiter in Dulsberg. Ihr wißt, was das bedeutet? Ich sage nur ein Wort: selbständig. Ein zuckersüßes Wort: selbständig. Kennen Sie das Wort, Kollege Borbet?» Borbet war überrascht. «Sie werden Bezirksleiter...» Borbet dachte an den Heinz Borbet von vor zehn Jahren. Damals hatte er die bittere Wahrheit akzeptiert, daß ihn seine mittlere Reife trotz allen Fleißes, trotz aller Fortbildungsseminare und Schulungen doch ziemlich weit unten auf der Karriereleiter festnagelte. Mit Marianne hatte er Pläne gewälzt, was er tun könnte, um nicht für den Rest seines Berufslebens als zweiter Mann in einer kleinen Abteilung zu kleben. Damals hatte er daran gedacht, sich selbständig zu machen. Borbet hatte es nicht getan, weil ihm der Mut gefehlt hatte. Sie hatten die Entscheidung immer weiter «aufgeschoben». Und irgendwann hatten sie nicht mehr über das Thema gesprochen. «Na, dann herzlichen Glückwunsch», hörte Borbet Erna sagen. Hildegard lächelte ihr warmes Lächeln. Neidisch sah Borbet, daß sie nicht nur ihn damit beschenken konnte. «Ich hätte es ja schon früher erzählt», sagte Belmondo strahlend, «aber es sollte erst ganz fest sein. Und nach dieser Beurteilung —» er lächelte Hildegard an — «war das Ganze nur noch Formsache.» Hildegard und Erna gingen zu Belmondo und schüttelten ihm die Hand. Borbet stand zögernd auf, ging langsam hinüber und schüttelte dem Kollegen kurz die Hand. «Warum denn erst September?»

«Na, erst mal Urlaub, danach kommt der Lehrgang, und dann geht’s auf die Dulsberger Hausfrauen. Die warten doch nur darauf —» Belmondo vergaß die Kunstpause nicht — «sich von mir ordentlich versichern zu lassen.» Belmondo gackerte, Borbet lächelte starr. «Dann hast du ja gerade noch den Absprung geschafft», sagte Erna, «läßt uns die Bildschirmzeit alleine ausbaden. Willst du nicht wenigstens noch unterschreiben?»

«Also nee», erwiderte Belmondo, «ich glaube, das wäre nicht ehrlich. Mich betrifft das Ganze ja nun wirklich nicht mehr.» Borbet fühlte sich niedergeschlagen. Kopf hoch, Junge. Du hast eine Schlacht verloren. Heute mittag kaufst du das Schweißgerät. Dann bist du wieder zwei Klassen höher als Belmondo.

 

«Was heißt ‹relativ bocklos›? Montag früh war abgemacht. Ich will meinen Wagen wiederhaben.» Wegemann zündete sich fahrig eine Zigarette an. Die verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: «Lieber Mann, ich sag’s doch. Heute nachmittag. 16 Uhr. Besser nach 16 Uhr. Da ist er garantiert fertig.» Wegemann spürte, daß er durch Schreien nichts verändern konnte. Er knallte den Hörer auf und ging zu Roswitha: «Was hältst du vom alternativen Leben?» Roswitha war gerade dabei, ihre Fingernägel zu lackieren. Dunkelgrün war angesagt. Sie hob die Hand. «Genügt das als Antwort?» Roswitha lächelte hinreißend. Schade, wir hätten das damals durchziehen sollen. Und wenn es die einzige Vögelei geblieben wäre. So was verbindet letzten Endes eben doch. Man kennt sich einfach besser danach. «Du mußt mir eine Taxe rufen. Diese Latzhosen haben natürlich den Termin geschmissen.»

«Kannst meinen nehmen», bot Roswitha an. «Das erspare ich uns lieber. Wenn Sagehorn mich in dieser Gurke vorfahren sieht, bekommen wir bestenfalls den Etat zur Gestaltung der Essensmarken.»

«Götz, ich freue mich», rief Winfried Sagehorn guttural und kam auf Wegemann zugestürmt. Dabei hielt er die Hand schüttelbereit ausgestreckt, und auch die andere, mit der er Wegemann am Oberarm packen wollte, war schon an Ort und Stelle. Sie lächelten sich an. Befriedigt stellte Wegemann fest, daß er noch einen Tick dunkelbrauner war als Winfried. Dafür hatte Winfried einen Vollbart. Wegemann war froh, daß er trotz der Hitze den eleganten Seidenanzug trug. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet. Seine Brustbehaarung erlaubte drei offene Hemdenknöpfe. Du siehst fast so gut aus wie ich. Winfried lächelte: «Sie sehen in etwa so aus, wie man Sie mir geschildert hat. Nur selbstverständlich noch etwas sympathischer.» Wegemann trat einen Schritt zurück und fixierte sein Gegenüber. «Perfekt», sagte er. «Dieses Farbspiel, einfach perfekt. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geschmack.» So, du Papagei, das war mein letztes Friedensangebot. Und jetzt machen wir Geschäfte. Winfried strahlte. «Danke, so ein Kompliment ist besonders viel wert, wenn es von einem Mann kommt, der schon von Natur aus so aussieht, als ob er sich über Fragen des guten Aussehens mit Fug und Recht äußern kann.» So, du Hühnerbrust, jetzt zeig, ob du fachlich was auf dem Kasten hast.

Winfried komplimentierte Götz in die Sitzlandschaft. Kaum saß Wegemann, ging die Tür auf, und eine Frau trat in den Raum. So eine Ballung von zurückgenommenem, doch extrem präsentem Sex war Wegemann überhaupt noch nie vorgekommen. Dagegen paßt Mona als Novizin in jedes Kloster. Wegemann nahm an der Frau überhaupt keine Einzelheiten wahr, für ihn war sie ein Gesamterlebnis. Die Frau lächelte Winfried an. Der stellte Götz vor und orderte zwei Tassen Kaffee. Die Frau ging hinaus, und Wegemann begann, auf den Kaffee zu warten. Reiß dich zusammen. Hier geht es um mehr. Hier geht es ums Geschäft.

 

«Warum denn so früh heute?» fragte Hildegard. Manchmal, liebe Hildegard, plagt dich die Neugier doch ein wenig arg. Borbet lächelte, umgab sich mit der Aura des Geheimnisvollen und verschwand. Als er in dem Fachgeschäft schon wieder so eine naseweise Type auf sich zusteuern sah, wie er sie in der letzten Woche mit dem Bohrer hinter sich gebracht hatte, ließ er sich gar nicht erst auf verbale Kommunikation ein. Borbet zeigte stur auf ein Schweißgerät, das ihm die größte Ähnlichkeit mit dem bei Andreas aufzuweisen schien. Der Verkäufer hatte große Mühe, seine neunmalklugen Kommentare zurückzuhalten. Er half Borbet, das Gerät und die Sauerstoffflasche in den Kofferraum zu packen. Borbet kam gerade noch so zeitig zurück, daß er Hildegard im Casino einen Schokoladenpudding spendieren konnte.

Ein Blick auf die Karte zeigte Borbet, daß er die Gleitzeit in den letzten Tagen stark in Anspruch genommen hatte. Er guckte auf den Kalender. Wie willst du das eigentlich machen? Fristgerecht kündigen? Das wäre ja irgendwie völlig bescheuert. Einfach nicht mehr herkommen. Das kannst du auch nicht machen. Schon wegen Hildegard nicht. Ausstandsfest mit Kaffee und Kuchen wäre ein bißchen popelig. Warten, bis wir das Haus bezogen haben, und dann ein riesiges Zelt in den Garten wie beim Bundeskanzler. Oder war es der Bundespräsident? Man kann die Nasen einfach nicht mehr auseinanderhalten.

 

Die Frau hieß Yvonne und war 38 Jahre alt, soviel kriegte Wegemann heraus. Mensch, muß Sagehorn glücklich verheiratet sein, wenn er das hier Tag für Tag aushält, schon rein nervlich. Yvonne trug ein sündhaft teures und deshalb völlig unscheinbares Kostüm mit einem Rock, der in Höhe des Meniskus endete. Es waren nicht die Waden, die Wegemann erregten. Es waren die Fesseln. Die hochhackigen Schuhe gaben Yvonnes Schritten das gewisse Etwas, das Wegemann bei jedem Schritt in Alarmstimmung versetzte, weil er voraussah, daß sie jetzt einfach stürzen mußte. Die pechschwarzen langen Haare waren eng an den Kopf gesteckt. Die Art, wie Yvonne die große Brille abnahm, um anschließend auf einem der Bügel zart herumzukauen, ließ Wegemann fest in den Bezug der Sitzlandschaft greifen. Yvonnes Augenfarbe war schwarz. Die Wangenknochen waren hoch angesetzt. Vollweib, Geliebte, Bettpartnerin, Partnerin, Freundin, Gefährtin, ein Klacks Mutter, ein Pfund zum Angeben. Was so eine Frau für einen Einfluß auf Geschäftsabschlüsse haben muß, das kann man ja nur ahnen. Müßte man glatt mal in Mark und Pfennig ausrechnen.

 

Nach dieser Nacht wußte Fred, daß seine Meinung über Künstler kein Vorurteil war. Am Ende einer stundenlangen Wanderung entlang der Elbe ließ er sich in einer Kneipe vollaufen. Als er dachte, daß nichts mehr reinpaßte, beglich er die Zeche und torkelte an den Strand. Dort buddelte er sich eine Kuhle, in die er todmüde hineinfiel. Gegen ein Uhr morgens hob auf einem Grundstück oberhalb des Strands großer Lärm an. Fred wachte auf, orientierte sich und schlich bis zum Zaun, hinter dem der Lärm immer stärker wurde. Er sah über 30 Menschen, die bis auf wenige Ausnahmen volltrunken schienen. Sie gaben sich albernen Tätigkeiten hin: blinde Kuh, Sackhüpfen und Teekesselchen spielen. Fred suchte sich eine dunkle Stelle und kletterte über den Zaun. Er wartete eine günstige Gelegenheit ab und stand auf einmal zwischen den Zechenden. Seine Angst dauerte nur kurz. Dann war ihm klar, daß niemand auf ihn achtete. Fred aß sich satt, trank noch einiges dazu und wanderte zwischen wild diskutierenden Gruppen hin und her. Die Themen der Streitgespräche kamen Fred ohne Ausnahme banal vor. Er begriff nicht, warum es nötig war, aus Fürzen solche Donnerwetter zu machen. Beachtlich fand er, wie einige Männer und Frauen auf ihre zwei Promille im Verlauf weniger Viertelstunden immer weitere Mengen schütteten. Die Themen, denen Fred zuhörte, lauteten in der Reihenfolge, wie Fred ihnen beiwohnte: fortschrittliche Kulturpolitik und ein sozialdemokratischer Senat; die Preispolitik der Filmhauskneipe, die Politik der Filmforderung; gibt es eine Inflation der Vernissagen? Stinkt Geld? Und wenn ja: wonach? Vorschüsse bei Buchverlagen; Vorspeisen bei Paolino, im Cuneo, New Yorker sowie bei Ennio; Einehe und Prostitution; Suchtverhalten bei Arbeit, Alkohol und Kulturförderungsmaßnahmen; Spesenabrechnungen und ein Urteil des Finanzgerichts Bamberg; Depression, Nierensteine und Haarausfall — Zufall oder statistische Auffälligkeit? Eine dunkle Anfangsvierzigerin stellte fest, daß der Samtanzug neben ihr sanft entschlafen war. Sie behalf sich mit einigen Blickkontakten und saß schnell neben Fred. Während er noch nach einer Eingangsfloskel suchte, begann die Anfangsvierzigerin, zielstrebig mit der Zunge in Freds Rachenraum herumzufahren, und fingerte mit der Hand in seiner Genitalgegend herum. Fred hielt stand. Die Frau zog ihn neben eine Zierhecke, und es endete mit einem hastigen Geschlechtsverkehr zwischen lauter Rhododendron, der Fred an Friedhof erinnerte. Der Boden war voller Nadeln. Sie stammten von Kiefern oder Fichten, die den Rhododendron überragten. Es kam Fred vor wie ein Traum. Und er hatte ja auch sehr viel getrunken.

Am frühen Morgen suchte sich Fred eine Schlafstätte im Kellerraum des bildenden Künstlers, bei dem die Feier stattgefunden hatte. Es war nur eine Campingliege, doch Fred war hochzufrieden. Nach dem Erwachen sah er keinen einzigen der lustigen Gäste wieder. Fred bereitete sich in der Küche ein Frühstück. Dabei half ihm eine ältere Frau, mit der er sich vom ersten Augenblick an gut verstand. Fred verließ das Haus am frühen Nachmittag. Er bestieg einen Bus Richtung Altona. Noch bevor er am Bahnhof Altona ausstieg, hatte sich Fred entschieden. Du gehst jetzt einfach nach Hause und wartest ab, was passiert.

 

Das letzte Stück der Grindelallee befuhr Borbet rücksichtslos. Er schnitt, drängelte sich vor, bremste aus, drohte, lachte, gestikulierte herum, machte sich einen Spaß daraus, ein Latzhosenpärchen über die Fahrbahn zu hetzen. Studenten, haa! Und genauso parkte er vor dem Haus ein. Ernüchtert beguckte er sich das Ergebnis. Scheiß Baum. Euch hat man früher einfach umgehauen. Dann wart ihr weg und konntet einem keine Beulen mehr in den Wagen donnern. Borbet blickte sich um. Dann trat er kräftig gegen den Baum. Er humpelte zum Kofferraum, blickte sich wieder um, öffnete die Haube, umwickelte die Sauerstoffflasche mit der Decke und trug das Schweißgerät in den Keller. So, und jetzt knack ich dich, du dummer Stahlklotz. Jetzt mach ich dich alle. Jetzt bist du dran.

An diesem Abend roch es im Treppenhaus sehr angebrannt. Marianne Borbet schnüffelte beunruhigt im Flur herum. Sie bat Jutta, auch mal zu riechen. «Stinkt», erkannte Jutta. «Danke», sagte Marianne. Sie ging ins Wohnzimmer, stellte die Blumentöpfe auf den Couchtisch und öffnete das Fenster. Nachdenklich blickte sie auf die dünnen Rauchkringel, die aus ihrem Kellerfenster kamen. Heinz, Heinz. Früher hast du mir immer was Fertiges zum Geburtstag geschenkt. Das war manchmal ein bißchen einfallslos. Aber schön war es meistens doch. Warum mußt du jetzt mit diesem Brauch brechen? Aus dem Kellerschacht kam eine besonders dicke, grauweiße Wolke hervor.

Schweiß Scheißgerät. Völlig entnervt schob Borbet die Sonnenbrille nach oben, enttäuscht betrachtete er sich das Ergebnis der Schweißarbeit von fünfzehn Minuten. Das war nicht einfach, weil er, obwohl dicht vor dem Tresor stehend, diesen vor Qualm kaum sehen konnte. Mit tränenden Augen betrachtete Borbet die Wunde, die er in den Tresor hineingebrannt hatte. Eine große Fläche war schwarz verkohlt. Du machst was falsch. Irgendwas machst du falsch. Du mußt sie auf den Punkt bringen, die Flamme. Mehr bündeln. Du hast zuwenig Hitze.

 

«Wichser», zischte Wegemann und wollte den Hunderter lässig auf den Tisch im kleinen Raum neben der Werkstatt werfen. Der Geldschein begann zu trudeln und schaukelte auf den Fußboden. Wegemanns Blick fraß sich in die Augen des Jünglings, der hinter dem Tisch stand. Wegemann bückte sich nach dem Geldschein. «Hörnchen! Mach schnell. Wir wollen in den Park. Frisbee spielen.» Verbittert legte Wegemann den Lohn auf die Tischplatte. Hörnchen! Man faßt es ja nicht.

 

Kurz vor Feierabend bekam sie noch einen Anruf auf den Apparat. «Puttel, was ist denn?»

«Schißlaweng vom Maklerbüro Maurer + Schißlaweng.» Bei dem Namen wäre ich auch Makler geworden. Oder Polizist. Irgendwas, wo man anderen ständig in die Fresse schlagen kann. «Sie wünschen?» Jo konnte den Namen nicht aussprechen. «Frau Puttel? Jo Puttel?» Sie brummte Zustimmung. «Also passen Sie mal auf», sagte die Maklerin und rumorte auf ihrem Schreibtisch herum. Wichtigtuer. «Da ist etwas, das möchte ich Ihnen mitteilen. Ich könnte mir denken, daß es von Interesse für Sie ist.»

«Lassen Sie mal hören.»

«Also es gibt da einen Mann. Rose. Willi Rose. Ist schon älter. 74, nicht ganz arm und unheimlich rüstig, der Herr Rose. Dieser Mann sucht eine Wohnung.»

«Aha», machte Jo und begann, sich zu langweilen. «Ja, ja», sagte die Maklerin eifrig, «Sie wissen ja noch nicht, worum es geht. Also dieser Rose sucht eine Wohnung. Dauernd besichtigt dieser Mann Wohnungen. Ich bin ihm bis heute bestimmt fünfzigmal begegnet. Wir können keine Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen mehr annoncieren, ohne daß Rose bei uns auftaucht.» Die Maklerin bekam einen wehleidigen Tonfall. «Und?»

«Dieser Rose ist ein Saboteur! Dieser Rose macht uns die Wohnungen madig. Das ist ein ganz Linker... Ein ganz linker Hund ist das.» Jo strich das Wort «Linker» auf dem Stenoblock wieder durch. «Der kommt zum Besichtigungstermin, guckt sich um, und dann bohrt er in irgendwelchen Löchern herum, zieht Leitungen aus der Wand, tritt gegen die Leisten, daß sie sich ablösen. Alles macht er kaputt.» Die Maklerin schwieg einige Sekunden. «Wie der allein schon an Lichtschaltern dreht, der Rose. Kein Wunder, daß die Sicherungen durchhauen. Zwischen Fensterrahmen und Wand, da pult er am liebsten drin herum.»

«Da fliegt bestimmt auch am meisten Putz ab.»

«Woher wissen Sie das?» fragte die Maklerin verblüfft. «Ach, nur so», sagte Jo und dachte an ihre Wohnung. «Ja, und das macht dieser Rose ununterbrochen. Jeden Tag besichtigt der drei Wohnungen, aber wenigstens. Und immer wenn er was entdeckt hat, macht er alle Interessenten darauf aufmerksam.» Die Stimme der Maklerin wurde jammernd. «Und das sind bestimmt ganz schön viele Interessenten», sagte Jo, die plötzlich Interesse an dem Telefongespräch fand. «Natürlich», jammerte die Maklerin. «Der Rose, dieser Anarchist, den kann man nicht vermeiden, der ist überall, und er hetzt die Mieter gegen uns auf. Denn wenn er sie auf die Schwachstellen hingewiesen hat, dann werden die auf einmal unheimlich frech, das glauben Sie gar nicht.» Jo schrieb eifrig mit. «Die kommen an, die reden altklug über die Mängel und daß wir angeblich verpflichtet seien, sie zu beseitigen. Die sagen sogar, daß die Miete zu hoch ist, stellen Sie sich das mal vor.»

«Rose heißt der Mann?»

«Ja genau, Rose. Willi Rose.»

«Und wo wohnt er?»

«Das ist eigentlich das stärkste Stück. Der wohnt gar nicht.»

«Wie bitte?»

«Der haust. Der haust in so einer Schrebergartenkolonie, wissen Sie. Weltkrieg 2, Nissenhütten, Lauben, und jeder hat sich seinen Stall so gut befestigt, wie er konnte.» Hallo, lieber Willi. Wir zwei kennen uns zwar noch nicht. Und die Serie gibt es auch noch nicht. Aber ich sehe sie schon vor meinem geistigen Auge: «Helden des Alltags». Na ja, bißchen dick. Vielleicht: «Zivilcourage hier und heute». Klingt ziemlich kriegerisch. «Eine Rose mit Herz». Jos Herz hüpfte vor Freude.

 

Er stellte den Wagen in der Adolfstraße ab, hielt Marianne die Tür auf und ignorierte ihre verwunderten Blicke. Borbet schloß die Tür ab. Er war sicher, daß er in dieser Gegend darauf verzichten konnte. Hier klaut doch keiner, wäre ja lachhaft. Während er mit Marianne durch die Straßen zwischen Außenalster und Hofweg promenierte, deutete er immer wieder auf eine besonders prächtige Villa. Gespannt wartete er auf Mariannes Reaktion. Enttäuscht stellte er fest, daß sie nicht fähig war, zwischen dieser Art zu wohnen und ihrem eigenen Leben einen Zusammenhang herzustellen. «Vielleicht wohnen wir eines Tages auch in so einem Haus.» Marianne lachte, Borbeterstarrte. «Du Dummchen. Ja, wenn wir mal im Lotto gewinnen», sagte sie und betrachtete schwärmerisch ein Haus. Es stand weit nach hinten versetzt, war dreistöckig und schneeweiß. Durch einen Park mit prachtvollem alten Baumbestand führte ein kiesbestreuter Weg auf das Haus und mündete in einer Auffahrt, auf der ein Jaguar und ein VW Golf Cabrio standen. «Weiter reicht deine Phantasie wohl nicht als bis zum Lottogewinn», sagte Borbet verbiestert. «Na ja, erben kann man auch noch», erwiderte Marianne munter. «Und sonst? Hast du sonst noch eine Vorstellung, wie man zu Geld, zu viel Geld kommt?»

«Hab ich», flüsterte sie und griff Borbets Arm. «Kriminell werden», sagte sie leise. Na immerhin, das ist ja schon mal was. «Wie kriminell?»

«Na ja, einbrechen. Irgendwas stehlen.» Marianne wurde ganz aufgeregt. «Einen Tresor?» fragte Borbet lauernd. «Ja genau, ein Tresor. Oder eine Geldbombe. Schmuck, Brieftasche, Bargeld, Briefmarken...» Du wirst schon wieder gewöhnlich. «Aber das ist ja alles Unsinn», sagte Marianne unwirsch. «Und warum?»

«Weil es so jeder gewöhnliche Gauner machen würde. Tresor klauen. Was bringt das denn? Wirtschaftsverbrecher, das ist die Sache. Darunter braucht man gar nicht erst anzufangen.» Der Spaziergang ging schneller zu Ende, als Borbet geplant hatte. Ihm fehlte plötzlich jede Lust, mit dieser Frau schönzutun.

Am Dienstag kursierten in der Versicherung Unterschriftenlisten gegen die Einführung der Datensichtgeräte. Borbet mußte nur Belmondo angucken, dann hatte er schon genug. Selbst Hildegard ließ ihn heute kalt. Sein einziger Trost war der Traum, den er in der Nacht genossen hatte. Borbet hatte Belmondos Scirocco auf den Schrottplatz gefahren, ihn dort in eine Schrottpresse bugsiert und anschließend auf den Knopf gedrückt, der die Presse in Gang setzte. Den Blechwürfel hatte er in den Kofferraum seines Audi gepackt, war mit kaputten Stoßdämpfern auf den Parkplatz der Versicherung gefahren und hatte die Reste von Belmondos Auto auf Belmondos Lieblingsparkplatz gestellt. Leider war Borbet dann aufgewacht, weil Marianne sich in ihrem Traum wieder einmal mit irgendwem herumprügeln mußte, was häufig dazu führte, daß Borbet einen Schlag auf den Bauch bekam.

In der Mittagspause fuhr er mit Hildegard per Paternoster ins Erdgeschoß. Sie liebten diese Beförderungsart, weil man sich beim Ein- und Aussteigen so köstlich ungeschickt anstellen und scheinbar spontan Halt am Körper des Mitfahrers suchen konnte. In derselben Minute fuhr Wegemann mit dem Expreß-Fahrstuhl in die oberste Etage. Die Vorzimmerdame von Werbechef Lindemaier ließ ihn sofort vor. «Na, endlich sieht man sich mal wieder von Angesicht zu Angesicht», sagte Lindemaier mit ausgesuchter Herzlichkeit und drückte an Wegemanns Hand herum.

In der nächsten Stunde präsentierte Wegemann die neue Kampagne. Mit Hilfe der Muster-Entwürfe für Anzeigen und Prospekte erweckte er Familie Spielmann zum Leben: eine real in der Bundesrepublik existierende Familie, die für einen Zeitraum von zwei Jahren ihr komplettes familiäres Schicksal regelmäßig in Anzeigen und Spots der Öffentlichkeit mitteilen würde. «Das ist authentisch, ehrlich, nachvollziehbar. Das hat nicht nur Bezug zum Leben. Das ist Leben. Lebendiger geht es schlechterdings nicht mehr. Unsere Spielmanns sind wie du und ich...» Wegemann lachte herzhaft, Lindemaier lachte herzhaft. Nachdem sie sich auf diese Weise bestätigt hatten, daß Spielmanns natürlich nicht wie Lindemaier und Wegemann lebten, fuhr Wegemann fort: «Die Auswahl muß äußerst sorgfältig erfolgen. Die Leute müssen charmant sein, sympathisch, lieb, aber nicht einfältig. Sondern ehrgeizig, also wenigstens Realschule, besser wäre Fachhochschule und...»

«Zweiter Bildungsweg», fiel Lindemaier ein. «Der Vertrag mit der Familie muß natürlich hieb- und stichfest sein. Die dürfen uns ja nicht nach einem Vierteljahr wieder abspringen. Das wäre eine Katastrophe. Wir haben Ihnen die Einzelheiten hier aufgelistet.» Wegemann überreichte Lindemaier einen Ordner. «Konzeption, Gestaltung, Mediaplanung, alles drin.» Lindemaier blätterte. «Respekt, Herr Wegemann, Sie machen keine halben Sachen. Positionierung, Etatplanung, wie nett.» Lindemaier legte den Ordner auf den flachen Tisch, Wegemann stellte die große Mappe mit den graphischen Entwürfen an den Rand des Tisches. Lindemaier rief durch die angelehnte Tür: «Frau Filter.» Draußen klirrte Glas, die Sekretärin kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Flasche Cognac und zwei Gläser standen. Lindemaier schenkte ein. «Also, lieber Herr Wegemann. Wir wissen beide, daß ich Ihnen in diesem Moment keine feste Zusage machen kann. Meinen Segen hätten Sie. Über die Kampagne entscheidet der Vorstand auf seiner nächsten Sitzung. Aber ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß die nächste Sitzung schon am Freitag dieser Woche stattfindet. Prost!» Wegemann genoß den Schnaps. «Apropos», sagte Lindemaier, «wären Sie in der Lage, uns ganz, ganz kurzfristig einige Vorstellungen zum Ablauf der leidigen Propagandashow bei diesen schrecklichen Kleingärtnern zu entwickeln?» Wegemann guckte fragend, Lindemaier erzählte.

 

Fred floh mit der Tüte Mohnschnecken aus dem kleinen Bäckerladen. Hinter sich vernahm er die empörten Rufe der Verkäuferin. Diese kleinen Klauereien hören sofort auf. Das ist ja entwürdigend. Mohnschnecken. Fred legte einige Straßen zwischen sich und den Bäckerladen, dann aß er. Schnecken waren sein Lieblingskuchen.

 

Am Abend versuchte es Borbet noch einmal mit dem Schweißbrenner. Nachdem er die alten Zeitungen mit Birnenkompott gelöscht hatte, gab er verbittert auf. Er ging in die Wohnung, duschte und ließ sich in den Fernsehsessel fallen. Die Fernbedienung in der einen Hand, jeweils frische Bierflaschen in der anderen, jagte er durch die drei Programme. Als das alles nichts half, nahm er noch das DDR-Fernsehen dazu. Zwischendurch steckte Jutta den Kopf ins Zimmer und verabschiedete sich. Sie sagte auch, wo sie hin wollte, Borbet hatte es im nächsten Moment vergessen. Im Flur wartete Bea. Bea war gerade achtzehn geworden und besaß schon Führerschein und Auto. Da sie Juttas Freundin war, verzieh Jutta ihr diese Ballung von Privilegien. Sie fuhren auf die andere Seite der Alster und besuchten ein stadtbekanntes Eis-Café. Jutta fand einen dunkelblonden jungen am besten. Er erinnerte sie an Ulf. Bea fachsimpelte mit einem VW Cabrio-Fahrer. Derart angetörnt fuhren die Mädchen nach Pöseldorf. Sie bummelten durch die Straßen und kicherten über die Preise der Modegeschäfte. In einem Straßenlokal tranken sie zwei Schorle. Sie wollten wegen akuten Jungsmangels gerade das Lokal wechseln, als neue Gäste kamen. In der Agentur Wegemann + Khurtz hatte gleich nach Wegemanns Rückkehr von der Passau-Paderborner ein Umtrunk begonnen. Nach dem Sagehorn-Deal und Lindemaiers hoffnungsvollen Sätzen fühlte sich Wegemann erstklassig. Irgendwann war Friedhelm gekommen, um den Range Rover abzuholen. Mit ihm war Wegemann jetzt unterwegs. Sie hatten schon ziemlich gebechert und ließen sich aufseufzend in die plastikbespannten Stühle fallen.

«Ach, ist das schön», sagte Friedhelm und blickte in den schmutzigroten Abendhimmel, den man nur sehen konnte, wenn man senkrecht nach oben schaute. Danach fiel Friedhelms Blick auf Bea. «Aber das ist noch schöner.»

Wegemann bestellte und folgte Friedhelms Blick. Mona war in Düsseldorf und lief in Damenoberbekleidung über Laufstege. Vor diesem Hintergrund sah Wegemann die kleinen Mädchen am Nebentisch mit ganz anderen Augen. Er stieß Friedhelm in die Seite: «Sind natürlich viel zu frisch für uns Lebemänner.»

Friedhelm lachte schmutzig. «Auch ein alter Traktor braucht ab und zu einen Schuß Treibstoff.» Beide Männer blödelten kichernd herum und tranken harte Schnäpse.

«Guck mal, die zwei Väter», sagte Jutta zu Bea.

«So alt wie die werde ich nie», erwiderte Bea mit Überzeugung.

«Ich schon. Aber ich werde nicht so blöd.»

«Guck mal, die reden jetzt garantiert über uns.»

«Dann steht ja fest, über was sie im Detail reden.»

Einer der Männer stand auf. Es war derjenige, der Jutta von Anfang an bekannt vorgekommen war. Er sagte etwas zu seinem Begleiter und wollte ins Innere des Lokals gehen, dabei mußte er an den Mädchen vorbei.

«Na, Fräuleinchen, ihr müßt wahrscheinlich bald nach Hause», säuselte Wegemann und blieb stehen. «Schade, wirklich schade. Jetzt wird gar nichts aus uns beiden.» Dabei zwinkerte er Jutta zu.

Jutta atmete tief durch: «Mach mich nicht an, du Wichser.» Wegemann stutzte, lächelte jedoch weiter: «Oho», sagte er, «das sind starke Worte.»

«Ich kann noch viel stärker», erwiderte Jutta so laut, daß sich die ersten Gäste umdrehten. «Und ich kann besonders stark, wenn mich Lackaffen dumm von der Seite anquatschen.»

Wegemanns Lächeln wurde starr. Jutta stand schnell auf, so daß er zusammenzuckte. Sie trat dicht auf ihn zu, guckte auf seinen Kopf und setzte sich wieder hin.

«Hab ich mir gedacht», sagte sie mit gleichbleibend durchdringender Stimme zu Bea. «Immer wenn ich so einen kunstvollen Scheitel sehe, ist alles klar: Kein Haar mehr oben auf der Platte, aber untenrum so tun, als wenn es noch zu Zöpfen reicht.»

«Mädchen, nun krieg dich mal wieder ein», sagte Wegemann. Es war ihm unangenehm, daß im Lokal mittlerweile alle Gespräche versiegt waren.

«Kommst sonst noch außer Puste. Bist ja schon ganz rot im Gesicht.»

Juttas Augen verengten sich zu Schlitzen. «Ich bin höchstens vor Aufregung rot, du bist rot, weil du besoffen bist. Kann aber auch am Übergewicht liegen. Oder wie nennst du diese Ringe um die Hüften herum?» Jutta piekte ihn in die Seite.

«Das geht dich gar nichts an», erwiderte Wegemann müde.

«Stimmt. Aber zu Brittas Zeiten hattest du weniger», höhnte Jutta.

In Wegemanns Kopf begann es zu rasen. Woher? Wie? Unmöglich. Die Welt ist klein. Ich will nach Hause. Wegemann eilte zu Friedhelm.

«Sag mal, was soll denn...» setzte der an.

«Komm», zischte Wegemann, «ich muß hier weg, sonst passiert was.» Er knallte einige Münzen auf den Tisch und stürmte aus dem Lokal.

 

Als Borbet nichts mehr im Fernsehen fand, das er länger als 30 Sekunden ertrug, schaltete er den Fernseher ab. Ohne große Hoffnung zog er in der Küche die Schubladen auf. Er brauchte ein Wunderinstrument zum Öffnen von Tresoren. Wie ein Dosenöffner. Nur größer. Jutta kam.