«Ich dachte, daß diese plumpen Tricks der Vergangenheit angehören. Warum schulen wir eigentlich für teures Geld unsere Beamten auf die neuesten Taktiken der Damen und Herren Terroristen, wenn die uns dann in den Rücken fallen und ihre ollen Kamellen von 1914/18 auspacken, häh?»

Der Schwarze blickte hilfesuchend zu Bohnsack. Der drängte sich vor:

«Ich kann das alles aufklären, diese Herren sind Kunden des Hauses. Geschäftsfreunde.»

«So», sagte der Beamte, «das würde ich an Ihrer Stelle aber niemanden hören lassen. Könnte sich nämlich schädlich auf Ihr Haus aus wirken, nicht wahr, Herr...» Er inspizierte das Namensschild des zweiten Schwarzen. «...Herr Khadiyoum, ich lach mich tot, haha.» Er riß das Schild ab.

Vor dem Eingang landeten Angestellte in den Sprungtüchern der Feuerwehr.

«Huh, wie auf dem Rummel!» rief die Frau begeistert, als man ihr aus dem Sprungtuch half.

Als nächstes kam ein komplettes Blumenfenster samt Fensterrahmen herunter.

 

«Ich gieße das Zeug aber nicht», bemerkte muffelig der junge Feuerwehrmann, der die Töpfe vom Tuch klaubte.

«Empörend», rief ein älterer Passant. «Gerade Sie müßten ja nun wirklich Wasser genug haben. Empörend.»

«Laß gut sein, das reicht», sagte Henry, als Gabriel unbedingt noch einmal das kleine Kassettengerät an die Muschel des Telefonhörers halten wollte.

«Aber es ist mein Text, ich bin stolz auf ihn», erwiderte Gabriel störrisch.

«Es gibt in Deutschland mehr Schriftsteller, als alle vier Erdteile zu ihrer Wohlfahrt nötig haben», sagte Henry bestimmt.

«Wenn du meinst», knurrte Gabriel und packte das Kassettengerät ein. Sie verließen die Anruf-Telefonzelle im U- und S-Bahn-Knotenpunkt Jungfernstieg.

«Alles wieder heile?» fragte ein großer Junge, der aussehen wollte wie Elvis Presley. Gabriel nickte, Henry sagte:

«Es ist eine richtige Beobachtung, wenn man sagt, daß Leute, die zu stark nachahmen, ihre eigene Erfindungskraft schwächen. Dieses ist die Ursache des Verfalls der italienischen Baukunst.»

Sie gingen zum Alster-Anleger, wo die Fahrräder geparkt waren. Sie hatten die Ketten um die Vorderräder und den Fahrradständer geschlossen. Vorderräder und Ketten waren noch da.

 

In dieser Sekunde fiel wieder ein Mann ins Sprungtuch der Feuerwehr. Eine Passantin blickte den Mann an und schrie auf. Sofort war ein Feuerwehrmann zur Stelle und warf dem Mann eine Decke um die Schultern.

«Lassen Sie das doch.» Der Mann streifte die Decke ab. «Was hat die Frau denn?» fragte er den Feuerwehrmann. «Mir fehlt doch nichts.» Der Feuerwehrmann wies mit dem Kopf nach unten. Der Mann folgte der Bewegung, verstand nicht. Der Uniformierte kam dicht an sein Ohr.

«Sie haben nichts an.» Der Mann starrte auf den Feuerwehrmann, dann glitt sein Blick wie in Trance über die 200 Menschen, die ihn vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus anblickten. Blitzschnell schlug der Mann beide Hände vor dem Mittelpunkt ihres Interesses zusammen.

 

«Ist in der Innenstadt eine Demo, von der ich nichts mitgekriegt habe?» fragte Adler. Er arbeitete an Frau Holländers maroder Kupplung. Neben dem Wagen plärrte ein Kofferradio.

«Wann war denn die letzte Demo, von der du etwas mitgekriegt hast? Wir haben jetzt Mitte der achtziger Jahre.» Hajo, der nebenan stöhnend versuchte, die Türverkleidung einer vom Zoll gefilzten Ente einzupassen, blickte zwischen Adler und Irene hin und her.

«Mitten in der Woche läuft das Geschäft sowieso schon nicht doll», knurrte Irene, «und dann noch die City dicht. Da hätte ich genausogut im Seminar eine Runde schlafen können.»

«Doris ist wieder da», sagte Hajo in einer Aufwallung von Vertraulichkeit zu Irene.

«Wie oft war sie denn verschwunden, seitdem du es mir das letzte Mal erzählt hast?» Verbissen arbeitete Hajo weiter.

«Sah wie Selbstmord aus», fuhr Irene fort. «Stand viel Feuerwehr herum.»

«Wo genau?»

«Ganz dicht bei der Chemiefirma, die unser spezieller Freund ausgekundschaftet hat.»

«Und du willst tatsächlich mit ihm gesprochen haben?» Adler bemühte sich nicht, seine Verwunderung zu verbergen.

«Neidisch?»

«Wenn’s der Sache dient.»

Ein Lastwagen bog um die Garagen und wurde mit dem Heck vor das Seitentor rangiert. Nur die Schnauze des Wagens ragte noch hervor.

«Sind ja richtig fleißig, deine neuen Untermieter», sagte Irene.

«Seit gestern liefern sie Räder an. Junge, Junge, ich habe gedacht, ich handele mir eine Klitsche ein. Aber die machen das wirklich professionell. Die arbeiten mit großen Stückzahlen. Mir soll’s recht sein, kriegen sie bald eine Mieterhöhung. Der eine von den beiden war ja so dafür, alternative Projekte zu unterstützen.»

Irene wechselte das Thema: «Der Rose, der bleibt nicht mehr lange in Ochsenzoll. Dann schnappen wir ihn uns und machen mit ihm die große Enthüllungs-Story.»

«Aber wenn der Rose die Schnauze voll hat und nur seine Ruhe haben will?»

«Dann beginnt unsere Überzeugungsarbeit», sagte Irene, «also meine. Wir wollen ja, daß er länger als eine halbe Stunde draußen bleibt. Dich kriegt er erst zu sehen, wenn er seelisch wieder völlig stabil ist.»

«Als Belastungstest», kicherte Hajo.

«Mach lieber ein bißchen dalli, dalli, du BMW-Bruchpilot», blaffte ihn Adler an. «Unser Freund, der Joint, kommt in einer halben Stunde.»

«Warum läßt er die Verkleidung denn nicht gleich ab?» fragte Hajo. «Wenn er dauernd nach Holland fährt und an der Grenze sowieso gefilzt wird.»

«Telefon», sagte Adler, «geh mal ran.»

«Freie Tankstelle, Pillau. Guten Tag.»

«Valentin! Bist du’s?»

«Hier ist Hajo. Hajo Pillau.»

«Valentin! Was ist los bei dir? Da ist irgendwer in der Leitung.»

«Henry, ich bin’s. Hajo. Du weißt doch: Hajo.»

«Ach, Hajo. Du Pfiffikus, warum meldest du dich denn nicht?»

«Ist was passiert bei dir, Henry? Es ist noch nicht 18 Uhr.»

«Die Kreatur richtet sich nicht nach den Tarifen der Bundespost, mein Junge. Die Adler sind da.»

«Wieso? Die waren doch die ganze Zeit da. Oder was habt ihr bewacht?»

«Die kleinen, du Dummbeutel, die Jungen. Heute vormittag geschlüpft. Na, was sagst du nun?»

«Gratuliere.»

«Das kannst du auch, das kannst du auch. Hier gehen die Flaschen rum. Das muß gefeiert werden. Ihr könnt eine Flasche Sekt auf meine Kosten trinken. Oder zwei. Aber nicht mehr. Sind ja auch nur zwei Adler. Ist das nicht schön?»

«Henry, ich habe ziemlich viel zu tun.»

«So? Interessiert dich wohl nicht. Ich schlage mir hier die Nächte um die Ohren, damit deine Kinder lebendige Adler sehen können und nicht nur im Lesebuch. Aber Herrn Pillau interessiert das alles ja nicht, wenn er nur einen Motor hat. Noch besser: einen kaputten Motor. Dann kann Herr Pillau basteln.»

«Henry, ich freue mich ja auch über deine Adler.»

«Wirklich?» Henrys Tonfall wechselte von Verbitterung zu Kameraderie. «Das wollte ich dir auch geraten haben, du alter Norweger. Wie geht es der Frau? Alles im Griff?»

«Wenn sie mal zu Hause ist.»

«Hajo, du machst was falsch mit Doris.»

«Jedenfalls mache ich mit Motoren weniger Fehler.»

«Eine Frau ist ja auch komplizierter. Viel mehr Einzelteile. Obwohl: Mehr Typen als bei Motoren gibt’s da auch nicht, was?» Henry lachte. «Käthe war hier.»

«Wer?»

«Käthe.»

«Ach, Käthe.»

«Rauscht plötzlich mit einer Taxe durch den Wald und im Kofferraum ein Zweimannzelt. Junge, Junge, ich auf meine alten Tage im Zelt. War natürlich toll. Fühle mich richtig entschlackt. Wie geht es Adler?»

«Irene ist gerade da.»

«Also nicht so gut.»

«Och.»

«So? Na ja, Hajo, hinter mir steht einer.»

«Was will der denn?»

«Telefonieren. Wir müssen dochjetzt die, äh, na, nun sag schon... genau: die Massenmedien informieren. Das ist doch was Symbolisches, zwei Adler. Da werden die doch bestimmt...»

«Was war denn?» fragte Adler.

«Henry. Die Adler sind ausgeschlüpft. Und Henry ist zu seiner Käthe in den Schlafsack geschlüpft.»

«Man ist so alt, wie man sich fühlt», sagte Irene.

«Für dich muß ein Mannsbild nur Glatze haben oder graue Schläfen, und du verzeihst ihm hundertmal soviel wie einem jungen Hüpfer, wie?»

Sie blickte Adler an. «Meinst du wirklich? Aber Hans ist erst 38. Das ist doch kein großer...»

«Wer ist Hans? Dieser Gelegenheits-Geliebte?» Sie nickte. Adler wollte gerade um Themenwechsel bitten, da rauschte ein Scirocco aufs Gelände.

«Irene, Kundschaft.» Hajo kicherte.

Golze stieg aus, blickte sich um, sah sie nicht. Während er Benzin einlaufen ließ, schlossen sie Wetten ab. Adler tippte auf maximal 10 Liter, Hajo hielt es für möglich, daß es 15 würden. Irene schlenderte zu Golze. Er bemerkte sie erst, als sie hinter ihm stand.

Der Kriminalassistent wirbelte herum, nahm Kampfstellung ein, entspannte sich sofort wieder, um sich auf neue Art zu verspannen. «Oh, oha, hallo, Irene. Da wäre ich mal wieder.»

«Hast du heute einen Konjunktiv verhaftet?» Er verstand es nicht, sie blickte auf die Anzeige und hielt zwei Hände mit ausgestreckten Fingern in die Höhe. Adler hatte eine Flasche Sekt gewonnen.

«Kassier ihn ab», rief Adler. Er und Hajo gackerten albern.

«Alles lustig, alles vergnügt, was?» sagte Golze. Heute hatte er reichlich Kleingeld dabei. Weil es ihm, wie gewöhnlich, nicht gelungen war, die Mark vollzutanken, bestand er darauf, 98 Pfennige auf den zerschrammten Glasteller zu zahlen. «Der Nachbar war es übrigens nicht.»

«Ach, sag bloß», erwiderte Irene höhnisch.

«Der Nachbar war’s nicht», sagte Irene zu Adler und Hajo.

«Nicht?» erwiderte Adler nachdenklich und blickte den hinter Irene hertrottenden Golze an. «Das wirft ein ganz neues Licht auf die Sache, was?»

«So ist es, so ist es», erwiderte Golze beflissen. «Hat zwei Nächte gedauert, bis wir den Kandidaten so weichgeklopft hatten, daß er die Hose runtergelassen hat. Und wißt ihr, wo der war?»

«Im Puff», mutmaßte Hajo, weil es ihm auf der Zunge gelegen hatte.

«Woher weißt du das?» fragte Golze völlig verblüfft. «He, hallo!» fuhr er fort und lächelte irritiert. «War das fidele Quartett in der besagten Nacht vielleicht doch kurz hier?»

«Ich denke, die waren zu Fuß», entgegnete Adler.

Golze schlug sich gegen die Stirn. «Stimmt ja, zu ärgerlich. Na, da habt ihr noch mal Glück gehabt. Aber Puff ist schon ganz okay.»

«Na, na», meinte Irene.

«Ich doch nicht», rief Golze, «der Nachbar. St. Georg, Rostocker Straße, Stundenhotel. Der Nachbar hatte auch nichts mit der Witwe, auch wenn er so verdächtig auf ihrem Rücken rumgeschrubbt hat damals. Das war Reflexzonenmassage. Hat er in einer Programmzeitschrift gelesen, sagt er. Und er hat nur gedacht, daß, wenn er den Punkt auf dem Rücken von der Witwe findet, daß das dann den Hahn zudreht, und sie hört auf zu weinen. An und für sich ein ganz vernünftiger Gedanke.»

«Hier, halt mal», sagte Hajo und drückte Golze die Innenverkleidung der linken Tür in die Hand.

«Also, Witwe null, aber trotzdem Bock, der Nachbar. Deshalb ist er überhaupt auf das Kappenfest gegangen, hat er gesagt: Lage peilen, gucken, ob was läuft. Hat er im Fernsehen gesehen, sagt er. Im Rheinland läuft offensichtlich was im Karneval. Da haben alle eine Chance, besonders bei Kappenfesten.» Golze schmunzelte.

«Wie war’s denn auf eurem Kappenfest?» fragte Adler.

«Aber hallo, das war eine Sause. Manni Wiener hat einen neuen Rekordversuch unternommen, seine Spezial-Disziplin: Hähnchen-non-stop-Verzehr. Einer aus Bergedorf hat einen halben Flattermann vorgelegt, insgesamt sechs oder sieben halbe Hähne, und Manni wollte Revanche. Hat sich aber gleich am Anfang verschluckt, an ‘nem Flügel. Und zwei vom Betrug haben sich mit schwarzem Tesafilm ein Kreuz übers Gesicht geklebt, haben tote Terroristen gespielt. Ja, ja, Phantasie muß man haben.»

«Hier, halt das auch mal», sagte Hajo und drückte Golze die nächste Innenverkleidung in die Hand.

«Aber der Rücken-Schrubber hat keine abgekriegt auf dem Fest. War ja Karneval, und da wollte er sich’s nicht durch die Rippen schwitzen.»

«Hat der keine Frau?» fragte Irene.

«Natürlich hat der eine Frau», erwiderte Golze. «Wer so aussieht, hat immer eine Frau. Alte Berufserfahrung.»

«Und war die Frau nicht mit auf dem Fest?»

«Natürlich nicht.»

«Hier, halt das auch noch mal.»

«Mann, ist das schwer. Schraubt ihr hier Panzer zusammen? Die Frau ist zu Hause geblieben, fernsehen. Da hält die mehr von. Deshalb hat er uns ja auch so lange angelogen, wegen seiner Frau. Dabei sind wir natürlich tipptopp diskret. Von uns erfährt sie es nicht. Was haben wir denn da? Läuft die Tour de France schon?» Golze sah zu den beiden Männern hinüber, die auf Rennrädern über das Tankstellen-Gelände kurvten.

«Untermieter», sagte Adler.

«Untermieter, soso. Wir haben die Dame, bei der er war.»

«Wie war die denn so?» fragte Hajo lauernd.

«Na ja.» Golze blickte Irene an. «Wie die eben so sind. Nicht schön, nicht häßlich. Er hatte gute Karten, war ja Kappenfest. War ja praktisch inkognito da.»

«Und woran hat sie ihn wiedererkannt?»

«Woran? Na ja.» Golze blickte Irene an. «Da gibt es natürlich immer ein paar Indizien in so einer Situation zwischen Prostituierter und Freier, an die man sich...» Golze schluckte. «Ich glaube, ich muß dann wieder. Habe ich übrigens schon erzählt, daß wir jetzt den Schatzmeister von ‹Penuntia›, das ist der Karnevalsverein, auf dem Kieker haben?»

«Sag bloß», höhnte Adler, «warum denn?»

«Die hatten was miteinander, die Leiche und der Schatzmeister. Geld, Schulden, nicht gerade ein Pappenstiel.»

«Könnte man mit der Summe mehr als 10 Liter Sprit bezahlen?» fragte Irene.

«Aber dicke.» Golze blickte sie an und fragte: «Wo kann ich denn mal...?»

«Durch den Verkaufsraum und dann...»

«Nein, nein, ich meine, die Dinger hier.» Unschlüssig hielt er die Türverkleidungen in den Händen.

«Da hin», sagte Hajo. Golze stellte die Verkleidungen ab. Dabei fielen zwei kleine, mit Stanniol umwickelte Päckchen heraus. Golzes Hände waren mit einem Schmierfilm überzogen.

Er rieb sich die Hände, wobei er die Schmiere verteilte, lächelte: «Also dann. Ihr könnt mir Glück wünschen.» Bei der Fahrt vom Gelände wäre er beinahe mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Irene, Adler und Hajo sahen, wie Golze halb aus dem Auto stieg und drohte. Der Radfahrer winkte ab und radelte ohne Eile davon.

 

So aufgeregt hatte Roberta Bohnsack ihren Mann bisher ganz selten erlebt. «Hier ist die Hölle los», rief er ins Telefon. «Alle sind total durchgedreht. Jeder verhaftet jeden, jedes zweite Fenster ist rausgebrochen. Wenn du nicht aufpaßt, wirft dir einer mit einem Blumentopf die Rübe ab. Aber es sind kaum noch Blumentöpfe da. Der Krankenstand, Moment mal, Aliensteich hat eine vorläufige Statistik erstellt...» Roberta Bohnsack hörte es rascheln. Sie blickte durch die Glasfront in den Garten. Aus der Küche drang der Geruch von zerlassenen Zwiebeln. «84 Prozent. Der Krankenstand beträgt 84 Prozent. Und weißt du, weswegen?»

Der Vierklang intonierte das Klopfen von Beethovens Haushälterin. «Klitzekleinen Moment, Liebling, ja? Es hat geläutet.» Sie öffnete die Tür. Die Männer trugen Jeans, Hemden und Sportmützen. Beide hielten Taschen in der Hand, und beide waren Schwarze.

«Schönen Gruß aus der Heimat», sagte einer lächelnd und nahm die Mütze ab. «Es ist soweit. Ein kurzer Check als Vorbereitung auf die Regenzeit.»

«Aber wir haben doch noch nicht mal Sommer. Das Unkraut ist doch noch gar nicht groß.»

«Die größten Dinge der Welt werden durch andere zuwege gebracht, die wir nichts achten, kleine Ursachen, die wir übersehen und die sich endlich häufen.»

«Na, wenn es so ist», sagte Roberta, «bitte sehr.» Sie wies auf den Garten. Die beiden grüßten und gingen ums Haus. Sie eilte zum Telefon zurück.

«88. Eben ist Allensteichs aktualisierte Statistik reingekommen. 88Prozent», erzählte Bohnsack schockiert. «Alle Toiletten und Waschräume sind demoliert. Das war eine kollektive Panik. Keiner war mehr ansprechbar. Und das alles wegen der Blumenkiller.»

Die Schwarzen tauchten auf der Gartenseite des Grundstücks auf. Sie winkten Roberta durch die Glasfront zu, sie winkte zurück.

«Ach, Ulf», sagte sie, «du darfst das den Leuten nicht übelnehmen. Menschen mit schwarzer Hautfarbe strahlen nun einmal auf den ersten Blick etwas Fremdes aus. Weißt du noch?»

«Ist ja okay», entgegnete er, «aber die haben sich hier die Kleider vom Leibe gerissen, also unsere Leute. Und weißt du, warum?» Roberta mußte unwillkürlich lächeln, als sie sah, wie die Gärtner kleine Zerstäuber aus den Taschen holten und Pflanzen, Büsche sowie die prächtigen alten Bäume des Anwesens besprühten. «Weißt du, warum, Roberta? Weil die schwarzen Freunde mit Juckpulver oder was weiß ich ein Happening veranstaltet haben und groß rumtönen, daß sie Rache nehmen und daß sie Gift versprühen, weil unser Haus Gift herstellt, das sie in Kenia ihren Leuten über den Kürbis schütten, so daß sie krank werden oder daran eingehen. Sterben, meine ich.»

Auf den Gesichtszügen von Roberta Bohnsack war immer noch das Lächeln. Die jungen Männer tollten über den Rasen. Sie sprangen, lachten, wiesen sich gegenseitig auf irgend etwas hin. Einmal richtete einer den Zerstäuber gegen den Kollegen, der flüchtete mit grotesken Sprüngen. Auf den Gesichtszügen von Roberta Bohnsack war immer noch ein Lächeln. Doch das Lächeln fror ein, mehr und mehr.

«Wenn du mich fragst, ein Studentenulk», fuhr Bohnsack fort, «leider ein erfolgreicher. Irgendein Hully-Gully auf unsere Kosten. Wie wenn ein Laientheater seine Leute losschickt. ‹Zauberei›», er bemühte sich, das Wort verächtlich auszusprechen. «‹Rache der Dritten Welt an der Ersten›. Wenn ich das schon höre. Wie damals diese Eiferer im Seminar. ‹Internationalismus›, ‹Solidarität mit den Opfern des Kolonialismus›, meine Güte, was haben diese SDS-Leute rumgetönt. Das ist so ein richtiger verspäteter APO-Streich, was die heute bei uns abgezogen haben. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir.»

«Ich auch», sagte Roberta und blickte mit ängstlichen Augen in den Garten. «‹Zwei Schwarze verseuchen den wunderschönen Garten des Verkaufsleiters der Reiher AG.›»

«Das fehlte ja noch», Bohnsack lachte müde. Dann ließ er den Tonfall seiner Frau in sich nachhallen und rief alarmiert ins Telefon: «Was hast du da eben gesagt?» Und als sie nicht gleich antwortete: «Roberta, Liebling, so sag doch was. Wie hast du das eben gemeint? Was ist los? Sind sie da? Sind sie jetzt bei uns? Unternimm nichts, begib dich nicht in Gefahr. Ich bin gleich da. Geh nicht aus dem Haus, hörst du?» Bohnsack warf den Hörer auf die Gabel. Er tat das mit so viel Schwung, daß der Hörer vom Telefon fiel und neben der hastig hingekritzelten Statistik von Allensteich liegenblieb.

Bohnsack stürzte die Treppen hinunter. Feuerwehr, Mobiles Einsatzkommando und gemeine Polizisten sammelten ihre Utensilien ein. Bohnsack stürzte durchs zerstörte Foyer nach draußen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Trübsinnig machte Allensteich, der Leiter der Stabsabteilung Planung einen Haken hinter Bohnsacks Namen auf der Liste.

 

So rücksichtslos hatte Roberta Bohnsack ihren Mann bisher ganz selten erlebt. Zentimeterdicht schrammte er mit dem Wagen an den Steinpfeilern des Zauns vorbei und bremste so abrupt, daß die Reifen über den Sand scheuerten. Da es seit Tagen nicht geregnet hatte, hing der aufgewirbelte Sand minutenlang in der Luft.

«Wo sind sie? Sind sie noch da?» Sie stand in der geöffneten Haustür und schwieg. Bohnsack stürmte durch den Flur in den Wohnbereich und eilte bis an die Glasfront. Wütend fummelte er an den Vorhängen herum, weil er wie gewöhnlich nicht gleich den Knopf für die Versenkung des Glasfensters fand.

«Sie sind weg», sagte Roberta tonlos. Die Glasfront senkte sich ab.

«Na los», murmelte Bohnsack ungeduldig. Als das Glas noch einen halben Meter hoch war, stieg er darüber hinweg. Er stürzte auf die Agaven zu, hielt vorsichtig die Nase an den Busch.

«Sei vorsichtig», ertönte Robertas Stimme hinter ihm, «vielleicht ist es giftig.»

Bohnsack eilte weiter zum Wacholder, befühlte die Nadeln. Dann ging er gefaßt auf die Blutbuche zu. Wenn ihr der was getan habt, tu ich euch auch was. Das dauert hundert Jahre, bis die so ist. Bohnsack betrachtete die Blätter. Er hatte das Gefühl, als ob ein dünner Film auf ihnen lag. Aber er war nicht sicher, das machte ihn aggressiv. «Was haben sie alles besprüht? Wie viele waren es? Kamen sie wirklich aus Kenia?»

«Besprüht haben sie bis auf mich und das Haus alles, was sich außerhalb des Hauses befindet. Zwei waren’s. Ich würde sagen, es waren Kikuyu. Beide.»

«Das kommt alles sofort ins Labor. Nach der Analyse wissen wir mehr.»

«Glaubst du denn, hier tauchen tatsächlich Schwarze auf und besprühen uns mit Gift?»

Bohnsack blickte sie an. Auf dem Nachbargrundstück vergnügten sich Kinder im Swimmingpool; die Sonne schien angenehm warm und nicht drückend heiß; die Vogelwelt spielte eine Melodie dazu. Bohnsack blickte seine Frau an: «In meiner Eigenschaft als Realist würde ich sagen: Möglich ist vieles.»

«Und deine Branche war bisher nicht besonders zimperlich, wie?»

«Nein, war sie wohl nicht.» Plötzlich fühlte sich Bohnsack müde und zerschlagen.

«Da war ein Anruf, gleich als die beiden weg waren.»

«Sag schon.»

«Der junge Mann, der uns hinten draufgefahren ist. Er sagt, er will endlich den Wagen reparieren, aber er erreicht dich nicht.»

«Soll wieder anrufen», murmelte Bohnsack ohne Interesse. Dann ging er in den Garten und rupfte Blattwerk von Büschen, Pflanzen und Bäumen. Er hatte keine Augen für den Mann im Trenchcoat, der neben dem Wagen stand und nach einem letzten Blick auf Bohnsack ohne Eile fortging.

 

Die politischen Hörfunk-Magazine am späten Nachmittag waren voll mit den Vorfällen in Hamburg. Anfangs verdutzt, dann mit wohligem Vergnügen, hörten Millionen zu Hause und auf dem Heimweg, wie eine Panik in zwei Firmen zu absonderlichen Kollektiv-Reaktionen geführt hatte. Natürlich standen die in den Straßen herumirrenden Nackten im Mittelpunkt. Aber auch die «Vollbäder im Pissoir», wie es ein Reporter formulierte, waren nicht ohne. Die Wasserwerke registrierten am Ende der aktuellen Radiosendungen einen dramatischen Rückgang des Wasserverbrauchs. Diese Hemmung währte mehrere Viertelstunden, normalisierte sich dann recht zügig, erreichte jedoch bis Mitternacht nie den langjährigen Durchschnittswert.

Während die Pressestelle der Polizei auf Anfrage betonte, daß wahrscheinlich sechs Schwarze an der Aktion beteiligt gewesen seien, höchstens jedoch vierzehn, schwankten die Angaben bei den unmittelbar Betroffenen in der Kaffeefirma und dem Chemiewerk zwischen 3 und 41. Das Polizeilabor prüfte bis tief in die Nacht alle Proben auf die Natur des Giftes. Die Krankenhäuser in der näheren Umgebung der betroffenen Firmen verzeichneten starken Zulauf in Ambulanz und Bettenbelegung. Nach 19 Uhr warf die größte Tageszeitung am Ort ihren Titel «Die schwarze Rache schlägt zurück» aus dem Blatt. Im dritten Hörfunkprogramm hatte ein Kommentator eben diese Formulierung benutzt. Nachdem sich jedoch der Chef vom Dienst die durchschnittliche Hörerzahl der dritten Programme besorgt hatte, wurde die Headline erneut ins Blatt gerückt. In den Haupt-Nachrichtensendungen berichteten Angestellte der Firmen sowie Polizeibeamte von ihren Erlebnissen. In den Spätnachrichten erschienen erste Phantom-Bilder. Durch einen technischen Fehler waren sie um mehrere Halbtöne zu stark abgedunkelt. Es dauerte nur Sekunden, bis erste Hinweise aus der Bevölkerung bei den Polizeidienststellen einliefen.

Während Rotationsmaschinen Millionen von Zeitungen druckten, lagen Henry und Gabriel in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf, den ein paar REM-Phasen nur unwesentlich aufhellten.

 

Am nächsten Morgen fühlten sie sich erfrischt und guter Dinge. Der Kiosk-Pächter beim Studentenheim pflegte die Blätter untereinander an ein Gerüst zu klammern und rechts und links neben seine Bude zu stellen.

«Die schwarze Rache schlägt zurück», «Terror hinter Negermaske», «Schwarze Laubfrösche sprucken Gift und Galle», «RAF: Neue Waffe Giftbomben»

Einzig die kleinste Tageszeitung mußte wieder aus dem Rahmen fallen.

«Total-Rotation bei Fenstern und Fensterrahmen. Glaser im Stress.»

 

Henry und Gabriel kauften alle Zeitungen. Auf dem Flur begegnete ihnen Maggie. Sie ließ eine Zeitung hinter ihrem Rücken verschwinden und verzog sich eilig in ihr Zimmer. Sie lasen sich vor.

 

«Wahnsinnige unterwegs! Am bisher schönsten Frühsommertag des ganzen Jahres hätte 500 Menschen beinahe das letzte Stündchen geschlagen. Kurz vor 12 drangen zwei als Blumenboten verkleidete Banden in die Kaffeefirma Bohnemann sowie in das Chemiewerk Reiher im Zentrum der Stadt ein. Die Kommandos griffen die nichtsahnenden Angestellten mit mehreren Litern des hochgiftigen Unkrautvernichtungsmittels E 605 an. Egon W., einer der Überfallenen, mit noch schreckensbleichem Gesicht: ‹Auf einmal waren die da, und dann ging es auch schon los.› Egon W. ist für mindestens drei Wochen krankgeschrieben. Zwei Dutzend Angestellte der Reiher AG sprangen in Panik aus den Fenstern. Alle erlitten Stauchungen, Prellungen, Schürfwunden. Vier Beine brachen.»

 

Eine andere Zeitung:

 

«Alarmierende Meldung der Chemiker: Unter Umständen arbeiten die Terroristen mit einem bisher nicht bekannten Super-Gift. Während es schnell gelang, Rückstände von E 605 auf allen Grünpflanzen in beiden Firmen festzustellen, blieb die weitere Analyse bisher ohne Erfolg. Ein Polizei-Chemiker: ‹Wir rechnen mit dem Schlimmsten. Dann ist die Überraschung wenigstens nicht so groß.› Übersetzt man die diplomatische Formulierung, heißt das: AIDS, Pocken und Lepra haben Konkurrenz bekommen. Wenn die Internationale der Terroristen ein wahnsinniges Genie dazu gebracht hat, für ihre wirren Weltverbesserungs-Pläne ein bisher nicht bekanntes Super-Gift zu synthetisieren (herzustellen, die Red.), droht den Bewohnern unserer Stadt und allen Menschen in allen zivilisierten Staaten Gefahr für Leib und Leben. Nach diesem feigen Attentat ist nichts mehr wie früher. Dämme sind gebrochen. Warum haben die Täter ihre Gesichter schwarz geschminkt? Heißes Gerücht, das auf den Fluren des Polizeipräsidiums gehandelt wird: Es waren Schwarze.»

 

«Na?» fragte Henry lauernd. «Sieht nicht so aus, als ob irgendwer irgend etwas begriffen hat.» Mißmutig nahm er die nächste Zeitung.

 

«Pflanzengift in feinem Vorgarten — Die Besitzer eines Luxus-Bungalows im Elbvorort Othmarschen wurden gestern nachmittag Opfer eines mysteriösen Überfalls von zwei Schwarzen, die unerkannt entkommen konnten. Die Täter besprühten das Pflanzgut des geschmackvoll und teuer angelegten Gartens mit einem Stoff, dessen Analyse bis Redaktionsschluß nicht abgeschlossen war. Ein Chemiker: ‹Wir arbeiten eng mit dem Tropen-Krankenhaus zusammen.›»

 

«Nein, es sieht wirklich nicht so aus, als ob sie etwas begriffen hätten», sagte Henry und umrandete mit einem Kugelschreiber die Buchstaben r  a i und w

«Hier, das ist aber nett», rief Gabriel:

 

«D e G  uen P nther im L ndesve b nd H mbu g h ben dem Le te  des h es gen Hö funk-Jugendfunks die Eh enm tgl edsch ft ve l ehen. Beg ündung: ob ohl ku z vo  dem Sp ung übe  d e Pens onsg enze, h be de   usgeze chnete bew esen, d ß m n ‹ uch b s  ns fo tgeschr ttene  lte  Jugendl chke t und Sp nnk ft e h lten› könne. Die G  uen P nthe  we sen ausd ückl ch d r ufh n, d ß de  Beschluß übe  d e Ve le hung de  Eh enm tgl edsch ft schon vo  zehn T gen gefallen se . Ke nesfalls se e  ls  e kt on  uf  d e T ts ache zu ve stehen, d ß bes gte  Hö funk-M nn vo  zwe  T gen   h end e ne  L ve-Sendung be  geöffnetem M k ofon e ngeschl fen se  und s ch e ne Pl tz unde obe h lb de  l nken   ugenb  ue zugezogen h be.»

 

«Na, hoffentlich hat er ein gutes Heilfleisch», sagte Henry. «Bei alten Leuten weiß man ja nie.»

Im weiteren Verlauf des Tages verließen sie das Zimmer nicht. «Vielleicht liegt es am hiesigen Schulsystem», meinte Henry nachdenklich. «Es ist gewiß besser, eine Sache gar nicht studiert zu haben als oberflächlich. Denn der bloße gesunde Menschenverstand, wenn er eine Sache beurteilen will, schließt nicht so sehr fehl als die halbe Gelehrsamkeit.»

«Sie brauchen vielleicht einfach nur länger», gab Gabriel zu bedenken. «Wir müssen Geduld mit ihnen haben.»

 

«Parathion!» bellte Bohnsack den verschüchterten Chemiker an. «Ich bitte mir ein Quentchen mehr Ernst aus. Die Lage ist nun wirklich so.»‘

«Aber wenn wir doch nur E...»

 

 

Parathion(-äthyl) hat unter dem Handelsnamen E 605 traurige Berühmtheit erreicht. Parathion ist das bekannteste und in größtem Umfang eingesetzte Insektizid. Es wirkt als nichtsystematisches Kontakt-, Fraß-und Atemgift gegen Insekten, aber auch gegen Spinnmilben.

 

 

«Sie gehen mir auf die Nerven», sagte Bohnsack schneidend.

 

«Sie könnten ja selbst...» setzte der Chemiker an. Seine Eigenart, Sätze nach der Hälfte abzubrechen, steigerte Bohnsacks Aggressivität.

«Tschuldigung, Meister», sagte der Glaser. Er stieß Bohnsack fast um. Genervt sah der Verkaufsleiter den Handwerkern zu, die neue Fenster einsetzten.

Wie Bohnsack so in einem bestimmten Winkel auf die Scheiben blickte, blendete ihn die Reflektion des Sonnenlichts. Das Gleißen auf der Scheibe betäubte die Augen. Schwarze und E 605. Roberta sagt, sie kamen aus Kenia. Du warst in Kenia. In Kenia haben wir ein Werk, Rache. Rache wofür? Dafür? Dafür doch nicht. Wenn das alle machen würden... wenn das nur ein Hundertstel machen würde... wir könnten uns begraben lassen. Das wäre das Ende. Nein, nicht das Ende. Nur das Ende von unserer Art zu wirtschaften. Und zu leben. Schwarze. Und E 605. Der Glaser schloß das Fenster, das Glas wurde durchsichtig. Ernüchtert blickte Bohnsack auf das gegenüberliegende Kaufhaus.

«Geben Sie her», sagte er unwirsch zum Chemiker, «wenn man nicht alles selber macht.» Er zog die Anzugjacke aus, schnappte sich den erstbesten Kittel und scheuchte den Chemiker vom Stuhl.

Der Mann wurde Zeuge, wie Bohnsack die hohe Schule der chemischen Analyse zelebrierte. Souverän spielte er auf der Tastatur des vorbildlich ausgestatteten Laboratoriums. Zwischendurch bat er zwei Chemiker hinzu, die ihm assistierten und eigene Versuchsreihen durchzogen. Sie arbeiteten eine Stunde lang.

«Also E 605», sagte Bohnsack nachdenklich und zog den Kittel aus. — Ein Bergdorf im Hochland von Kenia, weitab von den Ausläufern des Tourismus an der Küste. Das Zentralkrankenhaus 30 Kilometer entfernt, eine Grundschule seit wenigen Jahren am Ort. Bohnsack und Roberta zu Gast bei der Lehrerin. Eine Dänin mit dem witzigsten Deutsch, das Bohnsack je gehört hat. Der Spaziergang durch das Dorf. Bohnsacks Stolz, daß er die Sprache beherrscht. Das ruhige Selbstbewußtsein der Bewohner. Und der alte Mann mit den Figuren aus Lehm. Die Guten — die, die Bohnsack für gut hält — stehen abseits auf dem Boden: Rinder, Elefanten, Ziegen, Affen. Sie interessieren den Mann nicht. Er wirft die anderen in den Sand. Das sind die, die Bohnsack für mißlungen hält, Entwürfe, Ausschuß. Der alte Mann wirft die Figuren, betrachtet sie, geht um sie herum. Der Ernst im Gesicht des Mannes. Die dänische Lehrerin will erklären, Bohnsack winkt ab. Sie zieht Roberta nach hinten, dort sprechen die Frauen, lachen. Bohnsack kommt nicht los von dem Mann. Nur einmal blickt der Mann von den Figuren auf. Ihre Augen treffen sich, Bohnsack gerät in die Defensive, der Mann entläßt ihn aus dem Blick, widmet sich den Figuren. Dann spricht er: «Es sieht nicht gut aus.» Hinterher hatte sich Bohnsack geärgert, daß er nicht nachgefragt hatte, als der Mann hinzufügte: «Es sieht nicht gut aus. Ihr werdet die Erfahrung machen müssen.»

Heute meinte Bohnsack manchmal, daß die Sätze des alten Mannes einfacher gewesen waren. Vielleicht war es Bohnsack, der in die Worte des Mannes das Geheimnis hineingebracht hatte. Vielleicht konnte Bohnsack nicht einfacher denken, damals. Dabei war es sein Ziel, Gelassenheit zu erreichen, um berufliche Probleme, private Gefühle und grundsätzliche Wahrheiten auf eine Schnur zu ziehen. Bohnsack suchte noch nach den Fäden. Ihn beunruhigte nicht das Gift, er hatte einen viel schlimmeren Verdacht.

«Dann gratuliere ich auch», sagte der Chemiker zu Bohnsack.

«Wieso?»

«Na, wenn’s Gift ist, kann man ja was dagegen tun.» Der Chemiker hatte richtig Farbe gekriegt.

Bohnsack blickte ihn fragend an.

«Gegengift, wir entwickeln ein Gegengift», sagte der Chemiker verschwörerisch.

«Quatsch», murmelte Bohnsack.

«Aber die Leute würden uns das aus den Händen reißen», klagte der Chemiker.

Bohnsack blickte aus dem Fenster.

 

«Da sind Sie ja endlich», rief Hajo und sprang auf.

«Wieso?» fragte Bohnsack, aus komplizierten Zusammenhängen aufgeschreckt, und blieb im Vorzimmer stehen.

«Der junge Mann bestand darauf, auf Sie zu warten», erklärte die Sekretärin entschuldigend.

Bohnsack blickte Hajo an. «Ach, deshalb.»

«Genau», sagte Hajo. «Nachher glauben Sie noch, ich bin einer, der Unfallflucht begeht.»

«Würde ich nie denken, Sie sind das genaue Gegenteil. Sie begehen Unfälle an denen, die nicht schnell genug fliehen können.»

Hajo lächelte verkniffen. BMW-Humor, kenne ich. Finde ich ekelhaft. Doris findet ihn geil. «Und jetzt? Jetzt wollen Sie mir meinen Wagen wegnehmen, und ich kann mit dem Roller nach Hause fahren? Oder wie?»

«Ach wo», sagte Hajo schnell. «Sie können meinen nehmen, natürlich nur, wenn Sie wollen.»

«Was bewegen Sie denn?»

«Einen Scirocco.»

Die Sekretärin bemühte sich nicht, ihr Kichern zu unterdrücken.

Bohnsack lächelte. «Lassen Sie gut sein. Ich arbeite ja in einem Stall, wo ich ohne Probleme an einen Ersatzwagen komme. Nehmen Sie meinen also in Herrgotts Namen mit. Hier...» Er zog den Schlüssel aus der Tasche, warf ihn Hajo zu. «...Steht auf dem Parkplatz in der besseren Ecke. Das ist die mit den Hundemarken vor jedem Platz.»

«Danke, vielen Dank», entgegnete Hajo, «in zwei Tagen haben Sie ihn wieder, garantiert picobello. Wie neu.»

«Das eilt nicht. Sie sind zur Zeit eines meiner kleineren Probleme. Ich darf mich empfehlen.» Bohnsack ging in sein Büro und hatte Hajo bis zu dem Moment vergessen, an dem er vor seinem leeren Parkplatz stand und mißmutig feststellen mußte, daß er heute keinen Firmenwagen mehr bekommen würde.

 

Was in diesen Tagen noch geschah: In allen Zeitungen erschienen aktualisierte Phantombilder. Danach war klar, daß tatsächlich Menschen und nicht Rinder oder Spiegelkarpfen die Firmen besucht hatten. Die Zahl der Hinweise überstieg die Zahl von 300. Ein Polizeisprecher bezeichnete einen bis zwei davon als hoffnungsvolle Spuren.

 

Gegen 11 Uhr vormittags weigerte sich am Taxi-Standplatz Goldbekufer ein Taxifahrer, einen schwarzen Fahrgast zu befördern. Der Schwarze, ein Doktorand aus Ghana, ließ sich nicht abwimmeln und bestand auf Beförderung. Als sich der Taxifahrer hartnäckig weigerte, bestand der Schwarze wiederholt darauf, den Grund für die Weigerung zu erfahren. Die Ärzte des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek stellten bei dem Doktoranden eine Platzwunde an Stirn und Kinn sowie mehrere Risse an Hemd und Hose fest. Der Mann gab eine vorzügliche Beschreibung des Taxifahrers. Ein solcher Mann war jedoch bei den Kollegen am Halteplatz Goldbekufer sowie bei allen Funkdiensten der Stadt unbekannt. Auch die drei Fahrer, die zur Zeit des Zwischenfalls am Halteplatz gestanden hatten, konnten keine näheren Auskünfte geben. Nach übereinstimmender Aussage sahen sie in der fraglichen Zeit einem Angler am Goldbek-Kanal dabei zu, wie er seine Angel ins Wasser hielt.

 

Die Firmenspitze der Reiher AG informierte den Bundesverband der Chemischen Industrie über eine mögliche Klimaverschlechterung bezüglich des Images der chemischen Industrie. Daraufhin wurde in einer ad hoc einberufenen Sitzung beschlossen, eine Anzeige zur Pflege der Atmosphäre zu erstellen, die bei Bedarf kurzfristig regional und auch bundesweit geschaltet werden konnte. Innerhalb weniger Stunden zogen an allen Eingängen der Reiher AG sowie der Kaffeefirma Bohnemann Angestellte eines Wach-Unternehmens auf: übellaunige Männer, ausgestattet mit Box- und Karatekenntnissen sowie einem berstenden Selbstbewußtsein. Noch am selben Nachmittag mußte sich ein junger Angestellter von Bohnemann in ärztliche Behandlung begeben. Er hatte einen Wachmann nach dessen Aussage «dumm von der Seite angequatscht».

 

«Norddeutscher Rundfunk, guten Tag.»

«Guten Tag. Ich möchte bitte die Sendung sprechen, die bei Ihnen immer nachmittags läuft.»

«In welchem Programm?»

«Haben Sie denn mehrere?»

«Machen Sie die Leitung frei.»

«Warten Sie. Im Ersten. Erstes Programm.»

«Da läuft keine Informationssendung.»

«Dann im Zweiten.»

«Ich verbinde. Warten Sie.»

Eine Stimme forderte Henry in Deutsch und Englisch auf, Musik zu genießen. Beim Kirchenfunk war es ganz lustig, in der Sportredaktion litt der Sprecher wohl an Atemnot. Zwischendurch stellte ihn jemand zur Zentrale zurück, dann kam die Pressestelle, die von nichts wußte. Und dann hatte Henry einen Redakteur am Telefon, der zuständig war.

«Schnell», knurrte der Mann, «ich ersticke in Telexen.»

«Ich bin einer von denen, die die Kaffeefirma und das Chemiewerk besucht haben.»

«Na und?»

Gabriels Mund formte lautlos ein Wort, das Henry anfangs nicht begriff. Dann verstand er. «Ich bin ein Terrorist.»

Am anderen Ende fiel etwas um, Stimmen zischelten, ein Piep-Ton ertönte. «Moment», rief der Mann flehentlich. Es knallte, dann der Mann: «Wir sind soweit. Wer sind Sie?»

«Einer der Terroristen. Wir sagen Ihnen ein letztes Mal, was wir mit unserer Aktion beabsichtigt haben.»

«Warten Sie, warten Sie, wir sind gleich soweit. Jetzt. Bitte sprechen Sie. Langsam und deutlich. Eine Frage vorweg: Wie ist Ihr Name?»

«Der tut nichts zur Sache. Also...» Und Henry erzählte dem Redakteur, was er und Gabriel seit Wochen den Menschen in der Stadt erzählt hatten. Der Rundfunk-Mann unterbrach ihn nicht, fragte erst am Ende:

«Ist das alles? Haben Sie Ihre Erklärung vollständig vorgelesen?»

«Wieso Erklärung? Ich habe nicht vorgelesen.»

«Natürlich, natürlich», sagte der Mann beflissen. «Und der Name?»

«Welcher Name?»

«Ich meine Ihr Kommando. Hat Ihr Kommando keinen Namen?»

Henry blickte Gabriel an, der mitgehört hatte.

«Ballaballa», flüsterte Gabriel und tippte sich gegen die Stirn.

«Deutschmann», flüsterte Henry zurück.

«Hören Sie noch?» rief der Redakteur aufgeregt. «Legen Sie nicht auf! Ich verspreche Ihnen, daß wir keine Fangschaltung gelegt haben.» In der Leitung knackte es ganz fürchterlich.

«Wir befürchten nichts», sagte Henry ärgerlich.

Im Radiobüro ging es drunter und drüber. Mehrere Kollegen waren damit beschäftigt, mitzuschreiben und Telefonleitungen zu schalten. Ein Techniker schnitt das Telefongespräch mit.

«Aber das Kind muß doch einen Namen haben», bat der Rundfunk-Mann fast kläglich. «Jedes Terror-Unternehmen hat einen Namen. Warum Ihres nicht? Bitte.»

Gabriel kicherte. «Also, wenn Sie darauf bestehen», sagte Henry.

«O ja, bitte, das wäre sehr freundlich.»

Henry blickte sich in der Zelle um. Hans-Dieter grüßte Renate und hatte seine Telefonnummer dazugeschrieben; Freizeitkünstler hatten alle As mit einem Kreis umrundet; diverse Taxi-Unternehmen baten um Anruf; mehrere Türken wollten oder sollten raus aus der Zelle; und Joe hatte seinen Schniepel hingemalt. Dann war da noch der kleine, amateurhaft gestaltete und an den Rändern weitgehend abgekratzte Aufkleber «Wir bewegen die Welt — und Ihre Möbel auch. Rufen Sie uns an. Wir fliegen für Sie aus. Umzugs- und Entrümpelungs-Unternehmen Adler Kühn».

«Also», sagte Henry, «Kommando. Kommando Flieg, Adler Kühn.» Henry war selbst überrascht. «Klingt doch gut, oder?»

«Wahnsinn», flüsterte der Rundfunk-Mann, der vor Begeisterung ganz heiser geworden war. «Wiederholen Sie bitte.»

«Gerne. Kommando Flieg, Adler Kühn. Haben Sie das?»

«Kühn mit h?»

«Selbstverständlich.»

«Mit h, aha, ist ja nicht zu fassen.» Der Rundfunk-Mann blickte sich im Büro um. Freudestrahlende, gutgelaunte Gesichter. Die Sekretärin warf ihm eine Kußhand zu. Zwei Kollegen hoben die Daumen zum Zeichen des Sieges. Der Techniker war mit der Qualität der Aufnahme zufrieden.

«Hallo! Hören Sie, sind Sie noch dran? Haben Sie genug Groschen?» Das Gesicht des Redakteurs glühte vor Begeisterung, als Henry antwortete:

«Was soll die Geschichte mit den Groschen?»

Ortsgespräch. Du bist ge-ni-al. Schlauer als die Polizei erlaubt. Haben die vom Privat-Fernsehen deine Nummer? Du mußt sie ihnen sofort stecken.

«Warum diesen Namen? Was wollen Sie damit sagen?»

«Ja, also...»

«Gib mal her», sagte Gabriel und nahm den Hörer. «Hören Sie?»

Der Rundfunk-Mann keuchte. Noch einer. Es ist ja nicht zu fassen. Dieser Tag darf nie zu Ende gehen.

«Flieg, Adler Kühn», sagte Gabriel, «das ist die Fortbewegungsweise des Aars. Die Welt muß noch nicht sehr alt sein, weil die Menschen noch nicht fliegen können.»

In Henrys Gesicht ging die Sonne auf. «Gib her», flüsterte er, nahm den Hörer und fügte hinzu: «Ein Kopf mit Flügeln ist doch immer besser als ein Herz mit Testikeln.»

«Mensch», sagte der Rundfunk-Mann verblüfft, «Sie haben ja recht. Das fällt mir erst heute auf. Wo habe ich bisher nur meine Augen gehabt?»

«Verhalten Sie sich nun entsprechend», forderte Henry ihn auf.

So muß sich ein Säugling fühlen, wenn die Nabelschnur zerschnitten wird.

«So», sagte Henry zufrieden. «Mehr können wir nicht tun. Wir geben ihnen noch 24 Stunden. Oder 48, und dann möchte ich einen Sinneswandel sehen.»

«Flieg, Adler Kühn», kicherte Gabriel, «allerliebst. Aber wahrscheinlich zu dick aufgetragen, was?»

«Würde ich auch denken», sagte Henry, «aber ich weiß nicht, was die denken.»

 

Der Hörfunk berichtete in epischer Breite über den Anruf der schwarzen Terroristen. Sie brachten das komplette Telefonat, reduziert lediglich um die Passagen, in denen der Rundfunkmann Zeit schinden mußte, um Kollegen und Technik zu alarmieren. Auch einige allzu beflissene und ein wenig dusselige Passagen fehlten. Das führte, dazu, daß praktisch nur noch die beiden Anrufer zu vernehmen waren.

 

Schlagzeilen des nächsten Tages: «Die Ruhe vor dem nächsten Sturm: unerträglich»; «Hamburger, trinkt mehr Kaffee — jetzt heißt es, Flagge zeigen»; «Appell von Jimmy Hartwig: ‹Hanseaten, macht keinen Scheiß›»; «Sex-Skandal in Sauna: Schwarzer Konsul zerschoß mit Blasrohr aufgeblasene Präservative»; «Malermeister Benno Schwarz: ‹Ich kann doch nichts dafür› — Terroristen bedrohen die Existenz fleißiger Selbständiger».

 

Natürlich berichtete die Presse auch über das Telefongespräch mit den Terroristen: «Flieg, Adler Kühn! — Von der RAF zur Lyrik-Werkstatt»; «Flieg, Adler Kühn! — Tödliche Poesie»; «Flieg, Adler Kühn! — Sturzflug in den Massenmord».

 

Irene las die Schlagzeilen, als ihr Gelegenheits-Geliebter einem fliegenden Händler die Morgenzeitung abkaufte. Das war am Ende eines Zuges durch diverse Lokale. Er steckte das Blatt in seine Fischgräten-Jacke. Irene zog ihm, vor seiner Wohnungstür stehend, die Zeitung aus der Tasche. Danach hatte sie es sehr eilig, hineinzukommen.

«Brummel, brummel.»

«Adler? Hier Irene. Ich bin gerade bei einem, äh, Freund und sehe gerade die Zeitung von heute. Da ist...»

In der Leitung knackte es. Irene starrte den Hörer an, wählte erneut.

«Immer noch nicht wach.»

«Adler, du Blödmann. Findest du das witzig, oder was?»

«Was?»

«Na, die Schlagzeile.»

«Vorlesen.»

«Flieg, Adler Kühn! Von der RAF zur Lyrik-Werkstatt.»

«Wo steht das?» Adler öffnete beide Augen. Irene nannte den Namen der Zeitung. «Wie spät ist es?»

«Nach sechs.»

«Dann schlafe ich jetzt aus und dann...»

«Adler, das ist keine Alberei am WG-Küchentisch, das hier ist, ich weiß noch nicht, was es ist, aber es hat ein anderes Kaliber. Zieh dich an und komm her.»

«Was soll ich?»

«Oder ich komm zu dir.»

«Bist du denn schon fertig?»

«Womit?»

«Ich denke, du bist bei einem von deinen Kerlen.»

Mit wundem Herzen sah Irene zu, wie der Gelegenheits-Geliebte einen wunderschönen Frühstücks-Tisch bereitete. Auch der Raum war wunderschön. Weit und breit keine Autoreifen, Pirelli-Kalender und Rückbänke von ausgeschlachteten Pkws. Auf dem Weg in die Küche küßte er Irene zart auf die Haare. In diesem Moment kam ihr Adler wie ein Bauer vor.

«Also ich zu dir», sagte sie.

«Ich habe aber nichts zu essen im Haus.»

Düfte von Tee, Omelett mit viel Schinken, hausgemachter Brombeermarmelade und ein üppiger, bunter Blumenstrauß riefen ihr zu:

«Bleib, bleib doch.» Irenes Magen schloß sich diesem Wunsch voll inhaltlich an. Mit schlechtem Gewissen nahm Irene bei dem Geliebten ein schnelles Frühstück ein. Er war wunderbar einfühlsam und stellte keine Frage. Ein bißchen interessierter könntest du ruhig sein. An der Wohnungstür drehte sie sich um:

«Du hättest mich ruhig fragen können, wo ich auf einmal so schnell hin muß.»

Er lächelte. Lächeln war für seine Sätze das, was für einen Dieselmotor das Vorglühen ist. «Du wirst wissen, was du tust.»

«Klar weiß ich das», brummte Irene, als sie durch das aufwendig renovierte Treppenhaus eilte: «Ich lasse eine seltene Gelegenheit sausen, um einem asozialen Schmutzfinken ein Stück Dauerwurst fürs Frühstück zu kaufen.»

 

«Ach», stieß Irene hervor. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß eine Frau ihr die Tür öffnen würde. Peinlich berührt, ließ sie die Fleischwurst hinter dem Rücken verschwinden.

«Komm ruhig rein», forderte die Frau Irene freundlich auf, «ich bin gleich weg.»

Im Badezimmer pfiff und sang jemand. Typisch. Nach Monaten mal eine Frau auf der Bude, und schon tut er wunder wie locker. Neugierig beobachtete Irene die Frau beim Schminken vor dem Flurspiegel. Die Frau behielt die Ruhe, das beeindruckte Irene. Adler kam.

«Wenn ich mal eben vorstellen dürfte: Roswitha, das ist Irene. Irene, das ist Roswitha. Adler ist Adler, aber wem sage ich das?» Einen Evergreen summend, setzte er sich an den Küchentisch.

«Tschüs», sagte Roswitha und verabschiedete sich mit einem Kuß auf die Wange. Adler, der nicht aufgestanden war, zog sie herunter und küßte sie auf den Mund.

Irene wäre am liebsten auch gegangen. Unwohl fläzte sie sich auf den Stuhl. «Mit deinem Appetit ist wieder alles in Ordnung, was?»

Selbstzufrieden mümmelte Adler eine Scheibe Pumpernickel mit seiner Leib- und Magenspeise: Fleischwurst. «Bedien dich», sagte er, «du weißt ja, wo die Sachen stehen.»

«Da», sagte sie und pfefferte ihm die Zeitung hin.

«Ah ja», reagierte er, als ob er eben erst wieder daran dachte.

«Lies aber bitte schneller, als du kaust. Ich habe heute nachmittag noch etwas vor.»

Adler las. «Nett, die Roswitha, wie?» fragte er, ohne aufzuschauen.

«Ganz gut soweit. Sparkassen-Angestellte?»

Er blickte hoch. «Sachbearbeiterin. Spedition. Südamerika-Europa.»

«Na, toll. Dann kriegst du jetzt ja immer ganz bunte Briefmarken.» Irene roch an der Fleischwurst.

«Kann ich mir nicht vorstellen, daß Neger durch die Stadt laufen und die Leute mit Gift angreifen», sagte Adler und schlug auf die Zeitung.

«Ach, Adler, du bist niedlich.» Irene beugte sich über den Tisch und küßte ihn auf die Wange. Igitt, wie das riecht. Douglas-Drogerie. Und auf solchen Gestank fliegen Männer. Entwürdigend. «Wenn wir dieses Geschreibsel mal von allem entkleiden, was Stimmungsmache und Verbiegung ist, was bleibt dann?»

«Dann bleibt nichts mehr.»

«Ja doch», entgegnete Irene genervt, «aber ein bißchen was bleibt eben doch: daß es Leute gibt, unter Umständen Afrikaner, die ein Anliegen haben.»

«Hatte ich gestern auch», sagte Adler, unverschämt grinsend. «Aber dann kam Roswitha, und jetzt habe ich kein Anliegen mehr. Bis zum nächstenmal.»

«Adler!»

Er verließ die Küche, kam mit einem Aktenordner zurück. «Kaffee?» fragte er und goß sich Kaffee ein.

«Danke, nein. Tee wäre nett.»

«Tee ist nicht da.» Er nahm einen Schluck und schlug den Ordner auf. «Rekapitulieren wir. Vor vielen Monden räume ich eine Wohnung leer und nehme dabei diverse Aktenordner in meine Obhut. Dein Söhnchen Tillman, dieses Abziehbild seiner Frau Mama, bringt die Seiten in die richtige Reihenfolge, und was lesen wir? Wir lesen den Namen des hiesigen Chemiewerks Reiher.»

«Das wäre erstens.»

«Das wäre erstens. Zweitens lesen wir heute in der Zeitung, daß — egal wer — zwei hiesige Firmen mit E 605 einnebelt: eine Kaffeefirma und ein Chemiewerk.»

«Reiher.»

«Reiher. Ich habe mich noch mal in den Ordner vertieft. Guck da», sagte Adler, der die ganze Zeit über geblättert hatte.

Die Meldung hatte nur zehn Zeilen. «Da lacht die Bohne. Importfirma und Großrösterei Bohnemann blickt auf zufriedenstellendes Geschäftsjahr zurück...»

«Diese Meldung macht keinen Sinn», sagte Adler, «wenn sie nicht in irgendeinem Zusammenhang mit Reiher steht. Über Reiher erzählt uns der Ordner eine Menge. Über Bohnemann nur diese Meldung.»

«Und just diese Firmen beehren die — wer auch immer — mit ihrem Besuch», sagte Irene nachdenklich.

«Darf ich dich darauf aufmerksam machen, daß du gerade Roswithas Krümel vom Teller futterst?»

Irene schob den Teller von sich. «Mir fällt was ein. Im Winter habe ich doch mal zwei Schwarze von der Tankstelle mit in die Stadt genommen.»

«Ich erinnere mich dunkel.»

«Muß Februar gewesen sein. Vielleicht auch später.»

«Ja und?»

«Wir haben ein wenig geplaudert. Ich war ein bißchen neugierig, sie waren ein bißchen schweigsam. Aber eines wollten sie doch wissen: wo eine bestimmte Kaffeefirma sitzt und wo ein bestimmtes Chemiewerk.»

«Und ich soll jetzt die Namen raten», sagte Adler begeistert.

Im Mundwinkel hing ein Stückchen Fleischwurst.

 

An diesem Morgen hatte Hajo nichts zu lachen. Es begann damit, daß der Fahrer eines Mittelklasse-Wagens nach dem Tanken einstieg und ohne zu zahlen vom Gelände fuhr. Später erhielt Hajo den Anruf eines Bekannten, der ihm im Vertrauen mitteilte, daß er Doris händchenhaltend mit einem anderen Mann in den Harburger Bergen gesehen habe. Eine Viertelstunde später war Hajos Unterlippe abgenagt. Dann kam der Taxifahrer. Adler und Hajo waren zu den Männern in den imitierten Lederjacken und mit der Bild-Zeitung zwischen den Vordersitzen stets betont korrekt. Dank Irenes Werbung und nachfolgender Mundpropaganda waren sie tatsächlich eine Anlaufstelle für Droschken geworden. Der Taxifahrer rangierte vor die Säule, nahm den Schlauch, erwiderte Hajos Gruß und begann zu tanken. Dabei blickte er sich auf dem Gelände um — und riß plötzlich den Einlaufstutzen so ungestüm aus dem Tank, daß ein Schwall Benzin auf den Boden und die Schuhe des Mannes spritzte.

«He, du da», blaffte er Hajo an, «komm mal her.»

Hajo hatte es nicht besonders gern, wenn jemand in diesem Ton mit ihm redete. «Irgendwelche Probleme?»

«Das wird sich noch herausstellen, wer die Probleme hat», fauchte der Taxifahrer und ärgerte sich über die vollgesauten Schuhe. «Was haben wir denn da?»

Hajo folgte seinem ausgestreckten Arm. «Norden, würde ich sagen. Nordosten.»

«Haha, wirklich sehr komisch. Ich meine das da.»

Hajo wußte nicht, was der Mann meinte. «Ich kann nichts sehen. Der Transit steht davor.»

«Den Transit meine ich.»

«Wieso?»

Der Taxifahrer holte eine Zeitung vom Vordersitz. «Und das da?» Hajo las die «Flieg, Adler Kühn»-Schlagzeile. Er wollte dem Mann die Zeitung aus der Hand nehmen. «Nichts da. Das ist meine Zeitung.»

«Aber ich verstehe nicht...»

«Ich verstehe um so besser. Da», sagte er und warf Hajo ein Geldstück zu, «mehr ist es ja wohl nicht.» Hajo blickte auf 5 Mark. Der Taxifahrer stieg ein, kurbelte die Scheibe herunter: «War sowieso nicht, weil wir euch besonders sympathisch finden. War nur aus Nettigkeit für Kußmaul.»

Fünf Minuten später erschien Adler, er brachte eine Zeitung mit.

«Wie kommen diese Ganoven dazu, unseren guten Namen zu mißbrauchen?» rief Hajo aufgebracht. Der nächste Taxifahrer fuhr vor. Er zog eine Show ab und startete mit durchdrehenden Reifen. «Los», rief Hajo, «wir nageln sofort Schilder zusammen und stellen die an die Einfahrten. Nachher werfen uns noch mehr mit denen in einen Topf.»

«Wir könnten auch den Transit in die Garage fahren», schlug Adler vor.

«Daran habe ich gar nicht gedacht.»

«Siehst du. Und das ändert auch nichts am Prinzip.»

Hajo verstand nicht.

«Wie kommst du darauf», fragte Adler, «daß das Ganoven sind, die sich da zufällig so genannt haben wie wir?»

«Na... na...» haspelte Hajo.

«Weil’s in der Zeitung steht?»

«Ja, natürlich. Die lügen sich so was doch nicht zusammen.»

«Im Radio haben sie es auch gebracht», sagte Adler.

«Im Radio? Um Gottes willen.» Hajo war ehrlich entsetzt. «Da müssen wir doch was gegen tun. Die machen uns ja kaputt.»

«Diese unbekannten Gift-Leute wehren sich auch gegen etwas.»

«Sagen die», entgegnete Hajo häßlich. «Was wollen die denn hier bei uns? Sollen sie doch bei sich zu Hause für Ordnung sorgen.»

Adler faßte Hajo an beiden Schultern und schüttelte ihn: «Junge, nun krieg dich mal wieder ein. Wir wollen doch nicht genauso hysterisch werden wie die anderen.»

Hajo blickte ihn mit brennenden Augen an. «In den Harburger Bergen», stieß er hervor, «Doris. Hand in Hand mit einem Kerl.»

 

Kurz vor 13 Uhr betrat ein junger Mann eine Filiale der Hamburger Sparkasse. Er zwang den Kassierer mit vorgehaltenem Zerstäuber, ihm 16 000 Mark in eine Plastiktüte zu stecken. Auf dem Weg zum Ausgang besprühte der Mann das Grünpflanzen-Ensemble der Schalterhalle und verschwand mit unheimlichem Lachen. Eine unverzügliche Analyse des Sprühstoffs ergab H2O mit Brombeersaft.

 

Sie klopfte nicht erst an, sie war gleich drin. Gabriel, aus schwerem Traum geschreckt, brauchte Sekunden, bis er sich orientiert hatte. Henry machte Licht. «Oh nein», rutschte ihm heraus, als er Maggie im urigen Nachthemd sah.

«Ihr müßt verschwinden», flüsterte die Studentin erregt.

«Du mußt verschwinden», stellte Gabriel klar.

«Sie wollen die Polizei holen.»

«Wer?»

«Welche aus dem zweiten Stock. Sie wollten das schon machen, als ihr gerade hier eingezogen wart. Wir haben sie damals noch besänftigen können. Das ging jetzt nicht mehr.» Maggies Gesicht ließ keinen Zweifel.

Sie sprangen aus den Betten, zogen sich hastig an. Henry fragte: «Was haben die denn gegen uns?»

«Beeilt euch. Ich glaube, der eine hat schon telefoniert.»

«Und du? Warum warnst du uns?»

«Och», sagte Maggie. Mehr sagte sie nicht. Sie brauchten wenig mehr als zwei Minuten. «Halt, nicht zur Tür raus. Nicht durch den Flur. Lieber durchs Fenster, Balkon und über den Rasen. Da sind auch weniger Laternen.» Maggie riß die Gardinen zur Seite, öffnete die Balkontür.

Sie eilten hinaus, warfen Koffer und Kanister auf den Rasen. Gabriel sprang. Henry wollte hinterher, besann sich, ging zu Maggie, nahm sie kurz und fest in die Arme und sagte: «Danke.»

«Haut endlich ab, ihr Finstermänner», flüsterte sie und bemühte sich zu lächeln. Aber sie weinte schon.

 

Adler führte Roswitha in seine Stammkneipe. Zwar fühlte sie sich in den Lokalen wohler, in denen sie mit ihren früheren Freunden verkehrt hatte und wo die Wirte ohne besondere Aufforderung Spesen-Quittungen ausstellten. «Aber neue Männer heißt neue Kneipen», lachte Roswitha und drückte Adlers Arm. Als ein Theken-Gespräch zeitweise politisch zu werden drohte, langweilte sie sich. Doch als es dann mit Geblödel und Würfelspielen weiterging, war sie guter Dinge. Draußen rollte ein Sommergewitter vorbei. Einige standen am Fenster und sahen den Blitzen zu. Als der durchnäßte Mann hereinstürzte, sprangen sie schimpfend zur Seite. Hajo nahm Kapuze und Regenhaut ab und sah sich suchend um.

 

Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Transit. Die Stablampen beleuchteten die Reste des Wagens. Adler war schockiert, aber auch beeindruckt: «Die müssen doch eine Stunde lang auf das Ding eingeschlagen haben. Warum haben sie nicht ein Streichholz reingeworfen? Dann wäre die Sache ausgestanden gewesen.»

Sie hatten sich aus der Werkstatt geholt, was Hammer war oder sich zum Schlagen benutzen ließ. Der Wagen war schrottreif. Mit leuchtendem Orange hatten sie über eine Seitenfront die Worte «So geht es Terroristen» gesprüht. Die Dose lag vor dem Wagen. Adler kickte sie zur Seite.

«Wieso Terroristen?» fragte Roswitha, in deren Wagen sie gekommen waren.

«Ach Schatz», sagte Adler und spürte irritiert, wie sie sich seinem Versuch, sie zu umarmen, entzog. «Mußt du gar nicht ernst nehmen.»

«Als wenn ich es geahnt hätte», murmelte Hajo. «Ich bin ja eigentlich nur noch mal hergefahren, weil ich am Tag nicht dazu gekommen bin, am BMW zu arbeiten.» Hajo hatte sein Fahrrad nehmen müssen, weil Doris mit dem Scirocco unterwegs war. «Und dann dieses Scheiß-Gewitter. Es hat dermaßen gedonnert, daß ich dicht an die Kerle rangekommen bin. Die haben mich erst bemerkt, als ich vor ihnen stand.»

«Und du hast keinen erkannt?»

«Woher denn?» erwiderte Hajo ärgerlich. «Fremde Visagen. Die haben sich auch gar keine Mühe gegeben, sie zu verbergen. Der eine hat mich sogar noch geschubst. Hier...» Er drehte den Arm, erst jetzt sahen sie den abgeschrammten Ellenbogen.

«Aber warum denn Terroristen?»

Adler erklärte Roswitha den Sachverhalt. Er war nicht mehr nur irritiert, sondern genervt, als es ihm wieder nicht gelingen wollte, sie zu berühren. Ärgerlich packte er fest zu und provozierte eine heftige Gegenwehr Roswithas. «Dann verpiß dich doch», sagte Adler bitter. «Lauf zu deinen Krawatten-Männern.» Adler mußte nur auf das Wrack’ des Transits blicken, um deprimiert zu werden. Er fühlte eine große Wut, und wußte nicht, gegen wen er sie wenden sollte. «Junge, du mußt dir trockene Sachen anziehen. Du zitterst ja», sagte er zu Hajo.

«Als wenn ich es geahnt habe», murmelte der.

«Komm, drinnen sind Klamotten.» Adler nahm Hajos Arm, dirigierte ihn Richtung Kassenraum. Nach ein paar Metern blieb er stehen. «Und du? Kommst du nicht mit?»

Roswitha blickte ihn verlegen an: «Du mußt mich verstehen», sagte sie, «aber es ist...»

«Klar», unterbrach Adler sie spöttisch, «verstehe ich doch.» Er wartete, bis sie weggefahren war. Dann eilte er zum Transit, griff sich den Vorschlaghammer und schlug auf den Transit ein, immer und immer wieder. In der Tür des Kassenraums stand Hajo, eine Decke lag um seine Schultern. Das Gewitter war nach Osten gezogen. Wetterleuchten knipste in kurzen Abständen gleißende Lampen an. Kein Donnerschlag übertönte mehr die harten Hammerschläge.

 

Henry stellte sich an den Straßenrand und hielt den Daumen raus.

«Laß das doch», brummte Gabriel. Beide waren völlig durchnäßt. Henry ließ den Daumen draußen. 30 Meter vor ihnen schaltete der Fahrer des Feuerwehrwagens die Sirene ein. Henry ließ den Daumen fallen, Gabriel riß ihn zur Seite. Vier Feuerwehr-Züge rauschten über die dampfende Straße und spritzten Wasserfontänen nach rechts und links.

«Was will denn die Feuerwehr bei Regen?» fragte Henry konsterniert. Sie mutmaßten und kamen der Organisation bundesdeutscher Notdienste recht nahe. Minutenlang hatte der Autoverkehr geruht. Jetzt rutschten wieder vereinzelt Wagen über die Seenplatte. Kurz darauf hielt ein Taxi. Der Fahrer musterte sie ohne Sympathie. «Kommen Sie, Mann», lockte Henry, «wir sind naß, o.k., aber unsere Scheine sind trocken.»

«Eure Visagen gefallen mir nicht», knurrte der Taxifahrer, «mir wird so schwarz vor Augen.» Er fuhr rasant an, sie sprangen zur Seite.

«Ist dir klar, daß wir auf der Flucht sind?» fragte Henry, ohne den Blick von der Straße zu wenden.

«Ich habe Nomaden in der Verwandtschaft.»

«Wir müssen irgendwo bleiben. Wo sollen wir hin?»

«Ein Hotel. Eine Pension. Oder zur Polizei gehen. Dann kommen wir ins Gefängnis.»

Vor ihnen tauchte eine Station für S- und U-Bahnen auf. Sie gingen näher, standen vor vergitterten Eingängen. Gabriel rüttelte an den Stäben.

«Lassen Sie das, Sie!» rief eine Männerstimme. Ihre Augen suchten das Dunkel ab, sie gingen weiter. Hinter ihnen klirrte es, die Scherben der zersplitterten Flasche rutschten bis auf wenige Meter an sie heran. Irgendwo in der Ferne schlug ein Blitz ein.

«Das Wetter ist noch das Schönste an diesem Land», sagte Gabriel.

Sie wurden dann von einem Vertreter mitgenommen, dessen Kombi bis unters Dach Lexika und andere Nachschlagewerke füllten.

«Ich habe mich hinterm Deich verquatscht», erzählte er und gähnte ungehemmt. «Morgen früh oder heute früh stoße ich auf die Mainlinie vor. Mir bekommt das nicht, diese Lüttjen Lagen. Bißchen Wein, das wird mir guttun. Ihr habt in eurem Kanister nicht zufällig ein Schlückchen? Na ja. Schönes Wetterchen, wie? Kam von der Nordsee rüber, als ich losfuhr. Ich hatte es während der gesamten Fahrt über mir hängen. Wie im Zeichentrickfilm. Und die Donnerschläge. Als wenn es dir einen Reifen wegreißt.»

«Ein physikalischer Versuch, der knallt, ist allemal mehr wert als ein stiller, man kann also den Himmel nicht genug bitten, daß, wenn er einen etwas will erfinden lassen, es etwas sein möge, das knallt; es schallt in die Ewigkeit.»

Der Mann blickte kurz zu Henry hinüber. «Lichtenberg, 1742 bis 1799.»

Ihre Köpfe, wiewohl müde, enttäuscht und besorgt, wurden regelrecht zu dem Mann herumgerissen.

«Donnerwetter», sagte Henry anerkennend, «wissen Sie eigentlich, daß Leute wie Sie in diesem Land fast ausgestorben sind?»

«Das hat mir meine Frau auch gesagt, bevor sie mit dem Amtmann durchgebrannt ist. Liegenschafts- und Katasteramt, bodenständiger geht’s wirklich nicht.»

«Trösten Sie sich», sagte Gabriel, ein Lexikon durchblätternd, «eine seltsamere Ware als Bücher gibt es wohl schwerlich in der Welt. Von Leuten gedruckt, die sie nicht verstehen; von Leuten verkauft, die sie nicht verstehen — Tschuldigung; gebunden, rezensiert und gelesen von Leuten, die sie nicht verstehen; und nun gar geschrieben von Leuten, die sie nicht verstehen.»

«Sie wollen nicht zufällig nach Süddeutschland?» fragte der Vertreter. Das Hoffnungsvolle in seiner Stimme war nicht zu überhören.

«Wir sind hier noch nicht fertig», sagte Henry.

«Aber dann geht es wieder in den Süden, was?»

«Dann ja. Tief in den Süden. Aber erst dann. Die Deutschen schreiben die Bücher, aber die Ausländer machen, daß sie sie schreiben können.»

Zwischen Alster und Hauptbahnhof ließ der Vertreter sie raus. «Wollen Sie eins?» fragte er noch und reichte ein Lexikon durchs geöffnete Fenster.

«Hier», sagte Henry und tippte sich gegen die Stirn. Als ihm die Zweideutigkeit der Geste bewußt wurde, präzisierte er: «Wir haben es hier drin. Das unterscheidet uns von den Eingeborenen hier.»

«Das wäre mein Ruin», erwiderte der Vertreter, warf das Buch achtlos nach hinten, grüßte mit knapper Handbewegung und fuhr davon.

«Und nun?» fragte Henry trübe und blickte sich um.

«Die Fliege, die nicht geklappt sein will, setzt sich am sichersten auf die Klappe selbst», entgegnete Gabriel und nieste herzhaft.

«Man sollte Katarr schreiben, wenn er bloß im Halse, und Katarrh, wenn er auf der Brust sitzt», sagte Henry.

«Komm», forderte ihn Gabriel auf, «laß uns ein Dach überm Kopf suchen. Hier ist es mir zu windig. Ach, Henry, es sieht schlecht aus. Wir von Gottes Ungnaden, Taglöhner, Leibeigene, Neger, Fronknechte und so weiter.»

«Verzage nicht», tröstete Henry. «Schau, da geht es in die Unterwelt.» Sie stiegen in das Gewirr der unterirdischen Gänge hinab.

«Keinen Schritt gehe ich weiter», sagte Gabriel und starrte auf die unendlich langen Kachelwände. Henry zog ihn wortlos mit sich. Angewidert betrachtete Gabriel die riesigen Werbe-Plakate. «Arschwische mit Mottos», stieß er hervor. Sie schlurften deprimiert die kalt erleuchteten Gänge entlang. Im Hintergrund hing ein diffuses Rauschen. In einer geschützten Ecke lagen zwei schlafende Männer.

Plötzlich packte Henry seinen Freund am Arm. «Da!»

Gabriel sah es sofort: «Eine Tür in der Wand. Deutschland, Deutschland.» Sie traten näher. Die stählerne Tür stand zwei Hände breit offen. Von drinnen kam Licht, es erschien ihnen gelber als das Licht draußen.

«Öffentlicher Schutzraum», las Henry auf dem unscheinbaren Schild oben neben der Tür. «Das finde ich anständig. Ob das für die ist, die den Gang beim ersten Anlauf nicht schaffen?»

«Das würde mich wundern», entgegnete Gabriel und öffnete die Tür. Sie mußten sich nicht erst verständigen. Sie verhielten sich automatisch vorsichtig.

«Ich habe Bilder von deutschen Jugendherbergen gesehen. Sie sehen so ähnlich aus», sagte Henry leise. Sie standen in einem niedrigen, aber weitläufigen Raum, der nur deshalb so eng wirkte, weil dicht an dicht zahlreiche Etagenbetten standen. «Das ist doch...» setzte Henry an. «Da sollte man doch gleich mal...» Und er trat schnell vor die Tür und nahm den Dietrich an sich.

«Ich weiß nicht, wer vor uns hier war», sagte er beim Zurückkommen, «aber er tat es zum richtigen Zeitpunkt. Gabriel, wir haben eine neue Heimat.»

Henry schleppte ihre Utensilien zum nächsten Bett. Danach ließ er sich auf die Matratze fallen, wippte auf und nieder. «Aber», sagte Gabriel unzufrieden, «wenn wir hier unter der Erde festsitzen, kommen wir doch nie mehr zu...»

«Sprich den Namen nicht aus», bat Henry flehentlich, «ich möchte den Namen nicht mehr hören, wenigstens einen Tag lang. Ich brauche das einfach zur Erholung. Es ging in den letzten Wochen um nichts anderes mehr.»

«Soll ich R sagen?»

«Sag R, und wir wissen, was gemeint ist: ein schwerfälliges, gefährliches Monstrum, das lange nicht einmal gemerkt hat, wie wir gegen es Sturm laufen. Ich hasse R.»

«Wir warten hier unten zwei, drei Tage ab, dann starten wir einen Großangriff. Den letzten — mit Feuer und Schwert. Der wird R aus den Angeln heben.»

Auf diese Weise machten sich Henry und Gabriel Mut. Sie redeten noch weiter über die Reiher AG und fielen danach in einen schweren Schlaf.

Rochus Rose wartete ab, bis die Atemzüge der Männer zehn Minuten lang gleichmäßig waren, dann löste sich der schweißüberströmte Mann vorsichtig aus dem Spalt zwischen Wäschespind und Wand und näherte sich Zentimeter für Zentimeter der Tür. Einmal drehte sich Gabriel schwungvoll um die halbe Achse. Mehr Panik-Anfälle erlitt Rose nicht. Es war ihm gleichgültig, ob einer der zahlreichen Passanten stutzte, als sich plötzlich die Tür eines Schutzraums für Katastrophenfälle öffnete.

Auf der Rückfahrt nach Ochsenzoll starrte Rose ununterbrochen auf das Fenster, doch er sah nichts. Die Welt hat sich gegen dich verschworen. Du bist eben doch nicht verrückt. Du hast eben doch nicht zu viel Phantasie. Du hast recht. Du hattest immer recht. Du darfst jetzt keine Zeit mehr verlieren. Du mußt dir endlich Bohnsack schnappen. Der Gedanke durchfloß Rose wie ein Wärmestrom.

 

«Post! Post für Rochus Rose!» Der Pfleger wedelte mit einem Brief. Rose schlitzte den Umschlag mit einer Feile auf. Das Blatt Papier trug Briefkopf und wenige mit Filz geschriebene Sätze, der Briefkopf stammte von einer Freien Tankstelle. Darunter stand:

«Lieber Herr Rose! Überlegen Sie es sich doch noch einmal. Sie werden draußen dringender benötigt als da drinnen. Sie können jederzeit zu uns kommen. Wir freuen uns.» Unterschrift Valentin Kühn.

Wüsthoff betrat den Raum, Rose ließ das Papier mit einer gleitenden Bewegung verschwinden. Der Arzt stellte sich vor die Plastik, die unglaubliche Ausmaße angenommen hatte. «Alfred, Alfred», sagte Wüsthoff, «ich verstehe nicht viel von Kunst. Aber ich verstehe ein bißchen von Statik. Und ich sage Ihnen: Ihr Werk ist bedroht. Nicht von der Ignoranz der Kritiker, sondern von der Macht der Schwerkraft.»

«Papperlapapp»,’ entgegnete Alfred mit wegwerfender Handbewegung. Ehe Wüsthoff ihn daran hindern konnte, war er aufgestanden und hatte begonnen, mit beiden Armen an der Plastik herumzurütteln. Das über drei Meter hohe Gebilde schwankte bedrohlich. «Sehen Sie», rief Alfred munter, «wie ein Halm im Wind. Wie ein Baum. Ein Baum gibt nach, aber er fällt nicht.»

«Ich weiß nicht, ich weiß nicht», murmelte Wüsthoff von der Tür.

«Alfred hat Querverbindungen eingezogen», sagte Rose, «es hat jetzt mehr inneren Halt.» Vor einigen Tagen hatte er beim Klempner für den Torso seiner selbstgefeilten Pistole einen Satz Dietriche eingetauscht: Dietriche für Sicherheitsschlösser. Die Pistole war sofort Teil der Plastik geworden.

Während Wüsthoff beim Klempner ein Bewußtsein für die Gefahren seiner Arbeit zu wecken suchte, ruhte Roses Blick lächelnd auf den beiden. Einmal lächelte Wüsthoff zurück. Schmeichel dich nur ein. An meine Unterlagen kommst du nicht heran. Original und Kopie: alles in Sicherheit, alles im Kopf. Rose war zu der Überzeugung gekommen, daß Wüsthoff vielleicht gar nicht wußte, daß er ein Werkzeug des Konzerns war, eine willfährige, biegsame, rückgratlose Gliederpuppe mit Lachfalten. Er fühlte den Umschlag nahe am Herzen. Der Konzern ist klug. Schritt 1: Zerstörung deiner logistischen Basis durch Vernichtung der Wohnung. Karin Drummer als Strohfrau. Schritt 2, vielleicht auch 1, auf jeden Fall alle Aktionen begleitend: Einlieferung des Feindes in die Nervenklinik und ununterbrochene Zufuhr von Drogen zur Ruhigstellung: lebender Toter. Doktor Wüsthoff als Strohmann. Schritt 3: Human Touch durch Auftritt von jungen Leuten, deren Aufgabe es ist, sympathisch zu wirken, Interesse zu heucheln und den Feind aus dem Mauseloch zu locken. Strohleute: Valentin Kühn und Irene ohne Nachnamen. Schritt 4: Zermürbung durch den Alltag. Jeder auf der Straße kann der Killer sein. Jede einlaufende U-Bahn kann die sein, die dir den Kopf vom Rumpf abtrennt. Auto ipso. Strohleute: Hamburger Bevölkerung. Nicht unsachlich werden: Hamburger Bevölkerung zwischen 6 und 80. Schritt 5: Der Konzern engagiert Schauspieler, die Schmierentheater spielen und ihn in der Öffentlichkeit als Opfer dastehen lassen. Fehler des Konzerns: Die Querverbindungen zu Bohnemann werden deutlich. Geniestreich des Konzerns: Die Schauspieler haben Talent. Unter Umständen Zusammenarbeit mit Detektiven und/oder Wüsthoff und/oder Karin und/oder Valentin Kühn und/oder Irene ohne Nachnamen und/oder Hamburger Bevölkerung zwischen 6 und 80. Ergebnis: Entdeckung des Verstecks im Atombunker. Schritt 6: Bohnsack als Sympathieträger. Bohnsack war in Afrika. Bohnsacks Verschwinden wird einen Aufschrei hervorrufen. Aber Fehler: Bohnsack hat keine Kinder. Bohnsack hat nur eine Frau. Ohne weinende Kinder ist das nichts. Bohnsack ist die schwache Stelle, und du hast sie entdeckt: Das ist deine Stärke.

Rose lächelte Wüsthoff zu, den der Klempner in der Zwischenzeit wieder dicht vor die Plastik gelockt hatte. Der Konzern, das sind Personen, Bohnsack ist ganz oben. Schnapp dir Bohnsack, in den Bunker mit ihm. Und dann soll er der Welt sagen, was der Konzern tut: Zahlen, Verbrechen, Vernichtung. Warte, warte noch ein Weilchen, dann kommt Rochus auch zu dir. Rose lächelte nun geradezu überschwenglich. Wüsthoff freute sich, daß es dem Patienten so gut ging.

 

Am späten Abend fuhren Henry und Gabriel in die schwarze Diskothek. Als sie die Polizisten vorm Eingang sahen, drehten sie gleich wieder um.

«Falsch kombiniert, Freunde», rief ihnen ein Schwarzer zu, dem sie nach wenigen Metern begegneten, «die sind zu unserem Schutz da.»

«Wie das?»

«Bombendrohungen. Anonyme Anrufe dutzendweise, und vor zwei Tagen gab’s ‘ne mittlere Schlägerei.»

Sie drehten erneut um und begannen zu zechen, wurden schnell betrunken, tranken weiter und bekamen die zweite Luft. Gabriel bestand darauf zu tanzen, Henry sah ihm bei den Bewegungen zu. Er mußte sich bald abwenden, weil ihm übel wurde, wenn er sich auf bewegliche Punkte konzentrierte. Und Gabriel war sehr beweglich. Plötzlich erhielt er einen Schlag in den Rücken, der ihn nach vorn auf die Theke warf. Verdutzt blickte er in Irenes prüfendes Gesicht.

«Sie waren das nicht zufällig, oder?» fragte sie unsicher und doch aggressiv.

«Was war ich nicht?»

«Taxi. Ich suche den, der mir gerade stiftengegangen ist, ohne zu zahlen. Und ich werde ihn finden.»

Henry blickte Irene auffordernd an, er wartete darauf, daß sie ihn endlich erkannte. «Na? Klickt’s da oben?»

Irene stutzte. Gabriel kam vom Tanzen zurückgewankt. «Klar, die beiden Tramper vom Winter.» Irene strahlte: «Reiher, Bohnemann. Na, das ist ein Ding. So sieht man sich wieder. Wer gibt denn nun einen aus?»

«Willst du nicht deinen entlaufenen Fahrgast suchen?»

«Jetzt nicht mehr.» Irene erklomm den Hocker. Sie trug eine schwarze Lederhose und eine dunkelblaue Seidenjacke. Auf dem Rücken prangte ein stilisierter Adler. In den Krallen trug er drei Pfeile. Nach einem verstohlenen Blick auf den Bargeldbestand bestellte Gabriel.

 

Adler stand im Kassenraum und blickte nach draußen. Erneut beschlich ihn Wut über das süffisante Verhalten der Polizeibeamten, die sich den zerstörten Transit angeguckt hatten. «Also, ob wir die finden», hatte einer gesagt, «das kann, wie die Stimmung derzeit ist, praktisch jeder zweite gewesen sein. Beantragen Sie doch eine Namensänderung.»

Adler legte den zentralen Lichtschalter um. Alles Licht erlosch, bis auf die Nachtbeleuchtung. Im gleichen Moment schoß das Taxi mit solchem Schwung über die Bodenwelle hinter der Einfahrt, daß es den Wagen anhob.

«Guck mal, wen ich dir mitgebracht habe», rieflrene.

Adler roch die Fahne der Schwarzen. «Dauert es länger oder können wir hier im Stehen...»

«Nun komm schon», sagte Irene drängelnd, «räum deine Reifen vom Sofa und spendier eine Runde Wein. Es wird eine lange Nacht. Wenn ich dir erzähle, wo die beiden ihre Klamotten gebunkert hatten, lachst du dich scheckig.»

Im gleichen Moment startete auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein kleines schwarzes Auto. Roswitha fühlte sich traurig, aber nicht zu sehr. Das wäre sowieso nichts geworden. Oder nur mit viel Anstrengung. Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht. Im Radio spielten sie Udo Jürgens. Das war einfach mehr Roswithas Ding. Zwei Tage ausschlafen. Dann ist Wochenende. Dann orientierst du dich neu.

Es wurde eine lange Nacht. Adler zeigte über Henrys und Gabriels Bunker-Versteck haargenau das Ausmaß an Verwunderung und Anerkennung, das Irene so guttat, als ob sie selbst auf diese Idee gekommen wäre. Anfangs ernährten sie sich von Wein, Zigaretten und Schokolade. Gegen drei ließ Irene über Funk ihre Verbindungen spielen und bekam per Taxi vier Portionen Eisbein und Sauerkraut angeliefert. Gabriel wurde von einem Lachanfall geschüttelt, und auch Henry wollte anfangs nicht glauben, daß dieses Essen, von dem sie schon so viel gehört hatten, tatsächlich existierte. Gabriel reagierte mit kolossalem Durchfall. Die Schwarzen berichteten, ohne etwas auszulassen, von ihren Erlebnissen und Aktivitäten, seitdem sie in der Stadt waren, also seit März. Irene und Adler entschuldigten sich im Namen aller anständigen Menschen für die Übergriffe, die in den letzten Tagen geschehen waren. Sie berichteten über den geheimnisvollen Rochus Rose und seine Ermittlungen. Die vier verstanden sich, das lag nicht nur am Alkohol.

«Wahnsinn», sagte Irene schwärmerisch. «Ihr habt Mut, geil. Ich bewundere euch.»

Henry und Gabriel blickten sich an, blickten zu Adler. «Warum?»

«Warum was?»

«Warum bewunderst du uns? Was macht denn ihr, wenn euch Ungerechtigkeiten drücken?»

Adler mußte ganz dringend mal raus, Irene ließ ein gedehntes «Jaaa, wißt ihr...» ertönen und war froh, als Adler zurückkam.

«Natürlich bleibt ihr hier», sagte sie kategorisch. Nicht nur die Schwarzen, auch Adler war überrascht.

«Aber viel Platz ist hier nicht gerade», brachte er ziemlich verzagt vor.

«Nichts da», trumpfte Irene auf. «Hier ist genug Platz. Es ist nur nicht besonders wohnlich.»

Unwillkürlich strich Adler über die Seitenlehne des Sofas.

«Und hier vermutet euch keiner. Das ist entscheidend», stellte Irene befriedigt fest. Gabriel fand zwar, daß es penetrant nach Benzin stank, aber das Argument mit der Sicherheit leuchtete ihm ein.

«Wunderschön», sagte Irene händereibend, «jetzt gehen wir alle in die Heia, und morgen besprechen wir das weitere Vorgehen. Jetzt sitzen wir ja direkt an der Quelle, was?» Neckisch stieß sie Adler gegen die Rippen.

«Ja, denn», murmelte Adler unschlüssig, nahm einen Karton Rücklichter vom Stuhl und stand mit dem Karton herum. Irene kommandierte, rotierte, scheuchte die Männer. Nach zwanzig Minuten sah es im Aufenthaltsraum wohnlich aus.

Im Hintergrund begann Irene zu lachen. Sie hielt den Kanister mit den gekreuzten Bananen in die Höhe. «Wieso?» fragte Adler. «Ihr habt doch kein Auto, oder...?»

Gabriel nahm ihr den Kanister ab. «Bitte Obacht, der Inhalt ist gewissermaßen tödlich.»

«Ist das das Gift? Wie habt ihr das bloß durch die Kontrollen am Flughafen gekriegt?» fragte Irene beeindruckt.

«Das war nicht schwer», erwiderte Gabriel. «Henry hat ihnen etwas vorgesungen. Henry, sing mal.» Und Henry sang:

«...Vor dem Krale sitzt der Häuptling,

und er nagt an einem Säugling.

Von dem abgenagten Knochen

tut die Frau dann Suppe kochen.»

An dieser Stelle fiel Gabriel in den Gesang ein:

«Umba umba assa umba umba assa

umba eeo eeo eehh.»

«Hört bloß auf», sagte Irene schaudernd, «ich finde euern Geschmack nicht besonders toll.»

«Unser Geschmack», rief Gabriel belustigt. «Euer Geschmack. ‹Negeraufstand ist in Kuba› heißt das Ding, aus einem Fahrten- und Jugendliederbuch.»

«So», sagte Irene eine Viertelstunde später, «da wären wir.» Angelegentlich blickte sie aus dem Taxi auf das Haus, in dem Adler wohnte. Adler beobachtete sie aufmerksam. Beide waren nervös und empfänglich für minimalste Vibrationen.

«Also dann», sagte Adler und spielte am Fenster-Heber herum, «dann gehe ich wohl mal.»

Sie blickte ihn kurz an, dann sofort wieder woandershin. «Ja, das mach mal. Morgen wird ein heißer Tag.»

«Also dann...»

«Ist noch was?» fragte sie mit einer Mischung aus Erwartung und Bärbeißigkeit. Ihr Blick schüchterte ihn ein.

«Nee, nix. Sollte was sein?» Blicke hin und her.

«Warum fragst du mich? Ich frage dich.» Blicke vor und zurück. Adler spielte am Türöffner. Aus Versehen berührte er ihn zu fest, die Tür sprang auf. Mist, verfluchter. Sofort entspannte sich Irene und startete den Wagen. Adler schaute ihr nach, bis sie um die Ecke bog.

 

«Um Gottes willen», sagte Hajo mit flacher Stimme und legte eine Hand auf die Herzregion. Sein Puls hämmerte. Es war sieben Uhr. Hajo, der mit dem Frühdienst dran war, hatte aufgeschlossen und war in den Aufenthaltsraum gegangen. Das Telefon klingelte. «Pi-pi-pillau.»

«Hast es an der Blase, was?»

«Ha-hallo, Adler. Ich muß dir was sagen.» Hajos Stimme war leise und löcherig.

«Ich dir auch.»

«Aber ich habe etwas ganz Wichtiges...»

«Und ich erst. Hör zu. Im Zimmer hinten dürften zwei schwarze Gesellen nächtigen, wenn sie noch nicht ausgeflogen sind.»

«Sag bloß.»

«Hast du sie schon...?»

«In diesem Moment.»

«Na, dann laß sie schlafen. Die sind soweit ganz freundlich. Irene hat sie adoptiert. Und das kam so...» Adler erzählte.

Hajos Puls kam vom Gipfel herunter. Als er das erste Mal über eine Bemerkung Adlers lächeln konnte, kam einer der Schwarzen aus dem Raum geschlurft und ging zur Tür. Er grüßte nachlässig, kratzte sich an der Brust, hielt die Nase in den Morgen und schlurfte zurück, wobei er murmelte: «Zu hell, viel zu hell.» Hajo atmete gerade aus, da erschien der Kopf des Schwarzen in der Tür: «Und zu früh. Viel zu früh.»

«Alles klar, Alter?» fragte Adler gähnend. «Ich hau mich wieder in die Falle. Ich bin überhaupt nur hochgeschreckt, weil ich dachte, nachher verjagst du die noch. Das muß ja nicht sein.»

«Nein», antwortete Hajo mit belegter Stimme, «das muß wirklich nicht sein.»

 

Die Frauen kicherten und stießen sich im Gehen mit den Armen an. Sie hatten die Hände voller Plastiktüten von Horten, die sie durch das unterirdische Gänge-Viertel des Hauptbahnhofs in Richtung U-Bahn trugen.

«He, hallo, Sie», rief die mutigere von beiden, «Ihnen fällt gleich das Baguette aus der Tüte.»

Der Mann im Trenchcoat stutzte, blickte sie an und verstaute das Brot.

«Hausmann, was?» sagte die andere Frau beim Vorübergehen neckisch. «Da sehen Sie mal, wie das ist.»

Rochus Rose näherte sich dem Eingang zum Schutzraum. Ohne sich durch prüfende Blicke und Umdrehen verdächtig zu machen, öffnete er mit Hilfe des Dietrichs die Tür. Drinnen begann er sofort, die Tüten auszupacken. Er hatte beim Einkauf das Schwergewicht aufhaltbare Lebensmittel gelegt. So, Bohnsack, damit du mir nicht vom Stengel fällst.

 

Ulf Bohnsacks Augenmuskulatur hatte seinem Augenarzt rund zwei Drittel eines vierradangetriebenen Pkws finanziert. Der Mediziner hatte in diesem Zusammenhang den Ausdruck «Schnapp-Muskulatur» geprägt und war hochgestimmt in die Fachliteratur eingedrungen, um herauszufinden, ob er unter Umständen begriffsbildend gewirkt hatte. Bohnsacks Augen neigten dazu, sich bisweilen nicht im Brennpunkt zu treffen, sondern quasi auszuklinken und beide Augen zu Einzelakteuren werden zu lassen. Es entstand dann der Eindruck von zwei Einzelbildern. Beide Bilder waren mehr als die Hälfte, aber weniger als das gewohnte Ganze. Bohnsack liebte diese Bilder. Er fühlte sich in solchen Momenten, die nicht täglich, doch regelmäßig auftraten, angenehm schläfrig. Heute vormittag erwischte ihn die Extratour der Augen-Muskulatur vor einem der beiden Badezimmer-Spiegel. Roberta war bei der Ortsgruppe von Terre des Hommes und konnte ihn nicht durch Liebkosungen oder andere Störungen aus dem tranceähnlichen Zustand herausreißen. Die Ortsgruppe strickte Pullover für frierende Kinder in der Dritten Welt.

Wie Ulf Bohnsack da vor dem Spiegel stand, sich gleichzeitig sah und nicht sah, dicht bei sich war und auch nur Zuschauer seiner selbst, dazu unausgeschlafen, bedrückt und urlaubsreif, sprang ihn die Erkenntnis an. Du mußt sie warnen. Du mußt alle warnen. Ein großes Unglück steht bevor. Du weißt es, die Überbringer des Unglücks wissen es, sonst weiß es niemand. Du hast ein Geheimnis mit diesen Gift-Menschen. Vielleicht bist du der einzige, der sie versteht. Das ist kein Terror, was die wollen. Da steckt mehr dahinter, und du blickst hinter den Spiegel. In diesem Moment leitete seine Augenmuskulatur die Wende ein. Bohnsack hatte wieder ein Bild vor Augen: Es war das Abbild des Alltags.

 

«Na, Egon, alter Schlaffi, was sagst du nun?» Irene hatte ihre Entertainer-Rolle der letzten Nacht wieder aufgenommen. Die Schwarzen, Adler und der Redakteur der alternativen Tageszeitung hatten sich auf die Sitzgelegenheiten verteilt. Hajo machte Dienst. Egon schleuderte seinen Pferdeschwanz auf den Rücken und drehte sich nach dem vielen Erzählen erst mal eine Zigarette.

«Was soll denn der bewirken?» fragte Henry, als ob Egon gar nicht anwesend wäre.

«Der soll die Kunde von eurer Tat in die Welt hinaustragen», erklärte Adler ohne besondere Zuversicht. «Nicht wahr, Egon, das sollst du doch?»

Egon leckte einmal hin und einmal her, hielt mit Kennermiene die bananenförmige Zigarette in die Höhe und bat um Feuer.

«Also, daß es die tatsächlich gibt», murmelte er, die Schwarzen musternd. Dann fiel ihm etwas ein. Vielleicht war es nach langer Zeit das erste Mal, denn es riß ihn beinahe vom Stuhl:

«Soll ich die mal fotografieren?» fragte Egon freudig erregt. Adler ärgerte sich, daß der Redakteur wie selbstverständlich Irene anblickte.

«Au ja, kannst du das denn?»

Egon machte eine eitle Handbewegung. «Aber lässig.» Er griff zur Minolta und machte sich wichtig an dem Gerät zu schaffen. «Das ist ein Fotoapparat», sagte er zu Henry und Gabriel.

Die Schwarzen blickten ihn fassungslos an.

«Ein Bild sagt mehr als tausend Worte», fügte Egon altklug hinzu.

«Wir brauchen natürlich einen neutralen Hintergrund», sagte Irene, «von wegen der Gefahr, daß die Schmiere eine Bildbefragung veranstaltet.»

Egon erklärte den Schwarzen, was sie unter «Schmiere» zu verstehen hätten.

Adler schlug die Seitenwand der Garagen vor. «Das muß ich mir natürlich erst ansehen», sagte Egon.

«Natürlich», äffte Adler ihn nach. Beim Hinausgehen klopfte Egon ihm freundschaftlich auf die Schulter. Adlers Hand zuckte.

«Ach, ist das schön», sagte Adler und genoß den Anblick von drei gleichzeitig tankenden Wagen. Im Hinterkopf hörte er das Geräusch einer Registrierkasse.

«Hinten rum», flüsterte Irene aufgeregt. Hajos und Adlers Blicke trafen sich. Hajo tippte gegen die Stirn.

Die Wand neben Garage Nr. 7 paßte Egon nicht. «Da ist ein Riß», mäkelte er. «Der macht mir die ganze Symmetrie kaputt. Das ist kein Kinkerlitzchen, müßt ihr wissen. Otto Steinert hat auch immer gesagt, daß...»

Während Egon erzählte, was Otto Steinert immer gesagt hatte, führte Adler die Gruppe zur Wand neben Garage Nr. 1. Dort stand ein Fahrrad, Adler stellte es zur Seite. Im gleichen Moment schob jemand von innen das Tor mit solcher Wucht zur Seite, daß alle einen Schreck bekamen.

«Hallo, Krausi», sagte Adler überrascht.

Krausi rieb sich die Augen. «Was soll denn dieser Volksauflauf hier?» fragte er ungnädig. Sein harscher Tonfall irritierte Adler.

«Mußt dich nicht aufregen. Kleiner Foto-Termin.» Er wies auf die Schwarzen.

Krausi sortierte die Szene. Plötzlich wurden seine Augen ganz groß. «Aber das Rad kommt nicht mit drauf», sagte er hastig und schob das Rad in die Werkstatt.

Egon dirigierte die Schwarzen in eine Position, die ihn zufriedenstellte. Dann drückte er mehrmals auf den Auslöser.

«Warum pennst du denn bei euren Rädern?» fragte Adler.

«Termine, die Termine, kennst du doch sicher», antwortete Krausi und schlug einen kumpelhaften Ton an.

Plötzlich fühlte sich Adler ziemlich mies. Hier stinkt doch was, du Backpfeife. Du lügst doch.

«Alles roger», rief Egon.

Während der Redakteur, seine Minolta streichelnd, von dannen zog, bestieg Krausi einen Wagen, der hinter den Garagen stand. Adler blickte ihm hinterher. Ein Alfa, sieh mal an.

Als Egon fast die Redaktion erreicht hatte, kam im Radio die Meldung durch, daß der ältliche Jugendfunk-Chef des Hörfunks angekündigt hatte, in einer Badeanstalt vom Zehn-Meter-Brett springen zu wollen. Er wolle damit allen süffisanten Bemerkungen bezüglich seiner Eignung und Spannkraft entgegentreten.

 

«Und jetzt zeige ich euch was ganz Feines», sagte Irene vergnügt.

Sie führte sich an diesem Abend wie ein Zeremonienmeister auf. Befremdet spürte Adler, daß die Schwarzen ihre Show offensichtlich genossen. Während Irene draußen war, hatte Adler Mühe, ein Thema zu finden, über das er mit den beiden sprechen konnte. Es entstand eine Pause, die Adler als peinlich empfand.

«Hier», sagte Irene triumphierend und ließ den Aktenordner auf den Tisch fallen.

 

Die letzten Meter legte er mit einer Vorsicht zurück, bei der ihm rund um den Kopf angebrachte Augen und mehrere Zusatz-Paare Ohren gute Dienste geleistet hätten. Um seine Verfolger zu verunsichern, hatte er am Hauptbahnhof die U-Bahn verlassen. Nach dem Fußmarsch von fast einer Stunde schwitzte Rochus Rose am ganzen Körper. Er hatte auf dem Weg einige Male das Gefühl gehabt, daß es ihm die Luft abdrückte. Dann hatte er beide Arme nach außen gewinkelt und die Abwesenheit von Wänden und enger Kleidung genossen.

Der Anblick der Tankstelle ließ ihn zurückzucken. Um Zeit zu gewinnen, passierte er sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite und bog an der nächsten Querstraße rechts ab. Befriedigt registrierte er die Abwesenheit von Unsicherheit, Furcht, Panik. Er wollte es wissen, wollte seinen — wenn auch schon äußerst festgefügten — Verdacht zur Gewißheit härten.

Rose näherte sich der Tankstelle von hinten. Er sah einen schwitzenden Mann von etwa Vierzig, der, neben dem Reifenstapel stehend, urinierte. Sein anfangs verbissener Gesichtsausdruck wich zunehmender Zufriedenheit. Der Mann bemerkte Rose nicht, sonst hätte er zweifellos weniger selbstvergessen abgeschüttelt und eingepackt.

 

 

«Man kann bei Mondschein nicht annähernd soviel sehen, wie man sich einbildet. Das gilt besonders bei Farben.»

 

Dashiell Hammett,

‹Tip für Detektive›

 

 

Rose umging die Rückseite der Garagen und sah das Fenster des Aufenthaltsraums schon von weitem.

«Das ist eine gute Arbeit», sagte Henry anerkennend und überließ Gabriel den Ordner. «Wie kommt der Mann dazu? Woher weiß er?»

«Ich beknie den seit Wochen, aus seinem Mauseloch rauszukommen, damit ich endlich mehr erfahre», antwortete Irene mit tragischer Betonung. «Er weigert sich. Aber ich habe guten Grund zu der Annahme, daß er sich bald anders besinnt. Adler, könntest du vielleicht mal das Fenster schließen? Es kommt doch nur Hitze herein.» Adler stand auf, schloß das Fenster.

Rose schnellte nach vorn, preßte sich an die Wand. Das Fenster wurde geschlossen, dann war Ruhe. Ein schneller Rundum-Blick: Niemand war aufmerksam geworden. Rose näherte sich dem Fenster, holte Atem und schob seinen Kopf vor das Glas. Ab der folgenden Sekunde übersetzte etwas, das in Roses Körper Gastrecht genoß, dem schockierten Mann die Signale, die seine Augen aus der Welt in den Kopf transportierten. Die Frau, die ihm schön getan, und der linkische Mann, dessen brachialen Charme er rührend gefunden hatte, saßen mit den von aller Welt gesuchten schwarzen Terroristen zusammen und blätterten in einem Aktenordner. Alle auf einem Haufen! Lachen. Oh, was für ein schlechter Film: eine miese Kaschemme, weitab vom Schuß. Dann erkannte Rose seinen Aktenordner. Und auch das! Sie haben deine Wohnung leergeräumt! Sie haben es nicht einmal für nötig gehalten, dich zu belügen. Sieglauben, sie haben dich im Sack. Konzern-Agenten! Warum ist Bohnsack nicht hier? Sie wollen dich kaltmachen. Oder dir einheizen. Weiß und Schwarz spielen Schach. Und du, du sollst der Bauer sein.

Wie von einem Steckschuß getroffen, schritt Rose, sich nicht ums Entdecktwerden kümmernd, um die Garagen herum. Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn. Er nahm den BMW, der Schlüssel steckte. Ein junger Mann stürzte aus einer der Garagen und wollte sich Rose in den Weg stellen. Er rief etwas, gestikulierte wild, schrie, drohte mit geballter Faust.

Rose kümmerte sich einen Dreck um Regeln, Vorfahrten, Autos, Radfahrer und Fußgänger. Er mähte eine breite Spur zur Seite spritzender Wagen und Menschen durch die Stadt. Flüche und Vogelzeigen begleiteten seinen Weg. Zweimal kam Rose ins Schleudern.

«Sie sind doch balla, balla!» schrie ein aufgebrachter Autofahrer. «Sie gehören doch nach Ochsenzoll.»

In Ochsenzoll gelang es ihm noch, den Wagen zu verlassen. Dann brach der große Mann zusammen. Zwei Pfleger waren nötig, um ihn ins Bett zu bringen. Rose, dessen Geist herumwaberte, fühlte den Einstich der Nadel. Haldol tut wohl.

 

«Der hat den BMW geklaut», stieß Hajo voller Entsetzen hervor.

Adler sprang auf: «Das hatten wir ja bisher noch nie. Wer denn?»

«So ein Kleiderschrank mit stierem Blick. Der hätte mich glatt breitgemangelt, dieser Verrückte.» Hajo ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Und dann ausgerechnet den BMW. Wie soll ich dem das bloß beibringen? Der zeigt mich doch an.»

«Könntet ihr das nicht draußen...?» sagte Irene nervös.

«Du bist ja so mies», erwiderte Hajo bitter und ließ sich von Adler hinausführen.

Drinnen plante Irene die nächsten Schritte: «Die Wahrheit muß ans Licht. Ihr müßt von eurem Terroristen-Image weg. Also, Mobilisierung der Öffentlichkeit, Medien, Organisationen, Demonstrationen, Resolutionen.» Jedes Wort bekräftigte sie mit einem Faustschlag auf den Aktenordner.

Gabriel kramte im Koffer. «Da», sagte er, «Lupe, Flamingo, Diktiergerät, Kugelschreiber, Brieföffner, Bild.» Henry begleitete jedes Wort mit einem Faustschlag.

«Sehr nett», sagte Irene leichthin, «aber eure Souvenirs können wir uns später angucken. Dazu ist jetzt keine Zeit.» Adler kam zurück.

«Ich habe die Sachen herausgeholt, weil es jetzt an der Zeit ist», sagte Gabriel.

«Voodoo, was?» Adler hatte einfach ins Blaue hinein getippt.

Die Schwarzen blickten ihn ernst an.

«Nein. Wir rufen die Geister unserer Ahnen», erklärte Gabriel. «Und das hier sind unsere Fetische.»

Ach du Scheiße, die glauben noch an den Medizinmann. Außenrum feinsten Zwirn auf der schwarzen Haut, aber darunter den Bastrock.

«Also», sagte Irene, die Probleme auf sich zukommen sah, «das tun wir jetzt am besten alles wieder in den Koffer, einverstanden?»

Sie schüttelten den Kopf.

«Aber ich habe euch doch gesagt, was als nächstes zu tun ist», rief sie verzweifelt. «Adler, nun sag doch auch mal was.»

«Stimmt schon. Hat sich eigentlich bewährt, so vorzugehen.»

«Wir machen es jedenfalls auf unsere Weise», sagte Gabriel und berührte vorsichtig die Gegenstände.

«Das ist doch Schnickschnack», rief Irene, griff den Kugelschreiber und hantierte, während sie weitersprach, mit ihm herum. «Schwarze Magie? Kalter Kaffee. Leute, wir haben Ende 20. Jahrhundert. Weswegen ihr hier seid, das sind supermoderne Erzeugnisse der chemischen Industrie. Wir besprechen hier keine Warzen.»

«Denk an deinen Heilpraktiker», warf Adler ein.

Sie schoß einen wütenden Blick ab. «Also wirklich», erregte sie sich, «ihr müßt uns schon glauben, daß wir wissen, wie man diese Sache aufzieht. Hiermit», rief sie und fuchtelte mit dem Kugelschreiber herum, «hiermit lockt man keinen Hund hinter dem Ofen hervor.»

Gabriel saß schon eine Weile da und summte eine einfache Melodie.

Irene hatte immer stärker an dem Kugelschreiber herumgebogen, das Gehäuse knackte vernehmlich. In diesem Moment brach der Pfahl, mit dem Friedemann Milz, Direktor der Kaffeefirma Bohnemann, im letzten Herbst den überhängenden Ast der prächtigen Trauerweide auf seinem Grundstück abgestützt hatte. Der Pfahl brach mit trockenem Splittern, der zentnerschwere Ast der Weide schwang nach unten und zerschlug dem gerade in diesem Moment unter dem Baum hindurchgehenden Milz den Oberarm.

«Erlaubt, daß wir es nach unserer Art machen», sagte Henry und nahm Irene vorsichtig den kaputten Kugelschreiber aus den Händen.

«Aber...» wollte Irene wieder anfangen.

«...Wir wollen darüber nicht diskutieren», sagte Henry verbindlich. Irene war eingeschnappt.

 

Polizei kam, um den Diebstahl des Pkws aufzunehmen. Adler brachte die Schwarzen in Garage Nr. 1 und fragte Heino:

«Darf ich die beiden so lange bei dir abstellen, bis die Grünen wieder weg sind?»

Heino fiel beinahe der Taschenrechner aus der Hand. Er schoß vom Stuhl hoch, seine Stimme knisterte vor Erregung:

«Mensch, wieso denn Bullen?» Unauffällig brachte er die Unterlagen in Sicherheit, nach denen Henry den Hals verdrehte.

«Auto geklaut», sagte Adler betrübt. «Ist nicht gut für den Ruf. Aber der ist ja sowieso versaut.»

 

«Das ist mein Sohn Till. Till, das sind Henry und Gabriel. Wir haben die beiden im Winter schon mal getroffen.» Irene schob das Kind in den Aufenthaltsraum.

Till beäugte die Schwarzen mit großen Augen. Schweigend umrundete er sie und ignorierte alle Anbiederungsversuche. Sie ließen ihm die Zeit, die er brauchte. 20 Minuten später saßen sie zusammen am Tisch, und Till erklärte auf seine immer etwas umständliche Art die Spielregeln von «Mau Mau» und «Schwarzer Peter».

Als die fremden Männer sich gelehrig zeigten, faßte Till Vertrauen und rückte mit seiner Meerschwein-Geschichte heraus. Henry und Gabriel drängelten sich nicht danach, aber einer mußte es machen. Als Gabriel das nächste Spiel vergeigte, nahm er es als Zeichen.

«Paß mal auf, kleiner Mann.» Er räusperte sich. Till hörte hingebungsvoll zu.

«Das ist so.» Gabriel räusperte sich. Till organisierte ein Glas Brause.

«Danke. Also, du weißt doch, es gibt Tiere, die fressen Gras.»

«Meerschweine», sagte Till eifrig.

«Und es gibt Tiere, die fressen Fleisch. Löwen zum Beispiel.»

«Adler auch.»

«Und dann gibt es Tiere, die fressen andere Tiere nur dann, wenn sie noch lebendig sind.»

«Warum denn das?»

«Die sind eben so, die brauchen das. Schlangen brauchen das.»

Gabriel machte eine Pause und gab Till Gelegenheit, die Zusammenhänge zu erkennen. Fasziniert sahen die Schwarzen zu, wie sich auf Tills Gesicht der gesamte Erkenntnisprozeß von Ungläubigkeit über Nicht-wahrhaben-wollen bis zur Lösung abbildete.

«Und ihr meint...» Till brach ab.

Irene wunderte sich später, warum ihr Sohn im Gegensatz zu früher nicht mehr darauf bestand, wenigstens alle zwei Wochen in den Zoo zu gehen.

 

 

§2 des Tierschutzgesetzes

schreibt eine gesunde und artengerechte Ernährung vor.

Riesenschlangen werden mit Mäusen, Ratten und Meerschweinchen gefüttert. Das Töten der Futtertiere durch Erdrosseln geht unglaublich schnell, wenn die Schlangen Platz zum sicheren Zustoßen und Legen der Schlingen haben. Hält man den Riesenschlangen das Futtertier mit einer langen Pinzette so vor, daß sie beim ersten Zustoß sofort den Kopf zu fassen bekommen, so beschleunigt man den Vorgang des Würgens und Schlingens.

 

 

Irene hatte eine Tour nach Altona und nutzte die günstige Gelegenheit, um in der Redaktion der Tageszeitung vorbeizuschauen. Sie sah Egon schon von weitem. Er stand mit einer Gruppe junger Leute vor dem Leuchttisch und betrachtete eine Menge Fotos.

«Egon, Egon», sagte der dienstälteste Redakteur, «wenn dein Auftrag gewesen wäre, Neger im Tunnel zu knipsen, würde ich sagen, du hast ihn phantastisch gelöst. Aber so.»

Alle Bilder waren schwarz, schlicht und einfach schwarz. «Aber hier», sagte Egon, griff ein Foto und hielt es gegen das Fenster, «wenn man genau hinguckt, da ist was drauf, kein Zweifel.»

«Sind das die Bilder, die du bei uns gemacht hast?» fragte Irene bestürzt.

«Ich begreife das nicht», murmelte Egon bekümmert. «Ich habe alles so gemacht wie immer.»

«Eben», sagte eine Frau. Sie umarmte Egon: «Komm, Junge. Die Welt ist voller Motive.»

Während sich alle vor Lachen ausschütten wollten, verließ Irene die Redaktion.

Um sich abzulenken, drehte sie das Radio bis zum Anschlag. Auf Höhe eines Lattenkamp-Freibades winkten ihr zwei Männer aufgeregt zu. Zwischen ihnen stand ein älterer Herr im Bademantel, der schlapp und zusammengefallen wirkte. Irene drehte die Musik leiser. Die Männer bugsierten den älteren Herrn auf den Rücksitz.

«Sie», sagte Irene, «ich habe nichts dagegen, Ihren Herrn Vater zu fahren. Aber der tropft doch.» Tatsächlich hatte sich um die türkisfarbenen Plastik-Badelatschen des Seniors eine kleine Pfütze gebildet.

«Schnell», sagte einer der Männer, dessen Stimme Irene bekannt vorkam, «sofort ins nächste Krankenhaus. Er ist mit dem Kopf so unglücklich aufs Wasser gefallen, daß er sich das Gehör verstaucht hat. Oder wie das heißt.»

Währenddessen öffnete der Alte immer wieder den Mund, sagte «Aah» und «Ooh» oder «Papp», schloß den Mund und begann von vorn.

«Druckausgleich», sagte der dritte Mann. «Ich bin nämlich Wissenschafts-Redakteur, müssen Sie wissen. Druckausgleich.»