Jüngstes Gericht
Crème brûlée
mit roten Waldbeeren, kandiertem weißen Wiesenkerbel und kross gerösteten Nadeln von Rosmarin
Entsetzt fahre ich zurück und greife mir an den Hals. Zu spät. Cora hat die Nadel bereits herausgezogen und schwenkt spitzbübisch die leere Spritze.
»Alles in Ordnung, Katja«, sagt sie fröhlich, »keine Angst, das wird dir guttun.«
Ich starre entgeistert auf meinen blutigen Finger. Mein Gott, die Frau hat mir eine Spritze in die Halsvene gejagt! Cora! Wieso Cora? Sie ermordet mich! Ich will aufspringen, aber die Beine versagen mir den Dienst. Meine Muskeln gehorchen mir nicht; mir ist schwindlig. Herr im Himmel, das Gift wirkt schon! Hinterrücks plumpse ich in den Farn.
»Mörderin!«, bringe ich keuchend hervor.
»Aber nicht doch, Katja, beruhige dich, alles wird gut«, sagt sie, tröstend wie zu einem kleinen Kind. Sie steht auf und hockt sich neben mich. Sanft streicht sie mir die Haare aus der Stirn.
»Hilfe!«
Der Schrei gleicht eher einem Flüstern und läuft in ein Röcheln aus. Als drehe meine Lunge den Lufthahn langsam zu. Das ist das Ende. Gleich wird mein Leben an mir vorüberziehen, und dann ist alles vorbei. Nach Mutter Agnes, Hans-Peter und Holger Eichhorn bin ich Coras nächstes Opfer. Nichts kann die Wirkung des Taxins, dieses seltsamen Alkaloidgemischs, aufhalten, hat Hein gesagt. Es gibt kein Gegenmittel. Und im Herbst soll die Eibe besonders viel davon produzieren, viel mehr als im Frühling. Das kam den lebensmüden Alten unter den alten Germanen sicher entgegen; dann brauchten sie sich nicht durch einen weiteren strengen Winter zu quälen.
Auch ich werde keinen Winter mehr erleben. Ich werde sterben. Und zwar sehr bald. Vielleicht schon innerhalb der nächsten Stunde. Nach einem furchtbaren Todeskampf. Von dem keine Spuren bleiben werden, weil die wahnsinnige Cora meine Leiche sicherlich genauso liebevoll herrichten und betten wird wie die von Mutter Agnes.
Warum? Was habe ich dieser Frau nur angetan? Sie muss verrückt geworden sein. Oder war es wohl immer schon. Gaby hatte mich vor der Borderlinerin gewarnt, aber ich war so arrogant, meiner eigenen Menschenkenntnis zu vertrauen. Zu spät kommt Demut auf, laut André Gide die Pforte zum Paradies. Die Demütigung, die Pforte zur Hölle, ist bereits weit aufgestoßen, denn ich bin der wahnsinnigen Cora hilflos ausgeliefert.
Himmel oder Hölle, gleich werde ich es wissen. Ich lausche in mich hinein, aber da geschieht nichts Erschreckendes. Ich habe keine Todesangst. Ganz im Gegenteil, mir ist federleicht um Hirn und Herz. Ich fühle mich angenehm entspannt, gönne mir Erholung wie nach einem langen Spaziergang und bin nach dem ersten Schrecken auf einmal nicht mehr im Geringsten aufgeregt. Als sei diese Demütigung mit meinem darauffolgenden unmittelbar bevorstehenden Tod völlig normal und in Ordnung.
Was macht es schon aus, dass ich nicht aufstehen kann? Ich habe mich noch nie gern bewegt. Ihr Körper verordnet Ihnen Sport. Dieser Behauptung meines Berliner Hausarztes würde mein Körper jetzt vehement widersprechen, wenn mein Hirn nicht viel zu träge wäre, dies an meinen Mund weiterzuleiten. Ach, ist das schön, hier einfach im Wald unter dem mörderischen Baum zu liegen, herumtanzende weiße Pollen zu beobachten und sich nicht darüber zu wundern, dass die Bäume im Oktober wieder blühen. Ist das schon der erste Einblick ins Paradies?
Wenn dies der Tod ist, kann ich damit leben. Weshalb macht man so viel Gewese darum? Ist doch gar nicht schlimm. Auch wenn es von Cora nicht nett war, mir Eibengift zu injizieren.
»Wie lange habe ich noch?«, frage ich. Eigentlich ist mir das ganz gleichgültig, aber da ich noch der Sprache mächtig bin, halte ich ein bisschen Neugier für angemessen. Außerdem möchte ich nicht ohne ein letztes Wort aus diesem Leben scheiden. »Licht, mehr Licht«, soll Goethe auf dem Sterbebett gerufen haben. Damit ist diese Formulierung schon besetzt. Außerdem will ich keinesfalls mehr Licht. Die Waldesdämmerung, der Blütenregen und die luftigen Nebelschleier passen zu meiner Stimmung und einem würdigen Ableben. Ach, was soll ich mir über einen klugen letzten Spruch den Kopf zerbrechen! An Cora wäre er doch nur verschwendet.
»Das weiß ich nicht. Ich bin nicht Gott«, erwidert Cora.
»Aber du spielst ihn«, sage ich und merke selbst, wie ich die Worte Gaby-mäßig hinhauche. »Mit der Spritze. Du bist böse, Cora. Du hast mich vergiftet.«
Cora bricht in ihr unbekümmertes lautes Igelfrau-lachen aus und klopft mir kräftig auf die Schulter. Bitte nicht so grob, mit Sterbenden soll man sanft umgehen. Ich mag jetzt keine laute Stimme, keine derbe Berührung und kein gleißendes Licht. Ich möchte den Frieden meiner letzten irdischen Minuten genießen. Gleich werde ich wissen, ob es ein Leben danach gibt. Und falls ja, ob ich mich vor dem Jüngsten Gericht verantworten muss.
»Was du nur denkst, Katja! Soweit ich weiß, ist noch kein Mensch an einer solchen Dosis Diazepam gestorben.«
»Diathe…«
Ich bekomme das Wort nicht heraus.
»Diazepam.«
»Diathepam, aha.« Weshalb nur lispele ich plötzlich?
»Ganz harmlos. Sonst hätte es mir der Arzt doch nicht verschrieben.«
»Warum?«
»Es hilft vorzüglich gegen Panikattacken und gegen andere Episoden meiner Erkrankung.«
Ihre Erkrankung interessiert mich nicht.
»Und warum ich?«
»Zu deiner Entspannung, Katja. Zu deinem Schutz.«
»Wietho Thut-th? Wath tholl mir denn pathieren?« Der S-Laut will mir nicht über die Lippen kommen. Auch egal. Sie versteht mich schon. Das ist auch gut so. Denn ich habe noch eine Menge Fragen an sie. Welche eigentlich? Da war doch was. So wichtig kann es nicht gewesen sein, sonst hätte ich es nicht vergessen.
»Ich muss dich vor Gaby verstecken. Sonst tötet sie dich auch noch.«
Gaby. Richtig. Die gibt es. Dunkelrote Haare. Die Mörderin. Hat Marcel auch gesagt. Und Gudrun. Na also, einiges in meinem Kopf funktioniert noch ganz passabel, das ist sehr beruhigend.
»Wo itht thie jet-th, die Gaby?«
»Sie tötet gerade deinen Marcel.«
»Marthel?«
»Ja, und den anderen Mann, den er bei sich hat.«
Marcel hat einen Mann bei sich?
»Marthel ith nicht thwuhl«, protestiere ich. »Du meintht Hein. Und Jupp.«
Cora nickt zustimmend.
»Schön, dass das auch geklärt ist«, sagt sie, als hätte ich bei einer Prüfung die richtige Antwort gegeben. »Dann können wir ja jetzt über Essen sprechen.«
Die Idee gefällt mir, auch wenn ich ausnahmsweise mal nicht hungrig bin. Aber auf eine süße Henkersmahlzeit hätte ich schon Lust. Nur was? Klassische Nachspeisen sind eigentlich nicht mein Fall, da ich Süßes gern mit Herbem, Saurem oder Pikantem mische. Ich habe doch ein Restaurant, oder nicht? Umkehr? Rückkehr? Nein, es heißt anders. Ist es eigentlich schon eröffnet? Oder ist mir schon wieder etwas dazwischengekommen? Egal. Ich kann mich an die Speisekarte nicht erinnern, aber ich weiß, dass ich mich immer um die Desserts herumgedrückt habe. Welches Gericht habe ich eigentlich als Letztes ersonnen?
»Woran denkst du?«, fragt Cora munter und kneift mich in den Unterarm. Was überhaupt nicht wehtut.
Das Sprechen fällt mir schwer. Aber vielleicht kann mir die Igelfrau helfen; sie ist doch grad erst im Restaurant gewesen. Und hat mir Kräuter aus ihrem Garten gebracht.
»Anth jüngthte Gericht«, gebe ich zurück. »Ich weith nicht mehr, wath eth war.«
Wieder das viel zu laute Lachen. Ich sehe Tränen in Coras Augen. Mit der Hand wischt sie sich übers Gesicht. Der Igelpunkt rutscht zur Seite. Das muss ich ihr sagen. Damit die Ordnung wiederhergestellt ist. Aber ich finde die Worte nicht. Nach einigen Versuchen gehorcht mir mein Arm und hebt sich. Ich will mit dem Finger ihre Nase berühren, treffe sie aber nicht.
»Da …«, sage ich hilflos und versuche, mir an die eigene Nase zu fassen, greife aber daneben.
»Oh«, sagt sie und rückt den Punkt wieder dahin, wo er hingehört. »Das jüngste Gericht also. Das kann nur Crème brûlée sein, Katja.«
Ich denke nach. Fader Karamellpudding mit Kruste?
»Nee, patht nich, ith thu langweilig.«
»Nicht, wenn du sie machst«, antwortet Cora. »Schau her, Katja, das ist doch ein Vorschlag: Crème brûlée mit aparten Ergänzungen. Zum Beispiel mit diesen.«
Direkt unter dem Nadelbaum, da, wo es selbst für den Farn zum Wachsen zu dunkel ist, breitet sie eine weiße Serviette aus, öffnet ihren Hanfsack und lässt ein paar wunderschön glänzende rote Beeren darauf kullern.
»Rote Waldbeeren würden die Creme doch prima anreichern, meinst du nicht? Und vielleicht ein paar kross geröstete Rosmarinnadeln für die herbere Note?«
Sie schüttet den Hanfsack aus. Ein kleiner Nadelregen fällt auf das Tuch. Wie Puderzucker lassen sich ein paar weiße Blütenpollen darauf nieder und verschwinden zwischen den Nadeln.
»Dathu kandierter Wiethenkerbel«, kombiniere ich laut, »dath itht eth.«
»Ja, das ist es«, wiederholt sie. »Probier doch mal, ob die Beeren zu dem Rosmarin passen.«
»Wird thon pathen«, sage ich, weil ich zu faul bin, mich zu bewegen.
»Iss!«, schreit sie mich an.
Ich bin sehr erschrocken. Warum brüllt sie? Warum macht sie die Stimmung kaputt? Eben war sie doch noch freundlich. Iss! Genauso hat mich früher meine Mutter angeschrien, wenn ich meinen Teller nicht leer gegessen hatte. Erst als alles verputzt war, wurde sie wieder lieb. Cora soll wieder lieb sein.
Gehorsam greife ich nach einer Beere.
»Alles zusammen!«
Sie kauert ganz dicht neben mir und balanciert ein Häuflein Waldbeeren und Rosmarin auf der offenen Hand. Vor meinem Mund. Ich muss mich gar nicht bewegen, kann ihr direkt aus der Hand essen.
Was soll’s, den Karamellpudding werde ich mir dazudenken. Ich beuge den Kopf, wundere mich noch über den fehlenden Geruch der Rosmarinnadeln, als mir plötzlich irgendetwas Massives gegen den Rücken prallt. Ich falle Cora entgegen und halte mir die Ohren zu. Lautes Bellen kann ich jetzt überhaupt nicht vertragen.
»Linus!«
Das ist doch Marcels Stimme. Mühsam wende ich den Kopf. Wo kommt der Kerl so plötzlich her? Von der Jagd? Sieht ganz so aus; er hat ein Fell in der Hand. Was für ein seltsames rotbraunes Tier hat er denn erlegt? Und warum fällt Josef über Cora her – warte, wenn ich das seiner Maria erzähle!
Dann schlingen sich Arme um mich. Die fühlen sich gut an, vertraut und richtig. In der plötzlich ausgebrochenen Hektik fühle ich mich geborgen. Wenn die Leute um mich herum nur nicht so schreien würden! Coras Stimme ist entsetzlich schrill geworden, Josefs klingt wie böses Donnern. Wenn sie mich doch nur in Ruhe einschlafen lassen würden. Und bitte das Licht ausmachen.
»Katja! Alles in Ordnung?«
Marcels Stimme überschlägt sich. Das Echo in meinem Kopf ist unerträglich. Er schüttelt mich so, dass eine ganze Lawine von Rumpelsteinen in meinem Körper abzugehen scheint. Dreht er jetzt etwa auch durch?
»Mach nich tho viel Wind!«, sage ich, will mich an ihn schmiegen und nur zärtlich lieb gehabt werden. Aber daraus wird nichts.
Er hält mich von sich ab und mustert mich aus eiskalten Augen wie ein fremdes Wesen von einem anderen Stern.
»Katja! Hast du was gegessen?«
»Leider noch nich«, murmele ich, enttäuscht, dass er mir seine Körperwärme entzieht. »Linuth war böthe. Er hat mich gethtört, da ith alleth runtergefallen.«
Wie immer, wenn sein Name fällt, beginnt der Hund glücklich zu bellen. Marcel hält ihn mit einer Hand auf Abstand.
»Wach auf, Katja! Verdammt, wach auf!«
Er schlägt mir ins Gesicht. Ich breche in Tränen aus. Alles hätte ich von diesem Mann erwartet, aber nie, dass er mich misshandelt. Wie man sich doch in den Menschen täuschen kann! Schon wieder! Was haben diese Männer mit Cora und mir vor? Alles war wunderbar friedlich, bis sie unser Picknick im Wald so brutal abgebrochen haben.
Noch eine Ohrfeige.
»Katja! Was hat sie dir gegeben?«
»Geben?«
»Tablette, Pulver, Spritze …«
»Thprit-the, ja, Foto …«
»Foto? Katja, das ist wichtig. Denk nach, sag alles, was dir einfällt. Ich liebe dich, du darfst nicht sterben! Bitte, bitte, sprich!«
»Du liebtht mich!«
»Ja. Natürlich. Foto … und weiter?«
Wie gefühllos dieser Mann doch ist! An meinem Sterbelager möchte ich nicht gezwungen werden, nach Worten für etwas zu fahnden, an das ich mich kaum erinnern kann. Da will ich Herzerwärmendes hören. Vor allem von Marcel. Er liebt mich. Das ist doch schon mal ein guter Anfang für das Ende.
Jetzt schüttelt er mich auch noch. Er wird keine Ruhe geben. Ich muss etwas sagen. Als ob solche Silben für die Nachwelt interessant wären.
»Foto, Dia …«
»Diazepam«, höre ich Coras Stimme. Sie steht neben Josef unter der Eibe und trägt Handschellen. Der Mann hat sie offenbar verhaftet, wenn ich das richtig sehe. Wie kann das denn sein? Das darf er gar nicht; er ist doch nicht mehr Polizist. »Diazepam, etwa fünfzig Milligramm. Das war angesichts ihrer Körperfülle angemessen.«
Ja, ja, ihr Leute, in Kürze werde ich mein Fett tatsächlich wegkriegen. Aber das sehen dann nur noch die Maden. Ich möchte bitte verbrannt werden. Meine Versuche, dies zu äußern, werden missachtet. Marcel hört nur Cora zu. Neulich hat er ja auch lieber sie nach Hause gefahren, als noch etwas Zeit mit mir allein zu verbringen. Was findet er nur an der mageren Igelfrau?
»Sie wird es überleben«, behauptet Cora jetzt. »Hat nur ein paar interessante Nebenwirkungen.«
Womit sie recht hat. Ich sehe Dinge, die nicht sein können. Oder warum sollte Marcel jetzt das rotbraune tote Tier vom Waldboden fegen und es ihr plötzlich über den Kopf stülpen? Er zupft an ihr herum und präsentiert mir eine Cora mit langen rotbraunen Haaren. Die auf einmal fast wie Gaby aussieht. Mit einem Igelpunkt auf der Nase. Den Marcel einfach abnimmt.
»Ein Schönheitspflaster«, sagt er, klebt den schwarzen Punkt auf seinen Zeigefinger und hält ihn mir hin.
»Moment mal«, sage ich verwirrt. In meinem Alter kann man die Augen nicht so schnell auf scharf stellen, und in meinem Scheißegal-Zustand kann ich nicht geschwind schalten. Im Gegensatz zu Linus. Hundeleckerlis können auch klein, rund und dunkel sein.
Marcel wischt sich die Hand an der belgischen Polizistenhose ab.
»Linus«, sagt er vorwurfsvoll, »du darfst keine Beweismittel schlucken.«
»Wau«, antwortet mein Hund mit dem Tonfall, den er immer drauf hat, wenn ihm etwas nicht schmeckt. Mir fällt ein, dass ich ihn füttern sollte, aber das einzig Essbare im näheren Umfeld hat er ja selbst auf dem Waldboden verstreut. Das soll ihm eine Lehre sein. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Cora zu.
»Jetth thiehtht du genau tho auth wie deine Thwethter«, sage ich und versuche aufzustehen. Dieses Phänomen will ich aus nächster Nähe betrachten. Aber ich schaffe es nicht. Ich falle um. Ach, wie weich der Boden dieses Waldes doch ist. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Aber das wird sich bald ändern. Für Crème brûlée braucht man offenes Feuer. Bis es geschürt ist, werden mich die Daunen wärmen, die vom Himmel herunterschweben und sich auf mir niederlassen. Der kandierte Wiesenkerbel, den ich vorhin noch für Pollen gehalten habe.
Weder Daunen, Pollen noch kandierter Wiesenkerbel sind auf mich herabgerieselt, es war nur der gemeine Eifeler Oktoberschnee. Der immer noch in dicken Flocken fällt, als ich die Augen öffne und aus dem Fenster meines Schlafzimmers blicke. Schnee. Kokain. Drogen. Marihuana. Du lieber Himmel, ich hätte nie gedacht, dass Cannabisrauch solche gefährlichen Auswirkungen hat. Hein muss unbedingt auf Entzug gehen. Man darf doch Schlafstörungen nicht mit Mitteln bekämpfen, die einen Albtraum verursachen, wie den, an den ich mich zu erinnern glaube! Genaueres weiß ich nicht mehr, nur dass ich in ihm dem Tode nah war. Nachdem ich den Hanf verbrannt habe, ist irgendwie alles aus den Fugen geraten. Ich habe einen totalen Filmriss.
Aber zum Glück liege ich völlig unbeschadet in meinem Bett, auch wenn ich nicht weiß, wie ich da hineingekommen bin.
»Katja! Wie geht es dir?«
Marcel sitzt auf dem breiten Eichenhocker neben meinem Bett. Er ist unrasiert, sehr blass und sieht aus, als belaste ihn etwas.
»Du hast sehr heftig auf die Droge reagiert.«
Wohl wahr. Ich schließe wieder die Augen. Du lieber Himmel; er weiß Bescheid! Hat er an meinem bewusstlosen Körper einen Drogentest durchgeführt? Ist so etwas überhaupt erlaubt? Oder habe ich das Gras nicht ordentlich entsorgt? Hat Marcel Spuren meines Scheiterhaufens gefunden, die ihn zum polizeilichen Handeln zwingen? Hat er mich widerrechtlich über die Bundesstraße nach Belgien geschleppt, um gegen mich zu ermitteln?
»Wirst du mich jetzt festnehmen?«
»Wieso das denn?«, fragt er leise lachend. »Du hast damit doch gar nichts zu tun.«
»Das stimmt«, gebe ich erleichtert zurück und setze mich auf. »Ich war immer voll dagegen.« Und weil ich Hein nie im Leben verraten oder belasten würde, setze ich hinzu: »Glaube mir, ich habe keine Ahnung, wie das zu mir kam und wer dahintersteckt.«
»Wir aber«, erwidert Marcel. »Alles ist aufgeklärt, und du kannst ruhig weiterschlafen, wenn du magst. Du hast eine schlimme und anstrengende Zeit hinter dir. Wie wir alle.«
Und Hein hat eine schlimme Zeit vor sich, denke ich. Werden sie ihm im Gefängnis erlauben, sich die Haare zu färben? Gefängnis? Was fällt Marcel ein, unseren gemeinsamen Freund den deutschen Autoritäten auszuliefern? Das darf ich nicht zulassen.
Ich setze mich auf und mühe mich, die Reste der Benommenheit abzuschütteln. Marcel tauscht seinen Hocker gegen die Bettkante ein. Als er seinen Arm um mich legen möchte, wehre ich ihn ab. Ein Freund, der einen Freund verrät, ist keiner. Außerdem hat mich Marcel geschlagen. Daran erinnere ich mich, obwohl ich nicht mehr weiß, in welchem Zusammenhang. Aber schlagen ist immer schlecht. Hat er die Wahrheit aus mir herausgeprügelt? Dann gehört er hinter Gitter. Und ich sollte mich über Frauenhäuser in Belgien informieren.
»Möchtest du etwas trinken?«
Dankbar greife ich nach dem angebotenen Glas Wasser und leere es in einem Zug.
»Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern?«, fragt Marcel. »Weißt du, was gestern im Wald vorgefallen ist?«
Als ich nichts erwidere, setzt er nach: »Du warst nicht ganz bei Sinnen, Katja, du standest unter Drogeneinfluss.«
Schuldbewusst senke ich den Kopf. Er hat ja so recht. Aber nichts werde ich ihm von Heins einstiger Hanfplantage hinter meinem Haus erzählen. Da kann er sich auf den Kopf stellen oder noch mal zuschlagen. Soll er doch denken, dass ich heimlich kiffe! Immer noch besser, als einem Freund in den Rücken zu fallen.
»Diazepam«, sagt Marcel eindringlich. »Erinnerst du dich?«
»Diazepam …« Ich schließe die Augen und atme tief durch. Diazepam hat niemand hinter meinem belgischen Haus angebaut. Es geht gar nicht um den Hanf, es geht um ein Medikament. Das steckte in einer Spritze und die in meiner Vene. Ich fasse mir an den Hals und ertaste ein kleines Pflaster.
Allmählich lüftet sich der Schleier der Erinnerung, auch wenn ich vorerst nur Schemen sehe: Cora mit ihrem spitzbübischen Lachen. Wir haben uns im Wald getroffen und über das jüngste Gericht für die Einkehr gesprochen, eine ganz besondere Crème brûlée mit herber Note.
Mit extrem herber, teuflischer Note!
Endlich begreife ich.
»Es war Cora! Die wollte mich umbringen?!«
»Linus hat dir das Leben gerettet.«
»Und du. Und Josef!«
Cora hätte bestimmt darauf bestanden, dass ich ihre spezielle Variante von Waldbeeren und Rosmarin ordentlich kaue und runterschlucke. Beeren und Nadeln der tödlichen Eibe. Ich hätte es getan. In meiner gestrigen Verfassung wäre mir Widerstand gar nicht möglich gewesen. Mit der Spritze hat mich die Frau willenlos gemacht, gefügiger, als ich je im Leben gewesen bin. Jetzt ist mir alles klar.
»Cora ist die Mörderin!« Triumphierend setze ich hinzu: »Ich hatte also recht!«
»Du hattest recht.«
»Und du hast dich geirrt! Wie Gudrun warst du davon besessen, dass es Hans-Peters Ehefrau war.«
»Wir hatten auch recht.«
»Bitte?«
»Es war Gabriele von Krump-Kellenhusen.« Offensichtlich erfreut über meinen verständnislosen Gesichtsausdruck, fährt Marcel gedehnt fort: »Cora – und – Gaby. Sie sind ein und dieselbe Person.«
»Unmöglich!«
»Dachte ich erst auch. Obwohl mir der Verdacht schon ziemlich früh kam – eine Frau aus deinem Bekanntenkreis verschwindet auf der Kehr, und eine andere taucht zur selben Zeit in deinem Umfeld auf.«
»Solche Zufälle gibt es doch immer wieder!«
»Hier?«, fragt Marcel zweifelnd.
Natürlich nicht. Auf der Kehr taucht ja nicht einmal in der Tourismussaison ein Fremder auf. Wer von Prüm nach Malmedy oder umgekehrt fährt, rast gänzlich unbeeindruckt durch unsere Ortschaft, drosselt am grünen Ortsschild kaum je die Geschwindigkeit. Lohnt sich für die paar Meter ja nicht. Was sich mit der Eröffnung meines Restaurants unbedingt ändern muss. Vielleicht mittels eines Warnschildchens mit der Aufschrift Radar? Soll sich Hein erkundigen, wer dafür zuständig ist – der Straßenrand gehört schließlich den Belgiern, die den deutschen Behörden erlaubt haben, dort ihre Schilder aufzustellen. Würde ja auch komisch aussehen, wenn auf einer Straßenseite deutsche und auf der anderen belgische ständen.
»Es hat lange gedauert, bis ich die Beweise in Händen hatte und zeitlich alles auf die Reihe setzen konnte«, fährt Marcel fort und setzt leiser hinzu: »Fast zu lange, aber Linus sei Dank gerade noch rechtzeitig. Nur eine Sache ist mir noch rätselhaft, aber die hat mit der Lösung des Falls nichts zu tun.«
Diesmal lasse ich es mir gefallen, dass mich mein Lebensretter in den Arm nimmt. Ich rücke sogar ein wenig zur Seite, damit er sich in meinem Anderthalbpersonenbett neben mir ausstrecken kann. Was er erst tut, nachdem er sich die Uniform ausgezogen hat. Er legt Hose, Jacke und Hemd erstaunlich sorgfältig über das Fußende und dann sich in seinen grauseidenen Boxershorts und dem Baumwoll-T-Shirt neben mich.
»Socken«, murmele ich vorwurfsvoll.
Ich habe schließlich auch keine mehr an. Nur T-Shirt und Slip. Hat mich Marcel etwa entblättert?
Während er die Socken abstreift, liest er wieder einmal meine Gedanken.
»Keine Sorge, Gudrun hat dich ausgezogen.«
»Du hast mich noch ausgezogener gesehen.«
»Das ist etwas anderes«, sagt er und verfehlt mit dem Sockenbündel den anvisierten Stuhl.
So viel Sensibilität von einem Mann, der mich geschlagen hat?
»Warum hast du mich gehauen?«
Er nimmt mich in den Arm und küsst mich.
»Es tut mir so leid, Katja, aber ich hatte riesige Angst. War total verzweifelt, dass du schon von dem Zeug was eingeholt hast … da gibt es dann kein Zurück. Ich musste dich irgendwie zur Besinnung bringen. Es tut mir leid.«
»Ich war zu bis unter die Haarwurzeln.«
»Ja. Übrigens Haarwurzeln, das war ein Teil der Lösung.«
»Erzähl!«
Er schüttelt den Kopf und schiebt mich mit einigen Mühen in die Horizontale.
»Später, Katja, wenn du wieder richtig wach bist.«
»Bleibst du hier?«, frage ich und kuschele mich dankbar an den schlanken warmen Leib.
»So lange du willst«, flüstert er mir ins Ohr, ohne die Arme von mir zu nehmen. In mir und um mich herum herrscht ein ähnlicher Frieden wie vorhin im Wald, als mir Cora die Speise gereicht hat. Nur dass ich jetzt erheblich komfortabler liege, von einem anderen Körper gewärmt werde und herrlich weichen Stoff von seidenen Boxershorts genießen darf. Ich schlafe augenblicklich wieder ein.
Ich erwache mit einem Ruck. Als wäre plötzlich die Last der Welt auf mich niedergekommen. Oder ein Elefant, der mir den Brustkorb zerquetschen will.
»Linus!«, brüllt Marcel.
Kein Elefant. Der Druck ist weg. Ich hole tief Luft, versuche mich aufzurichten und öffne die Augen. Neben meinem Bett hockt der schwarze Riesenhund mit heraushängender Zunge und sieht genauso erstaunt wie ich auf Marcel. Der sitzt mit abgespreizten Armen auf der Bettkante und macht seltsame Fingerbewegungen.
»Meditation?«, bringe ich hervor.
»Arme eingeschlafen«, antwortet er und nickt dankbar, als er es endlich schafft, die rechte Hand zur Faust zu ballen.
»Mensch, Gudrun, was fällt dir ein, uns hier mit Linus zu überfallen!«
Jetzt erst sehe ich Gudrun in der Tür stehen.
»Entschuldigung«, sagt sie und strahlt übers ganze Gesicht. »Aber ich dachte, nach vierundzwanzig Stunden …«
»Vierundzwanzig Stunden?«, frage ich fassungslos.
»Alles zusammen«, sagt Marcel rasch, »du hast eben noch mal zwei Stunden geschlafen. Wie geht es dir?«
Ich fasse mir an den Kopf. Er sitzt da, wo er hingehört, und scheint ansonsten auch sehr klar zu sein.
»Gut«, sage ich erstaunt. »Ich glaube, sogar sehr gut. Und dir?« Seine Finger machen kein sehr geglücktes Lufttheater.
»Bestens«, antwortet er. »Heute ist Sonntag, da darf alles an mir ausschlafen.«
Ich versuche, nach seinen Händen zu greifen. Wem an meinem Körper die Arme einschlafen, dem schulde ich eine Massage.
»Das mache ich«, bestimmt Gudrun. Sie setzt sich unbekümmert neben ihn auf die Bettkante und beginnt, Marcels Finger zu reiben. »Du bist dafür noch viel zu schwach, Katja. Außerdem muss ich euch was Wichtiges sagen.«
»Kann das nicht warten?«, fragt Marcel. »Ich muss Katja auch noch was sagen. Was sehr Wichtiges.«
»Wohl wahr«, stimme ich zu. »Haarwurzeln.«
»Ich fühle meine Fingerspitzen wieder, Gudrun. Danke.«
Widerwillig erhebt sie sich.
»Der Amerikaner ist da!«, platzt sie heraus und sieht uns erwartungsvoll an.
Ich schließe die Augen. Bitte, lieber Gott, nicht schon wieder eine neue Geschichte, bitte nicht wieder ein neuer Mann in meinem Eifeler Leben! Vorerst sollen alle Fremden an der Kehr vorbeirauschen. Kein Radarschild bitte. Ich will jetzt in Frieden neben Marcel liegen und von ihm hören, warum Cora und Gaby zu einer Person verschmolzen, weshalb Hans-Peter und Herr Eichhorn tot sind und wie mein belgischer Lieblingspolizist den Fall gelöst hat!
»Welcher Amerikaner?«, fragt Marcel genauso müde, wie ich mich gleich wieder fühlen werde, wenn Gudrun nicht schleunigst verschwindet.
»Dem mein Haus jetzt gehört! Der rechtmäßige Erbe; sein Großvater ist in dem Haus geboren worden und hat da gelebt, bis die Nazis …« Sie bricht ab. Diesen Teil der Geschichte, der so schmerzlich mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden ist, mag sie aus verständlichen Gründen nicht weitererzählen. »Ein ganz toller Mann, wirklich! Und so witzig! Ihr werdet staunen, was der alles zu erzählen hat …«
»Ich kann kein Englisch«, knurrt Marcel. »Jetzt geh bitte, Gudrun.«
»Er spricht prima Deutsch! Hört sich ganz niedlich an! Finden Hein und Jupp auch. Und er wohnt in Texas neben dem Westwall, sein Vater hat ein ganzes Stück davon nach USA mitgeholt, da staunt ihr, was?«
»Nein, Gudrun«, melde ich mich jetzt zu Wort. »Da staunen wir gar nicht. Wir möchten jetzt nur allein sein.«
»Oh«, sagt sie enttäuscht. »Na schön. Aber wir sehen uns später in der Einkehr?«
»Ja!«, brüllen wir unisono.
»Und Linus?«
»Mitholen!«, schreien wir im Chor.
Als die Tür hinter den beiden Störenfrieden ins Schloss fällt, atmen wir beide gleichzeitig extrem tief aus. Wir haben es nicht nötig zu erwähnen, wie ähnlich wir denken, fühlen und wie nah wir einander sind. Weshalb wir uns augenblicklich ausgiebig dem Animalischsten aller Kommunikationsmittel widmen. Und damit ist der letzte Zweifel an meinem derzeitigen Aggregatzustand gänzlich beseitigt. Ich lebe, und wie!
»Haarwurzeln?«, frage ich, als Marcel nach einer kleinen Ewigkeit die zu Boden gerutschte Daunendecke aufhebt und wieder über uns bettet. Voller Behagen setzen wir uns beide auf, stopfen uns die riesigen Kissen in den Rücken und blicken aus dem kleinen Fenster meines verfallenden Bruchsteinhauses hinaus in das oktoberliche Schneegestöber der Dämmerung.
»Ja«, sagt er. »Die Haare, die am Bunker gefunden wurden, stimmten nicht mit den Haaren überein, die ich der Dame am Burghaus abgeschnitten habe …«
»Wie, abgeschnitten?«
»Unterbrich mich nicht! Ist schon kompliziert genug. Ich bin in Kronenburg zum Rauchen rausgegangen, weil ich schon ahnte, dass die Frau abhauen wird, wenn sie hört, dass wir da sind. Die wollte kein Risiko eingehen. Ich habe mich neben dem Burghaustor hinter einem Auto versteckt und ihr mein Zigarilloetui auf die Füße geworfen. Natürlich hat sie sich danach gebückt. Reflex eben. Da hatte ich übrigens auch gleich ihre Fingerabdrücke und konnte die später mit denen auf meiner Beifahrertür vergleichen – du erinnerst dich doch, dass ich deine Igelfrau nach Krewinkel gefahren habe?«
»Haarwurzeln?«
»Ich habe eine Schere an meinem Schweizer Taschenmesser. Als sie sich bückte, bin ich auf sie zugesprungen und konnte ihr unbemerkt ein paar Haare abschneiden …«
»Aber du sagtest doch gerade, dass die Haare nicht mit denen am Bunker übereinstimmen?«
»Weil sie in Kronenburg eine Perücke trug. Das hat der Friseur bei mir unten im Haus schnell herausgefunden. Ihre alten echten gefärbten Haare hat sie am Bunker zurückgelassen, genau wie das Blut, um uns alle auf die falsche Spur zu bringen.«
»Wie geht das denn? Und wozu das ganze Theater?«
»Um ihren Mann am Verschwinden mit den gestohlenen Geldern zu hindern, ist sie selbst verschwunden. Mit seinem Personalausweis und unter Hinterlassung des Babys. Nach einem künstlich herbeigeführten Streit im Kronenburger Hotel ist sie schnurstracks ins Hotel Balter in Losheim gegangen. Von da aus hat sie erst Holger Eichhorn in Berlin angerufen und ihn in die Eifel beordert. Dann hat sie sich die Haare bis auf den grauen Ansatz, den sie wohl extra dafür herauswachsen ließ, abgeschnitten, ein paar lange Haare behalten, um sie später am Bunker zu verteilen, sich ein Schönheitspflaster auf die Nase geklebt, einen Jogginganzug angezogen, sich in Cora verwandelt und ist nach Krewinkel gegangen.«
»Wo hatte sie die Perücke her?«
»Von Berlin mitgeholt.«
»Dann war alles schon vor Langem geplant?«
»Nicht bis in jedes Detail; das erzähle ich dir gleich. Und durch den nicht eingeplanten Tod von Holger Eichhorn war sie gezwungen, spontan zu improvisieren. Der Mann sollte ihr Alibi sein. Mit ihr zurück nach Berlin rasen, bevor Hans-Peter tot aufgefunden wurde.«
»Und Victor? Die Sekte?«
Marcel lacht.
»Völlig ahnungslos. Die leben ja auf einem anderen Stern.«
»Den sie aber entdeckt hat«, gebe ich zu bedenken.
»Sie kannte irgend so einen Guru im Himalaja, den er auch kannte und auf dessen Homepage sich Victor mit ehrerbietigen Grüßen aus Krewinkel verewigt hat …«
»… aber Mutter Agnes?«
»Nachdem sich die Krump in der Sekte eingenistet hatte, das war übrigens erst am Tag vor deiner Begegnung mit ihr, ging sie zum großen Bunker, um Spuren zu legen, und stieß auf Mutter Agnes …«
Er kann nicht weiterreden. Ich auch nicht. Wir rutschen von unseren Kissen in die Horizontale und halten einander fest. Sehr lange. Und diesmal sehr keusch.
Nie werden wir wirklich erfahren, ob erst die Art des Freitodes von Jupps Mutter die Frau aus Berlin auf den Gedanken gebracht hat, ihren Mann auf diese Weise auch ins Jenseits zu schicken. Ich hoffe, dass sie die Eibe schon vorher ausgewählt hat.
»Es war nicht nur der Tabak«, sagt Marcel, nachdem wir uns wieder aufgerichtet haben. »Sie hat auch seine Lieblingsessenz für den Saunaaufguss mit dem Gift angereichert – wahrscheinlich fürchtete sie, dass das Taxin bei den heißen Temperaturen im Pfeifenkopf nicht tödlich wirkt. Über dieses Alkaloid ist nicht sehr viel bekannt, auch wenn sich die Giftzentralen bei euch in Deutschland und bei uns in Belgien ständig damit beschäftigen.«
Deshalb also ist sie nach rechts und nicht nach links geradelt, fällt mir ein. Während ihr Mann in Euskirchen von der Polizei vernommen wurde, hat sie sich ins Hotel geschlichen, das Zimmer mit ihrem Schlüssel geöffnet und Eibengift in den Saunazusatz praktiziert.
»Sie hatte also von Anfang an vor, ihn zu ermorden?«
»Das hat sie energisch bestritten. Angeblich hatte sie ihm nur einen Denkzettel verpassen wollen. Das glaube ich ihr sogar.«
»Wie bitte? Die Frau führt ihrem Mann das tödliche Taxin zu …«
»Anfangs ging es ihr wohl nur darum, das Geld ihrer Stiftung wiederzubekommen und die ganze Angelegenheit fern von Berlin zu regeln. Erinnerst du dich an den Abend, als sie bei dir ans Küchenfenster geklopft hat?«
»Wo du ihr gegenüber deinen ganzen Charme hast spielen lassen …«
»Um ihr auf den Zahn zu fühlen, Katja. Die Frau kam mir höchst suspekt vor. Jedenfalls hatte sie damit gerechnet, Hans-Peter bei dir anzutreffen.«
»Sein Auto stand vor der Tür.«
»Genau. Wie auch das der belgischen Polizei. Sie wollte ihm einen gehörigen Schrecken einjagen, um ihn zur Besinnung zu bringen.«
»Und dann erfährt sie nicht nur, wie gleichgültig dem Mann ihr Verschwinden war, sondern auch noch, dass er sich gleich wieder zu einer neuen Dulcinea ins Bett gelegt und das Kind bei euch abgeladen hat. Da packte sie die kalte Wut. Er musste sterben.«
»Aber sein Fremdgehen hat sie doch früher nicht gestört!«
»Er hat immerhin zwei Millionen Euro zur Seite geschafft. Und wollte sie verlassen.«
»Bestimmt Gudruns wegen!« Schon die Vorstellung finde ich so erheiternd, dass ich beinahe in lautes Gelächter ausbreche.
»Auch«, erwidert Marcel gelassen.
Jetzt fange ich wirklich an zu prusten.
»Hör auf, darüber Witze zu machen!«
»Mache ich nicht.«
»Das ist geschmacklos.«
»Vielleicht, aber es ist die Wahrheit.«
»Wahrheit, Wahrheit! Dass du immer noch alles glaubst, was Gudrun so von sich gibt«, entgegne ich kopfschüttelnd, »die hat sich doch ständig in ihren hoffnungslosen Tagträumen von einer Zukunft namens Hans-Peter verloren. Ihr Männer seid einfach zu gutgläubig.«
»Meine Erkenntnis stammt nicht von Gudrun.«
»Dann hat seine Frau das wohl vermutet, aber sie kennt Gudrun doch kaum.«
»Auch nicht von seiner Frau.«
»Dann kannst du es nur von Hans-Peter selbst haben, aber eine Leiche redet normalerweise nicht«, gebe ich jetzt scharf zurück.
»Aber bevor er eine Leiche war, bevor er in die Sauna gegangen ist, hat er einen kurzen Brief an seine Tochter geschrieben und sie gebeten, darüber nachzudenken, ob ihr Kind nicht vorerst bei ihm und Gudrun in gesunder Landluft aufwachsen solle. Du hast ihn eben nicht so gut gekannt, wie du dachtest, Katja. Er hat es mit Gudrun wirklich ernst gemeint.«
Marcel legt wieder einen Arm um mich. Ich rücke ab. Diese Bemerkung kommt mich sehr bitter an. Vierzehn Jahre mit mir hatten nicht genügt, um einen Schlussstrich unter die Ehe zu ziehen, doch nach einer Nacht mit Gudrun wollte Hans-Peter alles über den Haufen werfen?
»Aber er hat Gudrun gerade erst kennengelernt!«, schnaufe ich. »Nach zwei Tagen macht man doch keine Zukunftspläne!«
»Was ist schon Zeit«, bemerkt Marcel fast bittend. »Für ihn war Gudrun zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
»Mann, bist du verkitscht!«
Jetzt rückt er so weit von mir ab, dass er fast aus dem Bett fällt.
»Ursprünglich hatte er wohl vor, dich zu reaktivieren. Mit dir und der Kohle abzuhauen. Wie hast du ihn denn begrüßt, als er zu dir in die Einkehr kam?«
»Ich bin ihm um den Hals gefallen und habe begeistert endlich gerufen«, erwidere ich.
»Wohl kaum. Hättest du das getan, wäre er vermutlich entkommen und Herr Eichhorn nicht gestorben.«
Hans-Peter und Holger Eichhorn sind tot, weil ich nicht nett zu meinem Exlover war? Was für ein ungeheuerlicher Gedanke.
»Für meine Herzlosigkeit wird Gaby wohl lebenslang im Gefängnis büßen.«
Marcel schüttelt den Kopf.
»Nein. Die Frau wird in die Geschlossene kommen. Sie hat eine schwere psychische Störung. Ihr Arzt hat sie als äußerst labil bezeichnet.«
Wie Hans-Peter früher mir gegenüber auch. Da hat der Kerl ausnahmsweise mal nicht gelogen.
»Aber was hatte Hans-Peter mit Vinzenz vor, seinem Enkel, warum sollte der mit ihm und …«, ich schlucke schwer, »… Gudrun aufwachsen? Ein Gauner auf der Flucht belastet sich doch nicht mit einem Säugling!«
Marcel hebt die Schultern.
»Das hat seine Frau auch gedacht. Wahrscheinlich wollte er mit dir und dem Baby abhauen, was weiß ich. Dir sozusagen endlich ein Kind schenken können.«
Weil ich ja anders nicht mehr in das Vergnügen kommen kann. Ich rutsche auf meiner Seite aus dem Bett und werfe mir den Bademantel um, der von irgendeinem fernen Morgen her noch auf der Matte daneben liegt. Marcels Bemerkung weckt Erinnerungen an zwei sehr unangenehme und längst vergessen geglaubte Arztbesuche in Berlin. Zu denen mich Hans-Peter gedrängt hatte. Unsere Beziehung ist noch nicht reif für ein gemeinsames Kind. Und da wollte er mir anderthalb Jahrzehnte später seinen Enkel unterschieben? Wut auf den toten Mann kocht in mir auf. Aus Pietätsgründen leite ich sie an den Lebenden weiter. Ich gehe um das Anderthalbpersonenlager herum und blicke auf den Polizisten herunter, der ein Drittel der Fläche für sich beansprucht.
»So ein Schwachsinn!«, fauche ich ihn an. »Ich habe mir nie von einem Mann ein Kind machen lassen und werde mir erst recht keines von einem schenken lassen!«
»Sei doch nicht schon wieder so aggressiv!«
»Aggressiv! Wer hat denn zugeschlagen, he?«
Ich warte nicht auf seine Antwort, sondern stolziere ins Badezimmer. Überlege, welche Kleidungsstücke im Haus herumliegen, damit ich nicht an den Schrank im Schlafzimmer heranmuss. Einem Mann, der solche Theorien entwickelt, möchte ich mich nicht länger als nötig halb bekleidet zeigen. Wieso hat Marcel eigentlich keine eigenen Kinder? Immerhin war er zehn Jahre verheiratet, bevor seine Frau das Weite gesucht hat.
Dass ich keine habe, lag nicht nur an den Arztbesuchen. Ich war eine Karrierefrau in der Medienwelt der Achtziger- und Neunzigerjahre. Zu meiner fruchtbaren Zeit wäre es undenkbar gewesen, als Journalistin Kinder in die Welt zu setzen und trotzdem weiterzuarbeiten. Glasklar, unerbittlich und von der Verlagsleitung sehr deutlich – wiewohl sittenwidrig – formuliert: Entweder oder. Oder bedeutete Abhängigkeit. Von einem Mann, der später Gudruns entdecken könnte. Katjas waren keine Gefahr, denn die beherzigten die alten Spielregeln und gingen freiwillig zum Arzt. Ich kenne keine Frau, die damals Kind und Karriere geschaukelt hätte, weil es diese Journalistinnen zu meiner Zeit nicht gab.
Vor dem Badezimmerspiegel mustere ich meine Labialfalten. Bin ich etwa neidisch auf die Kolleginnen der Neuzeit? Nein. Ich schicke einen stummen Gruß an Alice Schwarzer, die an der Wiege der Wahl gestanden hat, und angele aus meinem Wäschekorb den engen langen Rock, den ich in Kronenburg getragen habe und der durchaus noch passabel aussieht. Blödsinnig und sehr unökologisch, den nach einmaligem Tragen zu waschen. Die Bluse tut es auch noch. Ich ziehe alles an und bestäube das Ganze mit etwas Parfüm und meinem Pflanzenbesprüher, um es aufzufrischen.
»Olala«, sagt Marcel, als ich ins Schlafzimmer zurückkehre. »Da will jemand ausgehen.«
»Weil mich jemand zum Muschelessen eingeladen hat.«
Die Antwort ist schneller raus, als ich denken kann. Nach dem wunderbaren Erwachen in mein neues Leben darf ich Marcel nicht des toten Hans-Peters wegen böse sein. Er springt aus dem Bett und fahndet in seinen Klamotten nach dem Handy.
»Dann bestelle ich uns gleich einen Tisch im Pipas.«
Ich höre ihn reden. In einer Stunde also.
»Wir müssen noch mal rüber zur Einkehr«, sage ich lustlos. »Uns den vermaledeiten Amerikaner ansehen. Oje, Gudrun hatte schon wieder Hans-Peter-Augen. Das kann doch nur schiefgehen. Schon wieder. Ich mag nicht mehr.«
»Komm, Katja, Gudrun ist unsere Freundin.«
»Was ist eigentlich mit Gabys Stiftungsgeldern? Hat Gudrun die etwa auch?«
Marcel lacht. »Natürlich nicht. Die liegen immer noch auf der Luxemburger Bank.«
»Und sind für alle verloren, weil sie auf einem Nummernkonto ruhen?«
»Wir sind hier doch nicht in Österreich! Da können die Erben von einem Nummernkonto in die Röhre gucken, wenn ihnen Zahl und Kennwort fehlen. Unsere Freunde, die Luxemburger, sind so anständig, bei der Suche zu helfen.« Ach ja, Sankt Vith hat ja immer noch den Luxemburger Löwen im Stadtwappen. Und vielleicht wird sich die DG dem Großherzogtum anschließen, wenn Belgien auseinanderfällt. »Zumal Holger Eichhorn herausgefunden hat, in welcher Bank das Geld lagert.«
»Und wo geht es jetzt hin?«
»Es fließt wieder der Stiftung zu, natürlich.«
Der Stiftung für bedrohte Arten. Zu denen auch die Eibe gehört. Die mir zum Verhängnis geworden wäre, wenn Linus, Marcel und Josef mich nicht gerettet hätten.
»Wie hat dir eigentlich Josef geholfen?«, frage ich, während ich den zweiten meiner High Heels suche. Mit sichtlichem Widerwillen wendet sich Marcel seinen Kleidungsstücken zu. Er hätte wohl lieber mein Bett für den Rest des Sonntags gepachtet.
»Hans-Peters Wagen stand nicht mehr am Hochwasserbehälter«, sagt er und greift nach seinem Polizistenhemd. »Also sind wir nach Kronenburg gefahren. Bingo. Auf dem großen Parkplatz vor dem Burgtor haben wir ihn entdeckt. Sicherheitshalber hat sie nicht vor dem Hotel geparkt.«
»Falsches Knopfloch.«
Er knöpft um.
»Mir war klar, dass sich die Frau wieder als Cora verkleiden wird, um dich zu treffen. Sie muss geglaubt haben, dass du hinter ihr Geheimnis gekommen bist.«
Ich weiß, wo Cora ist. Mit dieser Lüge hatte ich mein Todesurteil unterschrieben! Und Gaby Gelegenheit gegeben, mich durch meinen scheinbaren Selbstmord als alternative Täterin aufzubauen, um notfalls die Polizei von der Spur der verschwundenen Cora abbringen zu können. Bei diesen Gedanken wird mir wieder ganz schwindlig.
Marcel berichtet, wie er Dirk Peters bekniet hat, ihm das Zimmer der Frau zu öffnen, die unbedingt nicht gestört werden wollte.
»Es gehe um Leben und Tod, habe ich ihm gesagt.«
»Lass mich raten: Er hat die Tür der bedauernswerten Witwe aufgemacht, weil er dich kennt und ihr beide Belgier in der Bundesrepublik seid und gegen böse Deutsche zusammenhalten müsst?«
»Letztendlich ja, aber es hat schon etwas Überzeugungsarbeit gekostet. Ich habe nur noch die Perücke gefunden. Die Frau war schon raus.«
»Dann muss sie euch doch im Flur begegnet sein?«
»Es gibt zwei Flure. Josef hat die Frau erwischt; er bewachte das andere Treppenhaus und gab mir Bescheid. Sie joggte durch Kronenburg, stieg hinter dem Burgtor aber nicht ins Auto, sondern rannte weiter.«
»Und ihr hinterher?«
»Klar, aber unauffällig. Mit Abstand. Das war unser Fehler. Weil sie oben plötzlich rechts um die Ecke bog, und futsch war sie. Futsch, verstehst du, weg!«
»Wie weg?«
»Josef sagt, er hat einen Automotor gehört. Aber wo holt sie ein Auto her? Wir rennen um die Ecke, und da ist keine Frau mehr.«
»Taxi?«, schlage ich vor.
»Ja, das wissen wir jetzt auch. Vom Hotel aus hat sie Diana angerufen und sich mit ihr hinter der Ecke verabredet; als Gaby war sie mit Diana ja schon zweimal gefahren. So ist sie auf die Kehr gekommen, wo sie dich dann getroffen hat.«
»Und nach dem Mord an mir sollte Diana sie wieder in Kronenburg absetzen?«, frage ich ungläubig.
»Nein«, sagt Marcel. »Wir haben später das rote Rennrad im Wald gefunden, das muss sie irgendwann dort abgestellt haben.«
Ich weiß schon, wann. Nach unserer ersten Begegnung im Wald muss Gaby als Cora den Zettel für mich sofort bei der Sekte abgegeben haben. Vermutlich hatte sie sich nicht einmal ganz abgeschminkt, nur die Perücke abgesetzt und sich das Schönheitspflaster auf die Nase geklebt. So was reicht als Beschreibung. Sehr raffiniert.
Im allgemeinen Wirbel um das neue Tor hat sie sich wohl des Rennrads bemächtigt und es im Wald versteckt. Jetzt musste sie nur noch das Auto und die Perücke in Kronenburg loswerden. Die Rezeption vom Zimmertelefon aus bitten, nicht gestört zu werden, und als Cora wieder rausschleichen. Generalstabsmäßig geplant.
»Wir hatten sie verloren«, fährt Marcel fort und zupft sich das Hemd faltig. »Und keine Ahnung, wo und ob sie sich mit dir verabredet hat. Auf deinem Handy war nur die Mailbox erreichbar. Schaff dir endlich ein neues an, der Akku ist zu schnell platt. Also fuhren wir wieder auf die Kehr.«
Er kämpft mit seiner Krawatte und deutet verzweifelt auf den zusammengezurrten Knubbel am Hals. Ich binde ihm einen wunderschönen Windsorknoten.
»Danke, dass ihr rechtzeitig da wart!«
»Ich bin wie der Teufel gefahren.«
Darin hat er zum Glück reichlich Übung. Er berichtet, wie sie meinen Wagen am Hochwasserbehälter entdeckt hatten.
»Er war wieder mal nicht abgeschlossen«, sagt er vorwurfsvoll.
»Zum Glück, sonst hättet ihr Linus nicht so schnell rauslassen können«, gebe ich zurück. »Irgendwie erinnere ich mich daran, dass Josef die Cora, ich meine die Gaby, festgenommen hat. Als Zivilist durfte er das doch gar nicht!«
»Ich als belgischer Polizist in Uniform hätte das auf keinen Fall gedurft. Ich hätte die Euskirchener Polizei anrufen und untätig auf sie warten müssen.«
»Und Josef ist kein Polizist mehr.«
»Er hat Paragraf 127 der deutschen Strafprozessordnung angewandt.«
»Was ist das denn?«
»Eine Bürgerfestnahme. Hättest du auch tun können, wenn du gekonnt hättest.«
»Ich habe auf der ganzen Linie versagt«, gestehe ich. Mir fällt etwas ein: »Du hast vorhin gesagt, dass dir eine Sache rätselhaft ist. Welche?«
»Wie konnte sie sich so schnell von Gaby in Cora verwandeln? Ich meine, das müssen ja nur Minuten gewesen sein! Und wie hat sie das mit der Augenfarbe gemacht?«
Ich lache.
»Ach, ihr dusseligen Männer«, erwidere ich. »Von Cora zu Gaby wäre ein Zeitproblem gewesen. Aber zum Abschminken braucht man nur Sekunden! Und farbige Kontaktlinsen lassen sich sehr schnell herausnehmen.«
Marcel schüttelt den Kopf.
»Weibervolk«, murmelt er, und dann verlasse ich mit dem perfekt gekleideten Polizisten mein Haus. Ohne abzuschließen natürlich.
Die Tür der Einkehr steht sogar weit offen.
»Nach allem, was hier passiert ist, seid ihr immer noch so leichtsinnig«, schimpft Marcel.
Ich höre Hein in der Küche reden und lege einen Finger auf die Lippen.
»Psst«, flüstere ich, »alles, was hier passieren kann, ist nach Murphys Gesetz schon passiert. Also können wir jetzt wieder unsere Türen offen lassen und in Frieden leben. Was meinst du, warum ich nicht mehr in der Großstadt wohnen will? Verbrechen an jeder Ecke. Psst, Marcel, lass uns mal lauschen.«
Wir schleichen in den Flur.
»Eiben«, doziert Hein gerade, »werden oft auf Friedhöfen und ums Haus gepflanzt. Sie sollen vor Hexen und bösen Geistern schützen. Eine Eibe fällen soll Unheil bringen.«
Eiben stehen lassen kann das auch, denke ich und stoße die Küchentür weit auf.
Am Tisch sitzen meine Freunde und ein fremder dunkelhaariger Mann. Ein Exemplar, das man in unseren Eifeler Breiten selten antrifft. Etwa Mitte vierzig, durchtrainiert, braun gebrannt, lustige Lachfältchen um die Augen, außerordentlich adrett.
Und sehr höflich. Jedenfalls steht er als Einziger auf, als ich in die Küche rausche.
»Wie schön, dass es dir wieder gutgeht, Katja«, begrüßt mich Hein. »Weißt du, was Eibe auf Englisch heißt? Alles andere versteht er. Das ist David. David, das ist Katja.«
Der Mann hat einen festen Händedruck. Er setzt sich wieder hin und legt die Füße auf den Küchentisch.
»Gut, dass ihr da seid«, begrüßt uns auch Jupp. »Ich muss unbedingt wissen, in welchem Knast die Frau sitzt.«
»Wieso das denn?«, frage ich und versuche, nicht ungehalten darüber zu sein, dass mich nicht alle voller Euphorie im Leben zurück begrüßen.
»Ich muss sie kennenlernen«, flüstert Jupp. Als Einziger am Tisch sieht er unglücklich aus. »Sie hat meine Mama als Letzte gesehen. Sie hat gemacht, was ich nicht konnte. Sie hat ihr geholfen. Das war gut von ihr. Auch wenn sie sonst böse war. Und dass sie Mama dann auch noch so schön gewaschen und hingelegt, ihr Blumen gebracht hat …«
»Holt jemand noch Kaffee?«, unterbricht ihn Gudrun, die jetzt auf keinen Fall eine ungemütliche oder traurige Stimmung aufkommen lassen will. Schon gar nicht, wenn ein so attraktiver Mann sie mit seinem Zahnpastalächeln voller Wohlwollen mustert und ihr zunickt. Vielleicht weint sie in der Stille ihres Kämmerleins Hans-Peter noch nach, aber das glaube ich nicht. Als Eifeler Stehauffrauchen hat sie gelernt, schon kurz nach Schicksalsschlägen so weiterzumachen, als hätte es nie eine Unterbrechung des Alltags gegeben, als wäre das Böse gar nicht erst in ihr Leben getreten. Das war im vergangenen Jahr genauso.
»Danke«, sagt David, als ihm Gudrun die Tasse vollschenkt. »Es ist sehr gemütlich bei euch. Ich fühle mich ganz zu Hause. Bis auf den Schnee ist es wie daheim in Texas!«
»Versteh ich«, sagt Hein. Er legt seine Füße in den grünen Schuhen neben die texanischen Stiefel zwischen die Kaffeetassen auf den Küchentisch und verkündet mit gewissem Stolz: »Die Eifel liegt schließlich auch im Wilden Westen!«