Siebtes Gericht

Überraschungsomelette

gefüllt mit schwarzen asiatischen Pilzen, umhüllt von Mandelkrokantmantel an Ahorn-Limonen-Konfitüre mit einem Hauch von Zitronengras

Aufgeregt zupfe ich Marcel am eleganten Ärmel.

»Aber ich möchte unbedingt mit ihr sprechen!«, entgegne ich und weigere mich, zu meinem Süppchen ins Hotel zurückzukehren.

»Bitte sehr«, sagt der Polizeiinspektor. Im schwachen Schein der Hofbeleuchtung glaube ich, ein süffisantes Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. »Aber da wirst du sehr, sehr lange warten können.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das verraten mir die neuen Erkenntnisse«, erwidert er. »Ach, Katja, ich habe dir noch viele interessante Dinge zu erzählen. Aber nicht hier draußen in der Kälte. Außerdem sehe ich, wie sehr dir die Füße in diesen mörderischen Schuhen jetzt schon wehtun.«

Was bleibt mir anderes übrig? Ich will endlich wissen, was mir Marcel so alles vorenthält. Aber auf das, was er mir dann erzählt, bin ich nicht im Geringsten vorbereitet.

»Sie will unbedingt eine Begegnung mit uns vermeiden«, beginnt er.

»Warum?«

»Erstens, weil ihr Herr Peters bestimmt gesagt hat, dass ich Polizist bin, und zweitens …«

»In Belgien!«, werfe ich ein.

»Herr Peters ist auch Belgier«, sagt Marcel.

»Und zweitens?«

»Weil sie dich kennt. Und sie betrachtet dich ganz bestimmt nicht als die alte Freundin, für die du dich Herrn Peters gegenüber ausgegeben hast. Sie weiß alles von dir, Katja, sogar mehr als ich.«

Das muss ich erst mal verdauen.

»Unmöglich«, sage ich.

»Wir haben den Computer und die schriftlichen Unterlagen von Herrn Eichhorn inzwischen ausgewertet; dankenswerterweise hat uns zudem die Berliner Polizei sehr zügig Amtshilfe gewährt.«

Marcel legt eine Pause ein, als die freundliche Kellnerin ihm den Hirsch und mir den Seeteufel serviert.

»Guten Appetit«, wünscht sie uns und will uns die jeweilige Weinbegleitung nachschenken.

»Ich muss noch fahren«, lehne ich ab.

»Und zwar noch ziemlich weit«, sagt Marcel vergnügt. »Da wartet dann im Kühlschrank eine feine Flasche französischen Weißweins auf dich. Du magst doch Chablis?«

Wieso nimmt er mit so großer Selbstverständlichkeit an, dass ich nachher noch einmal mit ihm ins belgische Doppelbett springen möchte? Wo er mich heute Morgen wieder mal wie eine Verbrecherin behandelt hat? Ich soll Herrn Eichhorn angerufen haben? Warum ist Marcel eigentlich nicht mehr auf diese perfide Unterstellung zurückgekommen? Wohl, weil er inzwischen neue Erkenntnisse hat, die mich entlasten, gebe ich mir selbst die Antwort.

»Vielen Dank für die Einladung«, sage ich mit aller Ironie, deren ich fähig bin, »die ich leider ablehnen muss, weil ich danach noch einmal eine ordentliche Strecke fahren werde. Sprich weiter!«, bedränge ich ihn, als die Kellnerin außer Hörweite ist.

Inzwischen hat sich der kleine Gastraum gefüllt. Marcel beugt sich auf seinem schmiedeeisernen Stuhl vor und sagt leise: »Frau von Krump-Kellenhusen hat Herrn Eichhorn vor sieben Jahren beauftragt, ihren Mann zu beschatten.«

»Vor sieben Jahren?«, frage ich entsetzt. »Aber da war ich doch noch mit …«

»Kannst du dich noch erinnern, wie sich dein Hans-Peter damals verhalten hat? Ob er sich vielleicht kurzzeitig von dir getrennt hat?«, unterbricht er mich.

Ich schüttele den Kopf. »Er hat sich nur einmal getrennt, damals, kurz bevor ich in die Eifel kam. Da wollte er seiner Frau alles beichten und zum anständigen Familienvater mutieren, hah!«

Marcel sagt nichts, sondern widmet sich ausgiebig seinem Essen. Sorgfältig schneidet er ein Stück Birne mit Holunderbeerengelee ab, spießt es zusammen mit einem Bissen des Hirschs auf eine Gabel und balanciert es zum Mund.

»Mmmh«, brummt er. »Schmeckt richtig köstlich. Die Belgier können kochen, habe ich dir doch gesagt.«

»Der Koch ist ein Schwabe«, gebe ich automatisch zurück, aber mit meinen Gedanken bin ich ganz woanders. Bei Gaby von Krump-Kellenhusen, die sieben Jahre lang von meiner Existenz gewusst, dies aber ihrem Mann offensichtlich vorenthalten hat. Sie hat unsere ganze Affäre einfach weiterlaufen lassen. Warum nur? Weil sie in mir keine Gefahr für ihre Ehe sah? Weil sie mir nicht zutraute, ihr den Mann gänzlich wegzunehmen? Weil sie vielleicht selbst eine Affäre hatte? Weil ich einfach nicht wichtig genug war?

Das ist sehr wenig schmeichelhaft und …

»… schon unendlich lange her«, beende ich den Gedanken laut, nachdem ich mir die geschmolzenen Tomaten auf der Zunge habe zergehen lassen. »Was hat das bloß mit den Sachen von heute zu tun, mit Herrn Eichhorn, Gabys Verschwinden und Wiederauftauchen, mit Hans-Peters Tod?«

»Die Dame hat Herrn Eichhorn wieder engagiert, noch in Berlin, vor etwa zwei Monaten.«

»Natürlich wieder wegen Hans-Peters ewiger Fremdgeherei«, sage ich nickend. »Der Mann konnte gar nicht anders. Damals gab es ganz bestimmt nicht nur mich.«

»Das weiß ich nicht, ich habe die alten Dossiers nicht gründlich studiert. Aber diesmal ging es nicht um eine Liebesgeschichte, sondern um die Stiftung seiner Ehefrau. Zum Schutz bedrohter Arten oder so ähnlich. Der liebende Gatte war Kassierer des Stiftungsrats. Er hat im Laufe der Jahre offensichtlich Summen in Millionenhöhe unterschlagen und in Luxemburg gebunkert. Dahinter ist Herr Eichhorn schon in Berlin gekommen.«

»Luxemburg liegt sehr nah«, sage ich, nachdem ich mich auch von der Idee verabschiedet habe, dass Hans-Peter meinetwegen auf der Kehr aufgetaucht ist. »Einmal durch Krewinkel, nach Sankt Vith und dann noch ein paar Kilometerchen.«

»Genau.«

»Vielleicht hat Herr Eichhorn die gestohlene Kohle in seinem Kofferraum gesucht«, überlege ich laut weiter, »weil Hans-Peter das Geld schon in Luxemburg abgehoben hat. Und vielleicht ist seine Frau …«

»… auch aus genau diesem Grund verschwunden«, fährt Marcel fort. »Um ihm die Gelegenheit zu geben, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, und ihn dann zu stellen. Um sich heimlich mit Holger Eichhorn zu treffen und mit ihm und seinen Informationen den Gatten hier in der Eifel zu überführen und die ganze Sache quasi im kleinen Familienkreis zu regeln. Tut keiner Stiftung gut, wenn ans Licht kommt, dass der Kassierer, noch dazu der Ehemann der Stiftungsgründerin, die Gelder veruntreut hat.«

»Aber er ist nie weggefahren, war immer bei Gudrun«, gebe ich zu bedenken.

»Weißt du das wirklich so genau? Vielleicht hat er Gudrun ja mitgeholt. Vielleicht hat sie das Geld abgehoben.«

Ich versuche, mir die letzten Gespräche mit Gudrun ins Gedächtnis zu rufen. Von Geld war da des Öfteren die Rede. Ihre Versicherung, Hans-Peter habe genug, für sich mit ihr in der Eifel niederzulassen. Aber eine Summe in Millionenhöhe? Hätte er sich da nicht eher für die Karibik entschieden oder zumindest für eine Gegend, in der die Sonne lange genug scheint, um Hautkrebs zu bekommen? Und so liebenswert und attraktiv Gudrun auch ist und wie sehr sie seinen Bedürfnissen auch entgegengekommen sein mag – wie lange hätte sie den Ansprüchen des reichen Mannes aus der Metropole genügt?

Ich schüttele den Kopf.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, beantworte ich Marcels Frage. »Das wäre mir aufgefallen. Dazu war die Zeit auch zu kurz. Und außerdem hat er sein Auto gar nicht bewegt. Das stand immer an der gleichen Stelle vor der Einkehr. Von der aus übrigens Herr Eichhorn angerufen wurde, wie du so freundlich warst, mir vorzuwerfen. Wahrscheinlich von Cora«, sage ich mit besonderer Betonung. »Die muss dann irgendwie mit Gaby zusammengearbeitet haben.«

»Ist eine Möglichkeit, die ich aktuell untersuche.«

»Mithilfe des Nationalregisters.«

»Unter anderem.«

»Finde ich schon heftig bei euch in Belgien. Dass man sogar sein Einkommen angeben muss!«

»Wir wollen eben niemanden in unser Land aufnehmen, der dem ÖSHZ, unserem öffentlichen Sozialhilfezentrum, zur Last fallen könnte«, bemerkt er gänzlich ungerührt. »Es gibt auch den umgekehrten Fall, wo sich jemand in Belgien anmeldet, aber aus irgendwelchen dubiosen Gründen, wie Steuerhinterziehung in Deutschland zum Beispiel, da nicht wirklich wohnt.«

»Und wie kommt ihr dahinter? Durch Befragung der Nachbarn?«

»Sicher. Aber hauptsächlich durch die niedrige Stromrechnung und im Winter auch durch fehlende Spuren im Schnee.«

Spuren im Schnee! Warum nur erinnert mich das an Asterix?

»Staatsschnüffler!«, halte ich ihm vor, was er achselzuckend und mit der Bemerkung: »Im Dienste aller Bürger, also auch in deinem« quittiert.

»Da bedanke ich mich doch herzlich.«

»Aber keine Angst, die Telefone werden nicht abgehört; sonst wüssten wir ja, wer Herrn Eichhorn aus dem Hotel Balter und aus deinem Restaurant angerufen hat.«

Ich verkneife mir die Bemerkung, die Überwachung durch den belgischen Staat dürfe sich wohl kaum auf zwei in Nordrhein-Westfalen stehende Gebäude erstrecken, und sage: »Wahrscheinlich war es in beiden Fällen Cora.«

»Wie hast du sie eigentlich kennengelernt? War das wirklich ganz zufällig?«

»Ja. Hat sie doch erzählt. Sie goss die Blumen vor dem schrecklichen Tor, und da fragte ich sie auf meinem Spaziergang, ob sie deine frühere Kneipe kennen würde.«

»Du und spazieren gehen«, sagt Marcel nachdenklich. »Das ist schon ein sehr seltsamer Zufall, aber egal, ich glaube, dass Frau von Krump-Kellenhusen vom Hotel Balter aus sogar höchstpersönlich angerufen haben könnte. Eine Frau, auf die ihre Beschreibung passt, soll sich um die Zeit für ein paar Stunden dort ein Zimmer geholt haben.«

»Seit wann ist das ehrenwerte Hotel Balter ein Stundenhotel?«

Marcel lacht. »Lass das bloß nicht den Hermann-Jupp Balter hören! Die Frau hat für eine Übernachtung bezahlt, aber das Hotel offenbar schon am Nachmittag wieder verlassen.«

»In Deutschland muss man im Hotel einen Personalausweis vorlegen.«

»Das wollte sie am Abend tun, da war sie aber schon weg.«

»Passt. Vielleicht hat sie sich mit Cora im Hotel getroffen und ihr dort Anweisungen gegeben. Wieso hat man dir als belgischem Polizeibeamten bei Balter überhaupt Auskunft gegeben?«

»Weil man mich dort kennt. Das Haus steht ja fast auf belgischem Boden, die Grenze macht nur einen Schlenker haarscharf um das Gebäude herum.«

»Nur um das Hotel?«, frage ich ungläubig.

Marcel nickt.

»Wie kann das denn sein?«

»Ganz einfach, als die Bewohner von Losheim vor genau fünfzig Jahren gefragt wurden, ob sie Belgier oder Deutsche sein wollten, hat sich Balters Mutter für Deutschland entschieden, und daraufhin hat man die Grenze eben hinter ihrem Haus gezogen.«

»Und die Nachbarn?«

»Gab es damals ebenso wenig wie heute. Der Supermarkt und die Krippana sind erst später gebaut worden; die gehören zu Belgien.«

»Wünschen Sie ein Dessert?«, fragt die Kellnerin und räumt unsere leer gegessenen Teller ab.

»Nein danke«, antwortet Marcel.

»Ja, gern«, sage ich. Gaby von Krump-Kellenhusen wird mit ihren geschundenen Füßen ja nicht ewig durch die kalte Eifeler Oktobernacht stromern. Je länger wir im Burghaus bleiben, desto größer ist die Chance, ihr doch noch zu begegnen. Was ich unbedingt will.

»Könnten Sie mir das Mandelkrokantröllchen mit Quark-Limonen-Mousse im Kaminzimmer servieren?«, frage ich bittend. Strategisch platziert, können wir dort bei offener Tür jeden observieren, der ins Hotel kommt.

»Das wird nicht klappen«, sagt Marcel, der meine Absicht natürlich durchschaut hat.

»Doch, doch, das klappt schon«, entgegnet die Kellnerin beflissen.

 

Es klappt nicht. Wahrscheinlich kennt die Dame meinen alten Wagen, auch wenn der jetzt ein belgisches Kennzeichen trägt. Offenbar weiß sie ja alles von mir. Irgendwann gebe ich zu Marcels Erleichterung auf. Weil ich ihm das Rechthaben nicht gönne, bleibe ich den ersten Teil der Rückfahrt über stumm. Er versucht gar nicht erst, Konversation zu machen, und hängt seinen eigenen belgischen Gedanken nach. Ich mache erst den Mund wieder auf, als wir am Schild, das gegenüber dem Hotel Balter den Grenzübertritt angibt, in Belgien einfahren:

»Wann rechnest du eigentlich mit Hans-Peters Obduktionsergebnis?«

»Morgen«, erwidert er. »Wie auch mit dem von Holger Eichhorn.«

»Das hättest du wahrscheinlich viel schneller, wenn du nicht nur Polizeiinspektor wärst«, sage ich bissig.

»Glaube ich nicht«, erwidert er mit seiner üblichen unerträglichen Gelassenheit. »Außerdem möchte ich gar nicht befördert werden.«

»Hah! Saure Trauben!«

»Keinesfalls. Mir gefallen der blaue Streifen und die beiden Sterne; als Hauptinspektor hätte ich einen orangefarbenen Streifen und zwei Kronen und wäre bei der föderalen Polizei.«

»Doch auch hübsch.«

»Wenn du meinst. Ich habe jedenfalls keine Lust, meine Beförderung zu beantragen.«

»Beantragen?«

Marcel stößt einen tiefen Seufzer aus, als ich gemütlich durch Manderfeld zuckele.

»Mir tun die deutschen Kollegen leid«, sagt er, »da hackt eine Krähe der anderen die Augen aus, für nach oben zu kommen. Keiner vertraut keinem. So was gibt es bei uns nicht. Man kriegt hier nicht aus Altersgründen oder zur Belohnung einen besseren Posten. Es kann höchstens mal vorkommen, dass jemand aus Inkompetenz nach oben befördert wird, damit er aus der Schusslinie der Bürgernähe verschwindet. Du magst dich über diesen polizeilichen Auftrag gern lustig machen, aber wir Belgier nehmen ihn sehr ernst.«

Ich erfahre, dass sich ein belgischer Polizeiinspektor nach sechs Jahren Dienst selbst um eine Beförderung bewerben kann. Nach einer Aufnahmeprüfung und einem achtmonatigen Unterricht ist er Hauptinspektor. Besondere Verdienste sind dafür nicht erforderlich, die werden auf seinem Personalbogen erwähnt.

Jeder hat also die gleiche Chance, und es liegt an ihm, ob er sie nutzen will. Eigentlich ganz fair, denke ich, aber da wir uns allmählich Marcels Haus nähern, möchte ich keine freundliche Bemerkung äußern.

»So hübsch wie das malerische Kronenburg sieht euer Sankt Vith aber bei Weitem nicht aus«, sage ich, als wir die Hauptstraße mit ihren nicht sehr phantasievollen Neubauten entlangfahren. Am abwechslungsreichsten finde ich noch das verschiedenfarbige Straßenpflaster.

»Fahr am Rand an«, beordert mich Marcel auf Eifelerisch an den Bordstein.

»War nicht bös gemeint«, murmele ich, beuge mich aber der Autorität der Polizistenstimme. Wenn er die letzten Meter zu Fuß gehen möchte, bitte schön. Dann wird es vor der Haustür zu keiner Übernachtungsdiskussion kommen. Die mich ohnehin nicht umstimmen könnte. Wunder gibt es, einem Schlager zufolge, zwar immer wieder, aber ich glaube kaum, dass wir in unserer momentanen Stimmung den Zauber der vergangenen Nacht noch einmal heraufbeschwören können.

Aber nicht nur deswegen möchte ich heute Nacht unbedingt nach Hause fahren. Ich habe mir vorgenommen, morgen in aller Herrgottsfrühe im Burghaus Kronenburg aufzutauchen und Gaby von Krump-Kellenhusen aufzulauern. Ich habe noch längst nicht alles von ihr, was ich brauche, was immer Marcel mit dem Spruch vorhin gemeint haben könnte. Und nachdem diese Dame angeblich alles von mir weiß, möchte sie mich vielleicht ja auch live und in Farbe kennenlernen. Für eine derartige Konfrontation muss ich ausgeschlafen sein und vor allem gut aussehen. Und außerdem kann ich nicht erwarten, dass sich Gudrun andauernd um Linus kümmert.

»Bitte steig auch aus«, fordert mich Marcel auf, als der Wagen am Straßenrand zum Stehen kommt.

»Warum?«

»Ich möchte dir etwas zeigen.«

Kaum stehe ich neben ihm, greift er nach meiner Hand, als wären wir die besten aller Freunde. Mit der anderen Hand deutet er nach vorn auf ein von Efeu überwuchertes hohes rundes Bauwerk.

»Siehst du diesen Turm, Katja? Der stammt aus dem 14. Jahrhundert.«

»Wie sicherlich so manches in dieser Gegend«, gebe ich nicht sonderlich beeindruckt zurück und verkneife mir den Hinweis auf die vielen historischen Bauten Berlins.

»Nicht in Sankt Vith. Nur der Büchelturm, ein früherer Pulverturm, hat die Ardennenoffensive, die übrigens auch hier begonnen hat, einigermaßen unbeschädigt überstanden«, erwidert Marcel leise. »An Weihnachten 1944 fielen so viele Bomben auf Sankt Vith, dass ansonsten kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Alles lag in Schutt und Asche, und es gab viele Tote. Nach dem Krieg fehlte das Geld, für die Stadt wieder im alten Stil aufzubauen. Deshalb sieht sie bei Weitem nicht so malerisch aus wie Kronenburg, das von Bombenangriffen verschont geblieben ist. Tut mir leid, Katja.«

»Wieder wir Deutschen«, flüstere ich schuldbewusst zurück.

»Ja«, sagt Marcel, »auch wenn die Alliierten die Bomben geworfen haben. Weil Hitler uns vier Jahre zuvor heim ins Reich geführt hat.«

»Habt ihr denn früher auch schon mal zu Deutschland gehört?«, frage ich überrascht.

»Zu Preußen«, antwortet Marcel, »davor zum Herzogtum Luxemburg, und noch früher waren wir Österreicher. Aber mehr als hundert Jahre lang machten wir einen Teil der Preußischen Rheinprovinz aus. Das hat der Wiener Kongress damals entschieden. Was die Bevölkerung wollte, war wie immer kein Thema. Preußisch-Sibirien nannte man unser Gebiet, und uns hielt man für rückständige Einödbauern, auf die man keine Rücksicht nehmen musste. Belgier wurden wir erst Mitte der Zwanzigerjahre.«

»Bis Hitler kam«, murmele ich.

»Und uns nahm. Mehr als nur die Würde. Mein Großvater …«

»… der Viehhändler?«

»… wurde von der deutschen Wehrmacht eingezogen. Was ihm nach Kriegsende als Verbrechen gegen den belgischen Staat angelastet wurde. Er war zweimal im Gefängnis. Erst, weil er sich geweigert hat, eine Wehrmachtsuniform anzuziehen, und dann, weil er sie getragen hat.«

Marcel sieht mich von der Seite an und setzt leise hinzu: »Leicht ist es für uns Deutschsprachige in Belgien immer noch nicht. Manche Wallonen nennen uns sales boches – dreckige Deutsche, und unser Gebiet cantons périmés – zurückgebliebene Kantone. Und es gibt sogar Belgier, die keine Ahnung haben, dass innerhalb ihrer Landesgrenzen eine deutschsprachige Minderheit lebt. Was meinst du, wie oft ich in der Wallonie oder Flandern meinen Ausweis herzeigen muss, um zu beweisen, dass ich kein Deutscher bin.«

Bedrückt betrachte ich das Wahrzeichen der kleinen Stadt Sankt Vith, auf dessen Spitze der Oktoberwind heftig am Stadtbanner zerrt, das, wie mir Marcel erklärt, den luxemburgischen Löwen zeigt. Kriegswunden, das hatte ich schon gleich nach meiner Ankunft in der Eifel erfahren, sind hier noch allerorten sichtbar, an Menschen, Gebäuden und in der Landschaft. Ich erschauere.

»Hast du kalt?«, fragt der Belgier besorgt.

Ich schlinge meinen freien Arm um Marcel, drücke ihn an mich und gebe ihm einen Schmatz auf die Wange.

»Wiedergutmachungskuss, Katja?« Er legt seine Arme um mich, soweit es eben geht. »Das kannst du doch viel besser!«

Im Nachtschatten des Sankt Vither Wahrzeichens zeige ich ihm, wie recht er hat. Und wie gern ich das Schnabulieren unter einem Dach in der Nähe fortsetzen würde. Aber daraus wird nichts.

»Von hier aus gehe ich zu Fuß«, sagt Marcel, als wir uns voneinander lösen. »Du wolltest doch eh gleich wieder zurück auf die Kehr.«

»Na ja«, flüstere ich zögernd, nur allzu bereit, ihn vor seine Haustür zu fahren, mit ihm auszusteigen und im eichenen Inneren seines Nachkriegshauses abzutauchen.

»Ist schon in Ordnung«, versichert Marcel, als hätte ich ihn zurückgewiesen, »ich muss morgen sehr früh raus. Und habe einen besonders anstrengenden Tag vor mir. Guten Heimritt, meine Katja.«

Er küsst mich hart auf die Lippen.

»Keine Dummheiten! Versprochen?«

Ich murmele irgendetwas und komme mir sehr einsam vor, als ich in mein Auto steige.

 

Sehr früh am nächsten Morgen

Ist es eine Dummheit, Gaby von Krump-Kellenhusen in Kronenburg aufzusuchen? Unsinn, es steht jedem frei, im Burghaus zu frühstücken. Und wenn sie mich erkennt, haut sie wieder ab, überlege ich, während ich Linus seine Brocken hinstelle.

Ich kann mich ja auch zivilisiert bei ihr anmelden. Also greife ich zum Telefon. Das Herz klopft mir bis zum Hals, als mir eine freundliche weibliche Stimme einen »Guten Morgen« wünscht.

»Hier Klein. Bitte verbinden Sie mich mit Frau von Krump-Kellenhusen.«

»Einen Augenblick, Frau Klein.«

Mit wackligen Knien setze ich mich auf den breiten Eichenholzhocker in meinem belgischen Flur.

»Ja?«, haucht eine verschlafene Stimme.

»Guten Morgen, Frau von Krump-Kellenhusen. Ich bin Katja Klein und möchte Ihnen mein Beileid aussprechen …«

Kurze Pause.

»Danke, gleichfalls.« Leichte Schärfe schwingt in der immer noch sanften Stimme mit. »Ich weiß, wer Sie sind. Was wollen Sie?«

»Mit Ihnen sprechen.«

»Ich aber nicht mit Ihnen. Guten T…«

»Ich soll Sie von Ihrer Freundin Cora grüßen«, sage ich hastig, bevor sie auflegen kann.

»Wie bitte?«

»Cora«, sage ich eindringlich.

Die Pause ist so lang, dass ich schon befürchte, die Verbindung sei abgebrochen. Schließlich kommt ein Geräusch, einem Seufzer nicht unähnlich, und die gehauchte Frage: »Was ist mit Cora?«

»Ich weiß, wo sie ist«, lüge ich.

»Tatsächlich?«

»Kein Zweifel.«

»Und was wissen Sie noch?«

»Fast alles«, sage ich. »Und das hat relativ wenig mit Ihrem verstorbenen Mann und den verschwundenen Stiftungsgeldern zu tun.«

»Das wissen Sie also auch?«

»Ich sagte Ihnen ja, dass ich fast alles weiß.«

Keine Ahnung, wie ich aus dieser Nummer herauskommen soll, wenn sie mir gegenübersteht. Irgendetwas wird mir schon einfallen.

»Nur das Warum, das weiß ich nicht«, setze ich hinzu, weil mir kein anderer Grund mehr einfällt, sie zu treffen. Sie geht prompt darauf ein.

»Und weil Sie das Warum auch wissen wollen, weil Sie gar nicht genug wissen können, wecken Sie mich in aller Frühe und gehen mir auf die Nerven?«, bemerkt sie melodisch. Eindrucksvoll, wie diese Frau selbst in ihrer Empörung die Contenance wahrt.

»Ich dachte, die seltsame Geschichte mit Ihrer Freundin …«, ich betone das letzte Wort überdeutlich, »… Cora würde Sie vielleicht interessieren.«

»Tut es nicht«, zischt sie und legt auf.

Ich schlage mit der Faust gegen die Wand. Irgendwo rieselt es. Wahrscheinlich überall. Ist aber nur der Putz; die belgische Bruchsteinmauer wird schon nicht zusammenkrachen.

Warum nur habe ich es auf die höfliche Tour versucht? Ich hätte hinfahren und sie abfangen müssen, ihr so auflauern, dass sie mir nicht entkommen wäre. Kann ich ja immer noch tun. Aber dafür muss ich mich erst stärken.

Als ich zur Einkehr hinüberstiefele, fällt mir auf, dass Hans-Peters Auto verschwunden ist. Klar, hat die Dame abgeholt, als ich mit Marcel in Kronenburg auf sie gewartet habe. Für ihn war der Ausflug offensichtlich erfolgreicher als für mich. Ich habe jetzt alles, was ich von ihr brauche. Was braucht er von ihr, und wie hat er es bekommen? Am ärgerlichsten aber ist, dass er es nicht für nötig befindet, mich darüber aufzuklären.

Gudrun ist zwar immer noch blass, aber erstaunlicherweise besserer Laune als ich.

»Krach mit Marcel?«, fragt sie mitfühlend, als ich in die Küche schlurfe.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Nun«, sie zögert leicht, »vorgestern Nacht warst du doch bei ihm, stimmt’s?«

Ich antworte nicht, also fährt sie fort: »Wo solltest du sonst sein? Versteh mich nicht falsch, ich finde das richtig gut. Endlich. Wurde ja auch Zeit mit euch. Aber gestern Abend gehst du mit ihm toll essen, kommst mitten in der Nacht allein zurück und knallst die Autotür so laut zu, dass ich fast aus dem Bett falle.«

»Dein Schlafzimmer geht nach hinten raus.«

»Gut, ich war noch nicht im Bett.«

»Hast du nichts Besseres zu tun, als mir hinterherzuspionieren?«

»Entschuldige, ich habe geputzt.«

»Was denn jetzt noch?«

»Hans-Peters Auto.«

Ich lasse mich auf einen Küchenstuhl fallen.

»Wieso? Das ist doch weg!«

»Die Frau ist gestern Nacht kurz vor dir gekommen und hat es mitgeholt.«

»Was, Gaby von Krump-Kellenhusen war hier?!«

Gudrun nickt. »Ist mit Dianas Taxi aus Kronenburg gekommen. Ich habe mit ihr gesprochen und ihr die Autoschlüssel ausgehändigt. Sie hat nach dir gefragt, aber du warst ja nicht da.«

»Und wie ist sie so?«, frage ich leichthin, während ich bedenke, dass sie wohl nur nach mir gefragt haben wird, um mir zu entgehen. Und dass ich schon wieder zur falschen Zeit am falschen Ort war. Gudrun hebt die Schultern.

»Groß. Schön, aber unheimlich geschminkt. Genau wie auf dem Foto. Sehr elegant. Schon die Bewegungen.« Gudrun spreizt die Arme ab und tänzelt in ihrem schwarzen Kleid durch die Küche. »Großstadt eben. Ich habe nur ganz kurz mit ihr auf der Tür gestanden. Sie hat böse Augen, das konnte ich sogar in dem schlechten Licht draußen sehen.«

»In dem du immerhin Hans-Peters Auto gewienert hast. Und sie muss ja böse Augen haben. Weil sie Hans-Peter umgebracht hat«, sage ich und überlege, ob ich mir zum Frühstück ein Omelette mit schwarzen chinesischen Pilzen und Ahorn-Limonen-Konfitüre auf Quark zubereiten soll.

»Genau. Das habe ich ihr auch gesagt.«

Ich vergesse augenblicklich das Omelette und setze mich auf.

»Was hast du ihr gesagt?«

»Dass sie den armen Mann in den Tod getrieben hat.«

»Und wie hat sie darauf reagiert?«

»Sie hat gelacht. Gelacht! In ihrem hellen Mantel!«

Ich mühe mich, ernst zu bleiben, und sage: »Gudrun, wenn sie gewusst hätte, dass sie im Urlaub ihren Mann umbringen würde, hätte sie bestimmt einen schwarzen Mantel mitgenommen.«

Mantel. Mandelkrokantmantel. Ist ein Zungenbrecher der Bestellung förderlich oder eher abträglich? Nun, darüber kann ich mir auch in einem halben Jahr noch Gedanken machen. Wenn ich die Einkehr zur Frühlingssaison eröffne. Bis dahin hält mich mein Erbe noch über Wasser.

Ich stehe auf und durchwühle den Vorratsschrank, bis ich die Tüte mit getrockneten schwarzen asiatischen Pilzen finde. Die sich in vietnamesischem Fischsud zu ihrer vollen Größe aufblähen, während ich Mandelsplitter anröste. Beim Kochen sind Geist und Hände angenehm beschäftigt, und doch schleichen sich beim Schlagen der Eier omelettefremde Gedanken in meinen Kopf. Zum Takt des Schneebesens fasse ich sie zusammen:

Hans-Peter klaut Stiftungsgelder. Schafft sie nach Luxemburg. Frau kommt dahinter. Muss alles diskret regeln. Engagiert Eichhorn. Sucht nach passendem Urlaubsort. In Geldnähe. Mit Mopsfledermäusen und einer Exgeliebten. Verschwindet nach Streit. Gibt Mann Gelegenheit, Exgeliebte aufzusuchen und Geld abzuholen. Ruft Eichhorn an. Der soll ihn erwischen. Kontaktiert Freundin Cora. Die soll sich bei mir umsehen. Die ruft Eichhorn von der Einkehr aus an. Gleich drauf stirbt der Mann. Vor dem Haus, in dem Cora wohnt. Nicht wohnt. Zugvogelmäßig reingeflattert ist. Frau muss wieder auftauchen. Will Mann jetzt allein stellen. Der ist inzwischen auch tot. Freundin Cora setzt sich ab. Vielleicht mit dem Geld?

Wütend werfe ich den Schneebesen in den Spülstein. Zu viele offene Fragen. Auf einige hat Marcel bestimmt schon Antworten. Ich überprüfe den Ladezustand meines Handys und stecke es mir in die Hosentasche. Vielleicht ist der belgische Polizeiinspektor ja heute so freundlich, für mich etwas Licht ins Dunkel zu bringen.

 

Zwei Stunden später

In meiner Kindheit gab es Partykeller. Ich bin nie dahintergekommen, was sich unter den Häusern damals alles abgespielt haben mag, habe mir aber dazu schon meine Gedanken gemacht. Da wurden natürlich verbotene Früchte genascht. Warum sonst sollte man sich in muffige Tiefen begeben?

In der Eifel wird offen gesoffen, die brauchte dafür keine dekorierten Kerker, denke ich, als ich den von Gudrun ganz geleerten und von Jupp wieder halb gefüllten Kellerraum betrachte. Hier hat es bestimmt nie eine Bar mit schummriger Beleuchtung, Zinnkrügen auf dunkel gebeizten Regalen und Sinnsprüchen an den Wänden gegeben. Der Eifeler benötigte seinen Keller für Kohlen und Holz, zum Lagern von Kartoffeln und von den kargen Früchten, die das Land hergibt. Hier wurde die eingekochte Marmelade in Gläsern aufgereiht, im Fall von Heins Mutter auch massenweise leere Joghurtbecher für den Notfall, und vielleicht wurde auch mal die Wurst von der Wildschlachtung im Dunkel aufgehängt. Aber das, was ich in dem kleinen Nebenraum entdecke, der früher als Kohlenkeller gedient haben mag, gehört nicht in einen anständigen Eifeler Keller.

Fassungslos blicke ich auf den halb gefüllten blauen Müllsack, der unter irgendein Holzgestell geschoben worden ist, als hätte jemand vor langer Zeit nur mal eben etwas Bauschutt zwischenlagern wollen. Ich kenne den Sack. Brauche gar nicht hineinzublicken.

Schluss! Jetzt gibt es keine Diskussionen mehr, jetzt wird vernichtet. Mein ganzer Frust über Gaby von Krump-Kellenhusens Abfuhr entlädt sich in der Wut über Heins Unverfrorenheit. Feuer! Ich werde den Schlaf fördernden unseligen Cannabishaufen in die ewigen Jagdgründe senden, wo sich die versunkenen Volksstämme, die uns mit der ganzen elenden Qualmerei die Syphilis heimgezahlt haben, daran berauschen dürfen.

Aber erst muss Gudrun aus dem Haus. Ich eile wieder nach oben.

»Was macht eigentlich Vinzenz?«, frage ich.

»Dem geht es richtig gut!«, strahlt Gudrun. »Schade, dass er nicht für immer bei Anneliese bleiben kann. Die kümmert sich toll um ihn, obwohl sie dauernd die vielen Enkel da hat. Aber es wird ihr nie zu viel. Sie lacht über alles. Nur, als Mika Charlotte, Jacqueline und Carolin gestern ihren Zimmerspringbrunnen mit Cola gefüllt und mit Strohhalmen ausgetrunken haben, da war sie ganz besorgt.«

»Warum, das hat doch sicher geschmeckt«, sage ich und überlege, ob ich Gudrun zum Kauf eines Zimmerspringbrunnens nach Prüm schicken soll.

»Weil der doch so staubig war, hat sie gesagt, und Angst gehabt, dass die sich was einfangen. Weil da vielleicht Insekten drin waren.«

»Staubig? Bei einer Eifelerin?«

»Kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber sie ist sehr pingelig. Bei ihr habe ich das Putzen gelernt. Das Organisieren. Alles, was ich auch hier mache. Den ganzen Haushalt. Du weißt ja, ich hatte nie eine Mutter. Und das Backen.«

»Donauwelle«, sage ich mit ehrlicher Anerkennung und bitte sie, wenn sie denn Zeit habe, mir in Prüm für mein Restaurant einen attraktiven Zimmerspringbrunnen zu besorgen.

Was sie sehr gern tue, sagt sie, so etwas habe sie sich für unser Unternehmen auch schon vorgestellt.

Als sie in ihren Wagen gestiegen ist, hole ich den blauen Müllsack und trage ihn aus dem deutschen Keller über die Straße in mein belgisches Haus. Wegen des fürchterlichen Gestanks, der möglicherweise noch tagelang im Raum hängen könnte, entscheide ich mich dagegen, meinen kleinen Kaminofen im Wohnzimmer mit Heins Ernte zu füttern. Also schaffe ich das Zeug in das winzige frühere Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses, das mir immer noch als Rumpelkammer dient. Ein stockdunkler Raum, da ich den daran angebauten Trockenblumenschuppen, der das einzige Fenster verdeckt, leider immer noch nicht abgerissen habe. Wird höchste Zeit. Nicht, dass da noch ein kleines Chemielabor eingerichtet wird!

Den kleinen Kamin neben dem zugemauerten Fenster habe ich natürlich noch nie benutzt, aber Jupp hat mir im letzten Winter versichert, dass der Schornstein durchaus in Ordnung sei. Mit Anmachholz und Zeitungspapier baue ich einen kleinen Feuerstapel und schütte einen Teil aus dem Müllsack einfach obendrauf. Nur weg damit! Als ich das Streichholz an das Zeitungspapier halte, beginnt es sofort zu brennen. Holz und Hanf zeigen sich davon allerdings wenig beeindruckt und geben dies mit ausgeprägter Rauchentwicklung zu erkennen. Vom Feuer ist sehr schnell nichts mehr zu sehen. Ich beuge mich herunter und will gerade den Schürhaken betätigen, als sich ein riesiges schwarzes Gespenst aus dem Kamin herausquetscht, um mich herumwabert und in Sekundenschnelle das winzige Zimmer einnebelt. Tränen treten mir in die Augen. Beißender Qualm nistet sich in meinen Lungen ein, die sich sofort mit heftigem Husten rächen. So schnell kann ich keinen Eimer Wasser holen. In meiner Verzweiflung greife ich mit beiden Händen in den Müllsack, ziehe den restlichen Hanf heraus und exorziere den im Kamin verbliebenen Teil des Gespensts durch einfaches Ersticken mit Marihuanamengen. Ich wage es nicht, die Zimmertür zu öffnen und den scharfen Cannabisgeruch in den Flur und von da aus nach draußen zu befördern. Könnte ja sein, dass Marcel plötzlich vor meinem Haus steht. Also verlasse ich fluchtartig den Raum, werfe hinter mir die Tür zu und sperre den Geruch ein.

Im Badezimmer reiße ich mir die stinkende Kleidung vom Leib und stelle mich unter die Dusche. Als ich wenig später neu eingekleidet in das Arbeitszimmer zurückkomme, hat sich der Rauch verzogen. Ich sehe im Kamin nach und bin entsetzt, wie wenig das Feuer dem größten Teil von Heins Ernte hat anhaben können. Ich überlege, das ganze Elend durchs Klo zu spülen. Was aber, wenn es mir die Rohre verstopft, wie das Wattestäbchen vor einem Monat? Da hätte ich dem Klempner aus Roth aber einiges zu erklären. Unmengen von Salat kann man auch nicht ungestraft der Kanalisation übergeben, die kommen immer wieder hoch, wie ich in Berlin einmal erleben durfte. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als mir die Hände im Kamin schmutzig zu machen und den Müll auf übliche Eifeler Art loszuwerden. Ich schaufele ihn also in einen Eimer.

Am Ende meines nachbarlosen Grundstücks errichte ich mit Reisig und Holz einen größeren Feuerstapel und stopfe angekokelte und frische Hanfteile in die Freiräume des aufgeschichteten Brennmaterials. Diesmal halte ich das Streichholz an den kleinen weißen Quader, den Gudrun für das Entfachen eines ordentlichen Feuers für ebenso unerlässlich erachtet wie ich nach meinem Abenteuer im Arbeitszimmer jetzt auch. Es knistert und flackert. Dann steigt eine kleine Stichflamme empor, und bald brennt alles, wie es soll. So wie das Eifeler Burgfeuer am Burgsonntag, das dem Winter den Garaus macht. Endlich bin ich eine Sorge los.

»Was tust du denn da?«

Hein taucht neben mir auf und starrt fassungslos auf das ordentliche Inferno, dem jetzt unverkennbare Dämpfe entsteigen. Besorgt sehe ich die Rauchfahne nach Osten treiben, nach Deutschland. Da wohnen mehr Leute. Die sich über spezifische Geruchsbelästigung beschweren könnten. Bis die aber die deutsche Polizei informiert und diese die belgischen Kollegen um Amtshilfe gebeten haben, wird von dem verbotenen Stoff nur noch ein unschuldiges Häufchen Asche übrig sein. Es spricht schon einiges für ein Haus am Grenzstreifen.

Hein rüttelt mich am Arm.

»Was glaubst du, was du da tust!«

»Euros verbrennen?«, schlage ich vor.

»Ich habe damit doch nicht gehandelt!«

»So viel für den Eigenbedarf?«

»Damit war ich für Jahre versorgt!«

Ich hole tief Luft. Hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Mir wird noch schwummeriger, als mir ohnehin schon ist.

Ich nehme Heins Arm weg und trete einen Schritt zurück.

»Jetzt muss ich wieder illegal werden«, kommt eine vorwurfsvoll klagende Stimme.

»Mir lieber, als durch dich selbst illegal zu werden! Dieses dämliche Zeug hat mich sowieso schon in Teufels Küche gebracht.«

Genauer gesagt, in seinen Meditationsraum. Aber das behalte ich für mich.

»Das hast du schon mal angedeutet«, sagt Hein beunruhigt. »Und dass es weg war. Steckte Marcel dahinter? Hat er es etwa gefunden?«

Ich werfe noch etwas Reisig ins Feuer, lache grimmig in mich hinein und genieße kurz den Informationsvorsprung vor dem Herrn in Belgien. Er mag die Sekte zwar des Marihuanakonsums verdächtigen, hat aber im Gegensatz zu mir keine Ahnung, wo das Zeug herkommt. Was mir für die aktuelle Lage aber auch keine Antworten verschafft. Höchstens die, dass Cora offensichtlich nicht nur in der Einkehr herumgeschnüffelt hat. Ansonsten hat Heins Hanfernte nicht das Geringste mit unserem Fall zu tun.

Oder vielleicht doch? Ich bin die zyklische Kreisbewegung meiner Gedanken satt. Wie auf einer Rennbahn landen sie immer da, wo ich losgefahren bin. Bringt mich nicht weiter. Das könnte vielleicht ein unverbauter Blick bewerkstelligen. Hein hat am allerwenigsten mit der ganzen restlichen Geschichte zu tun.

»Marcel weiß zum Glück überhaupt nichts davon«, sage ich mit gewisser Genugtuung. »Aber er weiß eine Menge anderer Dinge, die er mir nicht erzählt. Du bist doch auch dauernd hier, Hein, vielleicht hast du ja etwas Relevantes beobachtet.«

Und dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte inklusive sämtlicher Ideen. Ich lasse auch nicht Gudruns vernagelte Vorstellung aus, Gaby habe Hans-Peter ermordet.

Hein wiegt das Haupt.

»Wenn sie an das Geld schon rangekommen ist, hat sie das vielleicht aus Rache getan.«

»Während sie sich im Hohen Venn Blasen lief?«, gebe ich zu bedenken.

»Habt ihr nachgeprüft, ob sie wirklich da war?«

»Das hat Marcel bestimmt getan. Aber wie üblich lässt er mich an seinen Erkenntnissen nicht teilhaben.« Ich schüttele den Kopf. »Wenn es hauptsächlich darum ging, wegen der Stiftungsgelder kein Aufheben in Berlin zu machen und alles still klammheimlich hier in der Eifel abzuhandeln, dann ergibt es doch keinen Sinn, den Mann zu ermorden! Das ist mindestens eine Nummer spektakulärer. Außerdem war es wahrscheinlich kein Mord. Die pure Erschöpfung hat den Mann hingerafft.«

»Gudrun und die Sauna.«

»Wir sollten darüber nicht lachen.«

Aber wir können gar nicht anders.

Hein konnte auch nichts Erhellendes beitragen. Nur neue Theorien entwickeln. Natürlich ist er davon überzeugt, dass Gaby ein lesbisches Verhältnis mit Cora verbinde und es Hans-Peters Frau deswegen in die Eifel verschlagen habe. Wie so viele Schwule seines Alters fände er es großartig, wenn die ganze Welt homosexuell wäre und es nur vereinzelte exotische Heten gäbe, die fleißig für die Erhaltung der Art und für Nachschub sorgten. »Vielleicht fand sie es praktisch, dass sich ihr Mann mit dir vergnügen und sie ihre eigenen Wege gehen konnte.«

»Er hat sich nicht mit mir vergnügt.«

»Tut dir das leid?«

»Wahrscheinlich habe ich ihn deswegen umgebracht. Weil er Gudrun mir vorgezogen hat.«

»Wäre eines der klassischen fünf Mordmotive. Eifersucht.«

»Und die anderen vier?«

»Habgier, Rache, Stolz und religiöser Wahn.«

»Gehören die nicht alle zu den sieben Todsünden?«

»Religiöser Wahn nicht«, antwortet der Eifeler Katholik.

Ich überlege, dass bis auf den religiösen Wahn alles auf Gaby zutreffen könnte. Wobei es dann um eine Art altruistischer Habgier gegangen wäre, nämlich um die Mittel für den Schutz bedrohter Arten zu retten. Oder um Hans-Peters Habgier. Die das Geld diesen Arten nicht gegönnt hat.

»Wie schätzt du Cora ein?«, frage ich und setze schnell hinzu: »Natürlich davon abgesehen, dass sie lesbisch ist.«

Hein lächelt.

»Entschuldigung«, sagt er, »Ich kenne sie doch nur aus euren Erzählungen. Als real existierenden Menschen gibt es sie für mich gar nicht.«

Das haut mich um. Aber er hat recht. Sie hat sich nie zur gleichen Zeit wie Hein oder Jupp in meinem Restaurant aufgehalten. Und war da auch nie Hans-Peter begegnet. Wobei das in der ersten Nacht in meiner Küche durchaus hätte geschehen können. Da befanden sich die beiden unter demselben Dach – als Hans-Peter in Heins einstigem Kinderzimmer Gudruns Charme erlegen war.

Ich glaube, ich habe schon erwähnt, wie dünn besiedelt unsere Gegend ist. Aus irgendeinem Grund war ich seit meiner Begegnung mit Cora davon ausgegangen, dass sie schon Ewigkeiten hier wohnt und selbstverständlich auch meine Freunde kennen würde.

Ein Satz von Marcel hallt in meinem Kopf nach; ob meine Begegnung mit Cora wirklich so ganz zufällig gewesen sei.

Das war sie nicht, fällt mir jetzt ein. Wie einem das Gedächtnis doch Streiche spielen kann! Am Abend vor meinem Spaziergang hatte mich eine Touristin auf einem roten Rennrad um eine Wegbeschreibung nach Krewinkel gebeten; dort solle es ein künstlerisch wertvolles Eingangstor geben. Wahrscheinlich habe ich mir darunter irgendein schmiedeeisernes Werk vorgestellt. »Das kennen Sie nicht? Wo es in dieser Gegend doch so wenige Sehenswürdigkeiten gibt! Sollten Sie sich unbedingt ansehen, bevor es abgerissen wird!«

Meine Güte, es ist tatsächlich abgerissen worden! Nach dem Unfall von und durch Herrn Eichhorn. Das kann doch nicht alles geplant gewesen sein! Da hätten ja übersinnliche Kräfte am Werk gewesen sein müssen – und zudem die Überzeugung, mich wie einen Pawlowschen Hund dressieren zu können! Was hatte mir Victor bei jenem ersten Besuch noch gesagt, als ich seine Pendelei mit wohlwollender Skepsis kommentierte: »Unsere Bewegungsmöglichkeiten als Mensch sind bedauerlicherweise sehr eingeschränkt.«

Ganz recht. Die Touristin auf dem roten Rennrad hat mich in Bewegung gesetzt.

Ich kann mich nicht entsinnen, ob diese Frau nun einen schwarzen Punkt auf der Nase gehabt hat, wer achtet bei Vorübergehenden oder -fahrenden schon auf so etwas? Jedenfalls habe ich weder sie mit Cora noch das Märchenschlosstor mit künstlerischer Wertarbeit in Verbindung gebracht. Dafür war ich viel zu sehr mit mir selbst und der Eröffnung meines Restaurants beschäftigt gewesen. Aber irgendetwas von Krewinkel und Sehenswürdigkeit muss bei mir in meinem künstlerisch ausgehungerten Dasein hängen geblieben sein. Deshalb habe ich mich wahrscheinlich auf den Weg gemacht.

In meiner Erinnerung habe ich Cora zuerst angesprochen und sie nach Marcels einstiger Kneipe befragt. Wie peinlich mir das gewesen ist, als sie Marcel davon berichtet hat! Das hatte mich viel mehr beschäftigt als der tatsächliche Verlauf unseres Kennenlernens. Sie hatte mich zu sich herübergerufen. Mich gebeten, den an der Mauer angebrachten Wasserhahn abzustellen. Was ich natürlich getan und sie dann nach Marcels Kneipe befragt habe. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Igelfrau möglicherweise die Blumen nicht selbst gepflanzt hat, die sie vor dem schrecklichen Tor so liebevoll goss!

»Was ist mit dir?«, fragt Hein beunruhigt.

»Ich glaube, ich muss mich hinlegen«, antworte ich. »Über so einiges nachdenken.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals verzeihen kann«, sagt Hein und nickt zum Feuer hin, das jetzt nur noch schwach glimmt. »Irgendwann müssen wir mal darüber reden, was du mir damit angetan hast. Welche Mühen du zunichtegemacht hast. Wie falsch und spießig deine Einstellung ist und warum Cannabis legal sein sollte.«

»Hau bloß ab«, sage ich.

Ich lege mich tatsächlich in mein Anderthalbpersonenbett. Bin viel zu früh aufgestanden. Ganz umsonst. Gaby von Krump-Kellenhusen ist nicht an mir interessiert. Weil sie ja schon alles über mich weiß. Ich schlafe ein und träume von explodierenden Hanfsäcken in einem Märchenschloss.

Mein Handy klingelt. Völlig verpennt setze ich mich auf und fummele in der Hose neben meinem Bett nach dem Teil, überzeugt, jetzt von Marcel Näheres zu erfahren. Wer sonst sollte mich anrufen?

Eine Frauenstimme haucht: »Frau Klein?«

»Ja?«

»Jetzt oder überhaupt nicht. Wenn Sie mich immer noch unbedingt treffen wollen.«

»Ja!«

»Am großen Bunker. Da, wo ich mich verletzt habe. Weshalb ich meine Arbeit bedauerlicherweise nicht verrichten konnte. Ich habe hier noch etwas zu erledigen, muss aber gleich wieder zurück nach Kronenburg. Kommen Sie?«

»Zum großen Bunker?«

»Sagte ich doch gerade.«

Und damit legt sie auf.

Ich springe aus dem Bett, stürze zum Spiegel im Badezimmer und blicke mir in müde Augen. Schnell greife ich nach dem Kajalstift, lasse ihn aber wieder sinken. Sie muss gleich zurück nach Kronenburg. Ich habe keine Zeit, mich herzurichten. Welch perfider Trick von der Dame! Selbst sieht sie wahrscheinlich wieder hochglanztauglich aus. Sei’s drum. Hans-Peter ist tot. Auch lebendig hat er mich zuletzt wenig interessiert. Wir sind keine Konkurrentinnen mehr. Ich kann mich ihr so zeigen, wie ich bin. Ich will Antworten auf Fragen.

Hastig kleide ich mich an. Linus fiept und legt den Kopf zur Seite. Kurz erwäge ich, ihn mitzunehmen. Fürchte dann, das als schwarzes Ungeheuer getarnte Schaf könnte die Frau verschrecken. Dafür ist die Sache viel zu wichtig.

»Tut mir leid«, sage ich zu ihm, als ich meine Schuhe anziehe, »du bist noch weniger fotogen als ich. Und das können wir uns jetzt nicht leisten.«

Ich renne über die Straße in den Wald hinein. Wieder klingelt mein Handy. Will sie etwa absagen? Das lasse ich mir nicht bieten. Sie kann noch nicht auf dem Weg zurück nach Kronenburg sein. Ist sie auch nicht; vor dem Hochwasserbehälter Auf dem Gericht steht Hans-Peters Sportwagen. Ich atme tief aus und entschleunige meinen Schritt, als ich links in den Waldweg einbiege. Wenn sie weggeht, wird sie mir entgegenkommen.

Wieder klingelt mein Handy. Diesmal gehe ich dran.

»Ja?«

»Wir haben die Obduktionsergebnisse.«

Marcels Stimme klingt verzerrt und sehr fremd.

»Und?«, frage ich.

»Du weißt doch noch, woran Mutter Agnes gestorben ist?«

»Ja, natürlich. Am Eibengift.«

»Das heißt Taxin.«

»Dann eben Taxin.« Ich bin jetzt nah am großen Bunker. Will nach rechts in den Wald, und da sehe ich plötzlich eine Bewegung an einer anderen Stelle. Und langes kastanienbraunes Haar. Genau dort, wo wir Mutter Agnes gefunden haben.

»Mach schnell«, flüstere ich, »was willst du mir sagen?«

»Dass dieses Taxin auch Herrn Hans-Peter Kellenhusen getötet hat. Und ebenso im Körper von Herrn Holger Eichhorn nachgewiesen wurde. Ist noch nicht sicher, ob das seinen Tod herbeigeführt hat.« Schrecklich, wie seine laute Stimme mein Ohr malträtiert.

Die lange schlanke Gestalt zwischen den Fichtenstämmen lässt sich neben der Eibe auf die Knie nieder. Unglaublich graziös. Ich sehe fasziniert hin.

»Katja?«

»Ja?«

»Dein Hans-Peter ist wirklich ermordet worden.«

»Du, ich kann jetzt gerade nicht.«

»Was ist los, Katja, wo bist du?«

»Ich treffe Gaby. Wir reden später.«

Ich kappe die Verbindung und gehe auf die kniende Gestalt zu.

Sie hat mir den Rücken zugewandt. Knackendes Unterholz sowie das Rascheln von Farn und Herbstlaub kündigen mein Herannahen an. Ich bleibe ein paar Schritte hinter ihr stehen.

»Hier hat die alte Frau gelegen«, sagt sie mit ihrer leisen Stimme, ohne sich umzudrehen. »Und mit dem Tod gerungen. War zu schwach, um die Beeren aufzubrechen und den Samen zu zerkauen. Kein Tier hätte man so leiden lassen. Es war furchtbar.«

Sie steht sehr langsam auf. Ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Dann dreht sie sich zu mir um. Ich starre auf die große weiße Lilie in ihrer Hand. Und glaube jetzt zu wissen, wer auch den welken Herbststrauß deponiert hat.

»Ich habe ihr geholfen. Sie war so dankbar für meine Hilfe, Katja, ich darf Sie doch so nennen?«

»Natürlich, Gaby«, sage ich. Mein Mund ist wie ausgedörrt.

Sie wendet sich wieder um und arrangiert die Lilie sorgsam im Rosengebinde von Hein und Jupp.

»Und jetzt«, sagt sie, »sollten wir endlich miteinander reden, finden Sie nicht auch?«