Viertes Gericht

Schweinisches Allerlei

Senatorenschweinsroulade mit gewürztem Süßkartoffelpüree gefüllt, hauchdünn mit geriebenen Mandeln paniert, an jungem Gemüse auf Kräuterbeet

Ich folge dem Hund durch den Flur zur offen stehenden Tür des künftigen Raucherzimmers, dem ehemaligen Schlafzimmer von Heins Eltern. Die heruntergezogenen Jalousien lassen kaum Licht durch. Nur die üblichen Konturen von aufeinandergestapelten Tischen und Stühlen an der Wand und den hochkant gestellten Ehebetten sind zu erkennen. Erst als sich Linus vor einen Tisch legt und fiept, sehe ich darunter einen Schatten, den ich nicht zuordnen kann. Dann höre ich eine verängstigte Stimme:

»Katja, ruf diesen schrecklichen Hund zurück!«

Ich knipse das Licht an. Mit dem Rücken zur Wand kauert Cora unter dem Tisch. In ihren Armen hält sie das Baby. Sie zittert am ganzen Leib.

Ich atme tief aus.

»Linus, komm her!«, rufe ich. Der Hund erhebt sich, sieht kurz zu mir hinauf und tapert dann mit müde herabhängendem Haupt wieder in die Küche. Als hätte er seine Pflicht getan. Er ist noch lange nicht ausgeschlafen.

»Was machst du hier?«, frage ich ratlos. Hat Gudrun doch recht gehabt? Will Cora das Baby stehlen?

Die Igelfrau kriecht unter dem Tisch hervor und reicht mir das Kind.

»Deine Tür war offen«, sagt sie, »und als ich in der Küche das schwarze Ungeheuer neben dem Baby liegen sah …«, ihre Unterlippe bebt, »… habe ich all meinen Mut zusammengenommen und das Kind gerettet. Mir zittern immer noch die Knie.«

»Gerettet? Vor Linus?«, frage ich verständnislos.

»Es ist unverantwortlich, ein solches Tier mit einem Säugling allein zu lassen!«, schimpft Cora. Sie geht mir auf dem Flur in die Küche voran, als wäre sie hier die Hausherrin.

»Linus ist ein Schaf im Labrador-Staffordshire-Terrier-Pelz«, erwidere ich, jetzt auch wütend. »Der tut keiner Maus was zuleide.«

Eher diese ihm, könnte ich ihr sagen, wenn ich nicht so wütend wäre. Unvergesslich ist mir nämlich der Tag im vergangenen Winter, als eine Maus meinen Riesenhund angefallen und ihn blutig gebissen hat. Gut, das hätte das Tierchen wohl kaum gewagt, wenn Linus seine Nase nicht voller Neugier in den Schneehaufen gesteckt hätte, unter dem sie wahrscheinlich nach Krumen des vergangenen Sommers suchte. Linus heulte, ließ sie davonhuschen und musste dann verarztet und getröstet werden. Eine Geschichte, über die wir uns immer noch amüsieren. Aber jetzt ist mir nicht zum Lachen zumute.

Was fällt der Frau ein, sich in mein Haus zu schleichen, das Baby aus dem Wäschekorb zu klauen und meinen Hund zu beleidigen? Was hat die für einen Nerv, hier zu erscheinen, nachdem ich an ihrem Haus heute so rüde abgefertigt worden bin?

»Am besten, du gehst gleich wieder«, sage ich, während ich das Baby in den Wäschekorb zurücklege. »Auch mein Haus steht nicht jedem ständig offen.«

»Deswegen bin ich ja hier«, erwidert Cora und legt mir versöhnlich eine Hand auf die Schulter. Ich trete einen Schritt zurück, stoße dabei gegen die Anrichte und werfe das Kräuterglas um. Es zerschellt auf den blitzblank gewienerten Fliesen. Hastig bückt sich Cora und beginnt die Scherben aus der trüben Wasserlache aufzusammeln.

»Tut mir so leid!«, erklärt sie. »Aber ein Tier, das zur Hälfte ein Kampfhund ist, kann unberechenbar sein. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich hatte ungeheure Angst um den Kleinen.«

»Und warum bist du überhaupt hier?«, frage ich.

Sie wirft die kräuterverklebten Scherben in den Müll.

»Um mich für Gertis Verhalten zu entschuldigen. Und dich zu uns einzuladen. Wo ist der Wischmopp?«

Ich werfe ihr eine Rolle Küchenpapier zu. Diese Frau lügt mich an; da bin ich mir ganz sicher. Aber weshalb? Was will sie von mir?

»Warum konnte mir Gerti nicht ganz einfach sagen, dass ich ungelegen komme?«, bohre ich nach.

»Weil das nicht so einfach ist«, erwidert sie, ohne aufzuschauen. »Du bist nicht die Einzige, bei der es derzeit drunter und drüber geht. Wir haben auch eine Reihe massiver Probleme.«

»Habt wohl vergessen, eure Aura aufzupolieren?«, frage ich schroff. »Oder hatte Gerti einen im Tee? Im südafrikanischen Rooibostee?«

Cora hält mit dem Putzen inne. Ihre Schultern zucken. Einen Augenblick lang denke ich, sie heult. Aber dann wendet sie sich mir zu, und ich sehe in ein Gesicht, das mich irgendwie an die Sonne über dem Krewinkeler Märchenschloss erinnert.

»Ach, Katja!« Cora bricht jetzt in schallendes Gelächter aus. Sie wischt sich mit Küchenpapier die Augen und bemerkt fröhlich: »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, was bei uns los war, aber das geht leider nicht.«

»Sektengeheimnis?«, frage ich trocken. Ich finde die ganze Sache überhaupt nicht komisch.

»So was Ähnliches. Aber ich kann dir sagen, warum ich mich so um den Kleinen sorge.« Ihr Gesicht verdunkelt sich erheblich schneller, als sich eine Wolke vor die Sonne schieben könnte. Habe ich es hier mit einer manisch-depressiven Wahnsinnigen zu tun, die eigentlich in der geschlossenen Anstalt der Sekte zu verbleiben hat? Wie konnte ich nach den Erfahrungen des letzten Jahres so vertrauensselig sein? Nur weil ich sie und ihre Leute für harmlos hielt?

»Da bin ich aber gespannt«, erwidere ich und lade sie mit einer Handbewegung an den Küchentisch ein.

»Ich hatte mal ein ganz normales bürgerliches Leben«, beginnt sie, »mit Ehemann, zwei Kindern …« Sie legt eine Pause ein, schnäuzt sich die Nase und starrt vor sich hin. Also doch, denke ich, eines der Kinder ist gestorben, und Vinzenz erinnert sie daran. So etwas Ähnliches hatte ich schon vermutet. Aber ihre Geschichte nimmt eine ganz andere Wendung.

»… und einem Familienhund«, fährt sie flüsternd fort. »Der uns als Labrador-Boxer-Mischling verkauft wurde. Friedliche Rassen. Mit zwei kleinen Kindern hätten wir uns doch nie ein gefährliches Tier angeschafft!« Sie schaut mich verzweifelt an und schlägt mit der flachen Hand auf den Holztisch. »Wir konnten doch nicht wissen, dass da kein Boxer, sondern ein Pitbull drinsteckte! Und dass er auf das Baby der Nachbarin losgeht!«

Den letzten Satz schreit sie heraus.

»Oh Gott«, sage ich, jetzt ehrlich betroffen. Ich wage nicht zu fragen, wie das geschehen konnte und was aus dem Baby geworden ist. Coras Gesicht sagt mir mehr als genug.

Im Stillen leiste ich der Igelfrau Abbitte. Nach einer solchen Katastrophe kann man ja gar nicht mehr ganz dicht sein. Logisch, dass man dann Halt bei einer Gruppe sucht, die sich einem völlig anderen Lebensentwurf verschrieben hat. Und anderer Leute Kinder vor Kampfhunden retten möchte.

»Das war dann auch das Ende meiner Ehe«, fährt sie nach einer langen Pause schniefend fort. »Seitdem kann ich es nicht ertragen, einen großen Hund neben einem schlafenden Baby zu sehen. Und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden.«

»Komm her, Linus«, rufe ich meinen Hund, der wieder auf seiner Decke neben dem Wäschekorb liegt. Linus rührt sich nicht. Er glaubt wohl, für diesen Tag genug gehorcht zu haben. Also schnappe ich den Wäschekorb und stelle ihn auf den Küchentisch.

Den Finger, den die Igelfrau vorsichtig in die winzigen Fäuste legt, hält das Baby ganz fest. Es öffnet die Augen, strahlt Cora an und gluckst.

»Siehst du, er mag mich. Wie lange wird er denn bei euch hausen?«

Der Antwort, die ich ihr sowieso schuldig geblieben wäre und die ich auch gern gekannt hätte, werde ich enthoben.

»Ich bin wieder da!«, trällert Gudrun und schleppt zwei riesige Windelpakete in die Küche.

»Also wohl ziemlich lange«, beantwortet sich Cora selbst die Frage. Gudrun wirft ihr einen unfreundlichen Blick zu, packt mich an den Schultern und schüttelt mich freudig.

»Hans-Peter kommt frei!«, jubelt sie. Und erzählt mit leuchtenden Augen, dass er sie soeben angerufen habe und in etwa zwei Stunden von der Polizei wieder auf die Kehr zurückgebracht werde.

»Er steht also nicht mehr im Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben?«, frage ich. Cora hebt die Augenbrauen.

»Olala«, sagt sie, »schon wieder dieser geheimnisvolle Hans-Peter! Ein potenzieller Mörder? Also das ist es, was mir Marcel gestern partout nicht erzählen wollte! Obwohl ich ihn so lieb darum gebeten habe. Wie ist seine Frau denn ums Leben gekommen?«

»Marcels Frau lebt noch. Sie ist ihm davongelaufen«, knurre ich, ungehalten, dass Cora Marcel »so lieb« um etwas gebeten haben soll.

»Nein, Klaus-Dieters Frau!«

»Hans-Peter«, singt Gudrun. »Er heißt Hans-Peter!« Und setzt mit einer für sie ungewöhnlichen Dramatik hinzu: »Wie meine Zukunft!«

Eine Zukunft, die Hans-Peter heißt. Nicht mal zu Anfang der vierzehn Jahre hätte ich das zu träumen gewagt! Ehrlich gesagt, wäre mir das wahrscheinlich schon damals wie ein Albtraum vorgekommen. Im letzten Jahr hatte ich viel Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken, und bin zu dem bitteren Schluss gekommen, dass ich beziehungsunfähig bin. Und dies durch die Rolle der heimlichen Geliebten sogar vor mir selbst gänzlich verschleiern konnte. Da er sich nicht trennen wollte, lag die Schuld immer bei ihm, und ich war fein aus dem Schneider. Doch nicht ich war Hans-Peters Opfer gewesen, sondern er in gewisser Hinsicht meines. Es kam meiner Bequemlichkeit entgegen, einen Freund zu haben, für den ich nichts weiter tun musste, als gelegentlich für ihn da zu sein. Ohne jegliche Verpflichtung. Und ohne mich aus meiner Wohnung zu bewegen. Unsere spezielle Situation enthob mich der Verantwortung, mich auf die Suche nach einem Lebensbeglücker begeben zu müssen. Und das Versprechen, seine Frau zu verlassen, sobald die Kinder aus dem Haus seien, gehörte zu einem uralten Ritual, das genauso sinnentleert eine Zukunft beschwor wie das Tageshoroskop der Zeitung. Rituell erscheinen mir im Nachhinein auch die Fressattacken vor dem Kühlschrank, meinem damaligen Lebensmittelpunkt, wenn mich Hans-Peter mal wieder versetzt hatte. Wäre ich jetzt freundlicher gestimmt, würde ich sagen, wir spendeten einander Trost in einer langsam sehr unübersichtlich werdenden Welt und gestalteten unseren eigenen Planeten auf ähnliche Weise, wie heute manch junger Mensch ein zweites Leben im Internet führt. Mein erstes Leben, also meine Arbeit, blieb von diesen heimlichen Begegnungen unbeeinflusst; Hans-Peter hingegen musste das erste mit dem zweiten Leben koordinieren. Mit anderen Worten: Er musste ständig lügen. Was ihm sicher nicht sonderlich schwerfiel. Schließlich ist auch die Politik, Hans-Peters Betätigungsfeld, eine von Ritualen durchsetzte diffuse Angelegenheit, bei der dem Spiel mit Glauben und Hoffnung oberste Priorität eingeräumt wird und die Wahrheit allem anderen untergeordnet wird. Mit ähnlichen Mitteln wie für den Bezirksstadtrat hat er bei mir um den Posten als Liebhaber kandidiert. Und ich habe ihn immer wieder aufs Neue gewählt, obwohl ich genau wusste, dass er seine Versprechungen nie einhalten würde. Warum nur? Wohl aus dem gleichen Grund, weshalb manche Leute ihr Leben lang einer Partei treu bleiben, obwohl sie immer wieder von ihr enttäuscht werden. Aus Gewohnheit, Bequemlichkeit und einem gewissen Desinteresse heraus. Nicht etwa, weil sie wirklich hoffen, dass ihre Zukunft Hans-Peter heißt.

Bei Gudrun liegt die Sache anders. Sie hat Hans-Peter aus ganzem Herzen gewählt. Voller Zuversicht, Begeisterung und Überzeugung.

»Du glaubst also wirklich, dass er sein altes Leben hinter sich lassen und sich hier mit dir in der Eifel niederlassen wird?«, frage ich behutsam und sehr bemüht, keine Ironie in meine Stimme zu legen. Irgendwie greift es mir ans Herz, dass sich Gudrun, dieses ungeliebte mutterlose Kind, schon wieder einer völlig aussichtslosen Liebesgeschichte verschreibt. Wie gern würde ich sie vor sich selbst und diesen blödsinnigen Gefühlen retten! Nicht etwa, weil ich sie für mein Restaurant brauche. Sondern weil wir zusammen schon so viel durchgemacht haben und ich ihr wie einer Schwester zugetan bin.

»Warum denn nicht? Du hast hier doch auch von vorn angefangen«, erwidert sie. »Er kann mir helfen, mein Haus zurückzukaufen, seine Kinder können ihn besuchen, wir werden Vinzenz aufwachsen sehen …«

Ich versuche, sie zu bremsen.

»Verrenn dich da nicht in etwas, Gudrun! Dieser Mann wird seine Frau nie verlassen …«

»Ich denke, die ist tot?«, meldet sich Cora verwundert zu Wort, was ich nicht kommentiere, da ich mich auf Gudrun konzentriere und überlege, wie ich sie auf den Boden der Tatsachen zurückbringen kann. Vielleicht indem ich dem Berliner Politiker den Nimbus des Besonderen nehme und ihn auf den Hanswurst reduziere, als den ich ihn jetzt wahrnehme.

»Ich kenne den Mann durch und durch, Gudrun. Er ist ein pathologischer Lügner, ein perfider Trickbetrüger der besonderen Art, auch wenn er im Grunde genommen eine ganz arme Sau ist.«

»Auch eine ganz arme Sau bleibt eine Sau«, sagt Cora trocken. Wo sie recht hat, hat sie recht.

»Ihr habt alle keine Ahnung«, sagt Gudrun seufzend, wendet sich an mich und streichelt mir die Hände, als wolle sie mich trösten: »Mit mir ist das ganz anders als bei dir damals, Katja, wo er noch so abhängig von seiner Frau war. Und du mit deiner oberflächlichen Modewelt zu beschäftigt warst, um wirklich auf seine Bedürfnisse einzugehen. Außerdem war er ja da noch aktiver Politiker.«

»Heute nicht mehr?«, frage ich, darüber mehr erstaunt als über die Bemerkung seiner einstigen ehelichen Abhängigkeit. Das Zitat über meine oberflächliche Modewelt und mein mangelndes Eingehen auf seine Bedürfnisse – so schlecht war ich bestimmt nicht im Bett – kann ich Gudrun verzeihen, ihm aber nicht. Was fällt ihm ein, so über mich zu reden? Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, schlage ich ihm die Birne ein.

Gudrun schüttelt den Kopf. »Seine Partei hat doch die Wahlen zum Bezirksamt verloren«, sagt sie, als wüsste sie, was ein Berliner Bezirksamt sei. »Und er hat keine Lust, einen Frühstücksdirektorenposten zugeschoben zu bekommen, sagt er. Schon deshalb will er woanders neu anfangen. Deswegen hat er ja auch mit seiner Frau gestritten. Die wollte, dass er den Vorsitz ihrer Stiftung übernimmt. Aber das ist ja kein richtiger Beruf, sagt er, und außerdem würde er da noch abhängiger von ihr werden.«

Gaby von Krump-Kellenhusen hat eine eigene Stiftung? Wieso weiß ich davon nichts? Natürlich, weil ich überhaupt nichts über die Frau gewusst habe, die Hans-Peter vierzehn Jahre lang mit mir betrogen hat.

»Was für eine Stiftung?«, frage ich.

»Keine Ahnung, irgendwas Wohltätiges, mit Naturschutz oder seltenen Bäumen oder so was Ähnliches. Aber eigentlich, um Steuern zu sparen. Weil seine Frau nämlich richtig reich ist. Hans-Peter war ganz ehrlich zu mir, das musst du mir glauben. Seine Frau kommt aus einer reichen Familie, die hat das Geld, hat er gesagt, und damit hat sie ihn jahrelang festgehalten. Wusstest du das, Katja?«

»Am Geld ist unsere Beziehung nicht gescheitert«, murmele ich. Natürlich hatte ich von all dem keine Ahnung gehabt. Auch nicht, dass der arme Mann vierzehn Jahre lang unter einer Geliebten gelitten hat, die unfähig war, auf seine Bedürfnisse einzugehen.

»Aber wovon wollt ihr dann leben«, wirft Cora ein, »wenn seine Frau doch das Geld hat?«

Ein fast listiges Lächeln spielt um Gudruns Mundwinkel.

»Er hat jetzt endlich genug auf die Seite schaffen können, für neu anzufangen, hat er gesagt. Er ist endlich richtig unabhängig.«

»Ja, wenn er seine Frau umgebracht hat …« Cora schüttelt mit gespielter Empörung den Kopf.

»So ein Quatsch!« Gudrun ist jetzt ernsthaft böse. »Die ist doch nur abgehauen, um ihn zu ärgern. Er hat seine Politikerpension und sich außerdem ein hübsches Sümmchen zurückgelegt, sagt er.«

»Klar doch, Schwarzgeld«, bemerkt Cora fröhlich. »Vielleicht Bestechungsgelder, kennt man doch. Deshalb ist er hier. Um die Kohle in einem Steuerparadies zu bunkern. Luxemburg ist doch umma Ecke.«

»Wie man in Berlin sagt«, bemerke ich und mustere sie nachdenklich. »Kommst du auch daher?«

»Ich habe da nur eine Zeit lang gewohnt«, erwidert sie, »und das war schon eine viel zu lange Zeit lang. Die Eifel ist der Seele weitaus förderlicher; das wirst du sicher auch gemerkt haben.«

»Aber Hans-Peter kennst du nicht zufällig?«

»Habt ihr ein Foto?«, fragt sie. »Um das ehrlich zu beantworten, müsste ich mir den Knaben nämlich erst mal ansehen. Aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich wollte nur kurz vorbeischauen, um dich zu uns einzuladen, Katja.«

Sie steht auf und reckt sich.

»Was du gestern Abend schon getan hast«, gebe ich zurück. »Und als ich die Einladung annehme, wird mir das Schlossfenster vor der Nase zugeschlagen.«

»Welches Schlossfenster?«, fragt Gudrun.

»Das wird nie wieder geschehen«, verspricht Cora, »willst du es von mir schriftlich haben?«

Ich begleite sie zur Tür – nicht ohne Hans-Peters Tabakdose von der Anrichte zu nehmen. Wenn er zurückkommt, soll er mir meine saubere Küche nicht gleich wieder einräuchern. Wir treten gerade rechtzeitig raus, um die Post in Empfang zu nehmen. Die heute nur aus der Tageszeitung besteht. Dafür, dass ich die Zeitung erst nachmittags bekomme, muss ich sogar extra Postgebühren bezahlen. Für die paar Menschen auf der Kehr lohnt sich das Austragen offensichtlich nicht. Schon auf der Titelseite des »Trierischen Volksfreunds« springt mir Gaby von Krump-Kellenhusens schönes Konterfei entgegen. Ich halte Cora das Blatt hin.

»Da ist sie ja, Hans-Peters verschwundene Gemahlin«, sage ich und deute auf das kleine Bild der kastanienbraungelockten Societydame mit den dunkel umrandeten Augen und dem herzig geschminkten Kussmündchen unter der Stupsnase.

»Sieht ziemlich schickimicki aus, die Dame«, bemerkt Cora abfällig und rümpft das Näschen mit dem kleinen schwarzen Punkt. »Und gegen diese Glamourlady tauscht er deine Gudrun ein?«

»Er hat eben einen abwegigen Geschmack«, sage ich achselzuckend. »Immerhin hat er diese Frau«, ich tippe wieder auf das Bild, »vierzehn Jahre lang mit mir betrogen. Würde man auch nicht so schnell drauf kommen. Soll ich dich heimfahren?«, frage ich. Nachdem ich mehr über sie weiß, kann ich der Igelfrau nicht mehr wirklich böse sein.

Sie deutet auf ein rotes Rennrad an der Hauswand.

»Habe mein Fitnessstudio bei mir, bis morgen bei uns also, Katja.«

»Mal sehen«, sage ich ausweichend.

Ich schaue ihr nach, wie sie in rasantem Tempo die Bundesstraße entlangstrampelt. Seltsamerweise Richtung Losheim. Eigentlich hätte sie links abbiegen müssen, aber vielleicht führt ja auch rechts irgendein mir unbekannter Feldweg nach Krewinkel.

Dann öffne ich die Wagentür, werfe Zeitung und Tabakdose auf Hans-Peters getrockneten Autositz und wende mich den Kletterrosen an der Hauswand zu. Die brauchen nicht nur Pferdeäpfel. Ich muss sie dringend mit Mulch vor dem herannahenden Winter schützen.

Mit welcher Wucht Eis und Schnee auf der Schneifel plötzlich hereinbrechen können, habe ich vor genau einem Jahr erlebt, als ich an einem Morgen Mitte Oktober in einer weißen Landschaft aufwachte. Da Hein und Jupp nach einem Rockkonzert in Köln übernachteten und der Pflegedienst für Mutter Agnes erst mittags kommen sollte, hatte ich ihnen versprochen, frühmorgens nach Losheim zu fahren, die alte Dame zu versorgen und den Kachelofen, der das ganze Haus beheizt, anzuschmeißen. Aber wie sollte ich mit meinem noch sommerbereiften Auto über die spiegelglatte Straße dorthin kommen? Von öffentlichem Nahverkehr und Taxis kann man auf der Kehr nur träumen. Nach ein paar Versuchen, den Wagen zu bewegen, gab ich auf. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass meine Zähne mindestens so heftig knirschten wie der Schnee, durch den ich vier Kilometer lang stapfte.

Erstaunlicherweise war Mutter Agnes ansprechbar, als ich kam. Sie bat mich, ihr beim Aufsitzen zu helfen. Sie hielt mich immer noch für die Freundin ihres Sohnes, und keiner von uns sah die Notwendigkeit ein, die kranke alte Frau über die tatsächlichen Verhältnisse aufzuklären.

»Wie schön, dass es Euch heute so gut geht«, begrüßte ich sie in der Höflichkeitsform, die mich Jupp gelehrt hatte. »Entschuldigt bitte, dass ich so spät komme, aber ich musste laufen, weil es gefroren und geschneit hat. Mitte Oktober! Das gibt es doch gar nicht.«

Ein winziges Lächeln zeigte sich in den Mundwinkeln der alten Frau.

»Schnee gibt es hier immer«, sagte sie flüsternd. »In jedem Monat.«

»Wohl kaum im Juli«, erwiderte ich.

»Auch im Juli«, erwiderte sie und zog die Stirn kraus. »Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war, ich lebe schon so lange, viel zu lange, Jupp war damals noch nicht geboren …« Sie brach ab, und ich bat sie, sich nicht so anzustrengen, aber sie schüttelte kaum merklich den Kopf und brachte hervor: »Es gibt keinen Monat, in dem ich hier nicht schon mal Schnee gesehen habe.«

Ich schüttele mich. Nach Schnee sieht es heute zwar nicht gerade aus, aber die Temperatur dürfte durchaus im einstelligen Bereich liegen. Wird Zeit, die Winterreifen aufziehen zu lassen. Und die Rosen zu mulchen. Zum Glück habe ich noch einen Sack von Baumrindenschnipseln im Kuhstall liegen. Kann ich gleich mit den Pferdeäpfeln und dem Mirabelleneimer rüberbringen. Jetzt darf ich mir die Zeit nehmen, brauche ja nicht mehr auf das Kind zu achten. Beschließe also, noch ein paar gelbe Pflaumen aufzusammeln, die letzten dieses Jahres. Für Mirabellenklöße sind nur noch wenige geeignet – da mache ich aus den anderen eben Marmelade.

Als ich den vollen Eimer auf die Schubkarre wuchte, höre ich eine Wagentür auf- oder zuklappen. Ich lasse alles stehen und eile zurück zur Einkehr. Mir fällt nämlich ein, dass ich die Tür offen stehen gelassen habe und in letzter Zeit so einiges abhandengekommen ist. Nicht, dass mir auch noch Gudrun entführt wird.

Ein fremdes grünes Auto mit Berliner Kennzeichen parkt direkt neben Hans-Peters Sportwagen, dessen Kofferraum weit offen steht. Irgendjemand macht sich darin zu schaffen.

»Hallo?!«, rufe ich scharf dem mir zugereckten fremden männlichen Hintern entgegen.

Der Mann richtet sich auf und wendet sich mir zu. Er ist um die vierzig, schlank, groß und in seiner ganzen Erscheinung so blass, dass ich ihn gar nicht beschreiben kann.

»Guten Tag«, antwortet er mit erstaunlich sonorer Stimme. »Ich suche Herrn Kellenhusen.«

»In seinem Kofferraum?«, frage ich misstrauisch und trete näher.

»Natürlich nicht«, sagt der Fremde. Er dreht sich wieder um und starrt ins vordere Teil des Autos. »Da suche ich was anderes, ah, da ist es ja!«

Er reißt die Fahrertür auf und schnappt sich die Tabakdose.

»Nun mal halblang«, sage ich und trete auf ihn zu, um ihm die Dose zu entreißen. »Sie können doch nicht so einfach …«

Er hebt die Dose aus meiner Reichweite.

»Natürlich kann ich das. Hans-Peter ist ein alter Freund und wird mir das Pfeifchen gönnen. Ich sitze schon seit Tagen auf dem Trockenen, weil ich dieses feine Kraut hier nirgendwo kriegen kann. Wo steckt er überhaupt, der alte Knabe?«

Während er spricht, nähert er sich der Fahrertür seines eigenen Autos. Ich präge mir schnell das Berliner Kennzeichen ein. Man muss nicht schon mit Kriminalität zu tun gehabt haben, um zu merken, dass hier was oberfaul ist.

»Das hätten Sie erfahren können, wenn Sie sich wie jeder normale Besucher zur Haustür bemüht hätten«, erwidere ich und stelle mich vor seinen Wagen. Dann lasse ich einen Ballon steigen: »Sind Sie Anwalt?«

»Nein, wieso?«, fragt er unbekümmert und öffnet die Wagentür.

»Weil er einen braucht. Er steht im Verdacht, seine Frau ermordet zu haben.«

Der Mann lässt den Pfeifenbeutel fast fallen, den er seinem eigenen Wagen entnommen hat.

»Was?!«

Das Entsetzen ist echt, da bin ich mir sicher.

Jetzt öffne ich Hans-Peters Wagentür und ziehe die Zeitung hervor.

»Schauen Sie selbst«, sage ich und halte ihm das Blatt hin. »Die Dame ist spurlos verschwunden.«

Er legt Pfeifenbeutel und Tabakdose auf Hans-Peters Autodach ab und blickt mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf das Foto.

»Mein Gott, das ist ja unsere Gaby!«

Er überfliegt den kurzen Bericht über die verschwundene Ehefrau des Berliner Lokalpolitikers und reicht mir die Zeitung zurück. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, dass seine Hände etwas zittern.

»Wo steckt Hans-Peter jetzt?«, fragt er, fahrig eine Pfeife aus dem Beutel ziehend. Ich antworte nicht sofort, sondern sehe interessiert zu, wie er sich aus Hans-Peters voller Tabakdose bedient und eine recht neu aussehende Pfeife mit geschwungenem Mundstück stopft.

»Er wird gerade von der Polizei verhört«, antworte ich, als er den ersten Rauch inhaliert. Er verzieht das Gesicht und beginnt, heftig zu husten. »Rauchen ist tödlich«, lese ich vergnüglich die Aufschrift auf der blauen Dose vor. Der Mann sieht nicht so aus, als schmecke ihm das, was er sich gerade zuführt.

»Wo?«, bringt er hustend hervor, bevor er mit einem weiteren kräftigen Zug noch einen Anfall provoziert.

»Vielleicht sollten Sie das Rauchen fremden Tabaks aufgeben?«, schlage ich vor und setze hinzu: »In Euskirchen. Da müssen Sie dann hier rechts fahren …«

Er blickt über meinen Kopf hinweg nach Belgien und scheint mir überhaupt nicht zuzuhören. Hinter seiner Stirn arbeitet es. Rauchende Kollegen haben mir versichert, die ersten Züge einer Zigarette seien besonders kreativitätsfördernd, und Marcel behauptet, Zigarillos würden ihm helfen, knifflige Aufgaben zu lösen. Vor so einer stehe ich jetzt auch. Eigentlich möchte ich diese ziemlich zwielichtige Figur so schnell wie möglich loswerden, andererseits plagt mich die Neugierde. Wieso hat Hans-Peter nichts von einem Freund erzählt, der mit ihm in den Urlaub gefahren ist? Und wieso weiß dieser Mann dann nichts von der seit zwei Tagen verschwundenen Gattin? Wer ist der Typ? Und was will er wirklich? Wieder siegt die Neugier.

»Sie können gern in meinem Restaurant auf Herrn Kellenhusen warten«, schlage ich vor. »Wir haben soeben erfahren, dass ihn die Polizei in ein paar Stunden zurückbringen wird, Herr …«

»Danke«, sagt er kurz, ohne seinen Namen zu nennen. »Ich fahre lieber gleich nach Euskirchen.«

Mit der Pfeife im Mundwinkel setzt er sich ans Steuer und startet den Wagen.

»Nach rechts!«, schreie ich ihm noch hinterher, aber er ist bereits nach links Richtung Prüm abgedüst.

Leider hat er die Tabakdose nicht mitgenommen. Ich lasse sie auf dem Autodach liegen und versorge endlich meine Rosen. Ich hoffe, sie werden es mir im Frühling danken. Dann lege ich die Zeitung in den Mirabelleneimer und kehre zu Gudrun und dem Baby ins Haus zurück.

 

Zwei Stunden später

»Wenn ich dir doch sage, dass ich den Mann nicht kenne!« Hans-Peter sitzt wieder qualmend in meiner Küche und besteht darauf, mit keinem Pfeife rauchenden nichtssagend aussehenden großen, schlanken Typen befreundet zu sein.

»Vielleicht ein Überraschungsbesuch von einem alten Schulfreund?«, fragt Gudrun, der das neue Mysterium um ihren neuen Zukunftsgestalter überhaupt nicht behagt. Wie überall anders schätzt man auch in der Eifel geordnete Verhältnisse.

»Niemand außer meiner Familie weiß, dass wir hier sind«, murmelt Hans-Peter und setzt fast unhörbar hinzu, dass er keine Freunde habe.

»Vielleicht sucht man dich?«, frage ich und freue mich an der plötzlichen Blässe, die sich in seinem Gesicht auszubreiten beginnt. »Hast du vielleicht politischen Dreck am Berliner Stadtratsstecken? Gibt es da irgendeinen Klärungsbedarf?«

Wie sehr ich mir doch wünsche, dass er mal so richtig auf die Schnauze fällt, dieser Herumlavierer und Märchenerzähler. Dessen Bedürfnissen ich nicht gerecht geworden war.

Gudrun wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Er ist doch nicht mehr …«

»… Politiker«, beende ich nickend den Satz. »Jammerschade, dass sich dein großer Traum vom Senator nun doch nicht erfüllt hat! Da ist sicher der böse Koalitionspartner dran schuld, nicht wahr? In welchem Bereich hast du denn zuletzt gestadtratet?«

»Weißt du doch, Baudezernat«, knurrt er.

»Oh«, sage ich, »das lädt zur Korruption doch geradezu ein. Vor allem in Berlin, wenn ich mich recht entsinne. Hat die neue Bezirksregierung da etwa alte Ungereimtheiten aufgedeckt?«

»Es ist bestimmt was Gutes«, sagt Gudrun abwehrend. Meine Aggressivität gefällt ihr überhaupt nicht. Wahrscheinlich tut es ihr jetzt leid, dass sie so viel ausgeplaudert hat. Nicht mein Problem. Ich bin ja nur eine alternde dicke Exmodejournalistin, die endlich ihr Restaurant eröffnen möchte und überhaupt keine Lust mehr hat, auch nur irgendeinen Mann zu beglücken. Vielleicht sieht die Freiheit ja genau so aus. Wenn man bedenkt, wie viel Energie durch überflüssige Liebesgeschichten verloren geht, Energie, die man für erfreulichere und weiterführende Angelegenheiten einsetzen könnte!

»Vielleicht ist ein alter Erbonkel von dir gestorben. Einer, den du gar nicht kennst«, setzt Gudrun hastig hinzu, als ihr aufgeht, dass Sterben normalerweise nichts Gutes ist. »Und du bist sein einziger Erbe. Da holt man sich schon mal einen Privatdetektiv, für dich aufzuspüren. Der darf anderen dann gar nicht sagen, wer er ist. So was gibt es.«

Träum weiter, denke ich, und sieh zu, dass du seinen Bedürfnissen auch wirklich entgegenkommst.

Ja, ich muss zugeben, das hat gesessen.

Hans-Peter steht auf. Der sonst so alerte Mann von Welt sieht plötzlich uralt aus.

»Schön wär’s«, sagt er seufzend. »Aber sehr unwahrscheinlich. Ich muss jetzt ins Hotel.«

Er geht zur Tür. Ich stelle mich ihm in den Weg und deute auf den Wäschekorb, der wieder neben dem noch immer schlafenden Hund steht.

»Hast du nicht etwas vergessen?«

»Später«, sagt er, »später. Ich komme mir so verdreckt vor, da muss ich mich jetzt erst mal säubern. Ich hole Vinzenz später ab.«

»Wieso stört dich das Baby beim Duschen?«

»Weil ich mehr brauche als nur einen Wasserstrahl«, entgegnet er müde. »Wir haben eine Suite mit Sauna. Ich muss mir diesen Tag jetzt endlich aus den Rippen schwitzen. Bitte, Katja, versteh das doch! Ich verspreche, dass ich Vinzenz in spätestens drei Stunden abhole. Und euch zwei beiden auch. Im Burghaus kann man wunderbar essen, dann brauchst du heute nichts zu kochen, Katja, und wir können über was anderes sprechen.«

Genau so stelle ich mir einen schönen Abend vor – mit meinem des Mordes verdächtigen Exlover und seiner neuen Flamme in einem künftigen Konkurrenzunternehmen gepflegt zu speisen und mitten in einer anregenden Konversation einem schreienden Säugling den Schnuller in den Mund zu stecken.

»Ohne mich«, sage ich zu Gudruns offensichtlicher Freude.

Ich tippe ihm den Zeigefinger dreimal in die Brust. »Drei Stunden! Also gut. Und keine Sekunde später! Dann ist das Kind hier weg!«

»Versprochen«, antwortet er, mindestens ebenso genervt wie ich.

»Und nimm deinen Tabak mit!«

»Ist ein Nichtraucherhotel«, versetzt er, steckt aber gehorsam die Dose ein, die ihm Gudrun eilfertig gereicht hat. Zusammen verlassen die beiden die Küche. Ich reiße das Fenster weit auf. Mir ist schon ganz schwummerig von dem Qualm. Und von der lästigen Gegenwart Hans-Peters. In meinem Kopf hämmert es.

»Man kann sich seinen Opa nicht aussuchen, kleiner Mann«, sage ich zu dem Wäschekorb, aus dem es wieder herausschreit.

Eine Einladung zum Mitsaunen wird offenbar nicht ausgesprochen, denn wenige Augenblicke später schleicht Gudrun wieder in die Küche.

»Ich mag eh nicht gern schwitzen«, sagt sie, als hätte ich meinen Gedanken laut ausgesprochen. »Außerdem habe ich schlimme Kopfschmerzen.«

»Ich auch«, sage ich, »das liegt an dem fürchterlichen Pfeifentabak. Ab jetzt wird hier nicht mehr geraucht, hörst du!«

Da schreckt mich das Klingeln meines Handys auf. Ich schaue aufs Display und hätte große Lust, Marcel einfach wegzuklicken. Nicht nur bei Kapitalverbrechen stehen die Behörden der Polizeizone Eifel landes- und staatenübergreifend in ständiger Verbindung miteinander. Und in Sachen Gaby von Krump-Kellenhusen muss sich doch schon längst einiges von Relevanz herausgestellt haben. Sonst hätte man Hans-Peter doch nicht einfach laufen lassen. Unerhört, dass es der belgische Polizeiinspektor, der mit der Kehr doch freundschaftlich verbunden sein will, nicht für nötig befindet, mich auf dem Laufenden zu halten. Zumal ich in diese Sache wider Willen ja mehr hineingezogen worden bin, als mir lieb ist. Aber vielleicht will er jetzt etwas Erhellendes preisgeben. Ich nehme das Gespräch also an.

Marcel ist sehr kurz angebunden. Ohne Begrüßung fragt er, ob ich irgendwann einen grünen Wagen mit Berliner Plaquen gesehen hätte.

»Ja«, erwidere ich aufgeregt, nenne ihm das Kennzeichen, das ich mir vorsichtshalber gemerkt habe, und vergesse alles andere. »Der Mann war heute hier und hat nach Hans-Peter gefragt. Eine sehr verdächtige Type, wenn du mich fragst. Und Hans-Peter behauptet, ihn nicht zu kennen. Was ist mit dem Mann?«

»Tot«, versetzt Marcel ernst. »Er ist tot. Autounfall in Krewinkel. Eine sehr seltsame Sache. Wahrscheinlich bist du eine wichtige Zeugin. Ich brauche dich. Komm bitte sofort zu Coras Haus.«

Ohne auf meine Antwort zu warten, kappt er das Gespräch. Ich starre mein Handy eine Zeit lang mit offenem Mund an.

»Was ist denn los?«, fragt Gudrun beunruhigt. Ich schüttele den Kopf und beobachte, wie sie mit ihren schönen langen Fingern das Baby auf dem Küchentisch auspackt. Ich verdränge den Gedanken, was sie gestern Nacht ausgepackt haben mag und welche Bedürfnisse diese Hände wohl befriedigt haben könnten.

»Weiß nicht«, murmele ich, »ich glaube, der Mann von vorhin ist tot. Wenn ich Marcel richtig verstanden habe. Und ich soll eine wichtige Zeugin sein. Er braucht mich. Ich muss sofort nach Krewinkel.«

»Herr im Himmel«, stößt Gudrun hervor und zerrt am Klettverschluss der Windel. »Da ist also noch jemand anders hinter dem Erbe her!«

»Was für einem Erbe?«, frage ich verwirrt. Sprechen jetzt alle in Rätseln?

»Na, was ich eben gesagt habe, wenn es doch ein Privatdetektiv war, der Hans-Peter wegen seines verstorbenen Onkels in den USA sucht …«

 

Er war tatsächlich Privatdetektiv. So viel hat die belgische Polizei inzwischen herausgefunden.

»Er hieß Holger Eichhorn, stammte aus Berlin und arbeitete offenbar allein; jedenfalls können wir niemanden in seinem Büro erreichen«, erklärt Marcel. »Kennst du den? Sagt dir der Name was?«

Ich kann nicht antworten. Stehe immer noch mit offenem Mund am Unfallort und kann den Anblick gar nicht fassen. Das grüne Auto muss in der Kurve vor dem Sektenhaus von der Straße abgekommen sein. Es hat Coras Herbstblumen geplättet, ist durch das Märchenschloss gebrettert und vor einem Kräuterbeet zum Stehen gekommen. Der Reigen bunt gekleideter Menschen ist auseinandergerissen, die lachende Sonne entzweigesplittert, und die blaue Eingangstür schwingt seitlich des Wagens schief an einer Angel. Sieht so aus, als ob sie gleich zu Boden fallen könnte.

Der Unglücksort ist mit Bändern abgesperrt, aber im nur leicht demolierten Auto befindet sich offensichtlich niemand mehr. Die Leiche ist wohl schon zur Gerichtsmedizin gebracht worden.

Wie bildgewordene Ratlosigkeit stehen Gerti, Bine und Bella mit eingefrorenem Lächeln in ihren bunten Gewändern vor dem efeuüberwucherten Bruchsteinhaus. Sechs kleine Kinder haben sie um sich geschart. Alle halten sich an den Händen und schauen ins vermutlich und hoffentlich erleuchtende Nichts. Das Ganze erinnert an den Märchenschlossreigen, bevor ihm ein grünes Auto zustieß. Victor steht in seinem blauen Outfit abseits und redet gestenreich auf einen belgischen Polizeibeamten ein. Plötzlich lässt er sich sacken, nimmt das Haupthaar hoch und den Lotussitz ein, reißt sich das Pendel vom Hals und lässt es vor den Augen der belgischen Staatsgewalt kreiseln. Der Beamte schüttelt den Kopf und geht auf die Frauen-Kinder-Gruppe zu. Ich recke den Hals, aber Cora ist nirgendwo zu sehen, ebenso wenig ihr rotes Rennrad, das sonst immer an der Bruchsteinmauer lehnt. Ist wohl ganz vernünftig, dass sie sich jetzt diesem Wahnsinn fernhält. Der vor allem aus einer Stille besteht, die kein Krimifreund vom deutschen Tatort erwartet. Wenn da die Leiche gefunden wird, herrscht immer laute Hektik. Schreiende Zeugen, knarzige Stimmen aus Polizeiwagen, Handys mit seltsamen Klingeltönen, kauzig diskutierende Ermittler, geräuschvoll kauende Gerichtsmediziner und aha-rufende Spurensucher. Ein Haufen Leute ist hier vor Ort, aber sie machen ihre Arbeit nahezu unhörbar und verständigen sich leise. Ein blecherndes und dann knirschendes Geräusch lässt mich zusammenzucken. Das Türchen hat sich endlich von seinem letzten Scharnier befreit und ist erst gegen das Auto und dann auf den Kies gefallen.

»Volle Pulle durchs Tor«, bringe ich schließlich einen Halbsatz hervor.

Marcel nickt.

»Als ob das Bremspedal blockiert gewesen wäre. Und er hat am Steuer geraucht. Die Pfeife war noch warm.«

Ich schlage die Hand vor den Mund. In der Erkenntnis, wohl tatsächlich eine wichtige Zeugin zu sein.

»Dann weiß ich genau, zu welchem Zeitpunkt es passiert ist«, flüstere ich.

»Das wissen andere auch«, sagt Marcel trocken und nickt zu den Hausbewohnern hin. »Hat schließlich einen Höllenlärm gegeben. Die haben uns sofort gerufen. Stehen jetzt noch unter Schock, wie du siehst.«

Oder unter Drogen. Aber diesen Gedanken behalte ich für mich. Wie auch die plötzliche Eingebung, dass mein Hanf – mein Hanf?! – möglicherweise hier gelandet ist. Weil ihn Cora auf der Suche nach mir hinter meinem Haus gefunden hat. Ist das zeitlich möglich? Wie und wann soll sie ihn dann weggeschafft haben? Vielleicht wurden getrocknete Marihuanabüschel zerpflückt, als ich am Sektenhaus angeläutet habe. Würde einiges erklären. Darüber muss ich später nachdenken. Jetzt muss ich erst einmal Marcels fragende Augen konfrontieren.

»Der Tod ist ein Märchenschloss«, titele ich, weil mir in unangenehmen Lagen nur Schlagzeilen einfallen.

»Nein«, sagt Marcel kopfschüttelnd und fügt einen Satz an, der unter anderen Umständen zum Lachen gewesen wäre: »Dieses Tor scheint ihn nicht umgebracht zu haben. Vielleicht war er schon vorher tot. Möglicherweise ein Herzinfarkt am Steuer, das wird sich schnell herausstellen. Kannst du nicht doch was mit dem Namen Holger Eichhorn anfangen?«

»Er hat sich mir nicht vorgestellt«, antworte ich. »Überhaupt war er sehr unhöflich. Vor zwei Stunden ist er bei mir aufgetaucht, angeblich auf der Suche nach Herrn Kellenhusen. Hat an seinem Auto herumgefummelt und so getan, als sei er ein alter Freund. Ich fand den Kerl ziemlich zwielichtig. Und Herr Kellenhusen behauptet, ihn nicht zu kennen. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Dann werden wir uns deinen Klaus-Dieter mal vornehmen«, sagt Marcel.

»Du redest wie Cora«, entgegne ich vorwurfsvoll. »Er heißt Hans-Peter und sitzt gerade in der Sauna seines Zimmers im Burghaus Kronenburg. In drei Stunden kommt er zu mir auf die Kehr, um sein Baby abzuholen.«

Marcel blickt auf die Uhr.

»Gut, ich werde da sein. Muss sowieso noch meinen Rapport fürs Dossier schreiben. Wir sehen uns also in drei Stunden in deinem Privathaus. Du bringst den Mann dann am besten gleich rüber.«

Wieder einer seiner alten Tricks.

»Alles klar«, sage ich seufzend, »damit du ihn schon in Belgien beharken kannst und nicht den Dienstweg über die Kollegen in Rheinland-Pfalz zu bemühen brauchst.«

»NRW«, verbessert er mich. »Kronenburg gehört zu NRW, das solltest du inzwischen gelernt haben.«

»Meinetwegen«, fauche ich ihn an. »Wenn du solche Kopfschmerzen hättest wie ich, würdest du auch keine Grenzen mehr kennen. Was ist mit seiner Frau?«

»Nichts Neues. Er hat bei den Euskirchener Kollegen zugegeben, dass sie sich gestritten haben und sie ihn mit ihrer Abwesenheit bestrafen will. Sie hat genug Cash dabei, für sich von dem Streit in Frankreich oder Luxemburg zu erholen. Wir haben bei den dortigen Behörden bereits Meldung gemacht.«

»Und das Blut am Bunkerstein?«

»Reicht nicht für eine Festnahme. Beweist nur, dass sie vor Ort gewesen ist.«

»Spuren?«

»Viele. Deine zum Beispiel.«

»Ach, werde ich wieder mal verdächtigt?«

Geräuschvoll stößt Marcel Luft aus.

»Wenn du unbedingt wieder im Mittelpunkt stehen willst«, bemerkt er genervt. »Aber ich kann dich beruhigen. Es gibt keine Schleifspuren oder Hinweise darauf, dass du einen leblosen Körper weggeholt hast. Noch irgendwelche Fragen? Ich muss hier nämlich weitermachen.«

»Entschuldige, dass ich dich dabei störe«, fahre ich ihn an. »Du hast mich schließlich hierherbestellt. Aber wie ich sehe, brauchst du mich gar nicht. Und wo ist eigentlich Cora?«

Er zuckt mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Sucht wahrscheinlich irgendwelche Kräuter im Wald. Ich habe zu tun. Wir sehen uns später.«

Ich sitze schon in meinem Wagen, als er mir noch etwas hinterherruft: »Gute Besserung!«

Da erst merke ich, dass das Hämmern hinter meiner Stirn tatsächlich nachgelassen hat. Muss die frische Eifeler Luft sein.

Ich hätte große Lust, gleich nach Kronenburg zu fahren und Hans-Peter mit der Erkenntnis zu konfrontieren, dass der alte Freund, mit dem er nichts zu tun haben will, auf gewaltsame Weise das Zeitliche gesegnet hat. Aber ich beherrsche mich. Drei Stunden sind eine lange Zeit. Es widerstrebt mir, diesen Mann so lange auf meinem Terrain um mich zu haben. Noch dazu in Gegenwart einer kuhäugigen Gudrun, die alles daransetzen wird, ihn zu umgarnen und zu verteidigen. Mich nervt das alles. Ich mache also wieder eine Rundtour, diesmal durch das etwas dichter besiedelte NRW.

 

Als ich später in den Hof der Einkehr fahre, treten Jupp und Hein gerade vor die Tür. Gespannt kommen sie auf mich zu.

»Was ist denn in Krewinkel passiert?«, fragt Hein, der sich dem Anlass entsprechend das Haar blauschwarz gefärbt hat und mit dunkellila Schuhen prunkt. Jupp trägt ein neues dunkelblaues Hemd und blank polierte Schuhe. Sein ergrauendes Haar hat er sich mit Gel verklebt. »Gudrun sagt, du bist Hals über Kopf davon, weil Marcel dich angerufen hat. Sie tat sehr geheimnisvoll und ist voller Sorge um dich.«

»Es gab einen weiteren seltsamen Todesfall«, gebe ich müde zurück. Gudrun sollte nicht so viel reden.

»Mord?«, fragt Jupp mit einer Stimme, die sowohl verzweifelt als auch hoffnungsvoll klingt. Jeder Mord, der nicht ihm angelastet werden kann, kommt ihm in seiner Lage wohl recht.

Ich schüttele den Kopf.

»Autounfall. Vielleicht auch Herzinfarkt, weiß man noch nicht. Ein Tourist, wie es scheint.«

»Ach so«, gibt Hein erleichtert zurück, »dann geht es uns ja nichts an.«

»Vielleicht doch«, murmele ich. »Ihr habt euch ja ganz schön aufgebrezelt. Wo wollt ihr zwei Hübschen denn hin?«

»Nach Trier. Essen und dann in die Disco«, sagt Jupp. »Wir müssen mal hier raus. Abtanzen. Aber wieso geht es uns vielleicht doch was an?«

»Das muss ich noch herausfinden«, sage ich und erinnere Jupp daran, dass er sich der Polizei zur Verfügung halten solle und das Bundesland nicht verlassen dürfe.

»Trier ist nicht aus der Welt«, bemerkt Hein ungehalten.

»Aber in Rheinland-Pfalz. Du musst in NRW bleiben, sonst könntest du Schwierigkeiten kriegen, Jupp.«

Der große breite Mann lacht bitter.

»Dann dürfte ich weder dich zu Hause besuchen noch Gudruns ehemaligen Hof renovieren. Aber du hast ja recht, Katja. Dann fahren wir eben nach Köln.«

Hein nickt.

»Morgen ist der Spuk eh vorbei«, sagt er, »da wird das Obduktionsergebnis bekannt gegeben und mein Jupp entlastet sein.«

»Wenn du meinst«, murmele ich, immer noch nicht ganz überzeugt, dass Mutter Agnes eines gänzlich natürlichen Todes gestorben sein soll. Hans-Peter hat es sehr drastisch ausgedrückt, aber mit einem hatte er recht: Jupp war ziemlich durch den Wind gewesen, als Marcel erwähnte, man werde die Todesursache gerichtsmedizinisch untersuchen. Die werden doch meine Mama nicht aufschneiden.

»Alles, was ich getan habe, war, meine Mutter in den Wald zu bringen. Und der Ritt hat sie nicht umgebracht«, versichert Jupp, »sie hat gelebt und war ganz klar, als ich sie unter den Baum gelegt habe. Und sie hat ganz bestimmt nichts zum Einholen mitgeholt.«

»Aber man hat eine leere Schnabeltasse unter der Decke gefunden«, gebe ich zu bedenken, während mir durch den Kopf geht, wie verwirrt ein Eifeler in Berlin wäre, wo man beim Einholen etwas kauft.

»Wasser«, sagt Jupp, »da war nur ganz viel Wasser drin. Das wollte sie haben. Sie hatte Durst.«

Sie hatte nie Durst, denke ich, sage es aber nicht laut. Immer wieder hatten uns Dr. Knauff und der Pflegedienst vor der Dehydrierung der alten Frau gewarnt und uns beschworen, ihr regelmäßig Wasser einzuflößen. Wie vielen betagten Menschen fehle ihr das Gefühl für Durst, hieß es.

Aber so klar Mutter Agnes im Kopf auch gewesen sein mochte – körperlich war sie viel zu schwach, als dass sie einen Haufen Tabletten horten, verstecken und hätte einnehmen können. Ich stelle mir vor, wie behutsam Jupp sie vor sich auf dem Pferd gehalten hat und mit ihr von Losheim über die Felder unter den Windrädern hindurch in den Wald zur Kehr geritten ist. Die Polizisten aus Euskirchen hatten sich gewundert, dass ihnen die ganze Strecke über niemand begegnet war – was eigentlich nur zeigt, wie fremd den Beamten aus der Ebene unsere bergige Ecke doch ist. Der jüngere Polizist, der offensichtlich noch nicht lange dabei ist, hat sogar darüber gestaunt, dass der belgische Kollege so einwandfrei Deutsch spricht, und Marcel daraufhin ein Kompliment gemacht.

»Sie beherrschen Ihre Muttersprache doch auch«, hatte der irritiert erwidert und den Euskirchener damit nur noch mehr verwirrt. Als dessen älterer Kollege ihn unkorrekt darüber aufklärte, Marcel sei ein deutscher Belgier, musste der zu untersuchende Fall zugunsten eines Vortrags über die Deutschsprachige Gemeinschaft des Königreichs zurückstehen.

 

Zwei Stunden später

Wo bleibt Hans-Peter? Er sollte längst hier sein. Marcel hat soeben angerufen, um mir mitzuteilen, dass er sich jetzt aus Sankt Vith auf den Weg mache und ich mich bitte schön mit dem möglichen Delinquenten in mein eigenes Haus begeben solle.

Ich blicke auf die Uhr. Der Polizist wird eine knappe halbe Stunde brauchen, weniger als ich, wenn ich nach Kronenburg fahre, Hans-Peter da aufgabele und mit zurücknehme.

»Hoffentlich ist ihm nicht auch noch was zugestoßen«, unkt Gudrun jammernd.

»Ganz bestimmt. Eine hübsche Kellnerin zum Beispiel«, gebe ich grob zurück. Die Möhre, die mir Gudrun aus der Küche hinterherwirft, verfehlt mich knapp und knallt gegen die Garderobe im Flur. Linus, der dem Flugobjekt hinterhergeeilt ist, knurrt enttäuscht, als er es aufgestöbert hat.

»Du bleibst hier!«, kommandiere ich ihn, als er mir ins Freie folgen will.

Kurz vor dem ehemaligen Zollhaus biege ich die Straße Zur Kehr rechts ein und sehe vor mir eine Nebelwand. Nun, ich kenne den Weg runter nach Hallschlag, der Ortschaft, aus der meine Mutter stammte und wo Marlene Jenniges Hexenküche steht, ein kleiner Imbiss, an dem ich gelegentlich eine Zwischenmahlzeit einnehme. Vor allem dann, wenn ihr Mann Karl-Heinz in der Werkstatt neben seinem Gebrauchtwarenhandel meinem inzwischen recht strapazierten Wagen irgendein neues Teil verpasst.

Der Nebel wabert nur über der Kehr. Kurz hinter dem Gehöft des stets hilfsbereiten Kuhbauern Martin Quetsch habe ich wieder freie Sicht. Unten im Dorf biege ich links ab, lasse die Kirche rechts liegen und fahre dann gleich rechts auf die Landstraße. Karl-Heinz blickt auf, als ich an seinem Autohaus vorbeifahre, und winkt mir fröhlich zu. Ich winke nicht zurück, da mir gerade zwei Motorradfahrer entgegenkommen, die sich auf der geraden Strecke ein Wettrennen liefern, und ich abbremsen muss. Solltet ihr nicht schon längst eingemottet sein, murmele ich verärgert und froh darüber, dass die Saison der gefährlich rasenden Zweiräder in der Eifel bald vorbei ist. Als ich hier noch neu war, staunte ich über das Lebensalter – Sterbealter – der vielen Motorradtoten in der Eifel. Früher hatte ich immer angenommen, die ganz Jungen würden durch ihren Übermut auf so fürchterliche Weise bestraft. Aber es sind meistens Männer in meinem Alter, also um die fünfzig, die mit ihren Maschinen begraben werden. Männer, die ihre Jugend noch mal entdecken wollen und dadurch umkommen.

Herbstlaub fegt über die ansteigende Straße entlang des Kronenburger Sees. Zum hunderttausendsten Mal ärgere ich mich über die blödsinnige Ampel im Nirgendwo. Die einzige weit und breit – keines der Städtchen in der Nähe verfügt über eine derartige Verkehrsregelung, weder Prüm noch Stadtkyll oder Jünkerath. Und diese einsame Ampel steht immer auf Rot. Damit die Besucher des holländischen Ferienparks zur Linken sich mit oder ohne Wohnwagen gefahrlos auf die Landstraße einschleichen können, hat mir Hein mal erklärt. Nun gut, Holländer fahren bekanntermaßen langsam und sind eben keine Berge gewöhnt.

Kurz hinter dem Verkehrsärgernis fahre ich die Serpentinenstraße links hinauf. Sie führt in den sehr malerischen alten Ortskern Kronenburgs, des einzigen Wohnorts in der Nachbarschaft, der im Zweiten Weltkrieg von Bombenangriffen verschont geblieben ist.

Ich halte nicht auf dem Parkplatz am Ortseingang, sondern fahre unter einem schmalen Torbogen langsam die kopfsteinbepflasterte Gasse zum Hotel runter. Auf dem sehr feinen und schön restaurierten Schlossgelände parke ich meinen Wagen direkt vor der Hoteltür und betrete den eher kleinen Flur der Rezeption. An der Empfangstheke aus edlem dunklen Holz steht niemand, also strebe ich der gewundenen Holztreppe zu. Erster Stock, Zimmer Nr. 110, die Napoleonsuite, hat Gudrun gesagt. Der riesige gold gerahmte Spiegel auf der rechten Seite im Eingangsflur wirft mir das Bild einer rotgesichtigen übergewichtigen Frau zu, die sich dringend die Haare färben sollte. Was sie noch nie getan hat. Der Gedanke erschreckt mich so, dass ich fast über den Menüständer vor dem Restauranteingang gestolpert wäre. Ich widerstehe der Versuchung, das ganze Angebot der Konkurrenz zu studieren, nehme nur auf, dass hier Filet vom Eifler Hirsch mit caramellisiertem Rosenkohl, Kartoffelgratin und Holunderbirne für 25,50 Euro gereicht wird. Mir knurrt der Magen. Vielleicht hätte ich Hans-Peters Angebot doch nicht ausschlagen sollen.

Vor der Tür Nummer 110 steht eine schmale dunkelhaarige Frau und klopft.

»Zu Herrn Kellenhusen möchte ich auch«, sage ich und beäuge die hübsche Erscheinung misstrauisch. Hans-Peter hat sie bestimmt voller Wohlwollen gemustert.

»Er wollte schon vor einer halben Stunde geweckt werden«, sagt die Frau, die sich mir als Marion mit einem unaussprechlichen Nachnamen vorstellt, »aber er reagiert weder auf Anrufe noch auf Klopfen.«

»Der Mann hat einiges hinter sich und ist schwer erschöpft«, sage ich, »da hilft wohl nur noch kräftiges Rütteln am schlafenden Körper.«

Die junge Frau sieht mich an.

»Wenn Sie das übernehmen würden«, meint sie und öffnet auf mein aufmunterndes Nicken hin die Tür.

»Halloho, Hans-Peter!«, rufe ich.

Nichts. Das schmiedeeiserne weiße Himmelbett ist unberührt. Auf dem Fußboden liegt eine nachlässig hingeworfene Jeans. Links von ihr erkenne ich die Beine, die darin hätten stecken sollen, jetzt aber nackt ins Zimmer ragen. Der Oberkörper des Mannes liegt vor der geöffneten Saunatür. Die Bauchlage erspart uns zwar allzu intime Einblicke, aber das hätte den Kopf, der still in einem Brei von Erbrochenem liegt, auch nicht mehr gestört. Keine von uns beiden muss sich herunterbeugen, um den Puls zu fühlen. Die erstaunt geöffneten Augen des seitlich gelagerten Kopfes sagen uns mehr, als wir wissen wollen.

»Oh Gott«, flüstert Frau Marion.

Ja, ein Gebet ist jetzt wirklich angebracht. In welchem Jenseits sich Hans-Peter befindet, ist sicherlich Glaubenssache. Cora und die Ihren würden ihm wohl das Nirwana wünschen. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Hauptsache, er wird nicht wiedergeboren.