Achtes Gericht
Kehrer Brotzeit
Kleine Würstchen an Gemüse-Weingelée-Törtchen mit Streifen von Kräuterschinken aus eigener Räucherei
»Wie haben Sie ihr geholfen?« Selbst in meinen eigenen Ohren klingt meine Stimme brüchig.
Wieder klingelt mein Handy. Ich greife in die Jackentasche und taste nach dem Aus-Knopf. Marcel kann mir später alles über die Toten erzählen; ich brauche jetzt Informationen von den Lebenden.
Gaby richtet sich auf und wendet sich mir wieder zu. Nicht einmal das Dach des Waldes dämpft das grüne Leuchten ihrer Augen, das in seltsamem Kontrast zu der makellos weißen Haut und dem langen Dunkelhaar steht. Ich kann ihr nur kurz in das schwarz umrandete Grün blicken. Als hätte ich eine unziemliche Frage gestellt und müsste schuldbewusst zu Boden sehen.
Ihre unerwartete Offenbarung hält mich auch davon ab, auf sie zuzutreten. Als wäre sie ein Todesengel, den ich auf Abstand zu halten habe, da meine Zeit noch nicht abgelaufen ist. Todesengel. Was hat mir Marcel soeben mitgeteilt? Das Eibengift soll Hans-Peter getötet haben? Und vielleicht auch Herrn Eichhorn? Oder habe ich den Anruf nur geträumt? In meinem Kopf geht alles drunter und drüber; es fällt mir schwer, Gedanken aneinanderzureihen oder auch nur einen einzigen länger als den Bruchteil einer Sekunde festzuhalten.
Angewurzelt wie die Eibe, bleibe ich mit gesenktem Haupt ein paar Schritte vor ihr stehen, vor Gaby von Krump-Kellenhusen, dem letzten Menschen, den Mutter Agnes gesehen hat. Ich mühe mich um Sammlung. Auch Gaby macht keinerlei Anstalten, mir zur Begrüßung die Hand zu reichen. Sie hatte es doch so eilig, nach Kronenburg zurückzukehren, aber mit ihrer Antwort lässt sie sich Zeit.
»Ihre Zähne waren ihr fremd. Sie konnte mit ihnen den Samen nicht gut kauen«, wispert sie. »Gejammert hat sie und geweint. Um Gnade gefleht. Um Hilfe. Man solle ihr die Nadeln des Baumes zerkleinern; die brauchte sie nicht zu kauen.«
Jetzt blicke ich wieder auf. Nicht Jupp, sondern Gaby von Krump-Kellenhusen hat bei der ihr fremden Mutter Agnes Sterbehilfe geleistet. Ihr das Gift gereicht. Ist bei ihr gewesen, als sie ihren letzten Atemzug tat. Hat ihr anschließend ein würdiges Aussehen verliehen. Legt jetzt eine Blume an den Ort, wo dieses alles geschehen ist. In meinen Schrecken über diese Tat mischt sich eine widerwillige Bewunderung. Ich kannte Mutter Agnes und wusste, wie sehr sie das Ende herbeigesehnt hat. Aber ich hätte ihr nie dabei helfen können – ebenso wenig, wie Jupp das gekonnt hat. Ich könnte auch nicht einem angeschossenen Reh mit einem Stein den Schädel einschlagen.
Die Mopsfledermausforscherin, die Societylady aus Berlin, die Ehefrau, die einen Privatdetektiv auf ihren Mann ansetzt, dann sein Fremdgehen duldet, diesem aber wegen gestohlener Stiftungsgelder durch ihr Verschwinden womöglich eine böse Falle stellt, die einer fremden Frau im Wald beim Sterben hilft – wie viele Gesichter hat diese Frau denn noch?
Ich mustere sie genauer. Ja, sie ähnelt ihrem wunderschönen Bild, auch wenn ich jetzt besser erkennen kann, wie tief sie in die Farbtöpfe gegriffen haben muss, um das zu bewerkstelligen. Was die Natur verhunzt, ersetzt die Kunst, pflegte ein Designer zu sagen. Man braucht kein Psychologiestudium absolviert zu haben, um zu wissen, dass sich hinter kräftiger Schminke ein schwaches Selbstbewusstsein verbirgt. Das wiederum passt nicht zu allem, was ich inzwischen über diese Frau weiß. Außerdem ist etwas Bekanntes, etwas Vertrautes um sie, etwas, das ich nicht benennen kann. Wahrscheinlich ist es die Tatsache, dass sie mir ein Geheimnis anvertraut, mich zur Verbündeten ihrer erschreckenden Tat macht. Von mir Anerkennung erheischen will. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Mutter Agnes war nicht die Einzige, die in den vergangenen Tagen an dem Gift der Eibe gestorben ist. So etwas Ähnliches hat Marcel doch gesagt, oder nicht?
Was ist nur mit mir los? Wie Sternschnuppen schießen mir Gedanken und Erinnerungsfetzen durch den Kopf, die gleich danach wieder verglühen, keinen einzigen kann ich festhalten. Meine Augen brennen, und meine Zunge schabt wie Sandpapier an meinem Gaumen. Ich blinzele und schlucke, aber das hilft auch nichts. Nein, den Anruf habe ich nicht geträumt, registriert mein vernebeltes Hirn. Nur zu lange im vom Cannabis verpesteten Rauch gestanden. Hein sei Dank.
Und zu lange darauf gewartet, dem weiblichen Phantom, das vierzehn Jahre lang mein Berliner Leben und in den letzten Tagen mein Eifeler Dasein mitbestimmt hat, endlich leibhaftig gegenüberzustehen. Alles andere ist dadurch erst einmal in den Hintergrund getreten. Erstaunlich, wie lebendig die Vergangenheit aufersteht, wenn eine einstige Hauptprotagonistin der Gegenwart den Todesstempel aufdrückt.
»Sie hat die Nadeln geschluckt und mit dem Wasser aus ihrer Schnabeltasche runtergespült?«, frage ich, bemüht, den Nebel in meinem Kopf zu durchdringen und so nüchtern wie möglich zu klingen.
Gaby lacht bitter.
»Das Wasser hatte sie doch schon längst verschüttet, als ich sie unter der Eibe fand. Sie wollte wie eine alte Germanin sterben, wie jener Keltenherrscher, der lieber Eibensamen im Mund zermalmte, als sich Caesar zu unterwerfen. Aber sie konnte es nicht. Selbst dafür war sie zu schwach. Ich habe sie gestützt und ihr von meinem Wasser abgegeben. Wer auch immer ihr das Bett im Wald gemacht hat – es war unverantwortlich, sie da sich selbst zu überlassen und solchen Qualen auszusetzen. Was hätten Sie an meiner Stelle getan?«
Den Arzt geholt, denke ich, sage aber nichts.
»Ich wollte losgehen und Hilfe rufen«, flüstert Gaby.
»Warum haben Sie das nicht getan?«
Die Pause ist wieder sehr lang. Schließlich stößt sie fast unhörbar aus: »Weil ich nicht allein war.« Sie formt mit den Lippen ein Wort, das ich nicht hören, aber lesen kann.
»Cora!«, übersetze ich es laut.
Gaby nickt.
»Ja, sie war dabei. Sie versteht alles von Kräutern und Bäumen und begriff sofort, was die alte Frau vorhatte. Wer unter einer Eibe einschläft, hat sie gesagt, rechnet damit, nie wieder aufzuwachen. Aber die alte Frau konnte nicht einschlafen.«
Gaby bricht ab und starrt auf die Stelle, an der Mutter Agnes gelegen hat. Ich sage nichts, warte einfach, bis sie sich wieder gesammelt hat und weitersprechen kann.
»Haben Sie schon einmal einen uralten Menschen weinen sehen? Das greift Ihnen mehr ans Herz als jede Kinderträne. Wir haben mit ihr geweint. Und dann hat ihr Cora die Nadeln zerkleinert und sie ihr in den Mund gesteckt. Während ich den dünnen alten Körper in meinen Armen gehalten und ihm Wasser gegeben habe.« Ein Zittern fährt ihr durch den Leib.
»Jetzt wissen Sie alles«, haucht sie hinzu.
»Nicht ganz«, widerspreche ich leise. »Weshalb war Cora hier?«
»Das ist eine lange Geschichte und hat mit der alten Frau nichts zu tun. Nur mit meiner Sorge um Cora. Ich hatte mich mit ihr am Bunker getroffen. Das war schon vor Längerem so verabredet. Und Sie treffe ich hier nur, weil Sie mir sagen können, wo Cora jetzt steckt. Ich muss das wissen.«
Die plötzliche Schärfe in ihrer Stimme lässt mich zusammenzucken. Jetzt glaube ich zu wissen, weshalb mir Gaby von Krump-Kellenhusen irgendwie bekannt vorkommt.
»Cora ist Ihre Schwester«, stelle ich fest und fahnde im halb hinter Haaren verborgenen Gesicht nach Ähnlichkeiten. Die Nase ist genauso klein, auch wenn sie natürlich keinen Igelpunkt aufweist. Der Mund scheint breiter zu sein, aber das könnte durch den großzügig aufgetragenen violetten Lippenstift täuschen. Und sie ist etwa einen halben Kopf größer.
»Nicht ganz«, antwortet Gaby, die beiden Worte wie einen Seufzer ausstoßend, »aber wir sind nah verwandt, das ist schon richtig. Sie liegt mir sehr am Herzen. Ich möchte und muss sie schützen, wie schon so oft in ihrem Leben.«
»Wovor?«
»Vor sich selbst. Cora ist hochgradig gefährdet. Vielleicht ist auch Ihnen aufgefallen, welche Sensibilität sich in ihrem zähen Körper und hinter der taffen Maske verbirgt. Rein klinisch gesehen, ist sie die klassische Borderlinerin. Die nur überleben kann, weil sie so lebt, wie sie lebt. Was ihr in den labilen Phasen auch nicht immer gut glückt, und dann braucht sie mich. Niemand kennt sie so gut wie ich, auch wenn mir ihr Lebensstil fremd ist. Aber das, was sie hier getan hat, kann sie nicht einfach so wegstecken, selbst wenn sie es auf ihre Weise versucht. Sie hielt es für unser Kismet, die sterbende Frau aufzufinden. Wir seien es unserem eigenen Karma schuldig gewesen, ihr über die Schwelle zu helfen. Aber …«
Sie bricht ihren dahingehauchten Monolog ab, scheint den Faden verloren zu haben. Vielleicht befürchtet sie auch, mir zu viel zu erzählen. Schließlich bin ich nicht gerade die beste Freundin, der sie das Herz ausschütten will.
»Cora wirkte auf mich sehr stark, geradezu autark, in sich ruhend und ausgesprochen fröhlich«, wende ich ein und schiebe die Erinnerung an die zitternde Frau mit dem Kleinkind auf dem Arm zur Seite.
»Cora spielt die starke Frau«, fährt Gaby leise fort. »Sie ist viel schwächer, als sie wirkt.«
»Warum haben Sie dann zugelassen, dass sie die alte Frau tötet?«, frage ich. »Warum haben Sie sich ihr gerade in dieser Sache untergeordnet und mitgemacht?«
»Weil Cora von Leben und Tod mehr versteht«, antwortet Gaby. »Auch wenn sie die Schicksalsschläge ihres eigenen Lebens nie aufgearbeitet, sondern mit esoterischem Müll zugeschüttet hat. Sie ist ein Drifter, wissen Sie, was das ist?«
»Nein.«
»Eine Vagabundin. Die das Glück im Hier und Jetzt und nur da sucht. Die heute dies denkt, morgen das Gegenteil und übermorgen gar nichts mehr. Die keinen Ehrgeiz hat, keine Bedürfnisse, keine Eitelkeit, kein Gefühl für Verantwortung …«
»Das stimmt nicht«, unterbreche ich, an Vinzenz und Coras Angst vor den Kampfhundgenen von Linus denkend.
»… gegenüber sich selbst«, setzt Gaby fort. »Dass sie nicht längst verhungert ist, grenzt an ein Wunder. Irgendwie findet sie immer wieder Leute, die sie durchfüttern. Meistens schräge Esoteriker, auf die wirkt sie wie ein Magnet. Egal, jahrelang höre ich nichts von ihr; dann taucht sie aus dem Irgendwo plötzlich auf und hat sich in irgendwas verheddert, aus dem ich sie irgendwie herauslösen soll. Durch Zufall, an den sie natürlich nicht glaubt, sind wir auf das Sterbelager der Greisin gestoßen. Da konnten wir nicht über den eigentlichen Grund unserer Begegnung sprechen …«
»Und was war das?«, werfe ich schnell dazwischen.
Mit einer Handbewegung wischt Gaby meine Frage weg und fährt fort: »Ich habe große Sorge, dass sie etwas Furchtbares getan hat. Was nichts mit dem allem hier zu tun hat.«
Ich hole tief Luft und blicke auf die kümmerlichen Stängel der Astern und Chrysanthemen. Die Blumen sind nicht richtig verwelkt, sie sind platt. So als sei gerade erst ein Autoreifen darübergefahren. Nein, die stilsichere Gaby hätte nie einen solch schäbigen Strauß niedergelegt. Die Lilie passt besser zu ihr.
Ich atme aus und frage: »Hat Cora Ihren Mann ermordet?«
»Nein, soweit würde sie nicht …« Ihre grünen Augen weiten sich. »Was sagen Sie da! Hans-Peter ermordet? Kein Herzinfarkt? Das kann doch nicht sein! Ermordet! Wer sollte so etwas tun? Woher wissen Sie das?«
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und stelle es wieder an.
»Bin soeben telefonisch darüber informiert worden.«
Gaby greift neben sich, als suche sie Halt. Die Eibe steht etwas zu weit ab, also sinkt sie in den Farn.
»Um Gottes willen«, murmelt sie, »ich hätte ihr nichts sagen sollen …« Sie bricht ab, blickt zu mir hinauf und versetzt mit Bestimmtheit: »Das glaube ich nicht. Woher wollen Sie das wissen?«
»Von einem gut informierten Freund«, erwidere ich.
»Etwa dem Polizisten, mit dem Sie mir gestern im Hotel aufgelauert haben?«
»Wir haben dort nur gegessen«, antworte ich pikiert. »Ja. Der hat das gesagt.«
»Und Sie? Was haben Sie ihm gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, dass wir uns jetzt treffen«, antworte ich ungeduldig.
Gaby rafft sich wieder auf. Ich wundere mich über die schwarzen Stiefeletten, die ihr Outfit mit den weiten schwarzen Seidenhosen perfekt vervollständigen, aber eigentlich nicht in den Wald gehören. Die Hose ist wahrscheinlich das einzige Kleidungsstück in ihrem Koffer, das als Trauergarderobe durchgehen kann. Damen wie Gaby achten auf so etwas. Vermutlich kraxelt sie auch voll gestylt auf dem Himalaja herum. Und fürchtet hier, sich mit flachen Wanderschuhen im Wald den weiten Hosensaum zu zertrampeln.
»Wo steckt Cora?« Die Frage ist derartig hingehaucht, dass ich es vorziehe, sie nicht gehört zu haben.
»Was haben Sie denn geglaubt?«, stelle ich eine Gegenfrage. »Was soll Cora denn Furchtbares getan haben?«
Holger Eichhorn fällt mir ein; das schreckliche Tor am Ende seines Lebenswegs, das Tor, hinter dem Cora gewohnt und vor dessen Resten sie wohl die Blumen gepflückt hat. »Etwa Herrn Eichhorn in den Tod getrieben?«
Einen Moment lang bleibt Gaby so starr stehen, als hätte sie der Schlag getroffen. Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht.
»Nein, nein, nein«, jammert sie und fällt in den Farn zurück. Ihre hohe Stimme überschlägt sich: »Das kann nicht sein, dass Holger auch tot ist!«
Meine Gelenke ächzen, als ich in die Knie gehe und unbeholfen ihre zuckenden Schultern streichele.
»Es tut mir so leid«, flüstere ich. »Ich dachte, Sie wüssten das schon längst.«
»Woher denn?«, klagt ihre Stimme hinter der Handwand. »Wer hätte mir das sagen sollen? Wusste doch keiner, dass wir uns hier treffen wollten! Das war alles ganz geheim! Sollte ganz diskret laufen. Eine so entsetzlich peinliche Angelegenheit! Also daher wissen Sie das mit den Stiftungsgeldern! Aber das geht doch nicht, Holger kann nicht tot sein. Ich brauche ihn doch! Wie denn? Was ist passiert?«
»Ein Unfall«, sage ich, um sie nicht zu überfordern. Das Eibengift kann warten.
Gaby nimmt die Hände vom Gesicht und prügelt Farn in den Waldboden.
»Deshalb hat er sich nicht mehr gemeldet!«, jault sie. »Jetzt ist alles dahin!«
Ich greife in meine Hosentasche, ziehe ein verkrumpeltes Papiertaschentuch hervor, streiche es glatt und berühre damit ihre Hände.
»Ist fast sauber«, flüstere ich. Sie schüttelt den abgewandten Kopf.
»Lassen Sie mich allein«, zischt sie. »Hans-Peter ermordet! Holger tot! Nein, nein, nein! Das geht doch alles gar nicht! Was soll ich jetzt nur tun?«
Ich stehe langsam auf, stecke das Taschentuch wieder ein und rühre mich nicht vom Fleck. Das bisschen Zellstoff hätte wahrscheinlich eh nicht gereicht, um durch die Make-up- und Kajalschichten zu den verweinten Augen vorzudringen. Ich habe noch so viele Fragen. Und irgendwann versiegt jeder Tränenstrom.
Ich rufe mich zur Ordnung. Die Frau hat gerade erst erfahren, dass ihr Ehemann ermordet wurde und der Privatdetektiv, den sie auf denselben angesetzt hat, mit dem sie möglicherweise noch etwas Innigeres verbunden hat, wer weiß das schon, auch tot ist.
Aus Pietät und voller Bedauern, so wenig erfahren zu haben, will ich mich gerade abwenden, als Gaby unter Schluchzern etwas hervorstößt, das sich wie ein Flehen anhört.
»Wie bitte?«, frage ich unsicher.
»Bringen Sie mir Cora! Ich habe so eine Angst, dass sie sich etwas antut! Dass sie durchdreht! Bitte, Katja, Sie wissen doch, bei welchem Meister sie steckt. Mir wollte sie es nicht sagen – und ich habe die Suche aufgegeben, mir die Füße dabei blutig gelaufen; haben Sie eine Ahnung, wie viele Sekten sich in dieser Gegend tummeln? Aber Sie kennen Cora! Sie haben mich von ihr gegrüßt! Das ist doch ein Zeichen, dass sie mich sehen will, dass sie meine Hilfe braucht. Gehen Sie, gehen Sie! Holen Sie Cora, Katja; die muss weg von welchem Guru auch immer, sie muss zurück ins Leben! Schnell, bevor es zu spät ist! Bringen Sie mir Cora!«
Nur zu gern, denke ich, wenn ich denn wüsste, wo sie ist. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie wirklich wieder zu Victor zurückgekehrt ist. Das hätte Marcel doch herausgefunden. Andererseits erzählt er mir ja nie was. Oder fast nie. Nur das von dem Eibengift eben.
Ich werfe noch einen Blick auf die im Farn zusammengekauerte Frau und trabe davon. Vielleicht sollte ich doch noch mal in Krewinkel vorsprechen, Victor ein bisschen mit dem Nationalregister und Drogenfahndung bedrohen und aus ihm Coras Aufenthaltsort herausquetschen.
Bei Hans-Peters Sportwagen vor dem Hochwasserbehälter lege ich eine kurze Pause ein. Ist es wirklich erst drei Tage her, dass dieser Mann mit einem Baby im Arm bei mir hereinschneite, vergeblich Süßholz raspelte und unverzüglich Gudrun schöne Augen machte?
Drei Tage, drei Tote und mehr als nur drei Fragen. Eine hat Gaby seltsamerweise nicht gestellt, nämlich die, wo Holger Eichhorn denn ums Leben gekommen ist. Und ich habe nicht erfahren, was Cora Furchtbares getan haben soll.
Eines erscheint mir sonnenklar: Auf seltsame Weise besitzt die immer geheimnisvoller werdende Igelfrau, die ganz außen vor zu stehen schien und die ich selbst nie in Verbindung mit den drei Todesfällen gebracht hätte, den Schlüssel zur Lösung des Mordes an Hans-Peter. Wahrscheinlich ist sie sogar seine Mörderin, Borderlinerin hin oder her. Und hat irgendwie auch Herrn Eichhorn mit dem Taxin verseucht. Wie nur? Warum? Wann? Sie war doch schon längst weggeradelt, als Holger Eichhorn bei mir auf der Kehr aufkreuzte. Und gleich danach fuhr er sich mit Eibengift im Körper am Märchenschlosstor zu Tode.
Warum nur kriege ich die Geschehnisse von vorgestern nicht ordentlich auf die Reihe? Weil ich an jenem Tag furchtbare Kopfschmerzen hatte. Wie Gudrun ja auch, obwohl sie vor Glückseligkeit beinahe geplatzt ist. Da kriegt man normalerweise keine Kopfschmerzen. Oder so schlimme Ausfallserscheinungen, wie ich sie jetzt auch grad erlebe. Das liegt natürlich daran, dass ich soeben ungute Stoffe eingeatmet habe. Aber vorgestern? Da hat nur Hans-Peters Pfeife in meiner Küche gequalmt. Die Early Morning Pipe mag zwar grässlich stinken, aber Kopfschmerzen hat mir ihr Rauch nie zuvor bereitet.
Zweimal hintereinander habe ich mich durch Rauch eingeschränkt gefühlt. Da muss es doch eine Verbindung geben. Langsam dämmert es mir. In der blauen Dose wird nicht nur Tabak gewesen sein, sondern ein weiterer, erheblich giftigerer Zusatz. Ein eibengiftiger. Nur so lässt sich erklären, dass Hans-Peter und Holger Eichhorn der Essenz dieses Nadelbaums zum Opfer fielen. Rauchen war tatsächlich tödlich für die beiden Männer, die sich aus der blauen Dose bedient haben.
Endlich gelingt es mir, die Nebelschwaden aus meinem Hirn zu vertreiben, die Benommenheit zurückzudrängen und logische Gedanken in meinem allmählich klarer werdenden Schädel zu sammeln. Ich weiß, dass ich immer noch bekifft sein muss, aber unter großer Anstrengung kann ich mich tatsächlich zwingen, klar zu denken; Marihuana wirkt sich offenbar anders als Alkohol aus, bei dem man abwarten muss, bis der Zustand der Vollidiotie vorübergegangen ist.
Alles läuft auf eine einzige Schlussfolgerung hinaus: Die so harmlos erscheinende burschikose Igelfrau hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen! Drei, wenn ich Mutter Agnes mitzähle. Die im Schatten der Mordwaffe starb, der todbringenden Eibe. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Cora. Wie sie Nadeln und Samen gleich an Ort und Stelle in ihren ökologisch abbaubaren Hanfbeutel steckt. Vielleicht nur für alle Fälle. Vielleicht aber wusste sie schon, wie, wo, wann und bei wem sie das Gift aus welchem Grund auch immer einsetzen würde.
Jeder, der in den vergangenen drei Tagen in mein Haus hereinspaziert wäre, hätte Gelegenheit gehabt, sich an Hans-Peters Tabakdose zu vergreifen. Als hätte ich geahnt, was für ein Unheil das verdammte Ding heraufbeschwören würde, hatte ich es andauernd loswerden wollen, und dann lag es ständig in der Gegend rum!
Cora hat sich eine Weile allein im Haus aufgehalten; als sie vorgab, den Säugling vor Linus zu retten. Da wird sie von der Einkehr aus auch Holger Eichhorn angerufen haben, entweder in Gabys Auftrag oder, was mir jetzt folgerichtig erscheint, aus eigenem Antrieb. Um ihn herbeizulocken und umzubringen. Da wird sie Hans-Peters Tabak bereits mit taxinhaltigem Eibenstoff versetzt haben, vielleicht mit Nadeln, die sie genauso liebevoll zerkleinert hat wie für Mutter Agnes. Stirbt man schon, wenn man eibengiftigen Rauch inhaliert? Überdauert das Gift die hohen Temperaturen in einem Pfeifenkopf?
Was sagte Marcel soeben? Im Körper von Herrn Eichhorn sei zwar Taxin nachgewiesen worden, gesichert sei aber nicht, ob dies seinen Tod herbeigeführt hat. Vielleicht haben ihn die paar Züge nur so benommen gemacht, dass er in der Kurve die Kontrolle über seinen Wagen verlor. Vor Schreck darüber und angesichts des Märchenschlosses blieb ihm das Herz stehen, während sein Auto durch das Tor bretterte. So ähnlich kann es gewesen sein.
Ich bin schuld. Ich habe der Mörderin meine Tür geöffnet. Ein Schauer nach dem anderen jagt mir den Rücken herunter. Meine Knie werden weich, und ich muss mich zwingen weiterzustiefeln.
Warum könnte Cora die beiden Männer umgebracht haben? Überwältigt von der Menge möglicher Mordmotive, bleibe ich vor dem ehemaligen Zollhaus wieder stehen und ringe um Atem. Vielleicht hat Hans-Peter die Igelfrau früher mal angebaggert und dann im Regen stehen lassen. Oder er hat Gaby daran gehindert, sie zu unterstützen. Nein, das taugt nicht als Grund, hätte sich Gaby zudem nicht bieten lassen. In dieser Ehe hat sie bestimmt, was geschah und was unterblieb. Ihr armes Würstchen von Mann hat sich allem gänzlich untergeordnet – und mir diese eindrucksvolle Dame vierzehn Jahre lang selbst als armes Würstchen serviert.
Heins sieben Todsünden fallen mir ein. Habgier! Cora ist hinter Hans-Peters unlautere Luxemburger Transaktion gekommen, hat sich das Geld unter den Nagel gerissen und ist damit getürmt. Nachdem sie dem Detektiv auf irgendeine perfide Weise für immer die schnüffelnde Nase gestopft hat. Aber sie konnte doch nicht wissen, dass er sich an Hans-Peters Tabak vergreifen würde. Vielleicht war dieser Tod ein Unfall in mehr als nur einer Hinsicht. Falls Cora nicht mit Herrn Eichhorn hinter Gabys Rücken gemeinsame Sache gemacht hat und sich dann durch einen als Unfall getarnten Mord ums Teilen herumdrücken wollte. Kann auch sein, dass Gaby Cora, der Bedürfnislosen, das Geld anvertraut oder sie um Hilfe bei der Wiederbeschaffung gebeten hat. Ich werfe den Blick auf das alte Zollhaus, in dem heute eine normale Familie wohnt. Auf Millionen in Cash würde man Cora an der Grenze garantiert nicht überprüfen, auf Drogen schon eher. Nein, wenn es ein Nummernkonto ist, würde sich Gaby irgendwann das Geld selbst abholen. Dafür brauchte sie weder Cora noch Herrn Eichhorn.
Wenn Cora hinter den Morden steckt, und das scheint sehr plausibel zu sein, wird sie die von Hans-Peter gestohlenen Stiftungsgelder bereits eingesackt haben. Das meinte Gaby wohl, als sie von dem Furchtbaren sprach, das Cora getan haben könnte. Wahrscheinlich haben sich die beiden Frauen zu einer Art von Verhandlungsgespräch im Wald getroffen. Das Sterben von Mutter Agnes kam ihnen in die Quere, und da hat Cora ihrer Kontrahentin unmissverständlich gezeigt, wozu sie fähig ist. Von wegen Borderlinerin! Alles bis ins Kleinste geplant, kaltblütig und verwegen. Doch, das traue ich der Igelfrau jetzt zu.
Nachdem die beiden Frauen Mutter Agnes von den Spuren ihres Todeskampfes befreit hatten, war Cora ihrer Gegnerin entwischt. Klar, dass sie in ihren ausgelatschten Sneakers schneller durch den Wald toben konnte als die Dame in ihren feinen Schühchen! Ich kann mir gut vorstellen, wie Gaby voller Verzweiflung auf die tote Mutter von Jupp herunterblickt. Nach dieser Tat brauchte Cora keine Drohung auszusprechen.
Alles passt zusammen.
Gabys Bemerkung, Cora habe keine Bedürfnisse, wische ich genauso zur Seite wie den Eindruck, den ich bisher von der Igelfrau hatte. Wie alt mag Cora sein? Mitte vierzig? Wie lange kann man da noch als Drifter unbekümmert überleben, als Zugvogel sorgenfrei abheben, sich mal hier, mal da niederlassen und den großen Meister einen lieben Mann sein lassen? Wie reagiert so ein Gegenwartsmensch, wenn der Körper Endlichkeitsmeldungen zu verschicken beginnt, die Zähne Ärger machen und die Augen eine Beute nicht mehr so scharf anpeilen können? Kleine Malaisen schüren Ängste, die im Laufe der Zeit größer werden. Für jemanden wie Gaby noch kein großes Problem. Mit ihrem Geld kann sie die ersten Verfallserscheinungen in die Schranken verweisen. Und sogar im Wald souverän Make-up und hohe Schuhe tragen. Cora hingegen könnte in Panik geraten, plötzlich befürchten, auf die falsche Lebenskarte gesetzt und den Anschluss an die real existierende Welt verpasst zu haben. Ohne Rücksicht auf Verluste zuschlagen, weil sie sich mittellos in die Ecke gedrängt fühlt.
Cora muss Gabys Schwester sein. Je länger ich über unsere Begegnung nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt. Kleine Bewegungen, Stimmfärbungen, die Art, wie sie die Schultern hebt und die Nase rümpft, klassische Familienähnlichkeiten.
Seine Frau hat das Geld, hat Gudrun gesagt. Wenn die Schwestern aus einer reichen Familie stammen, wie Hans-Peter Gudrun gesagt hat, sollte eigentlich auch für Cora genug abgefallen sein. Vielleicht hat sie ihr Erbe einem Guru vermacht und ist inzwischen blank? Hat sich Gaby ihr Vermögen gar selbst erarbeitet und Hans-Peter durch den Luxus geschleppt?
Beim Googeln werde ich da wohl schwerlich was finden, aber einen Versuch ist es wert. Sonst soll Marcel sich damit befassen. Vielleicht fördern wir zutage, dass die zauberhafte Gaby von Krump eine etwas abgedrehte ältere Schwester hat, die viel auf Reisen ist. Den Himalaja erstürmt. Himalaja. Nepal, du meine Güte, da stolpern die Gurus, wenn sie nicht gerade schweben, doch noch mehr übereinander als hier im Grenzgebiet! Ein Dorado für eine Frau mit esoterischen Qualitäten. Aber ein bisschen weit weg. Höchstens für ihren Astralkörper schnell erreichbar, und an dem bin ich momentan wenig interessiert. Gut möglich, dass sie sich mit oder ohne Kohle wieder bei Victor versteckt. Rührende Storys kann sie ja geschickt auftischen, wie ich selbst erfahren habe. Ich habe ihr die Geschichte von dem Kampfhund, der das Nachbarbaby verschluckt hat, ja auch abgenommen.
Vor der Einkehr parkt ein Wagen mit Bitburger Kennzeichen.
Jedes fremde Auto ist mir jetzt verdächtig. Wer weiß, wen Gudrun diesmal hereingelassen hat, in welcher Gefahr sie jetzt möglicherweise schwebt. Leise öffne ich die Haustür und schleiche in die Küche. Da wartet zur Abwechslung mal eine erfreuliche Überraschung auf mich.
Mein alter Freund Josef Junk. Der ehemalige Polizeichef von Prüm hat im vergangenen Jahr mit wenigen Worten zur Lösung einer anderen schrecklichen Mordserie beigetragen, mir viel über das Räuchern von Schinken erzählt und ist im Laufe der Zeit zu einem guten Freund des Hauses geworden. Vielleicht kann er mir wieder mit klugem Rat weiterhelfen. Wenn auch nicht mehr als Polizist: Den Ermittlerposten hat er gerade gegen den des Verbandsbürgermeisters von Bitburg eingetauscht. Das war schon eine kleine Sensation: ein SPD-Mann, der in der sonst so schwarzen Eifel eine wichtige Wahl gewinnt. Wohl deshalb, weil er die Bürgernähe auf natürliche Weise ausstrahlt, die der belgischen Polizei von oben herab verordnet wird.
Gut, dass er nicht an jenem Tag hier hereingeschneit ist, als ich Heins Hanf aus dem Keller geholt und den beiden Scheiterhaufen übergeben habe! Bei Marihuana hört für Josef Junk der Spaß auf; dafür hat er mit viel zu vielen Drogendelikten in Prüm zu tun gehabt. Und so wütend ich auf Hein auch war; ausgeliefert hätte ich ihn ebenso wenig, wie das Gaby bei Cora vorhat – sonst hätte sie sich doch längst der Polizei anvertraut. Der hat sie wohl nur erzählt, dass sie vor Wut auf ihren Mann Mopsfledermäuse im Hohen Venn gejagt hat. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass sie sich auf der Suche nach Sektenhäusern im Grenzgebiet Blasen gelaufen hat.
»Da bist du wieder mal in eine schlimme Sache reingeraten«, sagt Josef Junk nach einer herzlichen Begrüßung und deutet auf den riesigen Schinken und das fast so große Stück geräucherten Bauchspecks in der Mitte des Küchentischs. »Deshalb habe ich euch etwas zur Stärkung mitgebracht. Nicht fürs Restaurant, nur zum Privatverzehr«, setzt er streng hinzu.
»Er hat mir aber verraten, wie man so tollen Schinken selbst räuchert«, sagt Gudrun. »Sollten wir auch tun.«
»Ich brauche deinen Rat, Josef. Sag mir, wie ich jetzt vorgehen soll«, bitte ich.
So konzentriert wie möglich erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Ein Blick von außen, von jemandem, der sich mit Menschen und Verbrechen auskennt, tut jetzt not.
Ich will ihn gerade fragen, ob er mich nach Krewinkel begleiten möchte, als uns lautes Reifenquietschen vor der Haustür aufschreckt.
»Was ist bloß jetzt wieder los!«, ächze ich, als ich mich vom Küchentisch erhebe. Josef und Gudrun folgen mir zum Eingang. Dort kollidiere ich mit einem hereinstürmenden Marcel. Vor den Augen der anderen nimmt er mich fest in den Arm und küsst mich ab. Verdattert und nicht gerade unglücklich lasse ich es geschehen.
»Gott sei Dank, Katja! Würg mich nie wieder so am Telefon ab! Ich hatte solche Angst um dich.«
»Wieso das denn?«
»Ich dachte, die bringt dich auch noch um; bin so schnell wie möglich hergerast.«
»Wer?«
»Die Krump-Kellenhusen. Die Mörderin, Katja! Du wärst ihr nächstes Opfer gewesen. Wie gut, dass du ihr entkommen bist!«
Ich starre ihn fassungslos an und löse mich aus der Umklammerung.
»Nein, Marcel«, erwidere ich und schlage ihn mit beiden Händen auf die belgische Polizistenbrust. »Du irrst dich. Ganz bestimmt nicht Gaby, die weiß nichts von den Morden, die hat ein ganz anderes Geheimnis. Cora ist die Täterin. Die steckt dahinter! Gabys Schwester! Die hat alle umgebracht. Auch Mutter Agnes. Da gibt es gar keinen Zweifel, ich kann dir gleich alles haarklein erklären. Was hast du denn herausgefunden?«
»Sag schnell, wo ist sie jetzt?«
Er ist völlig außer Atem, als wäre er die ganze Marathonstrecke von Sankt Vith auf die Kehr gerannt.
Ich hebe die Schultern.
»Gaby? Hier auf der Kehr. Wahrscheinlich noch im Wald. Da habe ich sie völlig fertig zurückgelassen. Obwohl sie es erst ziemlich eilig gehabt hat, nach Kronenburg zurückzukehren. Bevor sie das von den Morden wusste. Ihr Wagen, der von Hans-Peter, meine ich, steht bestimmt noch am Hochwasserbehälter.«
»Komm mit, Josef!«, fordert Marcel den einstigen Kollegen auf, anstatt ihn zu begrüßen oder mich zu fragen, was ich herausgefunden habe. »Vielleicht brauche ich dich, auch wenn du nicht mehr im Polizeidienst bist.«
Josef Junk lässt sich nicht zweimal bitten.
»Klar doch«, sagt er mit leuchtenden Augen und rennt hinter Marcel auf dessen Auto zu.
»Du darfst in Uniform nicht in Deutschland ermitteln«, schreie ich Marcel hinterher, »und du bist jetzt kein Polizist mehr, Josef!«
Wieder quietschen Reifen des belgischen Polizeiwagens auf bundesdeutschem Boden. Auf mich hört ja niemand.
»Marcel hat recht«, sagt Gudrun, als ich in die Küche zurückkehre. »Es war ganz bestimmt die Ehefrau. Habe ich immer gesagt.«
»Hast du, hast du, aber ihr irrt euch beide«, versichere ich. »Ihr habt sie nicht gesehen. Die fiel nicht nur aus allen Wolken, sondern war total verstört. Du hast doch eben gehört, was ich Josef erzählt habe.«
»Eine gute Schauspielerin. Das sieht man doch schon auf dem Foto.«
»Zum Schauspielern gehört einiges mehr, als sich nur gut herzurichten«, erwidere ich, »außerdem gibt es eine Menge Hinweise, dass Cora die Morde begangen hat. Und zwar alle drei.«
Gudrun schüttelt den Kopf.
»Dafür ist die doch viel zu chaotisch«, sagt sie. »Eine überkandidelte Esotante, die in irgendwas reingerutscht ist; das ist sie und sonst nichts.« Sie räumt Schinken und Bauchspeck in den Kühlschrank.
»Ich weiß jetzt, wie man räuchert, Katja«, sagt sie aufgeregt. »Ist überhaupt nicht schwer! Das Schweinefleisch wird eingesalzen, mit geheimen Gewürzen eingerieben, dann wird der Trog eingesolpert, und nach vier bis fünf Wochen ist der Schinken fertig. Der Bauch braucht sogar nur drei Wochen, ach ja, Buchenmehl und Wacholderzweige …«
Ausnahmsweise verspüre ich keine Lust, über die Zubereitung von Lebensmitteln irgendwelcher Art zu diskutieren.
»Ich muss jetzt weg, Gudrun«, unterbreche ich sie.
»Soll ich nun eine Schweinehälfte kaufen oder nicht?«, fragt sie.
Ich deute auf den Kühlschrank.
»Lass uns erst mal Josefs Gabe aufessen, die wird ein Weilchen reichen.«
»Wohin gehst du?«
»Zu Coras alter WG nach Krewinkel.«
Gudrun tritt auf mich zu, greift meine Rechte und drückt sie fest.
»Bitte, Katja, sei vorsichtig, nicht dass dir bei den Verrückten da unten was passiert.«
»Wohl kaum. Ich habe nicht vor, fliegen zu lernen, also werde ich auch nicht zu Boden stürzen. Außerdem weißt du, wo ich bin. Wenn ich mich in einer Stunde nicht bei dir gemeldet habe, sagst du Marcel Bescheid, einverstanden?«
Sie nickt erleichtert.
»Cora wird dir nichts tun«, versichert sie, »die mag dich, und so komisch sie sich sonst auch benimmt – sie achtet die Natur.«
Beides hat sie nicht davon abgehalten zu töten, denke ich. Dreimal. Laut sage ich: »Und was ist mit den geheimen Gewürzen für Josefs Schinken? Hat er dir die etwa auch verraten?«
Gudrun schüttelt schelmisch den Kopf. »Nee, aber du machst da bestimmt eine Mischung, die mindestens genauso gut schmeckt. Nimm Linus mit, Katja. Der geht jedem an die Gurgel, der dir was antun will.«
Der Hund zu Gudruns Füßen schnauft und legt den Kopf auf die Seite. Ich beuge mich runter und streichele das schwarz glänzende Fell.
»Ach, Dicker, was habe ich dich vernachlässigt!« Ich schüttele den Kopf. »Er bleibt besser hier. Cora hat Angst vor ihm; vielleicht schreckt er sie ab.«
»Dann lass ihn eben im Auto«, sagt Gudrun. »Ich fühle mich sicherer, wenn er bei dir ist.«
Also nehme ich den Hund mit.
Lass dich nie wieder hier blicken, hat mir Victor zum Abschied zugeknurrt. Auf der kurzen Strecke bergab überlege ich, wie ich ihn dazu bringen kann, mich doch ins Haus zu lassen. Ich hatte schon erwogen, ihm zu drohen; ihm eine polizeiliche Heimsuchung der besonderen belgischen Art in Aussicht zu stellen. Gerti wird mir nicht sprachlos die Tür vor der Nase ins Schloss werfen, denn ich werde mit dieser Tür ins Haus fallen und Mörder brüllen. Und zwar so laut, dass halb Krewinkel zusammenlaufen wird. Dann muss man mich ja reinlassen. Sollte Victor dann immer noch herumzicken, werde ich ihm mitteilen, dass Cora eine Mörderin ist und gegen ihn als ihren Handlanger ermittelt wird.
Ich muss gar nicht grob oder laut werden. Ganz im Gegenteil. In der Kurve, die Holger Eichhorn leider nicht ganz geschafft hat, parkt ein Lieferwagen, aus dem gerade Elemente für ein neues mächtiges Holztor geladen werden. Victor steht blau gewandet wie immer daneben und dirigiert die Arbeiter. Er blickt zur Straße, als ich gegenüber anhalte und ihn Linus aus dem offenen Beifahrerfenster heraus anbellt. In Deutschland liegt der Hund immer hinter dem Netz im Kofferraum, aber für diese belgische Kurzstrecke gönne ich ihm seinen Lieblingsplatz neben mir.
Da lasse ich ihn auch trotz seines lautstarken Hundeprotests sitzen, als ich aussteige und auf Victor zugehe.
Zu meiner Überraschung zeigt er mir ein besonders erleuchtetes Lächeln. In Zeitlupentempo legt er die Handflächen senkrecht aneinander und neigt den Kopf, bis seine leicht nach innen gebeugten Fingerspitzen fast die Nase berühren.
»Frieden«, sage ich, weil es mir angemessen und notwendig erscheint.
»Ich habe dich erwartet«, sagt er, greift in eine Tasche seiner weiten Hose und zieht ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor, offensichtlich eine bedruckte Seite, die aus einem Buch herausgerissen wurde.
»Das ist soeben unter anderem für dich abgegeben worden.«
»Unter anderem?«, frage ich verwirrt.
»Ja. Solltest du mit zweitem Vornamen Gaby heißen, dann ist es nur für dich.« Er entfaltet das Papier und tippt auf eine Seite, auf der FÜR KATJA/GABY mit schwarzem Marker notiert ist.
»Wer hat das abgegeben?«, frage ich und halte die Hand auf.
»Dem Anschein nach Cora. Einer der Männer …«, er nickt zu den Handwerkern hin, die begonnen haben, die Torelemente ineinanderzufügen, »… hat es von einer Frau mit sehr kurzen grauen Haaren und einem schwarzen Punkt auf der Nase für mich entgegengenommen. Eine ausreichende Beschreibung, findest du nicht auch?«
»Wann war das?«
»Gerade eben«, sagt er. »Warum hat sie es nicht bei dir im Restaurant abgegeben?«
Ich blicke zur Mauer. Da steht immer noch kein rotes Rennrad.
»Keine Ahnung«, gebe ich zurück, »ist sie mit dem roten Rad gekommen?«
»Das rote Rad gehört zu uns«, sagt er mit einer Intonation, die deutlich macht, dass dies für Cora nicht mehr gilt. Leises Bedauern schwingt in der Bemerkung mit. »Es ist nicht an mir, ihre Handlungen zu beurteilen. Alles, was sie macht, hat einen Grund, auch wenn wir ihn manchmal nicht verstehen. Alles wird irgendwann wieder seinen Platz finden.«
»Wie ist sie denn hergekommen?«, frage ich ungeduldig.
»Vielleicht zu Fuß?«, fragt Victor zurück. »Hat der Mann nicht sagen können. Das ist auch gleichgültig.«
Ich will nach dem Zettel greifen. Victor zieht die Hand mit dem Papier durch die Luft.
»Erst bitte ich dich, mir eine Frage zu beantworten.«
»Nur zu«, sage ich.
»Bist du ihre Schülerin?«
Ich starre ihn ungläubig an.
»Wie bitte?«
»Sie ist die Meisterin«, sagt er leise, »die dir im Funken der ursachlosen Seligkeit deine wahre Natur zeigen kann, wenn du bereit dafür bist, ihr zu folgen. Sie lehrt durch die Freiheit, die sie selbst lebt …«
»Gestern war sie noch ein Zugvogel«, unterbreche ich, bevor er zu einem langen Monolog ansetzen kann. Coras Heiligkeit interessiert mich nicht. Ich möchte lesen, was auf dem Zettel steht.
»Das war für den belgischen Staat«, erwidert er ungerührt. »Ich möchte keine Schwierigkeiten mit den Autoritäten. Anderslebende werden hier wie überall misstrauisch beäugt und gelegentlich weggesperrt. Ich will nicht erleben, dass mich meine Kinder mal hinter Gitterstäben sehen müssen.«
Würde ein ganz schönes Gedränge im Gefängnis geben, denke ich und stelle eine Gegenfrage: »Was verbindet dich mit Cora?«
Er schweigt erstaunlich lange. Sagt dann: »Sie wurde von meinem Lehrer gesegnet, dem einzig wahren Meister. Sie war seine beste Schülerin und macht ihm Ehre.«
»Du hast einen Meister über dir?«
»Nicht über mir. Er geht mir voran. Wie auch Cora mir vorangeht.«
»Wie kann das sein, wenn ihr doch beide seine Schüler seid?«, lasse ich mich wider Willen auf dieses Gespräch ein.
»Sie hat Jahre bei ihm gelebt. In Nepal …«
»Etwa bei diesem Ali Baba, der aus Asche Geld macht?«, unterbreche ich, weil mir eine Fernsehsendung einfällt, die ich vor wenigen Wochen gesehen habe.
»Du meinst Sathya Sai Baba«, entgegnet Victor müde, »diesen zaubernden Scharlatan. Nein, ich spreche von meinem Meister. Leider hatte ich nur einen Sommer lang die Ehre, bei ihm zu lernen.«
»Er hat bestimmt auch eine Menge von dir gelernt«, mache ich ein Kompliment, um endlich an den Zettel zu gelangen. Aber der Schuss geht nach hinten los. Victor händigt ihn mir nicht aus.
»Du bist nicht ihre Schülerin«, sagt er vorwurfsvoll, als hätte ich ihn betrogen. »Dein Unwissen und deine westliche Einstellung verraten dich. Ein Meister, der von seinen Schülern lernt, ist keiner. Es liegt in der Natur eines jeden wahren Meisters, seinen Schülern in allem mindestens einen Schritt voraus zu sein.« Ein tiefer Seufzer und ein zweifelnder Blick. »Cora wird wissen, weshalb ich dir dieses Papier geben soll. Es ist mir unbegreiflich, dass sie gerade dich erwählt hat, aber ich habe noch viel von ihr zu lernen.«
Er betrachtet den Zettel noch einmal, als falle es ihm schwer, sich von ihm zu trennen, drückt ihn mir in die Hand und wendet sich ohne Abschied wieder den Toraufbauern zu.
Es ist kein Brief. Dennoch verstehe ich die Nachricht auf der herausgerissenen Buchseite. Eine Textstelle ist schwarz unterstrichen:
Warte da auf mich, wo Chrysanthemen welken.
Normalerweise wäre das wohl ein Friedhof. Der Platz unter der Eibe kommt einer solchen Stätte nahe. Ich mustere das Papier genauer, aber ein Zeitpunkt ist nicht angegeben.
»Victor!«
Unwillig wendet er sich mir wieder zu. »Hat sie dem Mann gesagt, wann ich da sein soll?«
Er lacht.
»Du kennst sie doch«, antwortet er fröhlich. »Sie wird das Jetzt meinen, die einzige Zeit, die uns zur Verfügung steht.«
Wie schnell kann sie zu Fuß von Krewinkel in den Wald auf der Kehr kommen? Sofern sie nicht über die besondere Gabe des Fliegens verfügt, die möglicherweise nicht nur Zugvögeln, sondern auch wahren Meistern zu eigen ist.
Ohnehin geht Cora davon aus, dass ich vor ihr da bin: Warte da auf mich, wo Chrysanthemen welken. Damit sie mich dort umbringen kann? Oder Gaby, an die der Brief ja auch adressiert ist. Oder uns beide.
Sie wird mich nicht zwingen können, Eibennadeln zu essen oder Taxin zu inhalieren. Die Masse, die ich dieser mageren Kreatur mit meinem Leib entgegensetze, wird sie auch daran hindern, mich in die Bunkerschlucht zu stoßen oder mich auf andere Weise körperlich zu überwältigen. Und gegen Hypnose oder irgendwelche Psychotricks bin ich mit meinem Verstand ausreichend gewappnet. Ich habe nicht die geringste Angst, bin nur der Neugier voll, als ich mich wieder neben Linus ins Auto setze. Was aber, wenn Marcel und Josef noch da sind, weil sie Gaby an der Eibe gefunden haben? Ich muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Cora durch die Männer abgeschreckt werden könnte und wieder untertaucht. Aber wenigstens wird sie dann Gaby nichts antun können. Und Marcel wird begreifen, dass nicht Gaby die Killerin ist, sondern Cora.
Was will sie von mir? Mich für irgendwelche finsteren Aufgaben rekrutieren? KATJA/GABY. Als sei es ihr gleich, welche von uns beiden sie an der Eibe treffen wird. Bevor ich den Motor anlasse, schaue ich mir im Rückspiegel in die Augen. Die Rötung ist fast verschwunden. Auch die Synapsen in meinem Gehirn scheinen wieder bestens zu funktionieren. Jeder Gedanke gebiert einen neuen, der auf seinem Vorgänger aufbaut, und keiner versandet mehr in einem Zwischenbereich wie noch vor Kurzem.
Ich kurbele das Autofenster herunter, atme die saubere Eifeler Luft tief ein und schicke dann die hoffentlich letzten Cannabismoleküle in meiner Lunge hinaus in die Weiten der Schneifel.
Für Cora bin ich weit weniger wichtig als Gaby, die viel mehr von ihr und über sie weiß. Die vielleicht auch aus dem Weg geräumt werden muss, damit Cora in Frieden und Sicherheit in Nepal oder sonst wo ihre Millionen verprassen kann – lauter Worte, die zu der mir bekannten Igelfrau überhaupt nicht passen wollen. Sie hat mich manipuliert, anders lässt es sich nicht erklären.
Widerwillig muss ich dem Krewinkeler Schamanen zustimmen: Sie ist auch mir immer einen Schritt voraus gewesen. Aber ich bin nicht ihre Schülerin und betrachte mich nach meiner Kenntnis der Lage für durchaus befähigt, sie einzuholen. Ich bin auf alles vorbereitet. Sie wird mir auch keine abenteuerliche Geschichte auftischen können, die dazu führt, dass ich völlig ahnungslos Gabys Ableben verursache.
Ich wende den Wagen und fahre wieder auf die Kehr. Die tief hängenden dunklen Wolken über der weiten Hügellandschaft künden Niederschlag an. Vielleicht Schnee, denke ich, als ich auf das Autothermometer blicke. Drei Grad. Hat sich Cora mit einem Schlafsack in den Fledermausbunker verzogen und harrt dort ihres nächsten Opfers?
Am Hochwasserbehälter steht kein weiteres Auto; also haben die Männer Gaby wohl verpasst. Ich stelle meinen Wagen ab und überlege, ob ich außer Linus noch einer Waffe bedarf. Der Hund springt überglücklich aus dem Auto und rennt augenblicklich in den Wald hinein.
»Bei Fuß, Linus!«, rufe ich ihn streng zurück.
Aber natürlich ist das, was er gerade erschnüffelt, viel interessanter als meine Stimme. Zu meiner Verteidigung taugt er wirklich nicht. Sein furchterregendes Aussehen wirkt zwar so abschreckend wie die Atombombe im Kalten Krieg, aber Cora weiß um die geringe Bedrohung durch meinen Hund. Der sie zudem kennt und vermutlich eher verteidigen als angreifen würde, wenn er denn überhaupt was täte.
Aber das vernachlässigte Vieh hat einen Auslauf verdient. Ich überlege, wie lange es dauert, Gartentorelemente abzuladen. Meine Kontrahentin kann noch gar nicht dort sein, wo sie mich hinbeordert hat. Ich soll ja auf sie warten. Nicht in der Kälte.
Also setze ich mich wieder in den Wagen und ziehe aus dem Handschuhfach die Tüte mit englischen Weingummis aus dem Ardenner Grenzmarkt in Losheim. Unter Umgehung der sehr künstlich schmeckenden grünen Teile futtere ich langsam die Tüte dünner. Der Zucker tut mir gut.
Ich rekapituliere die Ereignisse der letzten Stunden, und wieder fällt mir unweigerlich Marcel ein. Ich erwäge, ihn anzurufen und ihm mitzuteilen, dass ich dabei bin, die Mörderin zu stellen. Wo ist er jetzt, und was hat er vor, frage ich mich, als ich mein Handy hervorziehe, und wozu braucht er Josef Junk? Er will offensichtlich Gaby in Kronenburg stellen, ist vernagelt von der Vorstellung, sie wäre die Mörderin. Mir hat er nicht einmal richtig zugehört. Zugegeben, es hat mir sehr behagt, von ihm in den Arm genommen und geküsst zu werden, auch vor den anderen, aber meine Ermittlungsergebnisse hat er nicht ernst genommen. Warum nicht?
Weil er polizeiliche Erkenntnisse hat, über die ich nicht verfüge. Ich kaue langsamer, lasse das letzte Stück roten Weingummis sehr langsam im Mund zergehen. Ich habe alles, was ich von der Frau brauche. Indizien, Beweise gar? Er war sich seiner Sache so sicher. Ich bin mir meiner zwar auch sicher, aber …
Das rote Stück Weingummi fährt mir in den Schlund. Ich werfe die Tüte mit dem grünen Ausschuss auf den Beifahrersitz. Meine gesamte Indizienkette beruht einzig auf dem, was mir Gaby erzählt hat, auf ihren Reaktionen – eine gute Schauspielerin, hat Gudrun angemerkt –, auf ihrer vorgeblichen Sorge um Cora, die wunderbar logisch begründet war, und auf den Schlussfolgerungen, die ich auf dem Weg zur Einkehr daraus gezogen habe. Wo ich noch Nebelschwaden beiseiteschieben musste und die Synapsen noch nicht so geschmatzt haben wie jetzt. Mir kommt ein sehr böser Verdacht. Und je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass er begründet ist. Ich öffne die Autotür.
»Linus!«
Er hört nicht. Ich nehme die Tüte vom Beifahrersitz und raschele. Wupps, ist er da und sitzt schon im Auto, als ich die Tüte wieder hineinwerfe. Ich schlage die Tür zu. Er soll drinnen bleiben und Cora nicht abermals verschrecken.
Victor mag zwar ein fragwürdiger Menschenkenner sein, aber er und seine Sippe sind bestimmt nicht in die Ereignisse um Hans-Peters Tod verwickelt. Und so absurd seine Bemerkungen über Cora auch waren, in der Essenz wirkten sie wahrhaftiger als das, was Gaby über die andere Frau erzählt hat. Vielleicht habe ich mich von Gaby auf raffinierte Weise einwickeln lassen; diese Möglichkeit muss ich in Betracht ziehen.
Hans-Peters Witwe ist das, was die Engländer sophisticated nennen und wofür es keine deutsche Entsprechung gibt. Kultiviert, weltklug, anspruchsvoll, blasiert, raffiniert und unecht – das umschreibt sie perfekt. Und all dieses und noch viel mehr hat sie nachweislich eingesetzt, um Hans-Peter der Untreue in jeglicher Hinsicht zu überführen und ihn möglicherweise dann endgültig zu entsorgen, ohne ihm ihren Zugewinn in der Ehe auszuzahlen. Sie muss seiner doch schon seit Langem überdrüssig gewesen sein!
Ich, die dicke Exgeliebte Katja Klein, war ihr nicht im Weg gewesen, sondern bin ihr mit meinem neuen Wohnort gerade recht gekommen. Wahrscheinlich hat sie mich gegoogelt und die Information Hans-Peter so untergejubelt, dass er geglaubt hat, selbst darauf gekommen zu sein. Dank mir konnte sie alle auf eine falsche Spur leiten, und dank Cora hatte sie in der Eibe die Mordwaffe entdeckt. Moment mal, die Erfinderin der Stiftung für bedrohte Arten soll eine Eibe und ihren tödlichen Inhaltsstoff nicht kennen? Da habe ich mich aber schön blenden lassen! Den Tod von Holger Eichhorn hatte sie aber nicht auf der Rechnung, da bin ich mir sicher. Das war wirklich ein Unfall. Ich glaube nicht mehr, dass sie den Mann wegen der verschwundenen Stiftungsgelder angerufen hat. Wahrscheinlich wollte sie sich rechtzeitig von ihm in seinem flotten Auto nach Berlin zurückfahren lassen. Damit wäre sie weit ab vom Schuss gewesen, als die Leiche ihres Mannes aufgefunden wurde. Und ihr wäre es durchaus möglich gewesen, die Eibennadeln schon vor ihrem Verschwinden in die Tabakdose zu schleusen; vielleicht ist erst die wiederholte Aufnahme des Gifts tödlich, das werde ich später recherchieren. Wahrscheinlich hat Marcel dies schon längst getan.
Ich muss ihm einiges abbitten. Vielleicht bei einem Muschelessen im Café Pipas? Ehrlich gesagt, ich hätte überhaupt nichts gegen eine zweite Nacht in einer Hälfte seines belgischen Doppelbetts einzuwenden. Schon der Gedanke daran wärmt mich mehr, als es die dicke Daunendecke könnte.
Hat Marcel entdeckt, wie weit Gaby ihre Manipulationen getrieben hat? Ich halte es für ausgeschlossen, dass Mutter Agnes oder Jupp Teil des Plans gewesen sind; das muss der Zufall gewesen sein, an den Cora nicht glaubt, wie Gaby mir so zynisch versichert hat. Ich stecke mein Handy wieder in die Jackentasche. Der Akku ist sowieso fast leer. Und ich darf Marcel jetzt nicht stören. Er ist auf der richtigen Spur.
Liebe Igelfrau, ich habe mich in dir doch nicht völlig getäuscht! Du bist schräg, aber nicht gefährlich. Ohne die Chrysanthemen und Astern würde ich jetzt sogar annehmen, dass du von Mutter Agnes gar nichts wüsstest, dass dir Gaby ihren Tod in die Schuhe geschoben hat. Wie sie das später mit den Morden tun wird. Nach einem sicher sehr glaubhaft wirkenden Zusammenbruch wird sie irgendwann völlig verzweifelt die Vermutung äußern, du könntest auch an Hans-Peters und Holger Eichhorns Tod schuld sein. Dein Anruf aus Katja Kleins künftigem Restaurant trägt durchaus zur Glaubhaftigkeit dieser These bei. All das wird herauskommen, wenn sie dich auch getötet hat und es wie einen Selbstmord mit Eibennadeln aussehen lässt. Ja, Cora, jetzt glaube ich, dass dein Kampfhund das Kind der Nachbarin getötet hat. Marcel und Gudrun haben recht. Gaby von Krump-Kellenhusen ist die Mörderin. Nur du scheinst das noch nicht begriffen zu haben und erhoffst dir immer noch Hilfe von der falschen Schlange – warum sonst hast du unser beider Namen auf die herausgerissene Buchseite geschrieben?
Viel leichteren Herzens betrete ich den Waldweg. Ich werde nicht der Mörderin, sondern dem nächsten Opfer auf ihrer Liste begegnen. Und Cora das Leben retten.
Ich muss nicht warten. Zwischen den Fichtenstämmen erkenne ich von Weitem den grauen Jogginganzug. Es sieht so aus, als säße Cora unter der Eibe. Ich rufe ihren Namen und beschleunige meinen Schritt. Hinter mir raschelt es.
Schnell drehe ich mich um, sehe aber nichts Bedrohliches. Wahrscheinlich ist ein Reh, ein Kaninchen oder ein Wildschwein vorbeigehuscht. Lass es nicht Gaby sein, bete ich zu einem Gott, an den ich nicht glaube. Es kann nicht Gaby sein. Marcel und Josef beschatten sie doch. Hoffentlich.
Cora reagiert nicht auf meine Rufe. Ich fange an, querwaldein zu rennen, stolpere über Wurzeln und meine Füße. Seitenstiche machen mir das Atmen fast unerträglich.
Dann stehe ich vor der Eibe. Cora liegt zusammengesunken darunter.
»Wach auf, Cora«, stoße ich keuchend hervor, bücke mich zu ihr hinab und schüttele sie. Ihr Körper ist fast so schlaff wie der einer Puppe. Ich fühle ihren Puls. Sie lebt noch. Ich schlage ihr ins Gesicht. Die Augen öffnen sich halb.
»Was …«
Mehr kann sie nicht sagen. Ich packe den widerstandslosen mageren Leib, schiebe ihn zur Eibe und versuche, den Oberkörper am Stamm aufzurichten.
Dann geht alles ganz schnell. Die Puppe, die ich mit einem Arm umfasse, ist plötzlich sehr lebendig. Ihr rechter Arm bewegt sich rasend schnell. Ich sehe eine Spritze. Und spüre einen Stich im Hals.