Drittes Gericht

Advokatenschmaus

Geräucherte Bachforelle auf Avocadopüree mit Limettensaft beträufelt und Curry-Puderzucker bestreut, begleitet von kleinen Mirabellenklößen

Ohne mich mit Waschen oder anderen morgendlichen Ritualen aufzuhalten, schlüpfe ich rasch in die Klamotten vom Vortag, packe Hund und Handtasche und schlage meine Haustür zu. Ausnahmsweise schließe ich ab. Keiner soll ohne mein Wissen aus meinem Haus etwas wegholen oder gar etwas hineinschmuggeln, das mich ärgern oder im günstigsten Fall in Erklärungsnot bringen könnte, wie zum Beispiel einen blauen Müllsack voll getrockneten stinkenden Hanfs. Sogar in meine Träume hat mich das Rätselraten um die verschwundene verbotene Substanz verfolgt. Seltsam, dass sich diese Angelegenheit stärker in mein Unterbewusstsein eingegraben hat als viele der wesentlich bedeutenderen Ereignisse des Vortages.

Nasse Kälte schlägt mir entgegen. Ein grauer Nieselvorhang schneidet den ansonsten so grandiosen Weitblick auf die belgischen Ardennenausläufer ab, was meine Laune nicht gerade hebt. Ich lege dem Hund mit dem hungrigen Blick das Halsband an, erkläre ihm, dass er sich gefälligst zu gedulden habe; ich hätte schließlich auch noch nichts zu mir genommen, und Jumbo habe gestern gar den ganzen Tag gehungert.

Dann eile ich über die Straße nach Deutschland.

Noch bevor ich die Tür zu meinem künftigen Restaurant aufstoße, beleidigen Scheppern, lautes Stimmengewirr, Babygeschrei und Radiomusik meine noch nicht recht erwachten Ohren. So ungefähr wird es sich wohl auch anhören, wenn mein Laden endlich brummt. Würde ich mein Restaurant in der Großstadt eröffnen, müsste ich mich sicherlich auch noch mit den Lärmschutzbestimmungen herumschlagen. Dieser Gedanke tröstet mich ebenso wenig wie der Anblick, den mir meine Küche bietet, in der sich viereinhalb Menschen breiter gemacht haben, als sie eigentlich sind. Jeder scheint auf jeden einzureden und keiner es für nötig zu befinden, schmutziges Geschirr und Essensreste wegzuräumen, die Drecksspuren auf dem Küchenboden zu entfernen oder dem schreienden Baby einen Schnuller in den Mund zu stecken. Stinkender Qualm verpestet die Luft. Ein Qualm, dessen Namen ich kenne, der vor Jahren durch die Ritzen meines Kleiderschranks gezogen und einer völlig legalen Droge zu verdanken ist. Early Morning Pipe von Dunhill, Hans-Peters Lieblingstabak.

Mit dem Hund an meiner Seite verdunkele ich den Zugang und bringe hustend hervor: »Was ist denn hier los?«

Hein drückt auf den Radioknopf. Sofort setzt Stille ein. Sogar das Kind hält die Klappe. Ich höre nur noch, wie Hans-Peter an seiner Pfeife zieht. Etwas besänftigt, dass mir in meinen beruflichen vier Wänden wenigstens ein Rest von Autorität geblieben ist, schaue ich fragend in die Runde. Mein Blick bleibt an Jupp hängen, der rücklings auf einem kleinen Küchenstuhl sitzt und die Lehne mit beiden Armen umklammert. So, als fiele das ganze Möbel auseinander, ließe er es los. Was es angesichts seiner Körpermasse vielleicht auch täte. Mein Gewicht habe ich diesem Stuhl, der mir nur als Ablage dient, noch nie anvertraut.

»Gut, dass du wieder da bist«, sage ich. »Was ist in Euskirchen passiert?«

Hein blickt von seinem Laptop auf, den er einfach zwischen die dreckigen Teller und Schüsseln auf den Küchentisch geschoben hat.

»Sie haben ihm abgeholt, dass sich seine Mutter selbst das Leben geholt hat«, erwidert er an Jupps Stelle und tippt weiter.

Nach kurzzeitiger Verwirrung habe ich mir den Eifeler Satz übersetzt. Mutter Agnes hat sich durch Freitod das Leben geholt. Welch eine Weltanschauung doch diese Mundart entlarvt! Und was für metaphysische Offenbarungen tun sich in diesem Landstrich auf, in dem Holen seliger denn Nehmen ist! Was für ein Leben hat sich Jupps Mutter geholt? Wie? Und wo steckt sie jetzt?

»Sie ist jetzt frei«, flüstert Jupp, als könnte er Gedanken lesen. »Sie hat sich da hingebracht, wo sie schon lange hinwollte. Aber sie fehlt mir so!«

Ich vermeine, leichtes Knacken zu hören, als der große breite Mann die Stuhllehne noch fester umarmt. Seine zerbrechliche Mutter hätte er nie so fest drücken dürfen.

»Ein Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz ist es dennoch gewesen«, erklärt Hans-Peter, der noch keine Ahnung hat, dass er sich eines möglicherweise gar nicht unähnlichen Verstoßes wegen in wenigen Minuten in polizeilicher Begleitung auf die gleiche Reise wie Jupp gestern begeben wird. Ich glaube keine Sekunde daran, dass er seine Frau wirklich umgebracht und weggeschafft oder unter Eifeler Erde gebracht hat. Auch wenn Marcel das gern gesehen hätte. Als ich vorhin am Telefon bei ihm nämlich nachhakte, wieso eine Genanalyse denn so schnell vorliegen könne, musste er zugeben, dass bisher nur die Blutgruppe übereinstimme und man am Tatort die gleichen »rot gefärbten Haare wie auf einem Bigoudi im Hotelzimmer« gefunden habe, einem Lockenwickler, übersetzt mir der Belgier. Dafür könnte es sicher auch weniger dramatische Erklärungen geben. Für einen Mord ist Hans-Peter viel zu ängstlich und unpraktisch veranlagt.

Vielleicht hat sich Gaby von Krump-Kellenhusen, die mopsfledermausforschende Himalajastürmerin, bei der Besichtigung des Bunkers leicht verletzt, dies aber angesichts eines vermeintlich ausgestorbenen Exemplars ignoriert, das Tier voll wissenschaftlichen Eifers verfolgt und bis ins nahe Hohe Venn gejagt. Sich da an der Stille der Moorlandschaft gefreut und einfach keine Lust gehabt, zu großmäuligem Mann und lästigem Enkel zurückzukehren. Vielleicht sitzt sie gerade in einem der abgelegenen belgischen Gasthöfe, schaufelt Waffeln oder Pommes in sich hinein und freut sich diebisch, dem Gemahl die Urlaubsstimmung verdorben zu haben. So wie dieser mit seinen ungebetenen juristischen Belehrungen jetzt Jupp die Trauerstimmung nimmt.

»Der Nachweis, dass die bettlägerige demente alte Frau Medikamente selbst gehortet und sich ohne Hilfe zugeführt hat, dürfte schwer zu erbringen sein.«

Nach diesem Satz verwerfe ich den Gedanken, meinen Informationsvorsprung aufzugeben und Hans-Peter auf das Herannahen der Staatsgewalt vorzubereiten.

Wie doch drei Semester Jura und jahrzehntelange Berliner Politik einen Menschen deformieren können! Aber wenn ich es recht bedenke, war Herzlosigkeit schon seit jeher Hans-Peters Spezialität. Das wird Gudrun, die ihn nach der gemeinsamen Nacht – ich hatte nie eine ganze Nacht mit ihm verbracht! – noch verzückter anhimmelt, auch noch zu spüren bekommen.

»Meine Mutter hat keine Medikamente gehortet oder eingeholt«, murmelt Jupp, »und ich habe ihr nichts zugeführt. Sie nur genau dahin gebracht, wo sie hinwollte. Sie war so klar. Wie früher. Hat sogar ihr altes Gebiss wieder eingesetzt. Ich dachte, die frische Luft wird ihr guttun; vielleicht wird sie da sogar wieder gesund. Oder …« Er bricht ab und beginnt zu weinen.

Ich gehe zu ihm und schlinge von hinten meine Arme um ihn. Auch ich muss weinen.

»Warum auf dem Pferd in den Wald?«, flüstere ich ihm schluchzend ins Ohr. »Das muss doch furchtbar anstrengend für sie gewesen sein. Und für dich.«

»Sie hatte ein Ziel«, erwidert Jupp laut. »Und das hat sie ganz fröhlich gemacht, fast so, als könnte sie wieder gesund werden. Ihr kennt sie doch in ihrem Bett in der Dachstube. Aber sie war gestern früh völlig anders, ganz da und irgendwie voller Vorfreude. Auf eine ganz bestimmte Stelle im Wald, nahe dem Bunker. Da konnte ich doch nicht Nein sagen. Sie konnte nicht mehr so gut sehen, und es war gar nicht leicht, genau den richtigen Platz zu finden, für sie hinzulegen.« In seltsamem Singsang fährt er fort: »Nein, nicht hier, mehr links, da hinten, das sieht so aus, nein, da auch nicht, habe mich geirrt, sie sind doch noch da, ich muss dahin, wir reiten weiter, mehr nach dort …« Seine Stimme wird wieder normal: »Und dann plötzlich sagt sie: Ja, das ist richtig, da sind sie, ich sehe sie, wie schön sie aussehen, halt an. Bind Jumbo hier fest, und trag mich da drüben hin, da unter den Baum. Ich habe ihr dann alles so gemacht, wie sie wollte.«

»Sie?«, frage ich. »Wen meinte sie damit? Wen hat sie gesehen?«

»Elfen«, versetzt Hans-Peter, »meine Tochter hat die früher auch immer im Wald gesehen. Alte Leute werden wieder zu Kindern, das erlebt man doch oft genug.«

»Meine Mutter war kein Kind. Und sie glaubte an keine Elfen. Nur an Gott, den Allmächtigen und sonst an niemanden«, gibt Jupp unter Tränen schroff zurück.

»Und doch haben Sie ihr das Bett gemacht, weil Sie wussten, dass sie dort sterben würde«, sagt Hans-Peter.

Jupp blickt zu Boden.

»Ich wusste es nicht«, flüstert er, »das habe ich der Polizei auch gesagt. Aber ich habe schon geglaubt, dass sie dahin wollte für zu sterben. Das war doch ihr Recht. Nach so vielen Jahren ohne richtiges Leben. Endlich hat sie gesagt, was sie will. Wohin sie will. Da konnte ich ihr doch keinen Streit machen.«

»Du meinst, dass sie einfach durch ihren Willen gestorben ist?«, frage ich ungläubig.

Jupp lässt die Stuhllehne los und hebt die Hände.

»Ja«, sagt er tonlos.

Gudrun tritt auf ihn zu, kniet vor ihm nieder und reicht mit einer seltsam archaisch anmutenden Geste nach einer seiner riesigen Pranken und küsst sie.

»Die Ahnen«, flüstert sie. »Sie hat die Ahnen gesehen, unser aller Ahnen. Sie wusste, wo sie sind. Das war ihr Ziel. Das wird es sein.«

Ich blicke zu Hans-Peter, der an seiner Pfeife zieht und immerhin sensibel genug ist, jetzt nicht die juristischen Rechte längst Verstorbener zu bemühen.

Auch Hein stehen Tränen in den Augen. »Sie hat sich ihr Sterben selbst ausgesucht«, sagt er, »das ist doch eine Gnade, nicht?« Er holt tief Luft, ehe er Jupps Worte wiederholt: »Eine ganz besondere Stelle … Was da wohl war?« Er greift nach der Hand von Jupp, die Gudrun nicht hält. »Vielleicht eine Erinnerung?«, flüstert er. »Ein Ort, an dem sie mal ganz besonders glücklich war, wo das Wichtigste in ihrem Leben passiert ist?«

Weil sie mit ihrem Mann da Jupp gezeugt hat, übersetze ich seine Gedanken für mich. Welch eine romantische Vorstellung! Hein liebt Jupp, ihm liegt der Gedanke nahe, dass sich alles im Leben von Mutter Agnes um ihren Sohn gedreht haben musste.

Ich kann nicht beurteilen, ob das so war. Ich bin keine Mutter, kann mich also in eine solche – wie mir Mütter gern versichern – nicht mal ansatzweise hineinversetzen. Aber ich frage mich, ob ein Mensch, der ein langes Leben hinter sich hat, in dem es eigene Eltern und deren Tod, einen Ehemann und dessen Tod, Krieg, bittere Not in der Nachkriegszeit, einen Westwall, Besatzer, Kriegsheimkehrer, Überlebenskämpfe in mannigfaltiger Form, einen verschuldeten und verlorenen Hof, zerbrochene Freundschaften, Nachbarschaftsfehden und auch ein Kind gegeben hat, am Ende ausschließlich an den Ort denkt, an dem dieses Kind gezeugt wurde? Und deshalb durch die Kraft ihres Willens dort das Zeitliche segnet?

Aber ist das jetzt nicht eigentlich ganz egal? Ist es nicht wunderschön, dass wir vier – Jupp, Hein, Gudrun und ich, die das Schicksal vor einem Jahr auf so seltsame Weise zusammengewürfelt hat – jetzt, in der Trauer und der Verwunderung über Mutter Agnes’ Tod, wieder so nah beieinander sein dürfen? Indem wir mit Jupp weinen, ihn halten und seiner Mutter gedenken?

Dabei begegne ich dem Taktilen, dem Haptischen, ansonsten eher misstrauisch; ich mag keine Begrüßungsküsschen, verabscheue Antatschereien und stelle meinen Leibespanzer gern jeglichen körperlichen Annäherungsversuchen entgegen. Aber hier geschieht etwas, das Körperlichkeit übersteigt und für das ich keine Begriffe habe. Durch Jupp sind wir jetzt alle miteinander enger verbunden denn je. Wir sind Verbündete. Wir sind im wahren Sinn des Wortes zusammengerückt und stützen einander. Es fehlt nur …

»… Marcel«, spricht Gudrun meinen Gedanken laut aus. »Er sollte jetzt auch hier sein.«

Jupp räuspert sich und hebt einen Fuß leicht an. »Er könnte ein Bein von mir holen«, sagt er. Und da erst merken wir, dass wir den mächtigen Mann im Mittelpunkt mit unserer Nähe reichlich bedrücken, und lassen ihn alle gleichzeitig los.

»Ich bitte um Entschuldigung«, meldet sich Hans-Peter zu Wort. Einen Moment lang nehme ich die Floskel ernst, denke, er hat begriffen, was soeben geschehen ist, dass er hier stört und schnell verschwinden und uns mit unserer Trauer und unserer Viersamkeit gefälligst allein lassen sollte.

»Kein Mensch stirbt allein durch seinen eigenen Willen«, erklärt er, und das reizt mich, ihm das nahe stehende Glas mit Coras Kräutern auf dem Kopf zu zerschmettern. Vielleicht nicht nur der abfällige Unterton in seiner Stimme, sondern auch die plötzlich wieder einsetzende Wahrnehmung des Chaos in meiner Küche. Als wäre ich nach einem behaglich warmen Bad unvermittelt einer Eiseskälte ausgesetzt worden. Als wäre das, was vor meinen Augen sichtbar ist, wichtiger als das, was ich spüre, ersehne und mir Frieden bringt.

»Natürlich ist Ihre Mutter an einer Überdosis von irgendwelchen Medikamenten ums Leben gekommen«, fährt Hans-Peter erbarmungslos fort, »ich habe doch gesehen, wie erschrocken Sie zusammengefahren sind, als dieser verlotterte belgische Polizist die Obduktion der alten Frau erwähnte. Da ging Ihnen der Arsch auf Grundeis, das können Sie nicht bestreiten.«

Wir brauchen Zeit, um uns von allen Teilen dieser Bemerkung zu erholen. Coras Kräuterglas ist viel zu harmlos. Ich peile den Feuerlöscher an der Wand an. Hein kommt als Erster zu sich.

»Die Obduktion wird die Wahrheit ans Licht bringen«, sagt er sachlich und setzt sich wieder an den Küchentisch. Jupp hat die Umklammerung der Stuhllehne wieder aufgenommen und zerbricht mit seinen Fingern einen der vertikalen Holzstreben.

Ich nehme wieder meinen Platz im Türrahmen ein. Wo bleibt die Euskirchener Polizei? Ich darf das Läuten der Kuhglocke vor dem Eingang keinesfalls verpassen. Und es wird Zeit, Hans-Peter mitzuteilen, dass er hier nichts zu suchen hat.

»Wie bist du eigentlich auf die abenteuerliche Idee gekommen, ungebeten hier zu übernachten, in meinem Restaurant?«, setze ich an und kann gerade noch verhindern, mit meiner Kellnerin auszuspucken.

»Gar nicht abenteuerlich, nur vernünftig«, erwidert er. »Schließlich werde ich hier bestimmt am ehesten was über Gaby erfahren.«

Er vermeidet es, Gudrun anzusehen. Die füttert endlich Linus und brabbelt laut in Babysprache auf das Tier ein. So, als könne die Kommunikation mit dem Hund sie daran hindern, Unerquickliches aus Hans-Peters Mund zu vernehmen.

»Hör mal, Herr Kellenhusen«, sage ich grob, »wir können dir hier nicht helfen. Und bei neuen Nachrichten wird man dich im Hotel wohl eher suchen. Also solltest du dich schleunigst dorthin begeben.«

»Erstens ist da die Rezeption nicht immer besetzt, nachts schon gar nicht; da gibt es nicht mal einen Zimmerservice, zweitens haben die meine Handynummer, und drittens ist Vinzenz hier besser versorgt.«

Viele Argumente sind immer schlechter als ein einziges Starkes, hat mich Hans-Peter einst belehrt. Wie er überhaupt gern Lektionen erteilte: bei der Lüge so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben, ungefragt keine Erklärungen abliefern und möglichen Peinlichkeiten vorausschauend mit einem Ablenkungsmanöver begegnen. Letzteres fällt ihm wohl gerade ein. Er tritt an Hein heran, der sich wieder über seinen Laptop gebeugt hat und so tut, als ginge ihn in diesem Raum gar nichts mehr an.

»Ich müsste dringend meine E-Mails ansehen. Ich darf doch?« Er lächelt verbindlich.

»Nein«, sagt Hein, ebenfalls lächelnd. »Im Fall eines Missbrauchs durch unbefugte Dritte haftet der Eigentümer des Rechners.« Er klappt den Laptop zu und sieht den Berliner Beinahejuristen so triumphierend an, dass ich ihm einen Dämpfer verpasse.

In dieser verwahrlosten Küche sollte sich derzeit keiner der Verursacher als Sieger sehen. Außerdem muss ich wissen, was aus dem Hanf geworden ist. Nicht, dass mir wieder jemand etwas anhängt. Habe ich mir diese Nähe von soeben nur eingebildet? Weil ich in der Tiefe meiner Seele doch nach Menschenwärme suche? Werde ich jetzt etwa alt und sentimental? Sitzen hier wirklich meine Freunde?

»Deine Trockenblumen sind verschwunden«, sage ich gedehnt. »Wann hast du die denn weggeschafft? Und wohin?«

»O Gott, die habe ich ganz vergessen«, stottert er. »Wieso sind die weg?«

»Wie kann man jetzt nur an Trockenblumen denken!«, ruft Gudrun entnervt. Sie hat offenbar nicht erkannt, was für Gewächse Hein getrocknet hat, und Hans-Peter hat ihr nichts verraten. Die beiden haben das Zeug also nicht weggeschafft.

»Das möchte ich auch gern wissen«, sage ich zu Hein. »Wer weiß davon?«

»Trockenblumen?«, flüstert Jupp ratlos. Er, der Freund bunter staubfangender Gestecke, der Einzige, der sich nach dem Moment des mir so kostbar erscheinenden Einklangs nicht von der Stelle gerührt hat, sieht uns an, als hätten wir den Verstand verloren. Hein schüttelt kaum merklich den Kopf und sendet mir einen flehenden Blick zu. Das erklärt zumindest, weshalb er das verbotene Gewächs weder in seinem Losheimer Gärtchen angepflanzt noch in dem Stall, den sich Jumbo mit seinem Cabrio teilt, getrocknet hat. Sein Liebster hat keine Ahnung. Aber wann raucht er das Zeug denn? Handelt er etwa damit? Ist das seine neue Nebeneinnahmequelle, nachdem er als Eventmanager für die Kölner Schwulenwelt das Handtuch geworfen hat? Immer wenn ich denke, jetzt endlich in aller Ruhe das Eifeler Leben genießen und meine Restaurantvorbereitung auskosten zu können, verdüstern dunkle Geheimnisse meiner Freunde alle Aussichten, und vor mir tun sich Abgründe auf.

Wenn hier jeder wieder so mir nichts, dir nichts zur Tagesordnung übergeht, mache ich eben mit. Ich hänge die Chefin raus.

»Was ist mit Jumbo?«, frage ich streng. »Der kann nicht ewig hierbleiben.«

Jupps gestrige Bitte, das Pferd in seinen Stall zurückzubringen, hatten die Polizisten abgelehnt; vielleicht befürchteten sie, dem gewaltigen Tier könnten auch noch Flügel wachsen, mit denen es den des Muttermords Verdächtigen über alle Eifeler Berge tragen würde. Also haben wir das Tier kurzerhand in den leeren Kuhstall des alten Merteshofs gestellt. »Muss er nicht endlich gefüttert werden? In unserem Schuppen gibt es nicht mal mehr einen Strohhalm, an dem er kauen könnte.«

»Pferde fressen Heu«, belehrt mich Gudrun, »und altes Brot.« Sie sammelt verschmierte und angebissene Brotreste vom Tisch und stopft sie zusammen mit meinem letzten, zwar ziemlich ausgetrockneten, aber intakten Brotlaib und ein paar Möhren in eine Plastiktüte und reicht sie Hein.

Mir knurrt der Magen. Ich hätte jetzt gern auf eine Scheibe in Milch eingeweichtes und geröstetes Brot ein goldbraun gebratenes hauchdünnes Omelette gelegt und es mit süßer Ingwerpaste und geraspeltem uralten Gouda gekrönt. Aus einer gewissen Pietät heraus sage ich nichts – die Kreatur, die Mutter Agnes zu ihrem Sterbelager im Wald gebracht und danach einen Tag lang gefastet hat, verdient jeden Krümel, den meine Küche hergibt.

Meine Küche, oje. Selbst im aufgeräumten Zustand wird mir das Gewerbeaufsichtsamt nach nur einem Blick auf die Einrichtung das erste Gebot der Lebensmittelhygieneverordnung unter die Nase reiben: Alle Bau- und Anlagenteile müssen so beschaffen sein, dass eine Verschmutzung und insbesondere das Wachstum von Mikroorganismen vermieden werden. Mein Einwand, der Anblick eines hundertjährigen alten Küchenschranks beflügele meine Kreativität weitaus mehr als eine weiß gekachelte Zelle, würde ebenso auf Unverständnis stoßen wie meine Versicherung, Kuchenteig lasse sich auf einem alten Holztisch viel angenehmer auswalzen als auf einer kalten Edelstahlfläche. Meine Küche soll kein Hightechzentrum für Molekularexperimente werden, keine Produktionshalle, um hungrige Touristen abzufertigen, sondern als Herzstück meines kleinen Unternehmens eine gewisse Behaglichkeit ausstrahlen. Das schließt eine praktische Einrichtung und Reinlichkeit doch nicht aus! Vielleicht findet sich ja irgendwo ein Paragraf, der winzigen Landhausküchen außergewöhnliches Flair zugesteht. Was nicht bedeutet, dass meine Mitarbeiter sie so verwüsten dürfen, wie sie es heute Morgen getan haben.

Hein und Jupp erheben sich.

»Dann bringen wir Jumbo mal zurück nach Losheim«, seufzt Jupp. »Wird gar nicht so einfach werden.«

»Wieso?«, frage ich. »Ihr könnt doch beide drauf sitzen.«

»Was noch lange nicht heißt, dass er sich dann auch von der Stelle rührt«, erläutert Hein. »Vernachlässigung straft er mit Missachtung und Ungehorsam.«

»Das möchte ich mir ansehen«, sage ich und folge den beiden in den Flur.

In diesem Augenblick höre ich einen Wagen in den Hof einfahren. Das wurde aber auch Zeit!

»Wir bekommen Besuch«, rufe ich in die Küche hinein. »Am besten, ihr kommt mal her!«

In meine Küche kann ich jetzt keinen Vertreter der Obrigkeit hineinlassen; wer weiß, wie die Polizei mit den für Gaststätten zuständigen Behörden vernetzt ist. Die dicke Berliner Schlampe darf da unmöglich einen Gastronomiebetrieb einrichten! Ich schüttele mich.

Von Marcel weiß ich, dass in Belgien zumindest die Behörden vorzüglich aufeinander eingespielt sind. Was man von der Regierung dieses sympathischen kleinen Nachbarn, meines neuen Heimatlandes, nicht sagen kann. In Deutschland gibt es ungemütliche Koalitionskrisen, in Belgien jagt eine Regierungskrise die nächste, und gelegentlich schmeißen alle die Brocken hin, und es gibt überhaupt keine Regierung. Dafür aber schöne Gedankenspiele über den Ausbau der Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft, der sogenannten DG, der ich jetzt auch angehöre und die im Streit zwischen Flamen und Wallonen schon mal den Vermittler spielt. Offiziell gehört die DG zur Wallonie, doch so richtig grün sind die französisch Sprechenden den Deutschsprachlern gegenüber nicht. Auch ein Grund, weshalb unter den circa siebzigtausend DGlern jetzt eine Diskussion entbrannt ist, ob man sich im Fall des Zusammenbruchs ihres Königreichs Luxemburg oder Deutschland anschließen sollte. Oder gleich einen selbstständigen Staat ausruft. Ein kleines Monaco an der NRW-Grenze schafft, mit Spielcasinos, Bankentürmen und billigen Tankstellen. Eine weitere Formel-1-Rennstrecke ließe sich in dieser dünn besiedelten bergigen Region mühelos einrichten, die Funktion des Jachthafens könnte eine exklusive Golfanlage mit angeschlossener Wellnessmetropole übernehmen. Die atemberaubende Landschaft zwischen Sankt Vith und der Luxemburger Grenze böte einer Disney World riesigen Ausmaßes Platz, und Parkplätze gäbe es zuhauf. Spätestens dann würden auch die vielen schadhaften Straßen, hier verschämt als »route degradée« gekennzeichnet, repariert werden.

 

Die gleichen Beamten wie am Vortag entsteigen ihrem Dienstwagen. Freundlich, aber bestimmt erklären sie Hans-Peter auf der Treppenstufe der Einkehr, seine Frau hätten sie nicht gefunden, aber neue Erkenntnisse machten jetzt eine ausführlichere Vernehmung in Euskirchen erforderlich.

Er ist sichtlich erschrocken. Vernehmung, denke ich überrascht, nicht Verholung; gehört Euskirchen noch zur Eifel?

»Ich habe Ihnen doch bereits alles gesagt, was ich weiß«, wehrt Hans-Peter die Aufforderung zum Mitgehen ab, ohne nach den neuen Erkenntnissen zu fragen. Finde ich ziemlich verdächtig.

Mit den nächsten Worten ordnet der freundliche Polizist das Städtchen Euskirchen wieder der Eifel zu: »Holen Sie auf jeden Fall mit, was Sie für eine Nacht brauchen. Wir können noch nicht sagen, wie lange es dauert.«

»Für eine Nacht?! Ich wohne im Burghaus Kronenburg und habe nur hier, was ich am Leib trage. Ich kann Ihnen nicht mal meinen Personalausweis vorlegen.«

»Soll ich mitkommen?«, meldet sich Gudrun plötzlich.

Für zu übersetzen?, will ich fragen, platze dann aber doch mit dem Satz heraus, den ich mir bisher mühsam verkniffen habe: »Das Blut am Bunker stammt von deiner Frau!«

»Was?«

Abrupt wendet sich der Polizist mir zu und hebt die Augenbrauen: »Woher wissen Sie das?«

»Nur eine naheliegende Vermutung«, stottere ich. In berufliche Schwierigkeiten will ich Marcel wirklich nicht bringen.

»Soll ich mitkommen?«

Hans-Peter greift nach Gudruns langen mageren Händen und drückt sie sanft. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich hier um Vinzenz kümmern würden. Er hat ja sonst niemanden.«

Typisch, mich hat er in der Öffentlichkeit früher auch gesiezt.

»Natürlich«, flüstert Gudrun. Tränen stehen ihr in den Augen.

»Oh nein!«, erkläre ich, aber es fehlt die Zeit, das Kind aus dem Wäschekorb in der Küche zu holen und es dem Großvater ans Herz zu drücken. Und meine Autorität habe ich bereits ausgereizt.

Schweigend sehen wir vier zu, wie Hans-Peter in den Polizeiwagen mit dem Euskirchener Nummernschild steigt.

»Ob er seine Frau wirklich umgebracht hat?«, fragt Hein flüsternd, als wir zurück in die Küche gehen.

»Dafür ist er viel zu dämlich«, murmele ich.

»Er hätte sein Verdeck über Nacht schließen sollen«, meint Hein zustimmend. »Vorhin hat er gar nicht über seine Frau gesprochen, nur über den Regen, der ihm die Sitze und das Babygestell versaut hat.«

»Ich habe auch nicht daran gedacht«, jammert Gudrun.

»Du bist nicht für alles und jeden hier verantwortlich«, schreie ich sie an und werfe mich auf den ersten freien Stuhl.

Nach gewaltigem Gepolter und meiner Zusicherung, mir nichts getan zu haben, rappele ich mich zwischen den Trümmern des einstigen Ablagestuhls auf, der immerhin Jupps Gewicht ertragen hat, und breche mit den anderen in befreiendes verbündendes Gelächter aus. Sogar das Schreien des Babys klingt mir jetzt heiter in den Ohren.

»Dieser Stuhl sagt mir, dass ich abnehmen muss«, erkläre ich und verkünde: »Deshalb mache ich jetzt einen Spaziergang.«

»Du machst einen was?«, fragt Hein fassungslos.

Klar, Katja pendelt zwar zwischen Belgien und Deutschland hin und her, aber das sind nur ein paar erforderliche Schritte über eine Bundesstraße. Die Zeiten haben sich geändert, mein Freund, denke ich, künftig werde ich mindestens einmal im Jahr mein Grundstück abschreiten, um sicherzugehen, dass dort niemand verbotene Pflanzen züchtet.

»Ich nehme Linus mit«, sage ich, »und wenn ich zurückkomme, kann ich mich in dieser Küche vielleicht wieder irgendwo unbeschadet hinsetzen und irgendetwas anfassen, was nicht klebt.«

Meine drei Mitarbeiter nicken eifrig.

»Was ist mit meinen Blumen?«, raunt mir Hein ins Ohr.

»Das ist dein Problem«, sage ich laut. Und hoffe, dass es nicht zu meinem wird.

»Keine Sorge, für den Dicken kommt’s auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an«, meint Jupp, in dessen Gehör die Blumen als Jumbo angekommen sind. Er hebt ein Stuhlbein auf und schüttelt es drohend Richtung Kuhstall. »Er wird mir beleidigt das Hinterteil zuwenden und Stunden brauchen, bis er sich in Bewegung setzt.«

»Im Gegensatz zu mir«, erkläre ich, »dann räumt mal schön auf.«

Ich schnappe mir meinen Hund und kehre mit ihm kurz in mein belgisches Domizil zurück, um mich präsentabler zu machen, auch wenn ich wahrscheinlich schweißgebadet in Krewinkel ankommen werde. Nach diesem chaotischen Tagesanfang kann ich die positiven Schwingungen einer buddhistischen Sekte gebrauchen. Einer gewachsenen Wohngemeinschaft, in der niemand vor anderen dunkle Geheimnisse hat und alle andauernd an einem Strang ziehen, wenn auch an einem esoterischen. Ist vielleicht nicht das Schlechteste, wenn die Leute nicht ständig mit Pflege und Aufzucht des eigenen Egos beschäftigt sind.

Ich werde also Cora und ihre Mitbewohner besuchen. Eine Telefonnummer habe ich nicht, aber nach dem überaus freundlichen Empfang vor wenigen Tagen und Coras nächtlichem Besuch bei mir halte ich es nicht für nötig, mich vorher anzumelden. Man wird mir wieder südafrikanischen Rooibostee mit Vanillegeschmack anbieten. Und weil ich sehr hungrig ankomme, werde ich diesmal meinen Zähnen und meinem leeren Bauch die kleinen Zementblöcke zumuten, die mir als vegetarische Paté gereicht worden sind und die ich nach einem kurzen Nageversuch auf dem selbst getöpferten Teller wieder abgelegt habe. Und ich werde vielleicht erfahren, was Marcel gestern Nacht der Igelfrau so alles erzählt hat.

Marcel – ich würde jetzt gern mit ihm reden, aber er hat Dienst, und ich habe es mir zum Prinzip gemacht, ihn da nur in Notfällen anzurufen. Solche hat es seit über einem Jahr nicht mehr gegeben.

Der Regen hat nachgelassen, und die verschiedenfarbigen Wolkenschichten haben sich so weit erhoben, dass ich meinen Blick wieder über die wohltuende Weite der Hügellandschaft schweifen lassen kann. Da im Tal liegt das beschauliche Krewinkel. Bergab komme ich kaum ins Schwitzen. Nur einmal ins Fluchen, als ein Auto mit ungeheurer Geschwindigkeit über die schadhafte Straße brettert und aus einem Schlagloch einen schlammigen Gruß auf meine saubere Jeans katapultiert. Als wäre die Formel-1-Rennstrecke in meiner Nachbarschaft schon in Betrieb genommen worden.

In Krewinkel lasse ich den Abzweig nach Weckerath links liegen und marschiere nach rechts über die Dorfstraße. Wenn ich nicht so hungrig wäre, würde ich mir die niedliche kleine Kapelle auf der Stichstraße zur Linken ansehen, in der Marcel getauft worden ist. Wie er mir erzählte, ist das Gebäude inzwischen säkularisiert worden und wird als Kulturzentrum genutzt. Kultur mitten in der Pampa?, hatte ich verwundert gefragt und einen bösen Blick geerntet. Und erfahren, weshalb die Belgier eigentlich gar keine Regierung brauchen. Wenn es nämlich nach der – damaligen – gegangen wäre, würde das mittelalterliche, selbst für Krewinkel zu klein gewordene Gebäude jetzt irgendwo in Südfrankreich stehen. Ein reicher Mensch hatte es nach dem von der Regierung geplanten Abriss dort neu aufbauen wollen. Diesen Export haben die empörten Einwohner einfach unterbunden. Schließlich hatte in dieser Kapelle jeder irgendein Sakrament erhalten, die meisten das der Taufe, und da kann man nicht einfach zusehen, wie ein Bagger alles niederreißt. Die Krewinkeler legten also zusammen, restaurierten die Kapelle eigenhändig, gründeten die Vereinigung »Kulturkapelle Krewinkel« und laden jetzt zu Kulturveranstaltungen ein.

Heute zu einer Autorenlesung über Die Beutefrau, die letzte Liebe Karls des Großen, wie mich ein kleines Plakat an einer Hauswand informiert. Da sollte ich eigentlich hingehen, um ein bisschen mehr Historie zu tanken und mir gleich noch die Wandmalereien aus dem Mittelalter anzusehen. Die seien bei der Restaurierung der Kapelle entdeckt worden, wie auch ein Skelett aus jener Zeit, hatte Marcel stolz erklärt. Ich prunkte mit meinem vor einem Jahr erworbenen Wissen, dass Karl der Große in oder bei Prüm geboren wurde.

An das Perspektivenverständnis des Frühmittelalters erinnert auch das Gemälde auf dem großen Tor, mit dem sich Victors Sekte von der Außenwelt abschottet. Es zeigt einen Reigen bunt gekleideter Menschen vor einem grün überwucherten Märchenschloss. Der blaue Himmel hat Schäfchenwolken und die Sonne ein lachendes Gesicht. Wenn man den real existierenden Knauf am seitlichen Eingang zu diesem Schloss dreht, stellt sich das bemalte blaue Tor als ein wirkliches Türchen heraus, durch das man dieses Anwesen betritt. Cora goss gerade die Herbstblumen vor dem Schlossgemälde, als ich zum ersten Mal nach Krewinkel kam.

»Wie reizend!«, hatte ich mein Entsetzen vor dem überwältigenden Kitsch maskiert, an dem ich nicht einfach kommentarlos vorbeimarschieren konnte, als mich die Bewohnerin anlächelte und bat, den Wasserhahn an der Mauer abzustellen.

»Geschmackssache«, hatte sie trocken bemerkt, »eine Fototapete hätte es auch getan.«

»Wäre im Regen abgeblättert«, hatte ich geantwortet und sie dann nach Marcels früherer Kneipe befragt.

»War vor meiner Zeit«, hatte sie bemerkt, »vielleicht kann dir Victor weiterhelfen. Komm doch rein!«

Sie drehte den Knauf, ließ mich in den Hof vorangehen und zeigte mir voller Begeisterung die dem Haus vorgelagerten Beete, auf denen alles Essbare gedieh, was in dieser rauen Gegend im Freien eine Überlebenschance hat. Die Treibhäuser hinter dem riesigen Bruchsteinhaus werde sie mir später zeigen, versicherte sie; erst solle ich ihre Mitbewohner kennenlernen.

Die bestanden aus Victor und den drei Grazien, wie ich die schmalen hübschen Frauen mit den hüftlangen offenen Haaren insgeheim taufte. In ihren wallenden asiatischen Batikkleidern schienen Bine, Bella und Gerti den Siebzigerjahren entstiegen zu sein; mit ihrem Stoppelhaar und dem grauen Jogginganzug fiel Cora daneben völlig aus dem Rahmen. Auch ihr Verhalten Victor gegenüber wies darauf hin, dass sie in diesem Kreis eine Sonderstellung innehält. Während die drei Grazien wie stumme Undinen um den Guru herumwogten und nur zum Lachen den Mund öffneten, redete Cora munter drauflos. Und der vorn und hinten langhaarige Victor, der die drei anderen mit lässigen Handbewegungen anwies und ansonsten nahezu ignorierte, schien die ältere unattraktivere Frau regelrecht zu hofieren und Wert auf ihre Meinung zu legen.

Auf meine bemüht beiläufige Frage, wie sie denn alle so zusammengekommen seien, antwortete Victor: »Man hält uns hier für eine Sekte, und so was Ähnliches sind wir wohl auch, da wir uns von der bürgerlichen Gesellschaft abgespalten haben. Wir begnügen uns nicht mit Träumen von einem besseren Leben, sondern wir führen es.«

»Und wie?«, fragte ich.

»Das ist die falsche Frage«, erwiderte er. »Die richtige wäre: Kann ich das auch?«

»Ich bin mit meinem Leben ganz zufrieden«, versetzte ich. Was jetzt, da ich wieder vor dem Schlossgemälde angekommen bin, weniger zutrifft als bei meinem ersten Besuch.

Ich drehe am Knauf der blauen Tür, aber sie öffnet sich nicht. Nach längerem Suchen entdecke ich einen Klingelknopf im Herzen einer Sonnenblume und drücke darauf.

Lange Zeit passiert überhaupt nichts. Linus zieht an seiner Leine und will weiter. Ich drücke noch einmal.

Schritte knirschen auf dem Kiesweg hinter dem riesigen Tor. Dann öffnet sich ein Schlossfenster und umrahmt ein blasses Frauengesicht.

»Bine?«, frage ich unsicher.

Wie ein Automat dreht sich das Gesicht zweimal zur Seite, einmal nach rechts, einmal nach links. Also falsch geraten.

Mein zweiter Versuch: »Guten Tag, Gerti.«

Das Gesicht bleibt in Position, aber der Mund öffnet sich nicht einmal zum Lächeln.

»Ich möchte gern zu Cora«, sage ich.

Wieder sehe ich die rechte und die linke Seite der Nase.

»Oder zu Victor?«

Das Fensterchen klappt zu. Der Kies knirscht. Und mein Magen knurrt fast so laut wie Linus, der genug von der Rumsteherei vor dem Märchenschloss hat.

Schade, dass es in Krewinkel keine Kneipe mehr gibt, denke ich. Und da erst fällt mir ein, dass ich bei meinem ersten – und der Abfuhr von soeben nach zu urteilen – wahrscheinlich letzten Besuch bei der Sekte ganz vergessen hatte, Victor nach Marcels früherer Wirkungsstätte zu befragen.

Der Rückweg quält mich; es scheint viel mehr bergauf zu gehen, als es auf dem Hinweg bergab ging, sogar Linus, der solche Ausflüge nicht mehr gewöhnt ist, beginnt zu japsen. Habe ich die Sektenleute etwa bei einem Ritual gestört? Oder müssen sie wie Trappistenmönche an manchen Tagen Schweigegelübde einhalten? Gerti hatte bei meinem ersten Besuch kein Wort gesagt, könnte sie gehörlos sein? Aber warum die eklatante Unhöflichkeit?

Jedenfalls ist das Ganze sehr, sehr merkwürdig.

Und da es derzeit mehr Merkwürdigkeiten in meinem Leben gibt, als ich mir wünsche, beschließe ich, Cora und ihre Krewinkeler Sippe zu vergessen und mich keinen Träumen über ein besseres Leben, sondern über ein gutes Essen hinzugeben.

Schon von Weitem sehe ich die Tür der Einkehr sperrangelweit offen stehen. Es gelingt mir nicht, meinen Schritt zu beschleunigen, aber als ich die Straße nach Deutschland überquere, entdecke ich einen Teil von Gudruns langem Rock auf der Beifahrerseite von Hans-Peters Sportwagen. Ihr Oberkörper steckt im Wageninneren. Ein langes Kabel führt von der Haustür zwischen ihren Beinen hindurch ins Auto, was dem braven Kleidungsstück eine leicht obszöne Wirkung verleiht. Ich trete näher.

»Was machst du denn da?«

Vor Schreck stößt sich Gudrun den Kopf am Autodach, ehe sie sich umwendet.

»Nach was sieht es denn aus?«, fragt sie und gibt den Blick auf den kleinen Heizlüfter frei, der mich im Winter notdürftig gewärmt hat und jetzt auf der Rückbank neben der Babyschaukel steht und auf höchster Stufe arbeitet.

Ich lache.

»Nach der gleichen heißen Luft, die der Besitzer dieses Wagens auch gern ausstößt.«

Gudrun richtet sich auf, stemmt die Hände in die Hüften und funkelt mich an.

»Was hast du gegen Hans-Peter? Ich denke, er ist dein Freund!«

»Er ist alles Mögliche, nur nie mein Freund gewesen«, sage ich leise und sehr ernst. Irgendwo habe ich mal gelesen, nichts sei lächerlicher als die Liebe von gestern.

In Bezug auf mich und Hans-Peter kann ich das nur bestätigen, aber Gudruns Liebe ist nicht von gestern. Die ist hochaktuell und genauso hoffnungslos, wie es meine einst war. Zu dumm, dass man nur aus eigenen Erfahrungen klug wird; wie gern würde ich meiner Freundin das Leid ersparen, das dieser Mann über Frauen ausschüttet; wie gern würde ich ihr die Augen über das wahre egoistische Wesen des Hans-Peter Kellenhusen öffnen wollen! Aber mir gegenüber würde sie ihn nur verteidigen, und selbst wenn ich ihr von den vierzehn Jahren meines vergeblichen Wartens erzählte, käme von ihr garantiert nur der alte Spruch, bei ihr sei alles ganz anders.

»Er hat mir gesagt, dass er großen Respekt vor dir hat, du eine ganz tolle Frau und zu ihm immer fair gewesen bist«, sagt Gudrun vorwurfsvoll, »und dass ihr im Guten auseinandergegangen seid. Bist du seinetwegen in die Eifel geflüchtet?«

»Du weißt, weshalb ich hierhergekommen bin«, gebe ich seufzend zurück. Auch das hing mit einer unglücklichen Liebe Gudruns zusammen. Irgendwie hat sie das Talent, sich immer die total falschen Männer auszusuchen. Ich muss allerdings zugeben, dass die Auswahl in unserem Umkreis äußerst eingeschränkt ist.

Gudrun macht die Autotür so weit zu, wie es das Stromkabel erlaubt, reibt sich dann die Hände und sagt: »Er glaubt, dass seine Frau abgehauen ist, für ihn zu ärgern. Eigentlich ist er sich da ganz sicher. Niemand kennt sie besser als er. Sie hatten nämlich einen ganz bösen Streit, und er sagte, das war für ihn jetzt definitiv der letzte. Wenn sie aus ihrem Fledermausloch herausgekrochen ist, wird er die Scheidung einreichen und …«

»Gudrun …«

Sie ist nicht zu bremsen.

»Er würde gern hier leben, hat er gesagt, Katja …« Ihre Augen leuchten. »… vor allem nachdem er mich kennengelernt hat! Alles würde er aufgeben, hat er gesagt, wenn er noch mal von vorn anfangen könnte. Er würde hier Bücher schreiben. Die gesunde Luft hier würde ihm guttun. Er würde hier neu geboren werden, sagt er, und er würde hier glücklich sein.«

»Der Mann ist ein wandelnder Konjunktiv, Gudrun«, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen vor, »Alles würde er für dich tun, solange er es nicht tun muss.«

Ich gebe dem halb fertigen Restaurantschild an der Wand einen Tritt, stapfe die Stufen zur Einkehr hinauf und stürze in die Küche. Die so blank geputzt ist, wie ich es selbst nie hingekriegt hätte. Klar, die Männer haben sich mit ihrem Gaul vom Acker gemacht und Gudrun wieder einmal die Arbeit überlassen. Ich kenne niemanden, der so anpacken kann wie diese Eifelerin. Wenn auch mit sehr drastischen Methoden. Das Gewerbeaufsichtsamt würde jetzt selbst in den Astlöchern meines Holztisches vergeblich nach Mikroorganismen fahnden. Keine Bakterie kann die in Deutschland verbotenen Putzmittel überleben, die Gudrun trotz meines immer wieder ausgesprochenen Verbots im belgischen Grenzmarkt in Losheim kauft. Oder im nicht sonderlich weit entfernten Luxemburger Einkaufszentrum, wo Jupp auch seinen Mentholtabak – »in Deutschland gibt es keinen losen Mentholtabak« – herschmuggelt.

Mit seinen rosa Bäckchen und dem gelben Schnuller im Mund erinnert mich das schlafende Baby im Wäschekorb an ein knuspriges Spanferkel. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Aber sofort essbares Schweinefleisch habe ich leider nicht im Haus. Ich reiße der Bachforelle, die auf das Avocadopüree kommen soll, die Plastikhülle ab, filetiere sie mit den Fingern und lege sie auf die entkernten Avocadohälften. Ein paar Spritzer Zitronensaft, Kräutersalz und die Curry-Puderzucker-Mischung obendrauf, ein Schnipsel Koriandergrün von Cora, und dann kann ich endlich mein Frühstück auslöffeln.

Nachmittag

Völlig ausgelaugt liegt Linus immer noch auf seiner Decke neben dem Wäschekorb, in dem Hans-Peters Enkel ungemütliche Geräusche von sich gibt.

»Er braucht neue Windeln«, sagt Gudrun und sieht mich fragend an.

»Pampers in der Pampa«, murmele ich. »Dann fahr halt los und kauf welche!«

»Ich könnte die ja auch aus Hans-Peters Hotelzimmer holen … was meinst du?«

Ich sage nicht, was ich meine. Dass Gudrun völlig verzweifelt auf einen Anruf Hans-Peters wartet. Dass sie ihm derzeit in seinem leeren Hotelzimmer am nächsten wäre und in demselben gleichzeitig auch noch ein bisschen mehr über ihn herausfinden könnte.

»Dann fahr schon los! Und liefere den verdammten Tabak auch gleich da ab.«

Ich werfe ihr die runde blaue Dose mit der Abbildung von Sonnenaufgang und rotem Gockel – wie passend – zu. Sie fängt sie auf und legt sie wieder auf die Anrichte.

»Er kommt bestimmt als Erstes hierher zurück. Und dann braucht er etwas zur Beruhigung«, sagt sie und lässt mich mit dem Säugling allein.

Ich bin etwas ratlos. Soll ich jetzt die ganze Zeit neben dem Wäschekorb sitzen, um sicherzugehen, dass das Baby nicht den plötzlichen Kindstod erleidet?

Ich könnte natürlich noch ein paar Gerichte ausprobieren und hoffen, dass dem Kind die jeweiligen Ausdünstungen nicht langfristig schaden. Aber der Gedanke ans Kochen deprimiert mich. Ich sehe keine Chance, die Einkehr in wenigen Wochen rechtzeitig zur Wintersaison zu eröffnen. Meinen Handwerker Jupp darf ich jetzt nicht mit banalen Fragen wie der Einrichtung von geschlechtergetrennten Toiletten beschäftigen. Sein Lebensgefährte Hein studiert derzeit im Internet viel morbidere juristische Seiten als jene, die mit den Gastronomiebestimmungen zu tun haben; meine Kellnerin Gudrun befindet sich im libidinösen Ausnahmezustand, und ich selbst bin all der Aufregung müde.

Wo bleibt mein beschauliches Landleben?, frage ich mich, als ich meinen Körper vom Küchenstuhl hochwuchte. Ich spüre jedes überflüssige Kilo. Meine Gelenke ächzen.

Kaum taucht Hans-Peter auf, geht alles den Bach runter. Zum Beispiel der gute Vorsatz, meinem Leib nur noch wirklich Hochwertiges zuzuführen. Ich fresse wieder alles Greifbare in mich hinein, wie damals in Berlin, als ich vor lauter Wartefrust die roten Bohnen, nur mit etwas bitterer Orangenmarmelade und Schokosplittern versetzt gleich aus der Dose löffelte. Nun gut, in meinem Magen ist die Avocado in etwa als das Püree angekommen, das ich servieren will.

Ich mag mich nicht mehr in der Küche aufhalten; mit mir oder ohne mich wird das Kind diese quengligen Gesänge weiter aufführen, bis Gudrun mit dem Verdauungsvlies auftaucht. Jumbo ist da pflegeleichter und produktiver. Was aus ihm hinten rausfällt, erfreut die Rosen, die ich an der Einkehr-Hauswand hochzuziehen versuche. Um den scheußlichen Klinker zu verbergen. Vielleicht hat mir das Pferd ja ein Gastgeschenk hinterlassen.

»Bleib, wo du bist!«, sage ich zum Wäschekorb. Linus, auf der Decke daneben, hebt nicht mal den Kopf. Der faule Hund hat für heute genug vom Spazierengehen. Kann ich ihm nicht verdenken.

Tatsächlich finde ich mehrere Andenken an Jumbos Aufenthalt im Kuhstall und davor. Was sollen wir bloß mit diesem alten Schuppen tun? Mein Blick schweift über die ehemalige Melkgrube, in der ich böse Erfahrungen gemacht habe und deren Einrichtung längst verkauft ist. Lange hatte ich ja gehofft, den Stall einem der Nachbarbauern vermieten zu können, aber keiner hatte Interesse daran. Er sei viel zu klein für die heutigen Anforderungen, höre ich immer wieder. Meine Antwort, früher habe doch eine ganze Familie von den dort gemolkenen Kühen gelebt, stößt auf höhnisches Gelächter und die Bemerkung, früher sei der Milchpreis ja auch noch anständig gewesen. Heute müsse man mehr als hundert Kühe haben, um eine Familie zu ernähren, sogar wenn jede Kuh über fünfzig Liter täglich produziere. Aber gut leben könne man davon noch lange nicht. Da müsse man schon einen Stall für vierhundert Kühe errichten, wie der Bauer aus Hallschlag, der gerade so ein riesiges Gebäude, den größten Kuhstall von Rheinland-Pfalz, mitten in die Landschaft setzt. Eine Landschaft, die diese Kühe nie sehen werden, da man unmöglich so viele Tiere zum Melken in einen Stall und später wieder heraustreiben kann. Innerhalb dieses Stalls aber würden diese Kühe jeden erdenklichen Rindviehkomfort erleben, hat mir Hein versichert. Jede Kuh hätte fast acht Quadratmeter Lauf- und Liegefläche, mehr als die für tiergerechte Haltung geforderten fünf Quadratmeter.

Ich schippe die Pferdeäpfel in meine Schubkarre, verliere aber die Lust an gärtnerischen Aktivitäten, als mir auf dem Weg zurück der Mirabellenbaum ins Auge fällt, unter dem tatsächlich auch Mitte Oktober noch zahlreiche gelbe Früchte liegen. Ich hole einen Eimer aus dem Stall und sammele die kleinen Pflaumen auf, die nicht allzu verrottet sind und noch genießbar aussehen. Es hat durchaus Vorteile, dass auf der Schneifel alles später im Jahr reif wird als anderswo. Plötzlich fällt mir ein, dass ich meine Babysitterpflichten sträflich vernachlässige. Ich stelle also den Eimer zu den Pferdeäpfeln in die Schubkarre, lasse sie stehen und eile zum Restaurant zurück.

»Warum kannst du kein Pferd sein und aus deinem Brei was Nützliches produzieren?«, frage ich in die Küche hinein. Kein Geräusch. Ich trete an den Wäschekorb heran.

Und nenne das Kind zum ersten Mal bei seinem Namen.

»Vinzenz?«

Ich spreche zu einem leeren Wäschekorb. Das Kind ist weg. Das darf doch nicht wahr sein! Wann fangen Kinder mit dem Laufen an? Doch nicht, bevor sie sitzen können, so viel weiß auch eine Frau, die nie Mutter war.

Fieberhaft durchwühle ich meine immer noch warme, nicht mehr ganz saubere Wäsche, als hätte sich der Winzling boshafterweise zwischen meine Unterhosen eingegraben, um mich zu ärgern. Kein lebendes Fleisch. Nichts Menschliches. Vinzenz ist weg.

»Linus?!«

Mein Hund hebt den Kopf und fiept.

»Linus, wo ist Vinzenz?«

Der Hundekopf fällt wieder auf die Decke und schnarcht weiter.

»Verdammt noch mal, was bist du für ein Wachhund!«, schreie ich ihn an. »In dir steckt ein Kampfhund, hast du das vergessen?«

Linus erhebt sich müde und reibt seinen Kopf an meinem Bein.

»Nix da, ich beruhige mich erst, wenn du mir zeigst, wo das elende Kind ist!«

Mit einem Blick, der bei einem Menschen sagen würde, wenns nur das ist, trottet Linus aus der Küche. Ich folge ihm und überlege, ob die Kehr das Bermudadreieck abgelöst hat. Erst verschwindet eine Frau, dann eine Hanfernte und jetzt ein Baby. Zwei Menschen in meiner Umgebung werden wegen Mordverdachts von der Polizei vernommen, und Marcel hat sich den ganzen Tag nicht blicken und nicht einmal von sich hören lassen. Ich komme mir ganz schön einsam vor.

Und ich habe Angst.