Sechstes Gericht

Hühnchenleber im grünen Gras

verschiedener Kräuter, mit Wurzelschaumkrone und von roten Beeren der Saison umringt

Für die Schönheiten des Prümer Bergs und des Ourtals habe ich keinen Blick, als ich neben Marcel im Polizeijeep durch die Landschaft von Sankt Vith nach Krewinkel jage. Er hat darauf bestanden, dass ich meinen Wagen vor der lokalen Polizei in Sankt Vith stehen lasse. Wahrscheinlich hofft er, dass ich ihm unterwegs doch noch gestehe, den Privatdetektiv angeheuert zu haben. Was natürlich völliger Quatsch ist. Ich habe nicht widersprochen, hoffe ja selbst, auf dem Beifahrersitz im wahren Sinn des Wortes mehr über die neuen Entwicklungen erfahren zu können.

Ich kommentiere nicht einmal die hohe Geschwindigkeit, mit der Marcel über die degradierte Straße brettert. Zu viel spielt sich hinter meiner Stirn ab.

Ich bin auch sehr bemüht, die in der Nacht noch so offenen Kammern meines Herzens wieder mit Schloss und Riegel zu versehen. Kaum zeige ich Schwäche und lasse mich gehen, schon werden mir wieder kriminelle Geheimnisse angedichtet. Nein danke, Herr Polizeiinspektor, Sie können mir gestohlen bleiben. Aber erst sollten Sie mir noch etwas über den Stand der Ermittlungen erzählen.

»Das Obduktionsergebnis von Mutter Agnes ist doch bestimmt kein Staatsgeheimnis?«, frage ich, als wir den Berg hinunterkommen und quietschend um die Kurve in Eiterbach brausen.

»Nein«, antwortet er. Vor uns holpert ein Lastwagen. Der zwingt Marcel zum heftigen Tritt auf die Bremse. »Muss denn dieser Kamion so schleichen?«, flucht er. »Die Obduktion hat ergeben, wie wach die alte Dame doch noch war und wie gern sie das nicht mehr sein wollte. Gestorben ist sie an einer Taxinvergiftung.«

»Aber du sagtest doch …«

»Keine Medikamente«, bestätigt er, während er an einer recht unübersichtlichen Stelle den Kamion überholt, hupend, wohl für den Gegenverkehr zu warnen. »Alles pflanzlich, reine Natur.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Ich bin ja auch gerade erst dabei, mir die Geschichte zusammenzusetzen«, sagt er ungeduldig. »Weißt du noch, was Jupp ausgesagt hat?«

»Ich war nicht dabei«, erinnere ich ihn mit leiser Schärfe in der Stimme, »und du hast mir nichts weitergegeben. Tust du ja nie.«

»Das stimmt nicht, Katja. Und du selbst hast mir erzählt, was Jupp euch gesagt hat. Seine Mutter hat ihn gebeten, Jumbo an einen Baum zu binden und sie das letzte Stück zu ihrem Lager hinzutragen.«

»Ja und?«

»Selbst angesichts des bevorstehenden eigenen Todes hat Mutter Agnes daran gedacht, Jumbo zu schützen.«

»Wovor?«, frage ich, jetzt völlig verwirrt.

»Vor dem Gift der Eibe. Schon wenige Nadeln können für ein Pferd tödlich sein. Das wusste sie, das wissen alle auf dem Land. Das Gift, ein Alkaloid namens Taxin, steckt fast überall in der Eibe, im Holz, in den Nadeln und in den Samen der roten Beeren. Und Mutter Agnes starb unter einer der wenigen Eiben drüben im Wald.«

Langsam dämmert es mir. Ich bin sehr lange sehr still, sage dann flüsternd: »Sie. Keine Elfen. Keine Ahnen. Rote Beeren. Die hat sie gesucht. An ihnen hat sie mit ihren schwachen Augen den richtigen Baum erkannt. Und die Beeren dann gegessen.«

»Ja, aber daran ist sie nicht gestorben«, sagt Marcel. »Der rote Beerenmantel ist harmlos, wurde früher sogar zu Marmelade verarbeitet. Sie hätte den schwarzen Samen darin gründlich zerkauen müssen, für das Gift freizusetzen. Das hat sie versucht, aber es ist ihr nicht geglückt.«

»Sie war so klar. Wie früher. Hat sogar ihr altes Gebiss wieder eingesetzt, genau das hat uns Jupp gesagt«, murmele ich.

»Und dann hat es nicht so funktioniert, wie sie es sich gewünscht hat«, flüstert Marcel.

Schweigend gedenken wir lange Zeit der liebenswerten alten Frau, die im vergangenen Jahr entscheidend zur Aufklärung eines Verbrechens beigetragen hat. In erbarmungsloser Langsamkeit schien ihr die Natur nach und nach alle Sinne abgeschaltet zu haben. Immer wenn es so aussah, als würde der von der Zeit geschundene Körper endlich in Frieden ruhen können, blitzte die Funktion eines Sinnesorgans plötzlich wieder auf, nur um danach wieder ausgeknipst zu werden. Ein grausames Spiel der Natur. Dem Mutter Agnes in einem dieser winzigen Zeitfenster der Klarheit mit den Mitteln der Natur beizukommen versucht hat.

Am 30-km-Schild vor der Schule in Manderfeld drosselt Marcel tatsächlich das Tempo. »Man hat Stücke des Samens in ihrem Gebiss gefunden, aber vielleicht hat das Zeug furchtbar geschmeckt, vielleicht fehlte ihr die Kraft zum gründlichen Kauen, jedenfalls muss sie den großen Teil wieder erbrochen haben; deshalb hat sie dann die Nadeln geholt. Viele kleine Stücke abgebissen und runtergewürgt. Das muss ein riesiger Kraftaufwand für die arme Frau gewesen sein! Und es war ein schmerzlicher Tod; der Kampf hat mindestens eine Stunde gedauert, so steht das ganz nüchtern in dem Bericht.«

Er gibt wieder Gas.

»Das kann nicht stimmen«, sage ich aufgeregt. »Sie hat nichts erbrochen, war ganz sauber, als wir sie fanden, so friedlich und irgendwie … glücklich. Das hast du selbst doch auch gesehen.«

»Irgendjemand muss sie gleich nach dem Sterben so hergerichtet haben. Wahrscheinlich Jupp. Aber den Euskirchener Kollegen gegenüber hat er es vehement abgestritten.«

»Dann wird er es auch nicht getan haben.«

»Ach, Katja, kein Eifeler lässt seine im Sterben liegende Mutter allein! Er wird sich hinter einem Baum versteckt und gewartet haben, bis sie tot war.«

In der scharfen Linkskurve am Manderfelder Kriegerdenkmal zurrt sich der Sitzgurt fest und schneidet schmerzlich in mein Fleisch.

»Pass doch auf! Du fährst wie ein Henker!«, sage ich, erstarre dann. Was für ein Sprachbild ist mir da über die Lippen gekommen? Wieso sollte es ein Henker, also jemand, der einen anderen ins Jenseits befördern wird, damit so eilig haben? Damit der Schmerz schnell vorbei ist? Meine Güte, Jupp, hast du vielleicht doch nachgeholfen, weil sich deine Mutter so gequält hat? Warst du der Henker deiner Mutter?

»Als Todesursache steht das Eibengift eindeutig fest?«, frage ich ängstlich.

»Das Taxin. Ja.«

Ich atme erleichtert aus.

»Dann hat sich Jupp ganz sicher nicht hinter einem Baum versteckt. Er hätte es nie ertragen, seine Mutter so leiden zu sehen.«

»Da ist was dran«, bemerkt Marcel nachdenklich und biegt in die kleine baumgesäumte Straße rechts ein, die nach Krewinkel ins Tal führt.

Das Tor, das Herrn Eichhorn wohl zum Verhängnis wurde, ist inzwischen gänzlich abgerissen worden. Die Bretter liegen nachlässig aufeinandergeworfen seitlich der Einfahrt und erinnern mit ihrer kruden Malerei an die ausgedienten Kulissen einer Schüleraufführung.

Wir parken an der Straße. Nachdem Marcel einen Ordner aus dem Wagen genommen hat, gehen wir an den Beeten vorbei zum Hauseingang. Hier gibt es keine Klingel, kein Namensschild und natürlich kein Märchenschlossfenster. Marcel lässt einen Messingklopfer in Form eines satanischen Kopfes ein paarmal gegen die Eichentür donnern.

Zu meiner Überraschung öffnet Victor höchstpersönlich.

Sein Blick geht vom uniformierten Polizisten zu mir und wieder zu Marcel zurück.

»Ja bitte?«, fragt er ungehalten, so, als hätte er uns nie zuvor gesehen.

»Ich muss mit Ihnen reden, Herr Müller«, erklärt Marcel und schüttelt den Ordner. Erst zieht Victor die Augenbrauen hoch, dann hält er uns die Tür auf. Mich ignoriert er völlig. Ich komme mir wie ein Geist vor.

»Ich hoffe, Sie bringen nicht wieder alles durcheinander wie beim letzten Mal«, sagt er, als er an den Buddhastatuen vorbei in den Meditationsraum vorangeht und uns beiden je ein Kissen zum Sitzen anweist. Jetzt hebe ich die Augenbrauen. Ich bin wirklich nicht diejenige, die dauernd etwas verschweigt. Das ist Marcel. Wieso hat er mir nicht erzählt, dass er die Sekte kennt?

Während ich auf das Kissen plumpse und mühsam ein Gleichgewicht zu finden suche, lässt sich Marcel im Lotussitz nieder, was elegant, aber auch sehr merkwürdig aussieht. Er legt die Akte vor sich auf den Fußboden.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen damals Schwierigkeiten gemacht habe, aber ich musste den Hinweisen nachgehen; das verstehen Sie doch?«

»Ich verstehe nur, dass wir zu Unrecht denunziert worden sind«, gibt Victor Müller zurück. »Sie haben keine Drogen gefunden, und Sie werden auch keine finden. Weil es hier keine gibt. Aber Sie sind sicherlich aus einem anderen Grund hier, Herr Polizeiinspektor.«

»Das stimmt«, erwidert Marcel friedlich. »Es geht um einen Verstoß gegen die Meldepflicht.«

Victor, der uns auf einem dickeren Kissen gegenübersitzt, hebt die Arme. »Ich bitte Sie, wir sind alle im Bevölkerungsregister der Gemeinde Büllingen und im belgischen Nationalregister erfasst!«

»Nicht die Frau, die sich Cora nennt«, gibt Marcel zurück. »Könnten Sie die bitte herrufen? Ich möchte mit ihr sprechen.«

»Selbstverständlich.«

Victor greift nach einem goldenen Glöckchen auf dem niedrigen Regal neben sich. Auf sein Klingeln öffnet sich die Tür, und Gerti huscht herein.

»Hol sofort Cora«, befiehlt Victor in einem recht unangenehmen Ton.

Zu gern würde ich Marcel jetzt nach dem ominösen Nationalregister befragen, aber ich verharre in meiner Rolle als Geist. Der jetzt gern einen Tee, auch einen afrikanischen Rooibostee, getrunken hätte, aber ein solcher wird uns nicht angeboten.

Gerti kommt zurück, sieht Victor an, schüttelt den Kopf und geht wieder.

»Sie ist also momentan nicht da«, übersetzt uns Victor den Blickaustausch.

»Und wo können wir sie dann finden?«, fragt Marcel freundlich.

Victor stößt einen tiefen Seufzer aus.

»Ich bin nicht meiner Schwester Hüter, Herr Polizeiinspektor. Es enttäuscht mich, Ihr Klischee zerstören zu müssen, aber ich bin nicht der Oberguru einer Sekte, die ihre Mitglieder gefangen hält. Wir sind eine ganz normale WG, die in Frieden leben und arbeiten will. Die Tür nach außen steht hier jedem Bewohner jederzeit offen. Kurzum, ich habe keine Ahnung, wo Cora steckt.«

»Dann seien Sie doch bitte so freundlich, mir die Personalien der Dame mitzuteilen«, sagt Marcel.

»Die soll sie Ihnen lieber selber nennen«, gibt Victor zurück. »Nicht jede Frau ist beglückt, wenn ihr Alter in die Welt hinausposaunt wird.«

»Frau Cora erschien mir wenig eitel«, kontert Marcel, »und da Sie die Dame soeben selbst als Bewohnerin bezeichnet haben, machen Sie sich als Hausbesitzer ebenfalls strafbar, wenn Sie sie unangemeldet bei sich wohnen lassen.«

»Von wohnen kann bei Cora keine Rede sein, sie hält sich hier nur vorübergehend auf.«

»Seit wann?«

Victor breitet die Hände aus, als wolle er uns segnen.

»Haben Sie am Himmel gestern das großartige Schauspiel der Kraniche gesehen? Sie ziehen nach Süden. Im Frühjahr kehren sie wieder zurück. Sie pendeln hin und her, sind mal hier, mal dort. Wie Cora, sie ist ein Zugvogel. Ihre Anwesenheit hat uns geehrt und so bereichert wie der Anblick der majestätischen Kraniche.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sie weitergezogen ist?«, setzt Marcel der verräterischen Poesie – bereichert hat! – seine spezielle Prosa entgegen.

»Das glaube ich nicht«, erwidert Victor hastig, »sie hätte von uns Abschied genommen. Wahrscheinlich besucht sie ihre neue Freundin auf der Kehr, da hat sie sich in den letzten beiden Tagen öfter aufgehalten, und da sollten Sie vielleicht nachfragen, falls das noch in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«

Wir alle wissen, dass dies nicht der Fall ist. Und dass die neue Freundin, falls ich damit gemeint sein soll, jetzt als Geisterwesen auf einem unbequemen Bodenkissen im Sektenhaus hockt.

Marcel entknotet seine Beine, greift nach dem Ordner und erhebt sich, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen.

»Ich gebe Frau Cora jetzt zwölf Stunden Zeit, für sich auszuweisen. Ansonsten erfolgt administrative Festnahme zwecks Überprüfung der Identität«, sagt er, öffnet den Ordner, blättert darin herum und schließt ihn mit einem lauten Knall. »Auch Sie haben sich strafbar gemacht, Herr Müller«, sagt er streng. »Sie wissen, dass jeder Übernachtungsbesuch der Gemeindeverwaltung gemeldet werden muss. Als für Sie zuständiger Beamter erteile ich Ihnen hiermit eine Verwarnung.«

Als für Sie zuständiger Beamter? Was ist das für eine belgische Gepflogenheit? Nationalregister? Ich dachte, wir Deutschen wären die Meister der Bürokratie!

Nachdem ich mich irgendwie wieder auf zwei Beine gebracht habe, wendet sich Victor plötzlich an mich.

»Kann ich bitte kurz unter vier Augen mit dir sprechen, Katja?«, fragt er höflich. Erschrocken, nun kein Geist mehr zu sein und wahrgenommen zu werden, bleibe ich wie erstarrt stehen.

»Ich warte im Auto«, ruft mir Marcel fröhlich zu und stiefelt dem Ausgang entgegen. Die wuchtige Eichentür knallt ins Schloss.

Victor, der während des ganzen Dialogs mit Marcel keine einzige Regung – von den ausgebreiteten Zugvogelarmen abgesehen – gezeigt hat, funkelt mich aus seinen Augen jetzt wütend an. Ich trete einen Schritt zurück, aus Angst, gründlich durchgeschüttelt oder an die Wand geworfen zu werden; wer weiß, was für Kräfte dieser Guru plötzlich freisetzen kann.

»Sorg dafür, dass uns dein Polizist in Ruhe lässt«, faucht er. »Sonst werde ich ihm einen Hinweis auf die Drogen in deinem Haus auf der Kehr geben, ganz schön kräftiges Gras, das du da anbaust, meine Liebe! Und jetzt hau ab und lass dich hier nie mehr blicken!«

Die Aufforderung befolge ich gern. Ich habe die Haustür schon geöffnet, sodass mich Marcel aus dem Auto beobachten kann – sicher ist sicher –, und spreche so leise in das Haus hinein, dass es im Wagen nicht gehört werden kann: »Ihr seid nichts anderes als ein Haufen schäbiger Diebe. Ich werde ihm gleich sagen, dass er hier jetzt endlich fündig werden kann!«

Victor steht neben dem Meditationsraum, streichelt einer kniehohen Buddhastatue den Kopf und sieht mich mit dem gleichen freundlichen Lächeln an, mit dem er mir vor ein paar Tagen die interessante Zukunft meines Restaurants ausgependelt hat.

»Du dauerst mich, du feiste, alte Frau mit dem fürchterlichen Karma«, sagt er weich, »alles entgleitet dir, nichts bleibt dir. Nur ein blauer Müllsack, dem in deinem Schuppen auf der Kehr wieder jener Duft entströmt, den du in deiner belgischen Gefängniszelle schmerzlich vermissen wirst.«

Diese Dreistigkeit verschlägt mir die Sprache. Victor setzt sich wieder in Bewegung, scheint fast auf mich zuzuschweben.

»Unter dem Himmel ist der Wind: das Bild des Entgegenkommens. So macht es der Fürst beim Verbreiten seiner Befehle und ihrer Verkündigung an die vier Himmelsgegenden«, deklamiert er und setzt hinzu: »Vielleicht verweht der Wind die Spuren vor der Haustür. Sie sind bereits gelegt, kleine Spuren der großen Cannabissativa-Pflanze.«

Er drückt mich zur Seite und ruft zu Marcel hinaus:

»Herr Polizeiinspektor, bitte kommen Sie noch mal her, ich möchte eine Anzeige erstatten.«

Zu mir sagt er: »Wenn der Wind über die Erde weht, so kommt er überall hin, und das Gras muss sich seiner Macht beugen. Dschun heißt das Gras, das bei seinem Hervorsprießen aus der Erde auf ein Hindernis stößt. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Anfangsschwierigkeit, wie du bereits gemerkt haben dürftest.«

»Es ist nicht hervorgesprossen, es war bereits geerntet, und ihr habt es geklaut«, gebe ich wütend zurück, während sich Marcel wieder aus seinem Auto bequemt.

»Egal. Das Gras ist wieder zu dir zurückgekehrt.«

»Ja, bitte?«, fragt Marcel, als er wieder vor die Tür tritt.

»Ich habe ein Problem«, sagt Victor.

»Was für ein Problem?«, fragt Marcel. Victor sieht mich an. Er hat Zeit und ein Problem. Ich auch. Ich könnte Hein erwürgen! Wahrscheinlich hat Cora auf der Suche nach mir den Müllsack hinter meinem Haus entdeckt, Victor informiert, der das Zeug weggeschafft hat, und dann hat sich die ganze Sippe an Heins Anbau gütlich getan. Und als nach dem Unfall die ungeliebte Polizei vor der Tür stand, haben sie die stinkenden Pflanzen schnell wieder bei mir abgeladen. Und Spuren vor die Haustür gelegt? Das ist wahrlich perfide! Und ich hatte schon Gudrun verdächtigt, meine Güte, Gudrun! Die habe ich ganz vergessen! Ich muss sofort zur Einkehr, um nach ihr zu sehen. Sie wird immer noch total durch den Wind sein, aber jetzt habe ich ein anderes Problem.

Victor deutet auf den Bretterhaufen in der Einfahrt.

»Wer zahlt mir das, Herr Polizeiinspektor?«

Marcel hebt die Schultern.

»Da fährt mir ein Irrer mein Tor kaputt, und niemand ist dafür verantwortlich?«

»Dafür bin ich nicht zuständig«, sagt Marcel, »klären Sie das mit Ihrer Hausratversicherung. Ich schicke Ihnen gern den Rapport über den Unfallhergang.«

Mehr wird nicht gesagt. Wir steigen in den Wagen.

»Fahr mich zur Einkehr«, bitte ich Marcel. »Ich muss nach Gudrun sehen. Und nach Linus. Ich habe die beiden viel zu lang allein gelassen.«

»Natürlich«, erwidert er. Ohne mich zu fragen, was Herr Müller denn mit mir unter vier Augen bereden wollte, murmelt er, mehr zu sich als zu mir: »Hatten ziemlich rote Augen und leicht erweiterte Pupillen, die beiden Herrschaften. Sollte vielleicht doch noch mal nachsehen, mit was für Kräutern die sich beschäftigen.«

Über dieses Thema möchte ich nun gerade nicht sprechen. Während Marcel erstaunlich gemächlich durch Krewinkel gondelt, frage ich ihn nach dem Nationalregister und was er damit gemeint habe, er sei der zuständige Beamte.

»Der bin ich auch für dich«, antwortet Marcel. »Jeder, der zu uns zieht, wird von der Polizei zu Hause zwecks Wohnsitzüberprüfung aufgesucht.«

»Auch ohne Mordfall?«, frage ich verblüfft.

Marcel nimmt am Hinweisschild Kehr die Kurve nach links. »Ja, natürlich, wir müssen doch wissen, wer bei uns wohnt. Und der Bürger weiß, an wen er sich im Notfall zu wenden hat«, erwidert er. »Das ist sehr viel persönlicher als bei euch in Deutschland. Jeder hat hier seinen für ihn zuständigen Polizisten. Wir sind eben sehr bürgernah.«

So bürgernah, dass über alle siebzigtausend Einwohner im Bereich der Deutschsprachigen Gemeinschaft staatlicherseits Buch geführt wird, wie ich zu meinem Entsetzen erfahre. Der gläserne Bürger, von dem deutsche Innenminister träumen, lebt in Belgien. Selbst privateste Details werden registriert.

»Aber du hast mich damals nicht nach Beruf, Einkommen und Vermögen gefragt«, bemerke ich, nachdem ich mich von meiner Fassungslosigkeit erholt habe.

»War nicht nötig, hast du mir ja alles selbst erzählt«, gibt er zurück.

»Und du hast das dann haarklein in euer Nationalregister eingetragen?«, frage ich ungläubig.

Er nickt. »Aber natürlich habe ich das weitergegeben.«

»Und da kann jeder nachsehen?«

»Nur, wer dazu befugt ist«, antwortet er gelassen.

»Wenn du dich also für irgendeine Frau in eurem Gebiet privat interessierst, kannst du da alles über sie nachlesen?«, frage ich empört. Marcel wirft mir einen fröhlichen Blick zu.

»Das, was mich privat an der Frau interessiert, die in meinem Gebiet wohnt, finde ich dort leider nicht. Außerdem wird registriert, wer wann was nachgeschaut hat«, erwidert er, »für jeglichen Missbrauch vorzubeugen.«

»Wie beruhigend.«

»So bin ich ja auch dahintergekommen, dass sich diese Cora bei uns nicht angemeldet hat.«

Wir sind oben auf der Kehr angekommen. Er biegt links ab und fährt in meinen Hof ein.

Beunruhigt blicke ich zu meiner Haustür. Von der Straße aus kann ich nicht erkennen, ob da Marihuana herumliegt.

»Wir parken lieber am Restaurant«, sage ich hastig und deute auf die andere Straßenseite.

Er zieht die Handbremse und blickt an sich herab.

»Geht nicht. Ich trage Uniform. Wenn du erlaubst, warte ich in deinem Haus auf dich.«

»Bitte komm mit mir rüber«, sage ich drängend. Ich muss ihn unbedingt davon abhalten, sich meiner vermutlich cannabisverseuchten belgischen Haustür zu nähern. »Du ermittelst jetzt doch nicht. Ich brauche dich da. Wer weiß, in was für einer Verfassung sich Gudrun befindet.«

In einer erstaunlich guten, wie wir schnell feststellen können. Genau wie die Einkehr. Die ist von oben bis unten geputzt.

»So bewältigt eine richtige Eifelerin ihre Trauer«, flüstert mir Marcel zu, als wir die blitzblank gewienerte Küche betreten. Linus springt laut bellend an mir hoch.

»Ich hatte keine Zeit, um mit ihm Gassi zu gehen«, sagt Gudrun entschuldigend, »aber dafür habe ich auch bei dir sauber gemacht, die Fenster von draußen, das war wirklich nötig. Und das ganze Grünzeug vor deiner Haustür weggefegt, da muss dir ein Sack mit allen verdorbenen Kräutern der Welt geplatzt sein, so schlimm stank das! Ich hätte auch drinnen geputzt, aber ich konnte den Schlüssel nicht finden.«

»Apropos Schlüssel«, bemerkt Marcel. »Du kannst mir ja deinen Autoschlüssel geben.«

Ich beäuge ihn misstrauisch.

»Ist mein Fahrzeug jetzt verdächtig? Muss da was im Nationalregister eingetragen werden?«

Marcel lacht. »Aber nein, Katja, ich wollte dir nur die Hin- und Rückfahrt nach Sankt Vith ersparen und dir den Wagen heute Abend selbst zurückbringen.«

Ich sehe zu Gudrun hinüber. Sie steht ganz oben auf einer Leiter, reckt sich nach der Zimmerdecke und bearbeitet die auf Putz liegende Leitung der Küchenlampe mit einem Wischtuch. Erstaunlich, was man so alles sauber machen kann, wenn man fürchterlich traurig ist.

»Und wie kommst du dann nach Hause zurück?«, frage ich spitz.

»Mit dir, dachte ich«, antwortet Marcel leise. Er will nach meiner Hand greifen, aber die habe ich schnell fortgezogen. Eine feine Röte breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er steht auf.

»Dann eben nicht«, sagt er, »aber ich muss jetzt zurück zum Dienst. Komm, Katja, wir fahren.«

Gudrun lässt das Tuch sinken.

»Ihr wollt mich doch nicht schon wieder allein lassen!«, ruft sie und klettert die Leiter hinunter. »Bitte, Katja, bleib hier! Du musst ja auch noch mit Linus gehen.«

Ich meide Marcels Blick.

»Gut«, sage ich seufzend und löse meinen Autoschlüssel vom Bund, »dann bring den Wagen eben heute Abend her.«

Nur weil ich ihn heimfahre, muss ich die Nacht ja nicht unbedingt wieder in einem breiten belgischen Doppelbett verbringen!

 

Gudrun fragt nicht, was es Neues gibt, also muss ich ihr auch nichts von der wieder aufgetauchten Ehefrau Hans-Peters erzählen. Darüber möchte ich selbst erst mal in Ruhe nachdenken. Natürlich interessiert mich die Frau brennend, und am liebsten wäre ich sofort ins Burghaus gefahren, um sie zu sehen und mit ihr zu reden. Wir haben uns bestimmt eine Menge zu sagen. Aber erstens habe ich momentan kein Auto, und zweitens muss so eine Begegnung wohlüberlegt sein.

Ich schnappe mir Linus und gehe mit ihm in den Wald. Wie Eiben aussehen, weiß ich nicht, wohl aber, wo wir Mutter Agnes gefunden haben. Durch die kahlen Fichtenstämme hindurch sehe ich schon aus der Ferne Jupp und Hein nahe dem hohen buschähnlichen Baum. Linus springt mir voran auf die beiden Männer zu. Als ich näher komme, sehe ich ein großes Gebinde aus verschiedenfarbigen Rosen unter dem Baum mit den roten Beeren. Der Strauß aus welken Astern und Chrysanthemen sieht daneben ziemlich mickrig aus.

»Man hat ihren Körper freigegeben«, flüstert Jupp. »Wir werden sie nächste Woche beerdigen. Aber für mich wird sie immer hier sein, an dieser Stelle. Danke, Katja, dass du auch Blumen hingelegt hast.«

Ich schüttele den Kopf und schäme mich, nicht daran gedacht zu haben.

»Der ist nicht von mir«, gestehe ich und deute auf den verwelkten Strauß.

»Hab ich Jupp gleich gesagt«, bemerkt Hein. Er beugt sich vor, um die bunten Rosen besser zu ordnen, und lässt dabei einen hellrosa Streifen im schwarzblauen Haar erkennen. »Deine Arrangements sind viel geschmackvoller und angemessener, Katja.«

»Darauf kommt es jetzt doch gar nicht an«, murmelt Jupp und legt den Herbststrauß anders hin, was ihn auch nicht schöner aussehen lässt.

»Doch, Jupp, auch und gerade jetzt«, belehrt ihn Hein mit sanfter Stimme. »Es hilft, in extremen Situationen die Form zu wahren. Und wenn Katja dir oder deiner Mutter etwas durch die Blumen hätte sagen wollen, hätte das erheblich würdiger und liebevoller ausgesehen.«

Trotz des Kompliments schaue ich Hein gar nicht würdig oder liebevoll an. Ich habe mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber nicht an diesem Ort.

»Das also ist eine Eibe«, sage ich voller Ehrfurcht. Ich trete an den Baum mit dem rötlichbraun geschuppten Stamm und den erbsengroßen roten Beeren heran. Gerade will ich nach einem Ast greifen, um mir die weihnachtlich grün glänzenden Nadeln genauer anzusehen, als mich Jupp von hinten umarmt und wegzieht.

»Nicht, Katja«, sagt er leise und drückt mich an sich. »Fass die Nadeln nicht an!«

»So giftig?«, frage ich erstaunt.

»Kann sein«, murmelt Jupp.

»Der Baum des Todes«, flüstere ich.

»Du sagst es«, bemerkt Hein. »Die Römer bezeichneten die Eibe tatsächlich als Totenbaum. Und Caesar berichtet von einem großen keltischen Herrscher, der sich lieber durch Eibengift tötete, als sich zu unterwerfen. Wie Jupps Mutter. Die wollte sich dem Verfall nicht länger unterwerfen. Das müssen wir respektieren, Jupp!«

»Es fällt so schwer«, stöhnt sein Freund. »Sie war doch noch da. Und jetzt ist sie weg. Der Tod ist schrecklich endgültig, Hein. Ich fühle mich so schuldig! Aber was sollte ich machen? Sie wollte in kein Krankenhaus; sie wollte keine Fremden um sich haben, sie wollte uns nicht zur Last fallen, sie wollte gar nichts. Jahrelang. Und dann wollte sie in den Wald.«

»Du hast ihr einen großen Liebesdienst erwiesen«, sage ich mit Tränen in den Augen. »Der größte war vielleicht, sie in der Stunde ihres Todes allein zu lassen.«

Jupp hebt die Lider und blickt seinen Freund aus rot geweinten Augen an. Ich glaube zu verstehen.

»Ihr habt sie beide hergerichtet, damit sie schön aussieht, wenn sie gefunden wird?«

»Nein!« Jupp starrt mich entgeistert an. »Ich war nicht da, als sie starb.«

»Ist das schlimm für dich?«, will ich wissen.

Unendlich langsam schüttelt Jupp den Kopf.

»Sag’s ihr«, fordert er Hein auf.

Hein stößt geräuschvoll Luft aus.

»Katja versteht das vielleicht. Die kommt aus der Großstadt; da sterben viele Menschen allein.«

Wie meine Mutter. Was für Schuldgefühle mich immer noch plagen, wenn ich an ihren einsamen Tod denke!

»Ich wäre schon gern bei meiner Mutter gewesen«, sage ich leise. »Vor ihrem Tod war ich fast ständig bei ihr, aber ausgerechnet als es passierte, war ich woanders.«

»Wie so oft«, sagt Hein nickend. »Als Mutter Agnes noch klar war, hat sie immer gesagt, die Lebenden halten die Leute fest, die weiterziehen wollen. Aber das können sie nicht, weil sie die Liebe der ständig um sie herumwuselnden Familie an die Erde kettet. Wenn hier in der Eifel einer im Sterben liegt, hält die Verwandtschaft permanent Tag- und Nachtwache. Das ist so üblich, und irgendwie haben wir das bei Jupps Mutter ja auch immer so gemacht.«

Er hält inne, zieht ein verkrumpeltes Taschentuch hervor und putzt sich geräuschvoll die Nase. »Wir fanden das selbstverständlich. Bis sie mir eines Tages was sagte …«

Ein Windstoß fährt wie ein Gruß aus einer anderen Welt durch den buschigen Baum. Wir blicken auf. Rote Beeren rieseln herab. Eine fällt mir auf den Kopf. Ich pflücke sie aus meinem ungekämmten Haar und breche sie auf, während Hein weiterspricht: »Die meisten können erst dann in Ruhe sterben, wenn die Wache aufs Klo geht, sagte sie, und dann: Manchmal wünsche ich euch einen richtig gründlichen Pitter-zau-Dich.«

»Einen was?«

»Dünnschiss«, übersetzt Jupp flüsternd.

Die Beere mit ihrem todbringenden Samen tropft mir aus den Fingern.

»Ja, so war sie auch«, sagt Hein nickend. »Ganz nüchtern. Musste sie sein, bei ihrem schweren Leben. Das können wir uns heute gar nicht vorstellen, was die alles mitgemacht hat. Wir sind in eine glücklichere Zeit hineingeboren. Sie hat auch mal gesagt, dass Sterben wie Gebären ist; beides sollte die Frau gefälligst allein machen.«

Von beidem verstehe ich nichts. Ich weiß nur, dass mir ein männlicher Kollege früher gestanden hat, sich nicht vor der Niederkunft seiner Frau zu fürchten, sondern vor deren Erwartenshaltung, er müsse dabei sein. Beim zweiten Kind hat er sich dann auch gegen das Dabeiseinmüssen gewehrt.

Unvergesslich ist mir ein Modeshooting für meine Zeitschrift, als ein schwangeres Model zusammenbrach. Sie war erst im dritten Monat, aber ein Gedanke machte sie fix und fertig: Ihrem liebenden und sie anbetenden Gatten würden in absehbarer Zeit blut- und schleimverschmierte Ein- und Ausblicke auf ihren Körper gewährt werden. Die würde er in seiner Erinnerung speichern. Und das würde ihren wunderbaren Sex kaputt machen. Darum hasse sie dieses Kind jetzt schon. Eine Nacht lang habe ich auf das junge Ding eingeredet, ihr Baby trotzdem zu bekommen. Hat sie auch und auf meinen völlig rückständigen Rat hin den Mann aus dem Kreißsaal geschickt.

Die beiden sind übrigens die Einzigen aus meiner alten Welt, die mir regelmäßig zum Geburtstag schreiben. Immer mit dem neuesten Foto ihrer Tochter Katja. Die ist heute neunzehn, macht gerade Abitur und hat noch drei Geschwister.

Aus all diesen Dramen lässt sich eigentlich nur eines schließen: Geborenwerden und Sterben sind Geheimnisse. Und wie das mit Geheimnissen so ist, sollte jeder bei seinem eigenen entscheiden, ob er es mitteilen oder für sich behalten möchte. Mutter Agnes hat ihre Entscheidung überdeutlich kundgetan.

»Du wusstest, was Jupp und Agnes vorhatten?« Meine eigene Stimme klingt mir plötzlich fremd in den Ohren. Was fällt mir ein, sich in diese so private Angelegenheit der beiden Männer einzumischen?

»Nicht genau«, erwidert Hein. »Aber als mir Jupp simste, seiner Mutter gehe es besser, und das würden sie jetzt ausnutzen, habe ich mir schon so was gedacht. Aber die Eibe wäre mir nicht im Traum eingefallen.«

»Mir auch nicht«, gesteht Jupp. »Erst als sie das mit dem Pferd sagte, da habe ich den Baum gesehen …« Er schluckt.

»… und ihr dann ein paar Beeren in die Hand gelegt«, setzt er fast unhörbar hinzu.

Ich zitiere nichts aus dem Obduktionsbericht. Vielleicht kennt Jupp ihn. Ich hoffe nicht. Er sollte nicht wissen, dass seine Sterbehilfe versagt hat. Ich mag mir nicht vorstellen, wie verzweifelt Mutter Agnes nach den Nadeln gefahndet hat. Wie sie sich die in den Mund gestopft, darauf herumgekaut und sie verschluckt hat. Ja, es stimmt schon, was Jupp gesagt hat; sie ist wohl in gewisser Weise tatsächlich durch ihren Willen gestorben.

Es ist plötzlich sehr kalt geworden. Ich knöpfe meine Jacke zu und reibe mir die Arme. Zu dritt blicken wir eine lange Zeit schweigend auf die Stelle, an der Mutter Agnes vor zwei Tagen so friedlich gelegen hat.

»Ich habe alles über Eiben nachgelesen«, bricht Hein schließlich die Stille. »Als wir hörten, dass Mutter Agnes daran gestorben ist. Die Germanen hatten für sie eine spezielle Rune, und der Weltenbaum war eigentlich gar keine Esche, sondern eine Eibe. Überhaupt die Kelten – für die war die Eibe auch als Totenbaum heilig. Und es gibt eine bretonische Sage, wonach aus dem Mund eines jeden Toten eine Eibenwurzel wachse …«

Er bricht ab. Jupp hat sich am Fuße des Baumes niedergelassen und weint lautlos vor sich hin. Hein kniet sich neben ihm nieder, nimmt ihn in die Arme und wiegt ihn wie ein kleines Kind.

»Wein ruhig, mein Liebster, weine um deine Mama«, höre ich ihn flüstern. »Sie hat sich ihren Tod selbst ausgesucht, und Katja hat recht: Du hast ihr den größten Liebesdienst erwiesen, du hast sie frei gemacht. Wie die Kraniche, die gestern fortgeflogen sind, war das nicht schön? So ist auch sie in ein fremdes Land gezogen …«

Leise entferne ich mich. Linus, der die ganze Zeit über still neben mir verharrt hat, als habe er begriffen, wie wenig jetzt ausgelassenes Herumtollen am Platz ist, trottet mit gesenktem Haupt vor mir her. Ab und an schnüffelt er an einem Drachenzahn, einem Höckerstein des früheren Westwalls.

Mutter Agnes hat ihren Frieden gefunden. Wie nach einer Beerdigung habe ich das Gefühl, als sei heute etwas abgeschlossen worden.

Ich habe auch noch einiges abzuschließen. Mit Hein. Aber das Cannabishühnchen werde ich später mit ihm rupfen. Und zwar so, dass die Federn fliegen!

 

In der Einkehr hat sich Gudrun zu meinem Entsetzen inzwischen den Keller vorgenommen. Regale, eingestaubte Marmeladengläser, eine Batterie leerer Flaschen und Joghurtbecher, ein alter Polstersessel, aus dem eine Metallfeder herauslugt, ein riesiger versiffter einäugiger Teddybär, ein gelbes Waffeleisen aus den Sechzigerjahren, eine altmodische Höhensonne, Teppiche, die bei Tageslicht ausgerollt wohl zu Staub zerfallen würden, Eimer mit eingetrockneten Farbresten, ein Nierentischchen und leere Kartons stehen vor dem Eingang des Hauses, das ich eigentlich in wenigen Wochen als Restaurant eröffnen wollte. Wie nur hat es Gudrun geschafft, in so kurzer Zeit den ganzen Krempel ans Licht zu holen? Da sind Kräfte am Werk gewesen, die mich schaudern machen.

»Wir müssen die Kellerböden streichen!«, begrüßt sie mich. »Soll ich gleich Farbe kaufen?«

»Wozu?«, frage ich entgeistert.

»Für Ordnung zu schaffen!«, erklärt sie und hebt das gelbe Waffeleisen hoch. »Das können wir noch benutzen. Für belgische Waffeln zu machen. «

»Nee«, sage ich, »das macht viel zu dicke Dinger. Waffeln müssen in einen Toaster passen.«

Oh, wie ich mir mit dieser Bemerkung selbst einen Stich versetze! Irgendwo in mir schlägt wohl eine masochistische Ader.

»In einen Toaster?«, wiederholt Gudrun verständnislos. »Waffeln? Das gehört sich aber gar nicht! Waffeln müssen dick sein. Was für eine Farbe holen wir jetzt für den Fußboden?«

»Gar keine«, gebe ich zurück. »Gudrun, hör auf zu arbeiten! Das bringt doch nichts.«

»Sieht besser aus als vorher«, gibt sie zurück, »oder nicht?«

Das Chaos vor der Tür der Einkehr passt vorzüglich zu dem in meinem Kopf. Es muss dringend aufgeräumt werden.

»Ich helfe dir jetzt, alles wieder in den Keller zurückzutragen«, sage ich. »Hans-Peters Frau ist wieder aufgetaucht.«

Bei meinem ersten Satz hat Gudrun die Hände zum Protest erhoben; beim zweiten erstarrt sie wie Lots Frau. Ihr Mund bleibt so lange offen stehen, dass ich schon eine katatonische Störung befürchte. Dann erschlafft der ganze Körper. Gudrun sinkt auf den Stufen der Einkehr nieder, schüttelt den Kopf, räuspert sich und fragt fast zaghaft:

»Hat sie den Mord gestanden?«

»Natürlich nicht!«, fahre ich sie an, was mir augenblicklich leidtut. »Wir wissen doch überhaupt noch nicht, ob es Mord war.«

»Wo ist die Frau?«

»In Kronenburg. Im Burghaus.«

»Und Vinzenz?«

»Soweit ich weiß, ist er noch bei der Anneliese. Frau von Krump-Kellenhusen wird jetzt anderes zu tun haben, als sich um ein Kleinkind zu kümmern.«

»Aber du weißt es nicht genau?«

Ich schüttele den Kopf. Gudrun steht auf, bindet sich die Schürze ab, faltet sie sorgfältig zusammen und legt sie auf den kaputten Sessel.

»Dann geh ich da mal nachschauen«, sagt sie, während sie sich das Gummi aus dem langen Blondschopf zieht und sich mit den Fingern durch die Haare fährt.

Mich lässt sie mit dem Sperrmüll vor der Tür allein.

 

Vor dem Kaffeetrinken steht das Aufräumen, sage ich zu Jupp und Hein, die wenig später in die Einkehr kommen. Jupp bitte ich, seinen Kleinlaster zu holen, sein Kamionette, würde Marcel wohl sagen, das ganze Zeug aufzuladen und vernünftig zu entsorgen. Nachdenklich betrachtet er die ausgestellten Überbleibsel der Familie Mertes.

»Den Nierentisch können wir noch auf dem Flohmarkt verkaufen«, meint der Mann, der einen Fernkurs in Innenarchitektur belegt hat, »Fünfzigerjahremöbel sind wieder im Trend. Das Waffeleisen können wir da auch anbieten. Und Vater Alfs alten Sessel werde ich wieder aufarbeiten. Die Regale sollten wir zurück in den Keller stellen, Katja, für Vorräte und so.«

Er beginnt, den Krempel zu sortieren. Hein ist vollauf mit dem räudigen Teddy beschäftigt.

»Mein Schnurzi!«, kräht er und drückt das Stofftier an sich. »Du hast mir so gefehlt! Wo hast du nur all die Jahre gesteckt?«

»Eingekerkert im Kellerverlies«, gebe ich zurück. »Zu Recht, so wie der aussieht. Den willst du doch nicht etwa behalten?«

»Früher konnte ich ohne den gar nicht einschlafen«, gibt er zurück. »Er wird gesäubert, repariert und in Ehren gehalten. Ich hole ihn mit zu uns nach Losheim.«

»Dahin kannst du auch noch etwas anderes mitholen«, gebe ich scharf zurück. Während Jupp die Regale in den Keller wuchtet, fordere ich Hein auf, mit mir über die Straße zu gehen.

Die Tür des Schuppens ist nur angelehnt.

»Da hast du dein Gift«, sage ich erleichtert und werfe Hein den blauen Müllsack vor die Füße. »Hat mir schon genug Ärger eingebracht. Schaff mir dieses Elend bloß weg!«

Mit dem Teddy unter dem Arm beugt sich Hein herunter und sieht in den Sack hinein.

»Da fehlt aber eine ganze Menge«, sagt er vorwurfsvoll.

»Schön, willst du mich verklagen? Wozu brauchst du das Zeug überhaupt?«

»Für einzuschlafen«, erwidert er. »Das bringt mich runter, wenn ich im Stress bin.«

»Dafür hast du jetzt doch deinen Schnurzi«, gebe ich zurück. »Oder nimm eine Pille wie andere Menschen auch.«

»Ich werde mich doch nicht von der Pharmaindustrie abhängig machen!«, ruft er empört, während er in dem Sack herumwühlt. »Außerdem hilft das gegen mein Asthma. Man sollte Cannabis legalisieren, ist viel harmloser als der Whisky, den du so gern schluckst, und außerdem hilft es gegen eine Menge von Krankheiten.«

Auf diese Diskussion lasse ich mich gar nicht erst ein.

 

Stunden später

Marcels Anblick hat mir schon öfter die Sprache verschlagen. Aus verschiedenen Gründen. Als elegante Erscheinung aber hat er mich bisher noch nie erschüttert. Fassungslos blicke ich auf den Mann vor der Tür der Einkehr. Im schmal geschnittenen dunkelgrauen Blazer und einer etwas helleren Gabardinehose mit scharfer Bügelfalte könnte er glatt als Model durchgehen. Sogar der Schnurrbart sieht fast ordentlich gestutzt aus. Gut, bei genauerer Betrachtung dürfte der Krawattenknoten über dem hellgrauen Hemd etwas weniger schief sitzen.

Er folgt meinem Blick und fasst sich an die schmale rote Krawatte.

»Unmodern?«, fragt er unsicher. »Sollte die vielleicht breiter sein?«

Ich schüttele den Kopf und richte den Krawattenknoten.

»Du siehst toll aus«, sage ich ehrlich, »und schmale Krawatten sind immer schöner. Ich kann diese breiten bunten Lätzchen nicht leiden, die sich manche Männer um den Hals hängen. Warum so schick?«

»Weil wir essen gehen werden«, sagt er beziehungsreich.

Ich verstehe sofort. In unserem Umfeld gibt es nicht viele Restaurants, für die man sich in Schale wirft. Eigentlich nur eines.

»Kronenburg«, sage ich nickend. »Natürlich ermitteln wir nicht.«

»Wo denkst du hin!«, erwidert er lachend. »Würde ich mich in Deutschland doch nie trauen!«

»So siehst du aus. Wir werden uns also ganz privat umsehen und der Dame kondolieren. Ganz inoffiziell mitfühlende Fragen stellen, sehr gut. Bleib bitte hier, Marcel, und tröste Gudrun. Nachdem sie auch noch den armen Linus in den Wasserbottich gestellt und abgebürstet hat, gehen ihr die Ideen zum Putzen aus. Ich laufe mal schnell nach Belgien und mache mich auch schön. Aber das wird bestimmt ein bisschen dauern.«

Klar, wenn ich Gaby von Krump-Kellenhusen gegenübertrete, möchte ich das nicht als pummeliges Landei in meinem üblich vergammelten Kehr-Look tun.

Nach dem Haarewaschen stelle ich vor dem Spiegel fest, dass der graue Streifen in meinem mausfarbenen Haar immer breiter wird. Kastanienbraun würde mir auch stehen. Obschon sich mein sprödes Haupthaar nie so gefällig locken wird wie das von Hans-Peters Frau. Witwe. Ich sollte mich von Hein beraten lassen.

Den Gedanken, meine Rundungen unter figurschmeichelndem Schwarz so gut wie möglich zu verbergen, verwerfe ich schnell. Könnte als Trauerkleidung ausgelegt werden, und das wäre in meinem Fall wohl geschmacklos. Ich entscheide mich also für einen wadenlangen engen grauen Rock, in dem ich kaum laufen kann. Erst als ich meine lange rote Seidenbluse übergestreift habe und in meine grauen High Heels geschlüpft bin, fällt mir auf, wie sehr ich mich Marcel farblich angepasst habe.

»Was für eine Metamorphose!«, erklärt Marcel anerkennend, als ich mich ihm vor der Einkehr präsentiere.

»Aufgebrezelt gefalle ich dir also besser?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Aufgebrezelt gefällst du mir auch«, sagt er, »kannst du in dem Rock und mit den Schuhen überhaupt gehen?«

»Siehst du ja«, sage ich und trippele ihm im Laufstegstil zu meinem Auto voran.

 

Ausnahmsweise ist die Rezeption im Burghaus besetzt. Dirk Peters begrüßt uns herzlich. Er ist sichtlich erfreut, dass ich trotz der schauerlichen Erfahrung vom Vortag sein Etablissement wieder aufsuche, und verspricht mir abermals kulinarische Köstlichkeiten. Ich stelle Marcel als einen Freund aus Belgien vor. Aber die Herren kennen sich bereits. Die DG ist offensichtlich ein zwischenmenschlich sehr überschaubares Gebiet.

Ich lege viel Anteilnahme in meine Stimme, als ich nach Frau von Krump-Kellenhusen frage.

»Die Dame hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen«, sagt Peters und setzt hastig hinzu: »Selbstverständlich haben wir ihr ein anderes Zimmer, nämlich die Adenauer-Suite, zur Verfügung gestellt.«

Nein, sie wolle niemanden sehen, darum habe sie ausdrücklich gebeten. Aber er könne ja mal nachfragen, ob sie für mich, ihre alte Freundin – als solche hatte ich mich ausgegeben –, nicht eine Ausnahme machen wolle.

»Ja, machen Sie das«, bitte ich. Mehr als Nein sagen kann die Frau schließlich nicht, aber Marcel schüttelt den Kopf. »Später«, sagt er schnell, »wir möchten erst etwas essen.«

Im kleinen Gastraum sind wir allein.

»Warum hast du eben abgelehnt?«, frage ich ihn.

»Ich habe meine Gründe«, antwortet er.

»Darf ich die erfahren, oder behindert das den Gang der Ermittlungen?«

»Dirk Peters wird ihr bestimmt sagen, dass wir hier sind«, erklärt Marcel, »dann kann sie selbst entscheiden, ob sie runterkommen und uns sehen möchte. Ist viel unverfänglicher so.«

»Du sprachst von Gründen. Da gibt es noch mehr?«

Eine hübsche blonde Kellnerin legt uns die Speisekarten hin und fragt in schwäbischem Tonfall, ob wir einen Aperitif wünschen. Marcel schüttelt den Kopf, zieht seine Zigarilloschachtel hervor und bemerkt: »Den nehme ich draußen in dieser Form zu mir. Und ich esse den Hirsch. Der ist mir sehr empfohlen worden.«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sage ich und mustere Marcel verärgert.

»Vor dem Essen rauchen?«, frage ich ungläubig, als die Kellnerin wieder verschwunden ist. »Seit wann bist du so süchtig?«

»Seit gerade«, erwidert er. »Such du dir in aller Ruhe was aus. So ein Zigarillo dauert.«

Und damit verschwindet er und lässt mich allein.

Ich versuche, meinen Ärger über dieses schlechte Benehmen mit der Lektüre der Speisekarte zu verdrängen. Als mir eine Viertelstunde später das Wurzelschaumsüppchen mit geräucherter Gänsebrust und Kartoffelstrohhaube vorgesetzt wird, beginne ich auch fast zu rauchen. Aus Zorn. Was fällt dem Kerl ein, mich groß zum Essen einzuladen und mich dann meinen zurzeit nicht sehr fröhlichen Gedanken zu überlassen?

Sehr bemüht, vor Wut nicht zu schnauben, stehe ich auf, fluche dann über den engen Rock, der mich beim Gehen stark einschränkt, und trippele an der unbesetzten Rezeption im kleinen Flur vorbei. Ich blicke aus der Tür des Schlosshotels. Marcel steht nicht rauchend neben dem großen Aschenbecher. Er kommt mir aus der weit entfernten Toreinfahrt des Burghauses entgegen. Aus den Augenwinkeln sehe ich eine große sehr schlanke Frau um die Ecke verschwinden. Registriere nachträglich das lange kastanienbraune Haar, das sich vom taillierten hellbraunen Mantel abhebt.

Ich vergesse meine Wut.

»Das ist doch …«

»Genau«, sagt Marcel vergnügt.

»Wollen wir sie nicht aufhalten? Mit ihr reden?«

»Nicht mehr nötig«, sagt der belgische Polizeiinspektor in Zivil. Er nimmt meinen Arm. »Ich habe jetzt alles, was ich von ihr brauche. Entschuldige bitte, dass ich dich warten lassen musste!«