KALO LIVADI

Erstaunt blickte Mando auf die frische Farbe an ihrem alten Haus in Nauplia. Alle Fensterläden waren gestrichen, die bröckligen Steinstufen am Eingang erneuert worden und vor den Fenstern hingen Kästen mit roten Geranien.

Sie hätte Poppy beinahe nicht erkannt, als diese ihr die Tür öffnete. Die junge Frau hatte ihr Haar kunstvoll aufgesteckt, war dezent geschminkt und trug ein elegantes Kleid. Dieses konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Poppy wieder hochschwanger war.

»Kommen Sie rein«, forderte sie ihre einstige Herrin auf und setzte kokett hinzu: »Sie werden sehen, dass sich einiges geändert hat.«

Das sah Mando. Vornehme Stofftapeten zierten die Wände, italienische Möbel den Salon, und dicke Teppiche dämpften jeden Schritt. In einem Eckschrank stand kostbares Porzellan, und über dem Kamin hing ein atemberaubend scheußliches Schlachtengemälde. Mando trat näher und las das kleine Messingschild, das am Rahmen angebracht worden war: ›Prinz Ypsilantis Sieg in Böotien‹.

Befriedigt sah sie, dass der Maler seinem Objekt nicht geschmeichelt hatte. Selbst der arrogante Ausdruck in den Augen war gut getroffen, dachte Mando und streckte Ypsilanti die Zunge heraus.

»Euch ist es also gut ergangen«, wandte sie sich an Poppy, »oder zahlen euch die Mieter so viel?«

Poppy schüttelte den Kopf und blickte zu Boden.

»Jorgo ist tot«, sagte sie und berichtete, dass er vor einem Jahr bei Reparaturen am Dachstuhl heruntergestürzt sei.

»Zumindest ist er nicht der Pest erlegen, wie so viele Leute in Nauplia im letzten Jahr«, flüsterte Poppy. »Er war sofort tot.«

In diesem Augenblick betrat Aristoteles Vlachos das Zimmer und Mando begriff, dass diese Ehe nicht mehr nur auf dem Papier bestand. Nach der Begrüßung informierte er Mando, dass er wieder in den Staatsdienst eingetreten sei.

»Es sind gute Zeiten für Beamte gekommen!«, rief er. »Die Bayern verstehen es, einen Staat zu lenken.«

»Aber es gibt nicht einmal eine geschriebene Verfassung«, gab Mando zu bedenken.

»Wer braucht die schon, wenn die öffentliche Verwaltung so gut funktioniert! Und im schlimmsten Fall haben wir ja eine 5.000 Mann starke Schutztruppe von tapferen bayrischen Soldaten!«

»Aber Sie sind Grieche, Herr Vlachos«, sagte Mando sanft, »stört es Sie denn nicht, dass Ausländer uns so zentralistisch regieren?«

»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen«, wunderte er sich, »schließlich bin ich einer der Repräsentanten des griechischen Ministeriums.«

Lang und breit erläuterte er Mando die Wichtigkeit seiner Arbeit. Mando verstand, dass seine Aufgaben denen eines Bürovorstehers entsprachen.

In einem hatte Dimitri wirklich Recht gehabt, erinnerte sie sich, dieser Mann ist die wandelnde Unfähigkeit. Hatten die Bayern wirklich keine besseren Vertreter des griechischen Volkes finden können oder bedienten sie sich absichtlich solcher Hanswurste?

Als hätte er gewusst, dass sie an Dimitri dachte, erwähnte Vlachos, dass dem ehemaligen Verlobten seiner ehemaligen Brötchengeberin in Amerika eine posthume Ehre widerfahren sei. Man habe eine Stadt nach ihm benannt.

»Mein Mann spricht jetzt sogar Deutsch«, meldete sich Poppy stolz.

Bescheiden winkte Vlachos ab. »Gerade mal genug, um mich bei den Herrn da oben verständlich zu machen. Wissen Sie, was mir Professor Maurer erst kürzlich gesagt hat?«

Mando schüttelte den Kopf.

»Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert hätten die Griechen dem restlichen Europa ihre Weisheit mitgeteilt, jetzt wären es die Deutschen, die jenem Land das Licht zurückbrächten, aus dem es so lange Zeit verschwunden war.«

Mando, die sich an den Gedichten von Goethe und Schiller erfreut hatte, war nicht so sicher, ob ihr diese Deutschen gefielen. Vlachos in seiner neuen Rolle gefiel ihr überhaupt nicht und so wollte sie sich schnell verabschieden.

Davon jedoch mochten Poppy und Vlachos nichts wissen. Natürlich wäre Madame – Madame?, dachte Mando – in ihrem bescheidenen Heim hochwillkommen und Poppy klingelte augenblicklich einer Dienerin, die das schönste Zimmer für den Gast herrichten sollte.

Mando konnte es sich nicht leisten, dieses Angebot auszuschlagen. Sie fragte aber, ob es nicht möglich wäre, jene Dachstube zu bewohnen, die sie sich vor einigen Jahren mit Vassiliki geteilt hätte. Poppy war entsetzt.

»Das war in Zeiten der Not!«, rief sie und Mando dachte an die starken Arme, die sie in jenen Zeiten festgehalten hatten. Auf die Frage nach Vassiliki antwortete Mando, dass die Dienerin eines Tages plötzlich tot umgefallen sei.

»Ein schöner Tod«, bemerkte Poppy, »den hat sie auch verdient, so eine gute und mutige Frau! Weißt du noch, wie sie uns das Leben gerettet hat?«

Schaudernd drückte sie sich an Vlachos, der grimmig nickte.

»Wer hätte gedacht, dass dieser Räuberhauptmann Ali Paschas Sohn Selim gewesen war!«

»War er das?«, fragte Mando, bemüht erstaunt. Sie hatte mit Vassiliki Nauplia am Tag nach Selims Überfall verlassen.

»Das hat sich herausgestellt, als die Leiche entdeckt wurde«, erklärte Vlachos. »Keiner weiß, was er in Nauplia gesucht hat. Wahrscheinlich einfach nur Beute, wie sein Vater war er eben ein Raubritter. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Und wie hat man sich seinen Tod erklärt?«, erkundigte sich Mando.

»Damit, dass er den Falschen ausrauben wollte«, antwortete Poppy.

»Wie hat man in Jannina reagiert?«, wollte Mando wissen.

»Erleichtert«, erwiderte Vlachos, »es scheint, er hat sich nur Feinde gemacht, selbst unter seinen eigenen Brüdern.«

»War er verheiratet?«

»Er hatte viele Frauen, und die hatten es nicht leicht mit ihm. Alle haben sie nur Töchter gekriegt, und das hat er ihnen übel genommen.«

Vassilikis Enkelinnen, dachte Mando, vielleicht fahre ich mal nach Jannina und blicke in eine ganze Reihe kleiner schwarzer Vogelaugen.

Kolokotronis sah unverändert aus. Nur sein weißes Haar war noch länger geworden und fiel ihm jetzt in schütteren Wellen über die Brust. Die wahrscheinlich kahle Stelle auf dem Kopf war durch ein schwarzes Käppchen bedeckt. Der dichte, immer noch dunkle Schnurrbart verbarg die vollen Lippen nicht ganz, und die beeindruckenden Brauen über der kräftigen geraden Nase gaben den schwarzen wachen Augen den vertraut bedrohlichen Ausdruck.

Mando schämte sich, dass sie, abgesehen von einer Schachtel billigen Gebäcks, mit leeren Händen kam. Er hätte das Schwert meines Vaters verdient, dachte sie, und er hätte es nie einem Franzosen ausgehändigt. Aber ein Schwert hätte man sie wohl kaum ins Gefängnis mitnehmen lassen!

Sie salutierte, als sie seine Zelle betrat. Er lachte heiser.

»Nein, Generalleutnant, ich habe vor Ihnen zu salutieren. Ich bin nur ein einfacher Soldat und – wie Sie sehen – zurzeit ein gefangener.«

»Hoffentlich nicht mehr lange.«

»Nächstes Jahr bin ich wieder im Dienst. Dann ist König Otto volljährig, kann seine paragraphenreitenden Papiertiger nach Bayern zurückschicken, und ich werde mich endlich wieder nützlich machen können.«

»Warum haben Sie sich damals eigentlich so für Otto als König eingesetzt?«, fragte Mando neugierig.

Kolokotronis stand auf und blickte durch das kleine vergitterte Fenster in seiner Zelle auf Nauplia hinab. »Wegen seiner Erziehung«, sagte er schließlich. »Wussten Sie, dass sein Vater einer der größten Philhellenen unserer Zeit ist?«

Mando lachte. »Sie haben die Philhellenen doch immer als einen Haufen kampfunfähiger Romantiker bezeichnet!«

»Das waren sie auch. Die meisten wussten ja nicht einmal, wie man ein Schwert in der Hand hält, geschweige denn es einsetzt! Aber ohne die Köpfe dieser Leute hätten uns die Schwerter der Berufssoldaten Europas nicht geholfen. Zum Beispiel gegen Ibrahim Pascha und seinen Adoptivvater Mehmet Ali. Die haben damals für den Sultan den Krieg geführt und jetzt hat sich der Sultan …«

»… Zar Nikolaus in die Arme geworfen, um Mehmet Ali zu vernichten«, beendete Mando den Satz.

»Die Zeiten haben sich geändert …«, sinnierte der alte Recke. Er sah Mando beinahe liebevoll an und setzte hinzu: »… und die Koalitionen mit ihnen. Aber manches ist geblieben. Sie, Generalleutnant, sind immer noch so schön wie früher.«

Das tat ihr gut. Spontan beugte sie sich vor und küsste Kolokotronis auf die Wange. Mit der Hand berührte er die Stelle und lächelte verlegen.

»Sie wollten mir von Otto erzählen!«, erinnerte ihn Mando.

»Von seinem Vater König Ludwig von Bayern. Wussten Sie, dass die bayrische Fahne auch blauweiß ist? Und dass Ludwig in München Gebäude errichtet hat, die dem alten Athen nachempfunden sind?«

»Ich wusste, dass er aus Liebe zu Hellas den Buchstaben I im Namen Baierns gegen ein Ypsilon, das Y-Grec, ausgetauscht hat«, erinnerte sich Mando, »aber deswegen macht man den Sohn doch nicht gleich zum griechischen König!«

»Irgendeinen brauchen wir ja«, seufzte Kolokotronis, »und ich hielt es für vernünftig, einen ganz jungen Prinzen auszuwählen, einen, der noch formbar ist und fähig, Grieche zu werden. Übrigens sollten Sie, mein Generalleutnant, im nächsten Monat nach Athen reisen.«

»Warum?«

»Es ist Ihnen doch nicht etwa entgangen, dass Athen unsere neue und endgültige Hauptstadt sein und unser König dort einziehen wird! Das wäre schon früher geschehen, wenn die Türken nicht erst im vergangenen Jahr endlich die Stadt verlassen hätten.«

»Es ist wirklich unglaublich, wie lange sie die Akropolis besetzt gehalten haben«, nickte Mando.

Kolokotronis berichtete, der neue König habe sofort nach dem Abzug der Türken den symbolträchtigen Auftrag gegeben den Pantheon zu restaurieren.

»Er hat gute Ideen für die Neugestaltung von Athen«, meinte Kolokotronis.

»Lauter kleine bayrische Häuser?«, fragte Mando spitz.

»Seien Sie nicht so böse«, bat Kolokotronis, »ich nehme König Otto nur eins sehr übel. Dass er zugelassen hat, dass zehntausend unserer Freiheitskämpfer, die alle im Kampf gegen die Türkei zu Berufssoldaten wurden, von seinen bayrischen Beamten auf die Straße gesetzt wurden. Das war nicht nur herzlos, die meisten haben schließlich Familien, sondern auch dumm.«

»Haben Sie Angst, dass sich diese Soldaten zu Räuberbanden zusammenschließen werden?«

»Das haben sie natürlich bereits getan. Kann man ihnen nicht verdenken. Wobei ich selber mit den Räubern beste Erfahrungen gemacht habe«, sprach der alte Klephtenchef. »Unter ihnen fanden sich sehr viel mehr ehrenwerte Männer als unter den kalkulierenden Politikern, mit denen ich mich abgeben musste … das waren natürlich andere Zeiten. Aber es gibt auch gute Nachrichten«, lächelte er und bemerkte: »Miaulis hat wieder beigedreht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Der Admiral hat eingesehen, dass es nutzlos ist, gegen den Wind zu spucken, Sie verzeihen, Generalleutnant, und hat der neuen Regierung seine Unterstützung zugesagt.«

»Das freut mich!«, rief Mando. »Unser Land braucht jeden guten Mann!«

»Jeden guten Griechen«, brummte Kolokotronis. »Ich weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann, dass er unserem Freund Kapodistrias in den Rücken gefallen ist …«

»Gott segne seine edle Seele«, sagte Mando leise, »aber der Graf war wohl der falsche Mann zur falschen Zeit.«

»Das weiß ich auch«, knurrte Kolokotronis, »und ich bin ja froh darüber, dass Miaulis zum Vizeadmiral ernannt worden ist, auch wenn ich andern gegenüber so tue, als wäre ich empört.«

Er setzte sich auf ein steinernes Bänkchen und musterte Mando aus seinen schönen finsteren Augen.

»Ich freue mich so Sie zu sehen!«, rief er. »Was würde ich nicht darum geben, wenn Sie mir eine Bitte erf… nein!«, brach er ab. »Vergessen Sie, was ich eben gesagt habe.«

»Sprechen Sie!«, erklärte Mando eifrig. Alles würde sie für diesen großen alten Mann tun, den sie schon bewundert hatte, als Pappas Mavros ihr zum ersten Mal von ihm erzählt hatte. Der Menschen wie die Fischerkinder von Naoussa, arme Berghirten, besitzlose Bauern, abhängige Seeleute und einfache Handwerker im Sinn hatte, wenn er vom griechischen Volk sprach.

»Nein«, sagte er, »entschuldigen Sie. Es war mir herausgerutscht. Ich habe zu lange keine Frau mehr gesehen. Da vergisst man leicht seine Manieren.«

Die er nie wirklich gehabt hat, schmunzelte Mando innerlich, und fragte sich, welchen Gefallen sie dem verehrten Helden tun könnte. Ein schneller Blick streifte ihre Brüste, dann wandte er die Augen ab und schien die unregelmäßigen Fliesen auf dem Boden zu zählen.

»König Otto ist ein edler Mensch«, sagte er heiser, »er hat sogar eine archäologische Gesellschaft gegründet.«

Als ob das den alten Freiheitskämpfer im Geringsten interessiert, dachte Mando, der langsam dämmerte, was er sie hatte fragen wollen. Er hatte sich wieder von ihr abgewandt und blickte aus dem Fenster.

Soll ich oder soll ich nicht, fragte sie sich und beschloss dann, es zu tun. Sie würde sich damit nichts vergeben, ja, es wäre sogar eine Auszeichnung, dem alten Recken den Anblick zu gewähren, den er sich offensichtlich wünschte. Und wenn er sich nicht mit dem Anblick zufrieden gab?

Er war ein rauer Krieger, überlegte sie, hatte jahrelang mit Räuberbanden gelebt, aber sollte er sie auf den Steinboden werfen, würde sie nicht zögern sich ihm hinzugeben. Was sie Ypsilanti meist widerwillig und immer nur mit Hintergedanken gewährt hatte, würde sie mit Freuden für den Held der Helden tun.

Sie zog sich langsam aus.

Kolokotronis, der das Rascheln ihres Gewands hörte, drehte sich um und hob die Hand, um sie aufzuhalten, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»General«, sagte sie, »es ist mir eine Ehre.«

Als sie nackt vor ihm stand, sah er sie lange und intensiv an. Sie stand still wie eine Statue. Die leichte Brise, die durchs Gitterfenster wehte, ließ ihre Brustwarzen hart werden. Kolokotronis stützte seinen Kopf auf beide Hände und seufzte tief.

»Was war Prinz Ypsilanti doch für ein Narr«, flüsterte er schließlich.

»Er war kein Narr«, hörte sich Mando sagen, »ich habe ihn schlecht behandelt.«

Der alte Mann von der Morea nickte. »So etwas hatte ich mir schon gedacht. Wissen Sie eigentlich, dass er mit Ihrem Namen auf den Lippen gestorben ist? Er muss Sie trotz allem sehr geliebt haben.«

Mando wurde es plötzlich kalt. Kolokotronis sah sie zittern und forderte sie auf sich wieder anzuziehen. Er hatte sich ihr keinen Schritt genähert und nicht versucht sie zu berühren. Er hatte sie nur angesehen.

»Danke«, flüsterte er fast unhörbar, »Sie haben mir das schönste Geschenk gemacht, das ich je erhalten habe.«

Ehrfurchtsvoll streiften seine Lippen ihre Hand, als sie sich von ihm verabschiedete.

Das Erlebnis hatte Mando erheblich mehr erschüttert, als sie zunächst vor sich selbst zugeben wollte. Was habe ich schon getan, dachte sie, ihm gezeigt, was er in jeder Hafenkneipe hätte sehen können. Gut, Hafenkneipen waren ihm zurzeit verwehrt, aber er muss doch viele Frauen in seinem Leben gehabt haben! Vielleicht nicht, überlegte sie, vielleicht war er so in seiner Mission aufgegangen, dass er sich diese Freuden versagt hatte. Vielleicht tat es ihm in seiner Gefängniszelle jetzt leid, dass er sie verpasst hatte und fragte sich – so wie sie selber einst – ob Griechenland das wert gewesen sei.

Sie reiste nach Athen und war dabei, als König Otto am 1. Dezember 1834 seinen öffentlichen Einzug hielt. Unter den Salutschüssen von einundzwanzig Kanonen ging er in Piräus von Bord eines griechischen Kriegsschiffes und zog umjubelt von Menschenmassen zur Stadt. Den Torbogen nahe dem Thesion hatte man mit Lorbeer- und Olivenzweigen behängt und auf der Erhebung in der Nähe hatten sich 5.000 Athener versammelt, um den griechischen Monarchen aus Bayern zu feiern.

Mando bemühte sich um eine Audienz bei dem jungen König, der vorerst noch in einer bescheidenen zwölfzimmrigen Residenz wohnte. Aber sie wurde rüde abgewiesen. Sie begegnete einem alten Offizier, den sie bei der Schlacht von Euböa kennen gelernt hatte, und der mit seiner Familie in Athen wohnte. Sie war dankbar, dass sie dort nächtigen konnte und hocherfreut, als sie eingeladen wurde an einem Bankett zu Ehren des Architekten Karl Friedrich von Schinkel teilzunehmen.

Allerdings war sie ziemlich entsetzt, als bei diesem Abendessen über Schinkels Architekturskizze für einen Königspalast diskutiert wurde. Der deutsche Architekt hatte sich vorgestellt, diesen Palast auf der Akropolis zu errichten und dabei die antiken Gebäudeteile einzubeziehen.

Wer würde denn dem alten Hellas noch seine Referenz bezeugen können, wenn der König mit seinem Hofstaat die Akropolis besetzte? Aber ihr Tischnachbar, ein französischer Archäologe, flüsterte ihr zu, dass der bescheidenere Entwurf von Friedrich von Gärtner bessere Chancen hätte.

»Es fehlt überall an Geld«, meinte er.

Das konnte Mando nachempfinden.

Der Franzose sah sie so intensiv an, dass es Mando unbehaglich wurde. Entweder habe ich etwas zwischen den Zähnen oder er will mich verführen, dachte sie.

»Entschuldigung, Madame«, sagte er, »aber ich habe Sie schon einmal vorher gesehen.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte sie, »ich war noch nie in Paris.« Und werde wohl leider auch nie dahin kommen, setzte sie für sich selber hinzu.

»Nicht in Paris. Im Hause von Jannis Kolettis.«

»Mit dem Herrn verkehre ich nicht.«

Der Franzose hatte ihr gerade mitgeteilt, dass er sich zum ersten Mal in Griechenland befand. Also konnte er nicht in Kolettis Haus in Nauplia gewesen sein.

»Ich meine auch nicht Sie persönlich. Ihr Bild. Ein Gemälde von Friedel, wenn ich mich recht erinnere.«

Mando hatte nie das Werk gesehen, das der Maler im Auftrag von Kapodistrias von ihr angefertigt hatte. Sie fragte sich, wie es in das Haus seines Erzfeindes gekommen war und brannte vor Neugierde es zu sehen. Als sie erfuhr, dass der Franzose in jenem Haus nächtigte, der Hausherr aber bereits als Botschafter Griechenlands nach Frankreich versetzt worden war, verabredete sie sich mit ihrem Tischnachbarn für den folgenden Nachmittag in seinem Haus.

Lange stand sie vor ihrem Ebenbild. Sie sah die von Kapodistrias gewünschte Säule, musste aber immer wieder zu dem Treppengeländer blicken, das hinter der Figur auf dem Bild in einen Abgrund führte. Nicht einmal die Stufen kann man sehen, dachte sie, und keiner weiß, in welche Tiefen sie führen.

Eine Hand schlang sich um ihre Mitte.

»Lassen Sie mich los!«, fuhr sie den Franzosen an.

Aber er ließ nicht locker und riss sie an sich. Sie versuchte ihm ins Gesicht zu schlagen, aber lachend packte er ihre Hände und schleppte Mando zu einem nahen Sofa. Flüchtig dachte sie an die Frauen von Suli und war bereit ihr Leben einzusetzen, um das zu verteidigen, was sie wenige Tage zuvor Kolokotronis angeboten hatte.

Hinterher fragte sie sich, warum sie ihn nicht einfach hatte gewähren lassen. Sie hätte sich dadurch viel Ärger, eine schmerzende Rippe, und, was im Moment das Schlimmste war, ein zerrissenes Kleid erspart. Schließlich war sie siebenunddreißig Jahre alt, keine Jungfrau mehr und wusste aus Erfahrung, dass es bei solchem Eifer meistens schnell vorbei war. Außerdem hatte sie in den Nächten mit Dimitri gelernt ihren Körper von ihrer Persönlichkeit losgelöst zu sehen. Ihre Gegenwehr sorgte dafür, dass es länger dauerte, und der Franzose trotzdem sein Ziel erreichte.

Nach der Vergewaltigung ließ er sie einfach auf dem Sofa liegen und ging, die Marseillaise pfeifend, aus dem Zimmer.

Auch Dimitri hatte sie gedemütigt, aber er hatte es getan, weil er von ihr herausgefordert worden war, weil er sie brechen oder ihr eine Lehre hatte erteilen wollen. Vielleicht hatte er sie wirklich geliebt – wie Kolokotronis behauptet hatte. Diesem Franzosen war sie egal. Für ihn war sie nur eine dumme Frau, die sich aus purer Eitelkeit in das Haus eines allein stehenden Herrn begeben hatte, und der nur recht geschah, wenn sich dieser das zu seinem Vorteil nutzte.

Sie erschauerte, wenn sie daran dachte, dass er seinem Gastgeber diesen Zwischenfall berichten würde und konnte sich genau vorstellen, wie Jannis Kolettis reagierte. Er habe ja schon immer gesagt, die Mavrojenous sei nichts anderes als eine Hure!

Weil sie sich schämte, in ihrem zerrissenen Kleid vor ihre eigenen Gastgeber zu treten, schlich sie durch die Hintertür ins Haus und packte ihre armselige Habe zusammen. Auf dem Bett hinterließ sie einen Brief, in dem sie erklärte, wichtige Geschäfte riefen sie auf ihre Heimatinsel zurück. Sie würde sich freuen, wenn sie sich in Mykonos für die erwiesene Gastfreundschaft revanchieren könnte. Im Dachkämmerchen meiner Tante, dachte sie noch, aber die Gefahr war relativ klein, dass die Offiziersfamilie auf ihr Angebot zurückkommen würde.

Das erste Boot in Piräus fuhr nach Paros. Einen Augenblick lang überlegte Mando dort einzusteigen. Sie würde bei Marcus und Anna übernachten und Lambrini wieder sehen können. Der Himmel war nicht eingestürzt, als sie mit Marcus und seiner Frau unter einem Dach genächtigt hatte. Das Schlimme war sogar, dass sich Anna freuen würde sie im Haus zu haben. Vielleicht könnte zwischen ihnen so etwas wie eine freundschaftliche Beziehung entstehen.

Aber das Erlebnis mit dem Franzosen hatte ein Schmutzgefühl in ihr hinterlassen, und das wollte sie nicht auf die Mavrojenous-Familie auf Paros übertragen.

Im kommenden Sommer raffte sie sich auf und ritt hinaus zur Hütte in Kalo Livadi. Diesmal wusste sie, womit sie rechnen konnte, und daher hatte sie sich zwei Esel ausgeliehen und einen voll beladen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis sie an der Hütte ankam. Nie hätte sie gedacht, dass es so schwierig sein konnte, auf einem Esel zu sitzen und den anderen an der Leine zu führen. Jedes Tier hatte seinen eigenen Willen, der oft genug darin bestand, einfach stehen zu bleiben und entsetzliche Geräusche von sich zu geben. Schließlich blieb ihr nichts anders übrig, als zu Fuß zu gehen und zu versuchen die Esel nicht zu verlieren.

In Kalo Livadi zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus und begann die Hütte auszumisten. Ihrer Tante hatte sie gesagt, dass sie sich für eine Woche ins Frauenkloster von Ano Mera zurückziehen würde, und sie betrachtete dies noch nicht einmal als eine Lüge.

Es dauerte auch fast eine Woche, ehe die Hütte wieder bewohnbar und das Gärtchen gerodet war. Stolz betrachtete Mando das erste Werk, das sie mit ihren eigenen Händen vollbracht hatte. Philemon und Baucis schienen zustimmend mit den Blättern zu rascheln. Sie setzte sich auf die Steinbank vor dem Haus und betrachtete ihre aufgesprungenen, rauen und verschmutzten Hände mit den tief eingerissenen Fingernägeln. Meine Mutter wäre entsetzt, dachte sie, aber mir geht es so gut wie lange nicht in meinem Leben.

Es gibt jetzt einen Platz, der mir gehört, dachte sie, wo ich niemandem lästig fallen und niemanden um etwas bitten muss. Von da an blieb sie mehrmals im Monat einige Tage in der Hütte.

Ein paar Monate später entdeckte sie einen Zettel auf dem Bett.

»Gute Arbeit!«, stand nur darauf.

Ihr Herz hämmerte und sie blickte angestrengt zum Horizont. Kein Schiff in Sicht, kein kleines Boot. Sie wusste auch nicht, ob sie wirklich wollte, dass er zu ihr in die Hütte käme. Jetzt kannte sie Anna und sie wollte, dass Lambrini in einer glücklichen Familie aufwuchs. Auch sie ließ einen Zettel liegen.

»Danke«, hatte sie darauf geschrieben und ihre rote Korallenkette liegen lassen. Marcus würde verstehen, dass sie für Lambrini bestimmt war. Nachdem sie vor der Abbildung dieser Kette vergewaltigt worden war, wollte Mando sie nicht mehr tragen.

Drei Jahre lang blieben sie auf diese Weise in Verbindung. Nie umfasste der Zettel mehr als fünf Wörter und nie begegneten sie einander. Wenn Marcus von seinem Boot aus den Esel an der Hütte sah, kehrte er wieder nach Paros um. Wenn Mando das Boot am Strand erkannte, lenkte sie ihr Tier wieder Richtung Mykonos-Stadt. Wenn sie dann abends in ihrem einsamen Bett lag, freute sie der Gedanke, dass Marcus jetzt auf der Stelle ruhte, wo sie vor wenigen Tagen den eigenen Leib gebettet hatte.

Wie bescheiden man wird, dachte sie, und war zum ersten Mal in ihrem Leben zufrieden. Von Marcus' Mutter hörte sie, wie es der Familie auf Paros erging und dass Lambrini demnächst nach Paris in die Schule geschickt würde. Unsere Tochter wird also die Stadt sehen, von der ich immer geträumt habe, freute sie sich. Lambrini würde bei Mandos Bruder, ihrem Onkel Antonio, wohnen.

Etwas besorgt dachte Mando daran, dass ihr Bruder drei Söhne hatte, aber dann beruhigte sie sich wieder. Alle drei waren erheblich älter als Lambrini und zwei schon verheiratet. Die Liebe zu Cousins wird sich wohl nicht vererben, hoffte sie.

Von ihrer Tante erfuhr sie auch, dass Zakarati gestorben war. Mando wohnte nicht einmal hundert Schritte von ihrer Mutter entfernt, aber Zakarati war zu verbittert, als dass sie auf dem Totenbett Frieden mit ihrer missratenen Tochter hatte schließen wollen. In ihrer letzten Stunde verlangte sie den englischen Vizekonsul zu sehen, der ihr gegenüber wohnte, und diktierte diesem ihr Testament. Auf diese Weise erhielt Mando ihre Diamanten zurück. Allerdings sah sie sich gezwungen sie zu verkaufen, da sie das Erbe angenommen und somit den Schuldenberg ihrer Mutter abtragen musste.

Aber so erfuhr sie, dass ihr Bruder Stefano ihr ein kleines Grundstück im Norden von Paros hinterlassen hatte, wahrscheinlich das Land, auf dem er sich vor den Häschern aus Jannina versteckt hatte. Irgendwann würde sie nach Paros fahren und ihren Besitz begutachten.

Ihre Bulletins las sie immer noch regelmäßig. König Otto hatte Kolokotronis längst aus dem Gefängnis entlassen und wieder zum General gemacht. Aber auch dem alten Recken glückte es nicht, auf die politischen Geschicke des Landes Einfluss zu nehmen. Die bayrische Bürokratie war zu mächtig.

Mando überlegte, wie dem volksnahen Kolokotronis zumute sein musste, einer absoluten Monarchie zu dienen, einer Regierung, die jeden Ansatz von Selbstverwaltung niederwalzte, genauso hohe Steuern eintrieb wie die Türken und kein Geld für Schulen, Straßen, Brücken und Häfen ausgab. Von den Idealen der Revolution war nichts übrig geblieben.

»Immer noch Fremdherrschaft«, sagte sie zu ihrer Tante, die ihr gerade stolz mitgeteilt hatte, dass Lambrini in Paris angekommen und von Antonios Familie mit Begeisterung aufgenommen wäre.

»Sie finden, dass sie Marcus ähnlich sieht, stell dir das einmal vor!«, rief die Tante. »Da sieht man, wie Liebe einen Menschen formen kann.«

Weil es sie schmerzte, dass Marcus Mutter mehr im Recht war, als sie ahnen konnte, kehrte Mando zum Thema Politik zurück und las ihrer Tante vor, dass die besseren Häuser im neu gebauten Athen deutsch und die ärmeren italienisch aussähen.

»Früher war das anders herum«, meinte die Tante und fragte, ob irgendetwas über Ottos neue Gemahlin Amalie von Oldenburg im Bulletin stünde.

»Es ist ein Skandal, dass uns erst die Auslandspresse über die Vermählung unseres Königs aufgeklärt hat!«, ereiferte sie sich. »Bei so etwas will das Volk doch dabei sein! Und dass sie nicht einmal den orthodoxen Glauben annehmen! Unerhört, dass ein katholischer König Griechenland regiert!«

»Unser Land hat die Bayern gerufen«, meinte Mando. »Und jetzt müssen wir mit ihnen leben. Übrigens haben die französischen und englischen Rothschilds Otto sechzig Millionen französische Franken in die Königswiege gelegt und weißt du, liebe Tante, was mit dem Geld geschehen ist?«

»Schulen?«, fragte die Tante. »Häfen, Waisenhäuser?«

Mando schüttelte den Kopf.

»Die ausländischen Beamten und das bayrische Werbekorps werden damit bezahlt! Ob wir es wohl jemals erleben werden, dass Griechenland wirklich frei sein wird?«

»Du hast dein Bestes dafür getan«, sagte die Tante leise.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass sich ihr gegenüber irgendjemand über ihre Aktion während des Krieges geäußert hatte.

Mando ließ das Bulletin sinken.

»Hat es dich eigentlich gestört, Tante«, fragte sie zögernd, »dass dein Sohn sich damals so um mich gekümmert hat?«

»Aber nein!«, rief Marcus' Mutter. »Ich war froh darüber. Ich habe dich immer gemocht, Mando, und fand es schändlich, dass deine Brüder dir nicht zur Seite gestanden haben. Antonio soll das an Lambrini wieder gutmachen«, schloss sie befriedigt.

Mando umarmte sie. Wäre doch die Tante ihre Mutter gewesen! Aber nein, dann hätte sie ja mit ihrem Bruder …

›Lambrini Klassenbeste‹, las sie bei einem ihrer nächsten Besuche in Kalo Livadi auf dem Zettel.

›Sehnsucht‹, schrieb sie als Antwort. Marcus konnte sich aussuchen, was sie damit meinte.

›Ich auch‹, fand sie beim nächsten Mal vor.

Dann kam der Tag, den sie beide gefürchtet hatten. Zur gleichen Zeit, als er sein Boot auf den Strand schob, erschien Mando auf dem Hügel. Sie sahen einander sofort. Beide hielten inne. Mandos Esel schrie, das Boot rutschte ins Wasser zurück. Mando stieg von dem Tier ab und ging wie in Trance den Hügel hinunter, Marcus kam ihr genauso verzaubert entgegen. Sie waren nur etwa fünfzig Meter von einander entfernt, als beide zum gleichen Zeitpunkt stehen blieben. Sie sahen einander lange an und machten dann wie auf Kommando wieder kehrt. Marcus rannte ins Wasser, um sein Boot zu retten, und Mando lief ihrem Reittier hinterher.

Nachdem sie es eingefangen hatte, ging sie hinunter zur Hütte, setzte sich auf die Steinbank und sah dem Boot nach, bis sie es nicht mehr erkennen konnte.

»Es wird nie vorbei sein«, sagte sie zu Philemon und Baucis, ging in die Hütte und zerknüllte den letzten Zettel, den sie selber dort hinterlegt hatte.

Sie schrieb einen neuen und nahm sich vor, dass es der letzte sein sollte:

›Bis in den Tod‹.

Nie wieder lag ein Zettel auf dem Bett.

In einem kurzen Brief teilte ihr Kolokotronis mit, dass er König Otto zur Grundsteinlegung der neuen Athener Universität begleitet hätte.

»Ich habe ihm gesagt, dass ihm dieser Stein eines Tages gegen den Kopf fliegen wird«, schrieb der General, »denn wenn wir unsere jungen Leute ausbilden, werden sie eines Tages erkennen, dass die Tage der Fremdherrschaft immer noch nicht vorbei sind und sich gegen die bayrischen Bürokraten erheben. Sie wissen sicher, dass unser Freund Miaulis das Zeitliche gesegnet hat, auf Euböa, wo Sie, mein lieber Generalleutnant, so mutig gekämpft haben. Ich hoffe, dass Sie mich in guter Erinnerung behalten. Vergessen Sie bitte nie, dass Sie mir ein Geschenk gemacht haben, das meine alten Tage versüßen wird. Kein Gemälde kann so gegenwärtig sein wie dieser kostbare Augenblick auf Palamidi. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«

In einer Nachschrift teilte er ihr noch mit, dass die Administration von König Otto ihr mit rückwirkender Kraft die von Graf Kapodistrias zugesagte Pension auszahlen werde. Wie Kapodistrias damals beklagte auch er jetzt die lächerliche Summe. Dem Brief waren Smaragdohrringe beigelegt, über die sich der General in seinem Brief nicht geäußert hatte.

Was für ein Mann, dachte sie. Ich verstehe, dass damals im Befreiungskrieg ganze Truppenteile die Waffen niedergelegt haben, damit er aus dem Gefängnis in Hydra entlassen wurde! Sie dachte an Dimitri, der ihr einmal erklärt hatte, dass es kein Wort dafür gäbe, seine Gefühle für Kolokotronis zu beschreiben. Liebe wäre ein Wort, das er nur mit Frauen in Verbindung bringen könnte, aber der alte General würde auch in den Männern, die ihm nahe stünden, so eine ähnliche Regung erwecken. Es war einer der Nächte gewesen, in denen sich Ypsilanti mit ihr Zeit genommen und sie zärtlich geliebt hatte. Jetzt war Mando froh, dass sie dem General gestanden hatte, Dimitri schlecht behandelt zu haben. Es war beinahe so, als ob sie Dimitri damit selber Abbitte geleistet hätte. Sie hatte ihn benutzt. Von Anfang an. Und er hatte versucht, sich zu wehren. Nein, sie hoffte nicht mehr, dass er an seinem Speichel erstickt war, sie wünschte, dass er sich jetzt in einer besseren Welt befand und ihr verziehen hatte.

Da es bald Winter werden und die Hütte dann nicht mehr bewohnbar sein würde, verbrachte Mando im Oktober 1838 einen ganzen Monat in Kalo Livadi. Zweimal sah sie das Boot näher kommen und beim zweiten Mal rannte sie zum Strand und versuchte es zu sich heranzuwinken.

»Ich bin eine alte Frau!«, schrie sie dem umkehrenden Boot hinterher. »Einundvierzig Jahre alt! Komm zurück, Geliebter, und lass uns nur nebeneinander liegen!«

Aber es war gut, dass er ihre Worte nicht gehört hatte.

Als Mando zwei Tage später ins Haus ihrer Tante zurückkehrte, fiel ihr die alte Frau weinend um den Hals.

Anna war tot.

Lambrini, dachte Mando erschüttert, schon wieder hat sie ihre Mutter verloren. Sie erfuhr, dass Anna trotz der Warnung des Arztes schwanger geworden und im fünften Monat zusammen mit ihrem Kind gestorben war.

»Mein armer Marcus!«, weinte seine Mutter und klammerte sich an Mando.

»Kind, du musst ihm helfen!«

»Ich!«, rief Mando erschrocken. Sie war der letzte Mensch, der Marcus in dieser Stunde helfen konnte.

»Ich kann nicht nach Paros, das würde ich nicht überleben! Mando, liebste Nichte, du warst Marcus einst so nah, du bist die Einzige, die ihm jetzt wirklich beistehen kann! Fahr nach Paros, ich flehe dich an!«

Nein!, schrie alles in Mando. Ich darf es nicht tun!

Drei Stunden später saß sie auf einem schaukelnden Khaiki und segelte Richtung Paros. Ein heftiger Südwind war aufgekommen und zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Mando seekrank. Warum sterbe ich nicht, dachte sie nur immer wieder, es ist ungerecht, dass all die Menschen sterben, die noch so viel zu geben haben! Es ist ungerecht, dass Irini so jung sterben musste und Anna, die ihr so geglichen hat und meine Tochter erziehen sollte!

Niemand holte sie am Hafen ab. Sie ging in ein Kafenion, ignorierte die erstaunten Blicke der Männer und säuberte ihr Kleid so gut sie konnte. Dann machte sie sich zu Marcus' Haus auf.

Er empfing sie mit einem Kopfnicken. Seine Augen waren wie tot, sein glattes graues Haar hing stumpf auf seinen Schultern und die ineinander verkrampften Hände sahen aus wie Reptilien aus uralter Zeit.

In der Katapoliani, wo einst ihrem Vater die letzte Ehre erwiesen wurde, fand die Trauerfeier statt. Ob man jemals die hundertste Tür finden wird, fragte sich Mando, als sie neben Marcus auf den offenen Sarg blickte.

Tausend Bilder schoben sich vor ihr geistiges Auge. Hussein Pascha, Pappas Mavros, der Lord mit der komischen Perücke, Jakinthos, lieber, lieber Jakinthos, Irini und ihre Zwillinge, was war aus Antonis und den beiden anderen Kindern geworden? Sie musste unbedingt nach Tinos! Vassiliki, geliebte todbringende Dienerin, Selim, Marmellakis, Lena, Ypsilanti, Bobolina, inzwischen auch tot, vom eigenen Bruder ermordet, Kolokotronis, der edle, Kapodistrias, der noble, Kolettis, der Intrigant, Mavrokordatos, der Ministerpräsident, Jaja, ob sie wohl noch lebte? Maria Jannaki, dachte Mando plötzlich, das schüchterne Mädchen aus Argos, das mit Marcus das Lager geteilt hatte und mit Dimitri, andere Menschen, so viele Menschen! Miaulis, Tombasis, mein Gott, die Zeit in Tripolis, geliebter Marcus, armer Marcus … Lambrini war in Paris und wusste noch nicht, dass sie zum zweiten Mal eine Mutter verloren hatte.

Eine Woche wohnte sie bereits mit Marcus unter einem Dach. Außer höflichen Erkundigungen hatte er noch kein persönliches Wort an sie gerichtet. Seine Mutter hat sich geirrt, dachte Mando verzweifelt, ich kann ihm nicht helfen. Er muss Anna sehr geliebt haben. Sie staunte selber darüber, dass sie dieser Gedanke mehr beruhigte als störte. Leise klopfte sie an die Tür seines Arbeitszimmers.

»Marcus?«, fragte sie, nachdem sie die Klinke heruntergedrückt hatte. »Ich fahre morgen nach Mykonos zurück.«

Er drehte sich von seinem Schreibtisch um und sie erschrak über die tief in den Höhlen liegenden schwarz umränderten Augen.

»Ich habe Anna Unrecht getan«, sagte er. »Ich habe sie umgebracht. Der Arzt hat es verboten, aber trotzdem habe ich sie angerührt.«

»Unsinn!«, erklärte Mando. »Ihr wart Mann und Frau! Da kann man nicht immer aufpassen!«

»Doch«, sagte er mit seltsam kalter Stimme. »Das muss man. Immer aufpassen. Ich hätte nicht bei ihr liegen dürfen.«

Wenn er nur weinen würde, dachte Mando, oder schreien oder seinen Kummer auf sonst irgend eine Weise aus sich heraus brächte!

Aber er blieb stumm mit hängenden Schultern an seinem Schreibtisch sitzen.

Sie ging zu ihm hin, wollte ihn einfach in die Arme nehmen und trösten. Plötzlich fuhr sein Kopf hoch. Sie erschrak vor dem Ausdruck in seinen Augen und trat einen Schritt zurück. Rühr mich nicht an!, sprach sein Blick, aber da war noch etwas.

»Dafür hätte ich zu dir kommen sollen!«, brach es aus ihm heraus und jetzt glaubte sie offenen Hass in seinen Augen zu lesen.

Entsetzt schlug sich Mando eine Hand vor den Mund und rannte aus dem Zimmer.

Sie sah nicht mehr, wie er ihr entgeistert nachblickte. »Bleib, Mando!«, flüsterte er heiser, aber da war sie schon dabei, ihre Sachen zu packen.

Dafür hätte ich zu dir kommen sollen! Immer wieder echoten diese Worte in ihrem Kopf. An nichts anderes konnte sie denken, als dass sie sich zwanzig Jahre lang geirrt und ihm ihre Liebe nur das bedeutet hatte.

Sie rannte zum Hafen, aber die Fischer lachten sie aus, als sie nach einem Boot fragte und deuteten auf die aufgewühlte See.

»Dieser Sturm wird Tage anhalten«, schrie einer gegen den Wind an. »Sie müssen auf Paros bleiben!«

Ganz flüchtig ging ihr durch den Kopf, dass sie nach einem anderen Tod vor vielen Jahren auch kein Boot gefunden hatte und mit einem schönen jungen Reederssohn aus Hydra durch den Sturm nach Tinos gefahren war.

Bei Marcus konnte sie nicht bleiben. Mando klopfte bei einem anderen Spross der weit verzweigten Mavrojenous-Familie an und fragte den Cousin, der ihr öffnete, nach dem Haus, das Stefano ihr vererbt hatte.

»Das ist in Naoussa«, erklärte er. Nachdem er ihr den Weg beschrieben und ein Pferd zur Verfügung gestellt hatte, machte sich Mando auf den Weg zu dem Gehöft, wo ihr Bruder sich vor den Häschern aus Jannina versteckt gehalten hatte.

Ihr Gepäck ließ sie bei dem Cousin und so konnte sie dem Pferd die Sporen geben. So schnell wie möglich wollte sie reiten, viele Kilometer zwischen sich und Marcus bringen, an nichts denken. Sonst würde sie genauso verrückt werden wie ihr armer Bruder.

Sie rechnete damit, das Haus ähnlich verwahrlost vorzufinden wie einst die Hütte in Kalo Livadi. Es lag auf einem Hügel vor dem Dorf und musste von den Elementen arg gebeutelt worden sein. Aber es gab eine angenehme Überraschung. Ein Bauer, der sah, dass sie ihr Pferd vor dem Haus festband, eilte hinzu. Er stellte sich als Nachbar Manolis vor und erklärte, er hätte die Genehmigung Stefano Mavrojenous' Felder zu bestellen. Dafür müsste er normalerweise dem Besitzer einen Teil der Ernte abtreten. Da dieser aber nicht anwesend wäre, habe seine Frau das Haus regelmäßig gesäubert und gelüftet sowie das Gemüsegärtchen versorgt. Stefanos Schafe habe er seiner Herde hinzugefügt und er könne ihr die erfreuliche Mitteilung machen, dass sie sich ordentlich vermehrt hätten. Auch die Kuh hätte inzwischen gekalbt.

Mando war unendlich dankbar. Sie berichtete dem Nachbarn, dass ihr Bruder gestorben und sie die Erbin des Grundstücks sei. Sie würde eine Weile hier wohnen.

»Doch nicht etwa ganz allein?«, fragte Manolis entsetzt.

»Ich bin nicht verheiratet«, erwiderte Mando.

Keine Diener, keine Magd, keine Köchin, kein Kutscher? Manolis verstand die Welt nicht mehr. Andererseits war auch schon der Bruder der Dame recht seltsam gewesen und hatte ebenfalls darauf bestanden, allein zu wohnen. Was sind diese reichen Leute doch arm, dachte der Bauer, der sich nicht vorstellen konnte auch nur einen Tag ohne Gesellschaft zu verbringen.

»Meine Frau kam dreimal wöchentlich zu Ihrem Bruder, um Wäsche und Haushalt zu versorgen«, meinte Manolis und Mando erklärte, diese Regelung könne beibehalten werden. Sie einigten sich darauf, dass der Bauer dafür sowohl Stefanos Schafe als auch deren Nachwuchs behalten dürfe, ebenso wie die Kuh und das Kalb.

»Meine Frau wird Ihnen Brot, Milch, Käse und andere Produkte bringen«, versprach der Bauer und verabschiedete sich.

Das dreizimmrige Haus war spärlich, aber freundlich eingerichtet. Bunte Flickenteppiche bedeckten den Steinboden, Holzscheite waren ordentlich neben dem Kamin aufgeschichtet und auf den Betten lagen saubere schafwollene Decken.

Vassiliki wäre entsetzt gewesen, dachte Mando, als sie sich aus dem Brunnen Wasser schöpfte, aber mir gefällt es.

Am meisten gefiel ihr, dass sie endlich wieder etwas Eigenes hatte und von niemandem abhängig sein würde. Nur das Pferd würde sie ihrem Cousin zurückbringen müssen. Manolis würde ihr sicher einen Esel geben.

Mando hatte keinen Plan.

In ihrem Dasein gab es kein anderes Ziel mehr, als zu überleben. Das erforderte in einem den Elementen so ausgesetzten Haus genug Anstrengung. Vor allem für jemanden, der sein ganzes Leben lang von Personal bedient worden war und nun erstmals ganz auf sich selber gestellt war. Mando betrachtete die Überlebensfrage als eine Herausforderung. Dabei ging es weniger um ihr leibliches Wohlbefinden – die Bäuerin lehrte sie Kochen, Waschen und Nähen –, sondern hauptsächlich um ihr seelisches.

Dafür hätte ich zu dir kommen sollen. Sie durfte es nicht zulassen, dass sie ein einziger Satz in den Wahnsinn trieb.

Es war kurz nach Weihnachten. Mando stand in ihrer Küche und nahm einen Fisch aus, als sie Hufgetrappel und Stimmen hörte. Sie wischte sich die Hände an ihrer karierten Schürze ab und trat vors Haus.

Der Mann, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, half einem jungen Mädchen vom Pferd.

»Tante!«, rief Lambrini und eilte auf Mando zu. Diese hätte ihre Tochter fast nicht erkannt, so sehr war sie gewachsen und so fremd machten sie die vielen Löckchen, die das kleine Gesichtchen umrahmten. Marcus führte die Pferde zur Tränke, während Mando ihre Tochter umarmte.

Lambrini trat einen Schritt zurück und rümpfte die Nase.

»Du stinkst!«, stellte die Elfjährige fest, sah durch die offene Tür ins Haus und hob eine Augenbraue, so wie Mando das früher bei Pappas Mavros bewundert hatte.

»Du wohnst wirklich hier? Das ist ja schrecklich!«

Ganz die Großmutter, dachte Mando und unterdrückte ein Lächeln.

»Lambrini! Haben sie dir in Paris keine Manieren beigebracht?«, kam jetzt Marcus' Stimme. Zur Begrüßung deutete er eine kleine Verbeugung an.

»Aber, Onkel, ich soll doch auch ehrlich sein!«

»Sie ist nur für die Weihnachtsferien hier«, erklärte Marcus, ohne Mando anzusehen.

»Und morgen fahre ich zu Papa nach Mykonos!«, krähte Lambrini.

»Papa?«, fragte Mando.

»Marmellakis«, erwiderte Marcus, »aber ich denke, dass sie es vorziehen wird, bei meiner Mutter zu wohnen. Ich wollte dich fragen, ob du sie hinbringen möchtest.«

Lambrini war inzwischen ins Haus geeilt und stieß Rufe des Entsetzens aus.

»Dann könntest du etwas Zeit mit ihr verbringen«, sagte er leise. Er stand jetzt so dicht neben ihr, dass sie beinahe seinen Atem spüren konnte.

»Sie nennt uns Onkel und Tante«, flüsterte Mando.

»Was sonst?«, gab er zurück. »Zum Glück weiß sie es nicht besser.«

Lambrini war wieder herausgestürzt.

»Da unten sind ganz viele Schafe!«, rief sie und deutete auf Manolis Weideland. »Darf ich sie streicheln?«

Bevor ihre Eltern zugestimmt hatten, war sie schon davongestürmt. Mando lachte, als sie sah, wie sich Lambrini beim Sprung über die mit Marmorbrocken durchsetzte Steinmauer das Kleid aufriss.

»Doch nicht ganz Zakarati«, bemerkte sie zufrieden.

»Aus meiner Familie könnte sie ja auch etwas haben«, murmelte er, als er Mando ins Haus begleitete. Er setzte sich an den frisch geschrubbten Esstisch. Mando reichte ihm einen Becher.

»Gutes Wasser«, lobte er, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.

»Mein eigener Brunnen«, erklärte Mando stolz. »Man sagt, dass er aus einer Quelle aus Naxos gespeist wird. Es gibt somit einen Fluss unter dem Meer zwischen Naxos und Paros.«

»Davon gibt es mehrere …«, er brach ab.

Beide schwiegen. Mando fuhr mit einem Finger die Jahresringe auf dem Holztisch ab. Als Marcus plötzlich ihre Hand packte, jagte ihr ein Blitz durch den Körper. Sie wollte sich losreißen, aber Marcus hielt die Hand fest.

»Entschuldigung«, sagte er leise, »es war unverzeihlich.«

»Das war es«, sagte sie hart.

Lambrini erschien in der Tür.

»Guckt mal, das hat mir der Bauer gegeben! Ein Weihnachtslämmchen!«

Marcus ließ Mandos Hand los.

»Willst du es etwa mit nach Paris nehmen?«, fragte er.

Lambrini sah so bestürzt aus, dass sich Mando zu ihr hinbeugte und sie sanft auf den Lockenkopf küsste. Meine Familie, dachte sie bitter, sagte dann sanft: »Du kannst es ja deinem Papa mitbringen.«

Als Mando mit Marcus, Lambrini und dem Lämmchen in Parikia einritt, sah sie am Hafen eine Gruppe von Menschen, die sich um ein fremdes Khaiki geschart hatten. Ein Mann sprang vom Boot und lief schnell auf die beiden Pferde zu. Auf einem saß Marcus mit dem Lämmchen, auf dem anderen Mando mit ihrer Tochter.

»Papa!«, jubelte Lambrini.

Mando hatte Marmellakis kaum wieder erkannt. Haar und Bart waren geschnitten und sorgfältig frisiert und er trug europäische Kleidung. Er hob Lambrini hoch und wirbelte sie herum.

»Mein Prinzesschen!«, rief er, wandte sich dann an Marcus und Mando: »Ich konnte es nicht erwarten, sie wieder zu sehen. Darum bin ich hergekommen, um sie abzuholen!«

Er setzte das Kind wieder ab.

»Was bist du groß und hübsch geworden! Können wir gleich abfahren?«

Lambrini deutete auf das Lämmchen.

»Dafür haben wir auch noch Platz!«, erklärte der Seeräuber, nahm das Tier und reichte es einem Mann auf seinem Boot.

»Sie sind nicht im Dienst, wie ich sehe«, bemerkte Mando.

»Oh nein, schon lange nicht mehr. Ich habe mich zur Ruhe gesetzt, schon damals, als dieser Graf Kapodistrias meinen Beruf ausrotten wollte.« Er wandte sich an Marcus: »Ich bringe sie in einer Woche zurück. Das war doch die Abmachung?«

Marcus nickte.

»Tut mir Leid«, flüsterte er Mando zu, »vielleicht kannst du ja mitfahren.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er ist ihr Papa. Mit dem will sie jetzt zusammen sein. Für die Tante wird es irgendwann auch einmal Zeit geben.«

Ihre Stimme klang so bitter, dass er ihr schnell einen Arm um die Schulter legte und sie kurz an sich drückte. Einen Augenblick lehnte sie sich gegen den nach so vielen Jahren der Trennung immer noch vertrauten Körper. Dann trat sie auf Lambrini zu, umarmte sie und bat sie Post, die auf Mykonos für sie eingegangen war, nach Paros mit zurückzubringen.

Nachdem das Khaiki abgefahren war, fragte Mando geschäftsmäßig, ob sie sich eines der Pferde für den Heimritt ausleihen könne.

Marcus lächelte. »Ein Königreich für ein Pferd?«, schlug er vor und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise, »ich leihe es dir nicht, ich schenke es dir.«

Das könne sie nicht annehmen.

Gut, meinte er, dann würde er eben mit ihr zusammen zurückreiten.

Das Angebot könne sie erst recht nicht annehmen. Außerdem wolle sie noch einige Besorgungen erledigen, da sie ohnehin in der Stadt sei.

Wenn es zu spät würde, könne sie in seinem Haus nächtigen.

Mando ersparte sich darauf eine Antwort, ließ ihn stehen und strebte eiligen Schrittes auf die Geschäftsstraße zu. Marcus folgte ihr mit gewissem Abstand.

Beim Leineweber wäre Mando fast in Tränen ausgebrochen. Sie hatte nicht genug Geld bei sich, um die gewünschte Rolle Stoff zu kaufen und bat anschreiben zu dürfen.

»Auf welchen Namen?«, fragte der Mann.

»Mando Mavrojenous.«

»Mavrojenous … was?«, fragte der Mann und sah sie unsicher an.

»Mando.«

Die kenne er nicht, ob er nicht auf einen anderen Mavrojenous-Namen anschreiben könne.

»Auf den des Bürgermeisters«, kam Marcus' Stimme von der Tür. Noch nie hatte er Mando so klein und verloren gesehen. Jahrelang war ihr Name nicht nur in Griechenland, sondern in der halben Welt ein geflügeltes Wort gewesen, und der Leineweber auf Paros hatte ihn noch nie gehört!

»Er stammt nicht von hier«, beruhigte er Mando, als er mit ihr den Laden verließ. Einen Arm hatte er wieder um ihre Schulter gelegt, im anderen hielt er den Stoffballen.

Er ging zu den Pferden, belud eins mit ihren Einkäufen, half ihr dann auf das andere und drückte ihr die Zügel von beiden in die Hand.

»Langsam«, empfahl er ihr.

Sie blickte auf ihn hinab. Ihre Hand schien einen eigenen Willen zu haben, streckte sich aus, berührte seine Stirn und versuchte die Falten zu glätten. Er blieb still stehen.

»Komm mit«, sagte sie nur.

Er ging nie wieder weg.

Das Bürgermeisteramt trat er an einen Cousin ab, der praktischerweise den gleichen Namen trug.

»Dann brauchen sich die Leute gar nicht erst umzustellen«, meinte er, als er eines Abends aus Parikia zu ihrem Häuschen zurückgekehrt war. »Wir haben Post von Lambrini.«

»Nichts von König Otto?«, fragte sie spitz.

Seit Jahren war nämlich die finanzielle Unterstützung der Regierung wieder ausgeblieben und so hatte sie sich auf Kolokotronis' brieflichen Rat vor einigen Monaten an den Monarchen höchstpersönlich gewandt.

Sie schrieb: »Ich war nie verheiratet, bin also keine Witwe, die Anspruch auf Rente hat. Ich habe als Generalleutnant an Schlachten teilgenommen, bin aber nicht verwundet worden und habe somit keinen Anspruch auf Invalidenrente. Ich habe aber als Offizier, Organisator und Geldeinsammler meinem Land gedient. Daher würde ich es zu schätzen wissen, wenn ich für meinen Einsatz eine Militärpension erhielte und mir eine Medaille zugesprochen würde, Mando Mavrojenous.«

»Muss die Medaille sein?«, hatte Marcus gefragt, aber sie bestand darauf.

»Es wäre doch schön, einen kleinen Gegenstand zu haben, der mich daran erinnert, wo mein Geld, mein Land, mein Schmuck und der Rest meiner Habe geblieben sind! Marcus, ich bestehe auf einer Anerkennung!«

Einen Augenblick lang sah sie fast wieder aus wie die Mando, die er früher nicht hatte leiden können.

Der Eingang ihres Schreibens wurde von der Regierung mit deutscher Gründlichkeit vermerkt und der Brief zu den Akten gelegt. Als Mando immer wütender wurde, dass keine Antwort eintraf, versuchte Marcus sie zu beruhigen: »Du weißt doch, was der österreichische Botschafter Anton Prokesch von Osten über Griechenland gesagt hat?«

»Dass Regierung und Regierte zwei Menschen sind, die einander nicht vorgestellt wurden«, nickte Mando grimmig. »Die Regierung hat offensichtlich auch kein Interesse daran – ich bin damals bei Otto ja auch nicht vorgelassen worden! Aber ich will endlich meine Anerkennung!«

Es war der Sommer des Jahres 1840 und Marcus und Mando taten bereits seit anderthalb Jahren, was Pappas Mavros einst befürchtet hatte: Sie lebten wie Mann und Frau zusammen. Allerdings nicht in Paris, sondern auf Paros. In Paris lebte ihre Tochter, die über die Identität ihrer wirklichen Eltern natürlich nie aufgeklärt worden war. Sie hatte gebeten in diesem Jahr die Sommerferien bei einer Schulfreundin in Südengland verbringen zu dürfen.

»Wenigstens sieht sie mehr von der Welt als ich«, meinte Mando.

Marcus bot ihr, wie schon so oft, wieder an, endlich mit ihm nach Paris zu reisen, aber sie lehnte ab.

»Dafür bin ich jetzt zu alt. Marcus …«

»Aphrodite ist nicht alt«, sagte er und umfasste die Brüste, die er noch genauso göttlich fand wie vor mehr als zwanzig Jahren, »was ist?«

»Eine kleine Reise würde ich gern machen.«

»Nach Kalo Livadi?«

Natürlich hatte er es erraten. Sie brauchten immer weniger Worte, um einander zu verstehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Mando wunschlos glücklich. Wenn sie, was immer seltener geschah, an ihr altes Leben zurückdachte, schauderte sie vor dem Menschen, der sie einst gewesen war. Hatte sie wirklich geglaubt, durch Ruhm, Macht und Reichtum in einer Welt der Intrigen glücklich zu werden? Aber um Glück war es ihr damals nicht gegangen. Wie beim grünen Kasten hatte sie mehr an die Hülle als an den Inhalt gedacht.

Sie sprach mit Marcus oft darüber, was geschehen sein könnte, wenn sie gleich nach der Entdeckung ihrer Liebe zueinander durchgebrannt wären. Am Ende solcher Gedanken stand immer ein Satz: Dann hätte Mando Mavrojenous Mykonos nicht gerettet.

»Die Hütte wird schlimm aussehen«, warnte Marcus.

»Ich habe sie schon einmal in Ordnung gebracht«, erinnerte ihn Mando.

»Gute Arbeit«, sagten beide gleichzeitig und begannen das Notwendige zusammenzupacken.

Während Marcus das völlig verkommene Innere der Hütte inspizierte, lief Mando zum Brunnen. Im vertrockneten Gras daneben lag ein verrosteter Eimer, aber das Seil war weniger zerschlissen, als sie erwartet hatte. Sie tauchte den Eimer ein und schlürfte das Wasser aus der hohlen Hand.

»Nicht!«, rief ihr Marcus zu. »Der Brunnen war nicht abgedeckt. Ich muss ihn erst untersuchen und Kalk hineinwerfen.«

Sie konnten nicht wissen, dass es schon zu spät war. In diesem Augenblick verendete die kranke Taube, die in den Brunnen gefallen war.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit hatten sie die Hütte so weit hergerichtet, dass sie die Nacht darin verbringen konnten. Lange saßen sie dicht nebeneinander auf der Steinbank und blickten schweigend übers spiegelglatte schwarze Meer. In dieser mondlosen klaren Nacht waren die Sterne zum Greifen nah. Nur ein paar Zikaden und das Rascheln von Philemon und Baucis unterbrachen die Stille.

»Warte«, sagte Marcus, als Mando aufstehen und in die Hütte gehen wollte. Er hob sie hoch, trug sie aufs Bett und zog sie langsam aus. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich herab.

»Werden wir denn nie genug voneinander kriegen?«, fragte sie flüsternd.

»Nie«, erwiderte er, »das habe ich dir schon einmal gesagt.«

Am nächsten Morgen wachte Mando mit einem Gefühl von Übelkeit auf und bat Marcus sie nach Paros zurückzubringen.

»Ich muss irgendwas Falsches gegessen haben«, murmelte sie, als er ihr aufs Boot half. Ihre Augen glänzten fiebrig und sie zitterte am ganzen Körper.

Er brachte sie nicht in ihr Haus in Naoussa, sondern in seine Stadtvilla und rief sofort den Arzt. Dr. Koundarinis nahm den Zylinder ab und kratzte sich am Kopf, nachdem er Mando untersucht hatte. Er flüsterte Marcus zu, dass es um seine Cousine sehr schlecht stehe.

Sie hielt die Augen geschlossen, als er nach ihrer schlaffen Hand griff und sie zum Mund führte. Ihre Lippen bewegten sich.

Kaum hörbar nannte sie seinen Namen. Ein Strahlen flog über ihr bleiches Gesicht. Er legte sein Ohr an ihre Lippen und hörte sie sagen: »Da sind sie!«

Er sah, wie sich ihre Füße unter der Bettdecke leicht bewegten und wusste, dass sie sich jetzt bei den Yaludes einreihte. Endlich konnte sie wieder tanzen.

Sogar Kolokotronis schaffte es, rechtzeitig zu ihrer Beerdigung in Paros einzutreffen. Er salutierte vor dem Sarg, legte eine rote Rose auf die Brust, die ihn einst so entzückt hatte und schüttelte Marcus mit Tränen in den Augen die Hand. Ganz Paros wusste wieder, wer Mando Mavrojenous war, und die große Katapoliani-Kirche konnte die Trauergäste kaum fassen, die von allen Inseln der Kykladen herbeigeströmt waren, um der Heldin von Mykonos die letzte Ehre zu erweisen.

Mando lag in dem mit Seide ausgeschlagenen Sarg, trug Smaragdohrringe und die Uniform eines Generalleutnants. Um den Sarg hatte sich eine Ehrenwache von Soldaten formiert. Einer trug die Kleidung eines Janitscharen und hatte sich Türkenköpfe auf die Beine gemalt.

Die Anerkennung, dachte Marcus, ganz zum Schluss hast du sie also doch noch erhalten. Auch wenn du davon nichts mehr mitbekommst.

Marcus war von der Hochzeit seiner Tochter in Paris zurückgekehrt und konnte endlich tun, was er seit fünf Jahren geplant hatte. Er legte eine Abschrift seines letzten Willens auf seinen Schreibtisch. Lambrini würde alles erben. Dann setzte er zum letzten Mal die Segel seines kleinen Bootes und fuhr von Paros aus nach Mykonos. Er zog sein Boot auf den Strand von Kalo Livadi und nahm es säuberlich auseinander. Aus dem Holz baute er in der Nähe der kleinen Steinhütte einen Verschlag für die Ziegen und Hühner, die er aus Paros mitgebracht hatte. Er grub das verwilderte Gärtchen um, mistete die Hütte aus, zimmerte sich neue Fensterläden, die er blau anstrich und legte eine bunte Decke aufs Bett. Er erntete die Oliven von Philemon und Baucis und legte sie ein.

Ein Jahr später stach ihn jene Mücke, die noch genau ein Jahrhundert lang erheblich mehr Menschenleben fordern sollte als der griechische Befreiungskrieg. Er sackte auf dem Weg zum Strand zusammen, wo er sich im Wasser Kühlung gegen das Fieber versprochen hatte. Eine Armee schwarzer Käfer, ein Geschwader dicker Fliegen und ein Heer von winzigen roten Ameisen beerdigten ihn.

Wer heute in einer Vollmondnacht am Strand von Kalo Livadi zu seltsam fremder Musik sechs Yaludes tanzen sieht, sollte sich an einen Olivenbaum festbinden und genauer hinschauen. Vielleicht ist dann zu erkennen, wie ein junger Mann mit auffallend glattem schwarzen Haar auf eine der Yaludes zurennt, sie aus dem Kreis herauszieht und mit ihr über das Wasser läuft. Hin zu einer Felsengruppe, die in diesem Licht leicht mit einem Schiff verwechselt werden könnte.