PAROS

»Sie haben ihn vergiftet!«

Der Schrei ihrer Mutter klang Mando Mavrojenous noch in den Ohren, als sie über die schmale Gasse an den Schweinen vorbei zum Hafen eilte, um einen Schiffer zu beauftragen ihre Schwester Irini aus Tinos zu holen. Die Fischer hatten Sturm angekündigt, aber das Meer war noch ruhig, eine bleigraue spiegelglatte Fläche, die am Horizont eins wurde mit einem trostlosen Himmel.

»Beileid, mein Beileid.« Sie hörte die Zurufe, wandte sich aber nicht um. Sie wusste, dass die Nachricht vom Tod ihres Vaters inzwischen das letzte Haus von Parikia erreicht haben musste.

Sie hatte schon geschlafen, als die Männer spät in der Nacht ihren Vater ins Haus trugen. Er atmete flach, als sie ihn auf die Bank im Wohnzimmer legten und ihrer Mutter mitteilten, dass sein Kopf während des Essens plötzlich in die Suppe gefallen wäre. Dabei habe er dem Landwein gar nicht so sehr zugesprochen, sagte einer der Männer. Der Schrei ihrer Mutter weckte Mando. Sie stürzte ins Wohnzimmer, sah den Arzt, der sich über ihren Vater beugte, und die Mutter, die, von der Dienerin Vassiliki gestützt, anklagend die Arme gegen fünf Männer hob, die mit aschfahlen Gesichtern neben der Tür standen.

Der Arzt richtete sich auf, blickte Mando in die Augen und schüttelte den Kopf. Wie erstarrt betrachtete Mando den leblosen Körper ihres Vaters. Sie sah im fahlen Schein der Lampen sein Gesicht bleicher werden, fast durchsichtig. Die strengen Falten um Nase und Stirn verschwanden. Mando erschrak vor dem wächsernen Gesicht, das sich in der Stunde des Todes verjüngte. Sie war das jüngste von fünf Kindern, ein Nachkömmling, und der Vater war ihr immer alt vorgekommen, ein gütiger, weiser Mensch, der ihr kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Mit dem Vater war ihr Bundesgenosse gestorben.

»Haben sie ihn vergiftet?« Eine magere alte Frau zog Mando am Ärmel und sah sie aus neugierigen schwarzen Olivenaugen an. »Weil er das Land nicht verkaufen wollte?«

»Lass mich los!«, rief Mando. »Ich weiß es nicht!« Plötzlich war sie von dutzenden von Menschen umringt, die wild auf sie einredeten, an ihr zerrten und ihr den Weg zum Hafen versperrten.

Ich hätte Vassiliki schicken sollen, dachte sie und wusste im selben Augenblick, dass es ihr lieber war, unter freiem Himmel von Menschen bedrängt zu werden, als der grauenvollen Atmosphäre in ihrem Elternhaus ausgesetzt zu sein. Schon in den frühen Morgenstunden waren die Krähen eingefallen – so hatte ihr Vater immer die wehklagenden, schwarz gekleideten Trauerweiber genannt – hatten die Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt, sich laut schreiend um den langen Tisch geschart, auf dem ihr Vater aufgebahrt lag, und sich dann brüllend, singend oder vor sich hin murmelnd auf dem Fußboden niedergelassen. Mit aufgelösten Haaren warf sich Mandos Mutter Zakarati immer wieder über ihren Mann und schrie: »Wer wird dir jetzt den Kaffee bereiten? Wer wird dir jetzt dein Lieblingslied vorspielen?«

Angewidert hatte Mando ihre Mutter beobachtet. Wann hatte ihre Mutter schon den Kaffee selber zubereitet? Und hatte ihr Vater nicht ihr eigenes Klavierspiel dem der Mutter vorgezogen? Wie unwürdig sie sich benahm, sie, die Mando immer vorwarf nicht die rechte Haltung und Würde für eine Tochter aus fürstlichem Hause zu bewahren. Wie peinlich war die Zurschaustellung ihrer Trauer! Wie konnte man überhaupt so bald trauern, wenn man doch noch gar nicht recht begriffen hatte, dass Nikolaos Mavrojenous nicht mehr war?

»Lasst sie in Ruhe! Schämt ihr euch denn gar nicht?« Wie ein Peitschenschlag trieb der Ruf die Menschen auseinander.

Dankbar blickte Mando auf und sah einen jungen Mann auf sich zukommen, der ihr entfernt bekannt vorkam.

»Mademoiselle Madon«, sprach er sie auf Französisch an, »welch ein Schlag für Sie! Ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Vater gestanden haben.« Er verbeugte sich. »Jakinthos Blakaris aus Hydra«, stellte er sich vor. Sein dicht gewelltes, hellbraunes Haar fiel über ihre Hand, als er sie küsste. Seine seltsam hellen Augen, die Mando an das Meer im Morgenlicht erinnerten, begegneten ihren dunkelbraunen. Noch nie hatte sie so lange und schön geschwungene Wimpern bei einem Mann gesehen.

»Als Kinder haben wir miteinander gespielt.« Er nickte zum Strand hin. »Ich kann mir immer noch nicht vergeben, dass ich Ihnen damals Segeln beigebracht habe.«

Jetzt wusste sie wieder, wer er war, und die Erinnerung ließ sie unwillkürlich lächeln. Sie sah sich als Elfjährige mit dem nur wenig älteren Jakinthos am Strand. Sein Vater, ein reicher Kaufmann und Reeder, war nach Paros gekommen, um mit ihrem Vater Geschäfte zu machen. Sie hatte Jakinthos zu einem Piratenspiel am Strand eingeladen, aber schon nach wenigen Minuten fand der Reederssohn ein Piratenspiel ohne Schiff langweilig. Sie wateten durch das flache Wasser zu einem kleinen Khaiki, lichteten den Anker, setzten das Segel und nahmen Kurs auf die offene See. Mando stand am Bug, hob die Arme und jubelte. Noch nie war sie sich so frei vorgekommen! Das Glücksgefühl währte nicht lange. Im Schutz der Bucht von Parikia war von dem starken Meltemiwind nur wenig zu merken gewesen, aber kaum hatte das Khaiki die Landzunge von Aghios Fokas umschifft, als das Boot bedrohlich zu schwanken begann. Obwohl der Junge ein geübter Segler war, fehlte ihm bald die Kraft das Boot allein zu steuern. Er brüllte Mando an, ihm zu helfen, und mit vereinten Kräften glückte es ihnen, das Khaiki vor dem Kentern zu bewahren. Mando stellte sich dabei so geschickt an, dass er ihr später ein natürliches Talent im Umgang mit Booten bescheinigte. Anstatt aber zurück in die sichere Bucht zu segeln, nahmen die Kinder Kurs auf Antiparos. Noch bevor sie die vorgelagerte Insel erreichten, prallten sie gegen einen Felsen im Meer. Das Boot lief schnell voll, aber es sank nicht, da Jakinthos es an einer Klippe festgebunden hatte. Sie wurden erst gegen Abend entdeckt, als sich der Meltemi gelegt hatte und die ersten Fischer wieder ausfuhren.

Als die beiden Kinder in Mandos Elternhaus abgeliefert wurden, erhielt Jakinthos von seinem Vater eine Tracht Prügel und Mando wurde von ihrer Mutter für einen Tag und eine Nacht in eine fensterlose Rumpelkammer gesperrt. Vassiliki, die wusste, wie sehr sich das Mädchen vor der Dunkelheit fürchtete, hatte ihr heimlich eine Öllampe zugesteckt. Als deren Schein auf jenen grünen Kasten fiel, den sie als kleines Kind einmal heimlich geöffnet hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie würde den Inhalt dieses Kastens nie vergessen.

»Wohin kann ich Sie begleiten?«, fragte Jakinthos jetzt.

»Ich brauche ein Boot«, erklärte Mando und reichte Jakinthos ein Beutelchen. »Bitte finden Sie einen Fischer, der meine Schwester und ihren Mann aus Tinos holt.«

Jakinthos nahm das Beutelchen nicht. Er schüttelte den Kopf und wies auf den Himmel, über den inzwischen erste Wolkenfetzen jagten. »Kein Fischer wird jetzt sein Khaiki aufs Spiel setzen«, sagte er. »Es kommt ein Sturm auf.«

Wie zur Bestätigung blähte ein Windstoß Mandos Rock auf und enthüllte ein Unterkleid aus Brüsseler Spitze.

»Das ist mir egal«, sagte sie störrisch.

»Mir auch«, sagte er und nahm wieder ihren Arm. »Mein Schiff ist stabiler, ich werde Ihre Schwester holen.«

»Dann komme ich mit.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht noch einmal mit Ihnen Schiffbruch erleiden.«

»So dumm habe ich mich doch damals gar nicht angestellt.«

»Das stimmt.«

Beide lachten und lösten damit lautes Getuschel der neben und hinter ihnen Gehenden aus. Einen Moment lang vergaß Mando ihren toten Vater.

»Diesmal müssen wir nicht selber Segel setzen«, setzte Jakinthos hinzu und deutete auf einen Dreimaster, der vielleicht fünfzig Meter entfernt in der Bucht dümpelte. »Ich habe eine erfahrene Mannschaft. In ein paar Stunden könnten wir wieder zurück sein.«

Er half ihr in ein kleines Boot, das von einem älteren Schiffer gerudert wurde. »Sollten Sie nicht Ihrer Mutter Bescheid sagen?«, fragte er, aber Mando schüttelte den Kopf.

»Sie wird gar nicht merken, dass ich fehle«, sagte sie und dachte, wie anders es gewesen wäre, wenn statt des Vaters die Mutter gestorben wäre. Ihn hätte sie nie allein gelassen, ihm hätte sie ein Trost sein können. Sie hatten sich ohne Worte miteinander wohl gefühlt. Sie wusste, dass sie sein Lieblingskind gewesen war, was vielleicht weniger mit ihr selber zu tun hatte, als eher damit, dass er Zeit gehabt hatte, sich mit ihr zu beschäftigen und sie kennen zu lernen. Als ihre älteren Geschwister jung gewesen waren, hatte ihr Vater noch einen hohen Posten bei der Militärpolizei in Triest bekleidet und musste sich außerdem um sein dortiges Bank- und Handelshaus kümmern. Da blieb wenig Zeit für Frau und Kinder übrig. Zakarati hatte ihm nie verziehen, dass er nicht einmal zur Beerdigung ihres Lieblingssohnes Dimitri von einer Geschäftsreise zurückgekommen war. Nikolaos hatte es als Schande empfunden, dass sich sein Erstgeborener wegen einer dummen Liebesangelegenheit das Leben genommen hatte.

Auch nachdem die Familie 1802 auf die Kykladeninsel Paros übergesiedelt war, traf man Nikolaos Mavrojenous selten zu Hause an. Er musste nicht nur seine ausgedehnten Ländereien auf Paros betreuen, sondern auch den Pächtern der Familiengrundstücke auf Naxos, Tinos, Andros und Mykonos auf die Finger sehen. Später nahm er Mando auf manche dieser Ausflüge mit. Unterwegs erzählte er ihr Geschichten aus dem klassischen Altertum und weihte sie in Familiengeheimnisse ein.

Ein einziges Mal kam es zwischen ihnen zum Streit. Der Sultan forderte ihn vor ungefähr einem Jahr auf nach Konstantinopel zu kommen, aber Nikolaos Mavrojenous lehnte die Einladung mit dem Hinweis auf eine Erkrankung ab. Mando, die so gern die Stadt am Bosporus kennen gelernt hätte, flehte ihren Vater an sich eines anderen zu besinnen.

»Von den Türken kommt alles Unglück. Ich habe geschworen, mit ihnen nichts mehr zu tun zu haben«, wies er sie ab.

»Von den Türken kommt auch unser Reichtum«, antwortete sie spitz.

»Du weißt ja nicht, was du sagst!«, fuhr der Vater sie an. »Sie haben unser Land besetzt, uns unsere Kultur geraubt und Hellas ins tiefe Mittelalter zurückgeworfen. Sie benutzen uns, beuten uns aus und lassen uns fallen, wenn es ihnen passt.«

»Sie lassen uns doch tun, was wir wollen, wir haben ja nicht einmal einen Pascha auf Paros. Was interessieren uns hier die Türken?«, gab sie zurück.

Ihr Vater hob den Arm und einen Augenblick dachte Mando, er würde sie schlagen. Aber er hieb nur mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Du bist eine Mavrojenous! Vergiss das nie! Und vergiss nie, was sie dem Mann angetan haben, der diesen Namen trug und dem wir alles zu verdanken haben!«

Mando wusste natürlich, wen er meinte, den anderen Nikolaos Mavrojenous, den Bruder ihres Großvaters, der ihren verwaisten Vater und seine fünfzehn Brüder vor Jahrzehnten nach Moldavien hatte kommen lassen, wo er ihnen einflussreiche Posten verschaffte. Der Großonkel war zunächst Dolmetscher der osmanischen Flotte gewesen und wurde 1786 Gouverneur des Fürstentums Moldau, ein Posten, der normalerweise einem Phanarioten zustand, wie die gebildeten griechischen Aristokraten aus Konstantinopel genannt wurden. Beim zweiten russisch-türkischen Krieg übergab der Sultan ihm das Oberkommando über alle Verteidigungskräfte. Als seine Armee aber besiegt wurde und Bukarest im Jahr 1788 fiel, machte der Sultan Mavrojenous für die Niederlage verantwortlich und ließ ihn köpfen.

»Wenn er den Türken schon die Kriege führte, hätte er sich nicht besiegen lassen dürfen«, war Mandos Antwort. Daraufhin sprach ihr Vater zwei Tage lang nicht mit ihr.

Zwei Tage, die ich verloren habe, dachte Mando jetzt, als sie an Bord von Jakinthos' Schiff ging. Er forderte sie auf, sich in den Schiffsbauch zu begeben, aber sie lehnte ab, freute sich auf den Sturm, hoffte, er würde das Schiff ordentlich durchschütteln und vielleicht etwas in ihr gerade rücken. Angst hatte sie nicht. Jakinthos wies ihr einen Platz zu, wo sie seiner Mannschaft nicht im Weg sein würde, und forderte sie auf, sich mit einem dicken Tau festzubinden. Der Kapitän brüllte Anweisungen, die im Knattern der Segel beinah untergingen, die Ankerketten rasselten und dann nahm die ›Tria Asteria‹ Kurs auf Tinos. Der Südwind, der zunächst nur kleine Wellen weckte, trieb sie schnell voran. Erst, als sie zur Rechten die Inseln Delos und Mykonos auftauchen sahen und sich die Berge von Tinos bereits deutlich vom Himmel abhoben, wurde das Meer wilder und zeigte Schaumkronen.

»Da ist Irinis Haus!«, rief Mando und machte Jakinthos auf ein stattliches Herrenhaus nahe dem Ufer aufmerksam.

Besorgt warf er einen Blick zum Himmel. »Bleiben Sie hier, wir dürfen keine Zeit verlieren, ich gehe selber hin«, brüllte Jakinthos ihr ins Ohr und befahl das Beiboot zu Wasser zu lassen.

Wenig später sah Mando fünf Personen in das Boot steigen, Jakinthos, ihre Schwester Irini, deren Mann Antonis Nasos, einen Priester und einen ihr unbekannten jungen Mann mit langem schwarzen, ungewöhnlich glattem Haar, das im Wind wild flatterte. An Bord fiel Irini ihr weinend um den Hals.

»Was ist geschehen? Warum ist er tot?«

»Mama sagt, sie haben ihn vergiftet.«

»Sie?«, fragte Irini schluchzend. »Wer ist ›sie‹?«

Das hatte sich Mando auch schon gefragt. Ihr Vater war ein mächtiger, reicher Aristokrat gewesen, der sich im Laufe seines Lebens sicher manchen Feind geschaffen hatte. Aber auf der Kykladeninsel hatten sie sich alle in Sicherheit gewähnt, auch wenn bekannt war, dass überall Informanten des Sultan lauerten. Dass einer von ihnen Nikolaos Mavrojenous ermorden würde, war jedoch unwahrscheinlich. Ihr Vater hatte sich aus der Politik zurückgezogen und nur noch um seinen Grundbesitz gekümmert.

»Du kennst doch Mama«, sagte sie also zu Irini, »sie wittert überall Komplotte und immer ist irgendjemand schuld an ihrem Unglück.«

Sie bereute ihre Worte auf der Stelle, als sie Irinis gequältes Gesicht sah.

»Mein Beileid, Mando«, hörte sie neben sich und erkannte in dem Popen ihren Onkel.

»Pappas Mavros! Wie gut, dass Sie mitkommen, das wird Mutter helfen.« Sie blickte fragend auf den jungen Mann.

»Das ist euer Cousin Marcus Mavrojenous von der Insel Mykonos«, stellte ihn Pappas Mavros vor. Der junge Mann mit dem auffallend glatten Haar verbeugte sich und murmelte Beileidsworte. Mando nickte höflich. Später würde sie sich daran erinnern, dass sie Marcus bei dieser ersten Begegnung keinen zweiten Blick geschenkt hatte.

Der heftig gewordene Südwind zwang das Schiff zur Rückkehr im Zickzackkurs. Während sich Irini im Innern des Schiffs übergab und Qualen litt, blieb Mando festgezurrt an Deck sitzen. Der Wind riss ihr das schwarze Tuch vom Kopf, löste ihre Haare und machte einen Höllenlärm, als er durch die straff gespannte Takelage toste. Jedes Mal, wenn das Schiff in ein Wellental tauchte, schrie Mando laut auf. Sie dachte an nichts, konzentrierte sich ganz auf das Aufsteigen und Absacken des Schiffes, spürte nicht, wenn die Gischt über sie spritzte und nahm nur die aufgewühlte See um sich herum wahr. Sie merkte nicht, dass Jakinthos regelmäßig nach ihr sah.

Er sprach sie nicht an, doch er war hingerissen von dem Anblick der festgebundenen Frau mit den gelösten Haaren, dem wilden Gesicht und den heiseren Schreien. Wie ein Wesen aus einer fremden, längst versunkenen Welt, dachte er. Aphrodite, Athene und Hera sind in ihr vereinigt, sie ist schön, entschlossen und mutig. Eine junge Raubkatze noch, die ihre Fesseln sprengen will und es nicht einmal weiß. Ich werde sie heiraten, aber ich darf sie nicht ganz zähmen. Bei Sturm werde ich ihr Zügel anlegen, die ihrem Schutz dienen, wie die Taue, mit denen sie jetzt festgebunden ist.

Als das Schiff sechs Stunden später um die Landzunge in die sichere Bucht von Parikia einfuhr, war die Dämmerung bereits angebrochen. Jakinthos näherte sich Mando, half ihr die Taue zu lösen. Als sie aufstehen wollte, versagten ihr die Beine den Dienst. Sie starrte Jakinthos an, als sähe sie ihn zum ersten Mal und schüttelte den Kopf.

»Schon da?«, fragte sie verwirrt.

»Schon da!«, echote er lachend. »Die Rückfahrt hat sechs Stunden gedauert!«

»Unmöglich.«

Sie fuhr sich über das nasse Gesicht. Hatte sie geweint? Endlich doch Tränen um ihren Vater vergossen? Jakinthos hängte ihr eine Decke um.

»Sie sind ganz nass. Hoffentlich erkälten Sie sich nicht.«

Nein, dachte Mando, Tränen, die durch eine so dicke Kleiderschicht gehen, gibt es nicht. Werde ich verrückt? Ich habe hier sechs Stunden festgebunden gesessen und weiß nicht, was in dieser Zeit geschehen ist?

Sie begann zu weinen.

Bei der Beerdigung in der ›Madonna der Ekatontapyliani‹, der großen Kirche, die genau ein halbes Jahrhundert zuvor auf Kosten der Familie Mavrojenous restauriert worden war, sorgte Pappas Mavros dafür, dass aus einem kleinen Zwischenfall keine Katastrophe wurde.

Der Zufall wollte es, dass sich zum Zeitpunkt von Nikolaos Mavrojenous' Tod ein Abgesandter des Sultans auf der Insel aufhielt. Er sollte erkunden, ob aus den Marmorbrüchen, die seit der Zeit der Venezianer brachlagen, nicht doch wieder Stein zu gewinnen wäre. Berichte von den mit Marmor gepflasterten Straßen und unzähligen Häusern aus diesem puren strahlend weißen Stein begeisterten den Sultan und so hatte er Hussein Pascha mit fünf Männern nach Paros geschickt. Die Kunde von Mavrojenous' Tod erreichte sie, als sie auf einem Hügel westlich der Stadt zwei alte Brunnen besichtigten, die von Wasser aus einem Marmorfelsen gespeist wurden.

Für Hussein Pascha war es selbstverständlich, einem ehemaligen hohen Würdenträger des osmanischen Reichs die letzte Ehre zu erweisen. Außerdem bot sich damit dem in den Augen der Griechen Ungläubigen die Gelegenheit das sagenumwobene Gebäude einmal von innen zu betrachten. Natürlich hätte niemand den Abgesandten des Sultan daran hindern können, die Kirche auch zu anderen Zeiten zu betreten, wenn er es darauf angelegt hätte. Aber Hussein Pascha war ein feinfühliger Mensch, der verstand, dass man einem unterdrückten Volk nicht auch noch den letzten Stolz nehmen dürfe.

»Was ist denn an diesem Tempel so sehenswert?«, fragte ihn einer seiner Begleiter, als sie den Hügel hinunterritten.

»Es ist eine der ältesten Kirchen Griechenlands«, erläuterte Hussein Pascha, »der Grundstein wurde im vierten Jahrhundert von der Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin dem Großen gelegt, aber erst der byzantinische Kaiser Justinian gab der Kirche im sechsten Jahrhundert ihre heutige Form. Es besteht sogar eine direkte Verbindung mit Konstantinopel. Isidor, der Architekt der Hagia Sophia, sollte eigentlich die Kirche errichten, aber er gab den Bauauftrag an seinen Schüler Ignatius weiter.«

Hussein Pascha zügelte sein Pferd, ließ den Blick über die sanfte Hügellandschaft gleiten, bis er auf der in der Nachmittagssonne schimmernden Stadt mit ihren verwinkelten Gassen hängen blieb.

»Das Licht hier«, sagte er so leise, dass ihn seine Begleiter kaum verstehen konnten, »bewirkt Wunder. Der junge Ignatius fing es in seinem Bau ein und ließ es dadurch noch heller erstrahlen. Als Isidor kam, um das Werk seines Schülers zu begutachten, erkannte er, dass der Lehrling den Meister überflügelt hatte. Er wurde eifersüchtig und lockte den Jungen aufs Dach, um ihn hinabzustoßen. In seiner Todesangst klammerte sich Ignatius an das Gewand Isidors und beide stürzten gemeinsam in den Tod. Im Vorhof könnt ihr auf einer Säule eine Abbildung des Ereignisses sehen. Ich halte es im Übrigen für angebracht, dass ihr nicht mit in die Kirche kommt«, setzte er hinzu.

»Ich will die Türen zählen!«, maulte sein Begleiter zur Rechten.

Hussein Pascha schüttelte den Kopf. »Es gibt keine hundert Türen«, sagte er. »Das ist nur ein Gerücht, dem du übrigens besser keinen Glauben schenkst. Den Namen ›Hunderttürige‹ hat man der Kirche erst vor wenigen Jahren zugedacht. Sie heißt eigentlich Katapoliani, also ›unterhalb der Stadt‹, und wie ihr sehen könnt …«, er deutete auf den zwischen Zypressen und anderen Bäumen gebetteten Komplex, »… trifft diese Bezeichnung zu.«

»Und warum sollte ich dem Gerücht keinen Glauben schenken?«, fragte der Mann.

»Weil es heißt, dass bisher nur neunundneunzig Türen entdeckt worden sind. Die Einheimischen glauben, dass Konstantinopel befreit sein wird, sobald man die hundertste Tür findet.«

»Befreit?«, fragte der Mann verwirrt. Hussein Pascha warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Aus der Sicht der Griechen natürlich!«

Von seinen Männern begleitet fand sich Hussein Pascha zur Beerdigung ein, als der offene Sarg durch das dreibögige Säulentor in die Hauptkirche getragen wurde. Angesichts der zu erwartenden großen Anzahl von Trauergästen hatte man davon abgesehen, die Messe im ältesten Teil des Kirchenkomplexes, der Kapelle des Heiligen Nikolaos, des Namenspatrons des Verstorbenen, abzuhalten.

Hussein Pascha wartete, bis die meisten Menschen in der Kirche verschwunden waren, schritt dann unter dem eintönigen Geläut der Totenglocke durch den mittleren Bogen zum Kirchenportal. Eine scharfe Stimme ließ ihn innehalten.

»Das ist eine griechische Kirche!«

Er blickte auf den hoch gewachsenen Mann neben der Tür, der ihn feindselig ansah.

»Ich will nicht stören. Ich möchte dem Toten die letzte Ehre erweisen«, sagte er leise auf Griechisch und wollte die drei Stufen zum Eingang hinaufgehen.

Zwei gekreuzte Schwerter versperrten ihm den Zutritt.

»Wir wollen den Sultan hier nicht haben«, sagte der hoch gewachsene Mann. »Gehen Sie weg!«

Eine schwarz gekleidete, winzige alte Frau, die auf das Kirchenportal zugeschlurft war, streckte einen Arm aus, wies mit einem arthritischen Finger auf den vornehm gekleideten Türken und schrie: »Das ist er! Der Mörder!«

Hussein Paschas Begleiter, die nach der Säule mit der Abbildung der unglücklichen Baumeister suchten, schraken auf und stürzten mit gezückten Dolchen zum Kirchenportal. Sie blieben stehen, als sie ihren Herrn von Griechen mit Schwertern umringt sahen.

In dem Augenblick trat Pappas Mavros vors Portal.

Er wandte sich an die Griechen. »Schwerter!«, sagte er vorwurfsvoll. »Vor dem Gotteshaus!«

»Der Ungläubige will hinein!«

»Gottes Haus steht jedem offen«, erklärte Pappas Mavros, machte die Tür frei und forderte Hussein Pascha auf einzutreten. Die Türken mit den Dolchen beachtete er nicht, wartete aber, bis auch die murrenden bewaffneten Griechen die Kirche betreten hatten.

Nach der Trauerfeier, die er sehr eindrucksvoll fand, ging Hussein Pascha nicht mit zur Grabstätte. Er wollte warten, bis alle Trauergäste die Kirche verlassen hatten und dann unauffällig verschwinden. Aber zu seiner Überraschung trat eine der Töchter des Toten auf ihn zu. Er blickte in große dunkelbraune Augen unter fein geschwungenen Brauen.

»Effendi«, sprach ihn Mando mit sanfter Stimme auf Türkisch an, »wollen Sie uns helfen die hundertste Tür zu finden?«

Noch nie im Leben war sich Hussein Pascha so fehl am Platz vorgekommen.

Am selben Nachmittag verabschiedete sich Jakinthos von Mando. Er hielt ihre Hand etwas länger als nötig und hoffte, dass sie seine Absichten, die er aus Schicklichkeitsgründen noch nicht äußern konnte, in seinen Augen las.

»Wo fahren Sie jetzt hin?«, erkundigte sich Mando.

»Wie geplant nach Mykonos weiter.« Er machte eine Pause und drückte ihre Hand noch einmal fest, ehe er sie losließ. »Ich werde mich dort niederlassen. Mein älterer Bruder hat den väterlichen Betrieb in Hydra übernommen. Ich möchte nicht unter ihm arbeiten und da es auf einem Schiff keine zwei Kapitäne geben kann, werde ich mich um unsere Flotte und Grundstücke auf Mykonos kümmern, vor allem um meine Weinfelder, da liegt einiges im Argen.«

»Wieso?«, fragte Mando und dachte an die Rebenfelder der Mavrojenous-Familie in Mykonos.

»Meinen Pächtern ist offenbar mehr an Quantität als an Qualität gelegen. Der gute Ruf des Mykonos-Weins ist dahin. Unsere Abnehmer klagen, er sei zu stark mit Wasser versetzt.«

Mando lachte. »Wieder einmal werden die Mykoniaten ihrem Ruf als Freibeuter gerecht!«

Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. »So sollten Sie aber nicht über die Insel Ihrer Vorfahren sprechen!«

»Die wahrscheinlich auch als Piraten zu ihrem Vermögen gekommen sind!«

»Gut, dass Ihre Mutter uns nicht hört!«

»Die wäre außer sich. Für sie fängt die Familiengeschichte erst mit der Erhebung in den Adelsstand an.«

»Bei uns allen fließt Korsarenblut in den Adern, aber wir tun gut daran, das zu verschweigen«, meinte Jakinthos und fügte hinzu: »Ich habe Ihre Mutter gefragt, ob ich der Familie gelegentlich wieder meine Aufwartung machen darf. Wenn die Winde günstig wehen, kann ich in fast einer Stunde von Mykonos aus hier sein.«

»Bei klarer Sicht könnten wir uns zuwinken«, lächelte Mando.

»Dafür müssten Sie sich aber in den Norden von Paros begeben. Von den Hügeln Naoussas aus sehen Sie dann die Südküste von Mykonos.«

»Bitte erwarten Sie nicht, dass ich ein weißes Laken hisse«, bemerkte Mando, die erst am nächsten Abend, nach der Ankunft ihrer Brüder Antonio und Stefano, erfahren sollte, dass ihre Tage auf Paros gezählt waren.

Pappas Mavros hatte zu einem Familienrat ins Wohnzimmer gebeten. Cousin Marcus wollte sich höflich zurückziehen, aber der Pope schüttelte den Kopf.

»Du wirst wahrscheinlich irgendwann einmal das Haupt der Mavrojenous-Familie auf den Kykladen sein«, beschied er ihn, »schon aus diesem Grund ist deine Anwesenheit erwünscht.«

Nachdem sich alle gesetzt hatten, öffnete Pappas Mavros einen Umschlag.

»Als hätte er geahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, hat mir Nikolaos Mavrojenous dieses Papier vor wenigen Wochen zukommen lassen. Es enthält sein Testament. Vorweg möchte ich noch mitteilen, dass er mich bis zu deren Eheschließung zum Vormund von Magdalini Mavrojenous bestellt hat.«

Überrascht blickte Mando auf. Sie hatte damit gerechnet, dass sie entweder zu einem der unzähligen Brüder ihres Vaters oder sogar zu einem ihrer eigenen Brüder hätte ziehen müssen. Beide Vorstellungen waren so grauenhaft, dass ihr als Ausweg nur die Ehe eingefallen war. Länger als ein Jahr würde sie trotz des Todesfalls wohl nicht warten müssen, da sie immerhin schon einundzwanzig Lenze zählte. Als Kandidat käme Jakinthos in Frage, der jetzt seinen eigenen Hausstand gründete und daher auf Brautschau sein musste. Ihr war nicht entgangen, dass sie einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Aber die Entscheidung ihres Vaters änderte alles, auch wenn sie nicht recht verstand, warum er sie Pappas Mavros anvertraut hatte, der nur ein Cousin ihrer Mutter war. Aber sie erinnerte sich, dass die beiden Männer vor allem in den vergangenen vier Jahren viel miteinander zu tun gehabt hatten, ihr Vater manchmal plötzlich zu einer Reise nach Tinos aufgebrochen oder der Onkel unerwartet in Paros aufgetaucht war. Die Männer zogen sich dann immer in Nikolaos' Herrenzimmer zurück und sprachen so leise miteinander, dass selbst Vassiliki, eine Meisterin im Lauschen an Türen, kein Wort verstand.

Mando war so erleichtert über diese Verfügung ihres Vaters, dass sie nur mit halbem Ohr der Verlesung der anderen Verfügungen folgte. Sie begriff, dass alle Ländereien und Gebäude, bis auf jene, die ihre Mutter in die Ehe mit eingebracht hatte, an ihre beiden Brüder gingen. Die Geschäfte auf Tinos wurden ihrer Schwester Irini und somit ihrem Schwager Antonis zugesprochen und ein Teil des Vermögens sollte als Brautschatz für Mando zur Seite gelegt werden.

Bis ich heirate, bin ich also mittellos, dachte sie, abhängig von der Güte meiner Familienangehörigen.

»Und was wird unternommen, um seine Mörder zu finden?« Auch Zakarati war während der Lesung mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen. »Du musst dafür sorgen, Niko«, – sie war die Einzige in der Familie, die Pappas Mavros mit seinem Vornamen ansprach – »dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.«

Schon wieder ›sie‹, dachte Mando. Wieso blieb ihre Mutter bei dem Verschwörungsgedanken? Vor allem, nachdem der Arzt deutlich genug erklärt hatte, Nikolaos Mavrojenous sei an einer Herzmuskelschwäche gestorben.

Pappas Mavros blickte von seinen Papieren auf und warf Zakarati einen mitfühlenden Blick zu.

»Hast du denn einen Verdacht oder kennst du ein Motiv?«, fragte er leise.

Zakarati biss sich auf die Lippen.

»Ich weiß es einfach«, sagte sie. »Eine Ehefrau spürt so etwas.«

»Was für ein Unsinn!«, brach es aus Mando heraus.

»Mando!«, rief Irini entsetzt.

Pappas Mavros warf der jüngsten Nichte einen eiskalten Blick zu.

»Magdalini, es ist unverzeihlich, dass es dir deiner Mutter gegenüber an Respekt gebricht. Als dein Vormund fordere ich dich auf dich auf der Stelle zu entschuldigen.«

Magdalini! Dieser verhasste Vorname! Onkel Mavros würde wohl doch nicht so leicht um den Finger zu wickeln sein, wie sie es sich vorgestellt hatte.

»Ich entschuldige mich«, sagte sie laut und murmelte, dass nur der neben ihr sitzende Marcus die Worte verstand: »Hysterische Kuh.«

»Kühe«, sagte nun Marcus laut, »sind nützliche, friedfertige und im Allgemeinen sehr gelassene Tiere.«

Verwirrt blickte Pappas Mavros auf seine Papiere. »Habe ich etwas über Kühe gesagt?«, fragte er. »Die Rinder sind im Einzelnen nicht aufgeführt.«

Mando rückte von Marcus ab. Welch ein unausstehliches Familienmitglied!

»Ich habe Angst hier auf Paros«, gestand Zakarati. »Die Mörder meines Mannes könnten es auch auf uns abgesehen haben. Ihr habt doch gehört, was vor der Kirche passiert ist. Türken mit Dolchen! Es wäre fast zum Blutbad gekommen!«

»Das wäre es nicht«, beruhigte sie Pappas Mavros. »Hussein Pascha hatte keine bösen Absichten und, Zakarati, am Tod deines Mannes ist er ganz bestimmt nicht schuld. Der Auftritt vor der Kirche war ein Missverständnis, mehr nicht.«

Aus klugen Augen musterte er die Frau seines toten Freundes und nickte dann nachdenklich.

»Ich halte es auch nicht für sinnvoll, dass du mit Mando auf Paros bleibst. Und zwar nicht, weil ich Mordanschläge befürchte, sondern weil eine Witwe und eine junge unverheiratete Frau männlichen Schutz brauchen. Ich schlage vor, dass ihr nach Tinos übersiedelt.«

»Ja, bitte kommt zu uns!«, rief Irini und umarmte ihre Mutter.

»Was ist denn da noch in dem Umschlag?«, fragte Mandos Bruder Stefano neugierig. »Ich sehe ein weiteres Papier, das Sie uns nicht vorgelesen haben.«

Pappas Mavros zog es heraus und hielt es hoch, sodass jeder die kleine Handschrift von Nikolaos Mavrojenous erkennen konnte.

»Das ist nur ein Begleitbrief, den euer Vater an mich persönlich gerichtet hat. Nicht von Bedeutung für seinen letzten Willen.«

»Keine weiteren Verfügungen?«, erkundigte sich der älteste Bruder Antonio misstrauisch.

»Es ist doch alles verteilt, nicht wahr?«, antwortete Pappas Mavros nur und hob eine Augenbraue. Er schob das Papier rasch wieder in den Umschlag und blickte fragend in die Runde. Niemand fragte nach dem Inhalt des grünen Kastens. Nikolaos hatte also das Geheimnis, das er dem Popen in dem Brief verraten hatte, gut gehütet.

Pappas Mavros zitterte innerlich, als er an die Verantwortung dachte, die ihm das Wissen um die Zeusstatue auferlegte. Eine Ehre, die zum Fluch werden kann, dachte er und musterte die Gesichter der Mavrojenous-Brüder. Welch eine Enttäuschung, dachte er, Nikolaos' Söhne sind ungeeignet, haben zu lange im Ausland gelebt, sind satt und bequem und interessieren sich nur für ihre Latifundien. Auch fehlt es ihnen an Verstand, Einsicht und Weitblick, um zu nützlichen Mitgliedern des Geheimbunds heranzureifen. Wie bedauerlich, dass der einzige Nachkomme mit Feuer, Schwung und Energie ein Mädchen ist!

Nikolaos hatte große Stücke auf Mando gehalten, ihren wachen Verstand gelobt und ihm in jenem Brief ans Herz gelegt sie für die gemeinsame Sache zu gewinnen. Er kenne seine Tochter, hatte er geschrieben, sie sei anders als andere Frauen, eigentlich schlüge in ihrer Brust das Herz eines Palikaris, eines Kriegers. Aber das war wohl eher der Wunschgedanke eines Vaters, den seine drei Söhne enttäuscht hatten, dachte Pappas Mavros. Mando mochte ja intelligent, gebildet und geistreich sein, aber sie blieb eine Frau und war somit politisch nutzlos. Man konnte eine Frau nicht in geheimer Mission auf Reisen schicken, man durfte sie auch nicht den Gefahren aussetzen, die das Wissen über die Bewegungen der so genannten Hetärie der Freunde mit sich brachte. Er fand es unglaublich, dass Nikolaos seine Tochter sogar im Degenfechten hatte unterrichten lassen. Als ob man eine Frau in den Kampf schicken könnte!

Aber er respektierte Nikolaos' letzten Wunsch und überlegte, dass es für ihn selber eine interessante Herausforderung sein könnte, ein Mädchen auszubilden. Wie so viele Priester im Land trotzte er dem von den Türken angeordneten Lehrverbot. In seinem Haus hatte er eine geheime Schule eingerichtet, wo er ausgesuchten Knaben der Insel Tinos das kulturelle Erbe zu vermitteln suchte. Natürlich würde er Mando Privatunterricht erteilen müssen. Als Erstes musste er sich um ihre Sprache kümmern. Sie sprach ein grauenhaftes Griechisch und zu seinem Entsetzen beherrschte sie die Schriftsprache überhaupt nicht. Es war Zeit, dass die ersten Familien des Landes sich wieder ihrer Herkunft besannen! Im Hause Mavrojenous wurde mehr französisch und italienisch gesprochen als griechisch, aber jetzt, wo er, Pappas Mavros, das Sagen hatte, würde es damit vorbei sein!

Auch mit dem jungen Jakinthos Blakaris, der in Paris ausgebildet worden war, hatte sie sich auf Französisch unterhalten! Pappas Mavros fand es höchst bedauerlich, dass so viele Exilgriechen die Muttersprache nur mangelhaft beherrschten. Allerdings hatten es viele Griechen in fremden Ländern zu hohem Ansehen gebracht. Zum Beispiel der in Korfu gebürtige Graf Joannis Kapodistrias – eigentlich Giovanni Capo d'Istria – der seit zwei Jahren zusammen mit dem deutschstämmigen Karl Robert Nesselrode dem russischen Außenministerium vorstand und immer wieder zu erkennen gegeben hatte, wie sehr er sich der griechischen Sache verbunden fühle. Der griechischen Sprache wahrscheinlich weniger – die meisten, die der Hetärie angehörten, konnten sich besser auf Russisch verständigen. Ein ziemlicher Skandal angesichts der verbindenden Parole: Griechenland den Griechen – die in allen möglichen Sprachen skandiert wurde, aber kaum auf Griechisch! Wie sollte man da das einfache Volk mobilisieren, es davon überzeugen, dass man das Joch der fast vier Jahrhunderte währenden Fremdherrschaft abschütteln musste? Die Zeit war reif, die Hagia Sophia in Konstantinopel wieder dem griechischen Mutterland zuzuführen. Pappas Mavros wusste, dass seine Landsleute schon jetzt gute Chancen hatten die Türken auf dem Meer zu besiegen. Ironischerweise war dies sogar den Osmanen selber zu danken, die den Griechen im Handelswesen relativ freie Hand gelassen hatten. Das bedeutete, dass die Handelsflotte einen gewaltigen Aufschwung nehmen konnte. Da die Meere von Piraten unsicher gemacht wurden, hatten die Reeder ihre Handelsschiffe ordentlich mit Kanonen bestücken müssen. Zurzeit gab es 600 Einheiten mit 17.000 Matrosen und 6.000 Kanonen. Damit ließe sich etwas anfangen.

Aber es ging nicht nur um Material. Das Volk musste aus seiner Lethargie aufgerüttelt werden und bestimmte Menschen mussten gezielt erzogen werden, um die Revolution in Gang zu bringen. Pappas Mavros traute diese Aufgabe eigentlich nur Männern zu.

Da sein ganzes Leben vom geplanten Befreiungskampf geprägt war, fragte er sich, welche Rolle ein von ihm ausgebildetes Mädchen darin spielen könnte. Als Erstes musste Mando vernünftig Griechisch lernen und dann würde er weitersehen. Vielleicht könnte man für das Mädchen einen geeigneten Ehemann finden, den sie bei seinem Kampf für die griechische Sache im Hintergrund unterstützen könnte. Ihr Briefwechsel mit den Damen der ausländischen Salons würde sich eventuell noch als hilfreich erweisen. Viele dieser Damen waren reich, und, was der Angelegenheit zu Gute kommen konnte, hoffnungslos romantisch. Man musste das Klavier nur richtig stimmen, dann würden sie sich dem humanistischen Zeitgeist verpflichtet fühlen und es als Ehre empfinden, den Urenkeln der alten Hellenen zu Hilfe zu eilen. Ja, den Takt zu dieser Musik konnte auch ein Mädchen angeben.

Er erhob sich.

»Das ist also geregelt. Zakarati und Mando kommen zu uns nach Tinos.«

Dann könnte uns Jakinthos ja jeden Tag besuchen, dachte Mando, wusste aber nicht recht, ob sie das auch wirklich wollte.

»Warte.« Marcus packte sie am Arm, als sie das Zimmer verlassen wollte. »Ich möchte mit dir reden.«

Mando schüttelte ihn ab.

»Dein Pech«, sagte sie nur, öffnete die Tür, stieß Vassiliki zur Seite, die nicht schnell genug vom Schlüsselloch wegkam, und rannte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Doch bevor sie die Tür hinter sich zuziehen konnte, war Marcus bereits eingetreten. Er setzte sich auf einen der Stühle neben dem Fenster und musterte Mando mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Was fällt dir ein!«, fuhr sie ihn an. »Verschwinde!«

»Warum hasst du eigentlich deine Mutter so?«, fragte er in ganz normalem Konversationston.

»Das geht dich überhaupt nichts an!«

»Ich denke schon. Deine Brüder werden morgen wieder aufs Festland fahren, du ziehst nach Tinos und befindest dich dann im Dunstkreis der mykoniatischen Mavrojenous-Sippe, deren Oberhaupt ich irgendwann sein werde …«

»Bilde dir nur nicht ein, dass ich mir von dir etwas sagen lassen werde!«

»Meine Zustimmung wird auch erforderlich sein, wenn du deinen hübschen Reederssohn aus Hydra heiraten willst«, sagte Marcus, dem nicht entgangen war, wie Jakinthos Mando auf dem Schiff angestarrt hatte.

»Was für ein Unsinn!«

»Das ist wohl dein Lieblingsausdruck. Etwas erbärmlich, angesichts der teuren Ausbildung, die dir deine Eltern haben zukommen lassen. Warum also hasst du deine Mutter?«

»Ich hasse sie nicht.«

Mando war so überrascht über die Worte, die ihr entfahren waren, dass ihre Wut augenblicklich verrauchte. Es stimmte, sie hasste ihre Mutter nicht. Sie konnte sie nicht leiden, aber das war etwas ganz anderes, und daran war weniger die Mutter selber als der Vater schuld, um dessen Gunst sie beide gebuhlt hatten. Jetzt war er tot. Es gab keinen Grund mehr, die Mutter nicht zu mögen. Aber gab es einen, sie zu mögen? Langsam ließ sie sich auf den Stuhl an der anderen Seite des Fensters nieder.

»Deine Mutter braucht dich jetzt«, sagte Marcus sanft.

»Sie hat ja Irini. Mit der hat sie sich schon immer besser verstanden.«

»Aber Irini wird sich gerade jetzt weniger um sie kümmern können.«

»Wieso, wir ziehen doch zu ihr nach Tinos!«

»Sie wird Kraft und Hilfe der Mutter brauchen, jetzt, wo sie ein Kind erwartet.«

Mando sprang auf.

»Was?! Irini ist endlich schwanger? Und das erfahre ich von dir!« Sie stellte sich vor ihn hin und funkelte ihn wütend an. »Was für eine Familie ist das überhaupt!«

»Das«, sagte Marcus und erhob sich höflich, »habe ich mich schon oft gefragt.« Er ging zur Tür und verbeugte sich. »Kopf hoch, vielleicht stellt sich heraus, dass du ein Findling bist.«

Er bückte sich und wich damit der kleinen Vase mit dem Basilikumsträußchen aus, die durch die geöffnete Tür segelte und Vassiliki vor die Füße fiel.

»Warum bin ich nur ein Mädchen!«, heulte Mando, als Vassiliki die Scherben einsammelte. »Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich alle zum Teufel schicken!«

»Und wo würdest du selber hingehen?«, fragte Vassiliki interessiert.

»Nach Paris! Stattdessen sitze ich auf Paros. Ein einziger Buchstabe nur, und dazwischen liegt eine ganze Welt!«

»Tinos hat andere Buchstaben.«

»Ich weiß ja, dass du gelauscht hast, aber lass dich bloß nicht von Mutter erwischen! Wenn ich ein Mann wäre, hätte ich heute ein Vermögen geerbt.«

»Deine Aussteuer kann sich doch sehen lassen«, bemerkte Vassiliki.

»Ich habe nicht gesagt, wenn ich einen Mann hätte«, erwiderte Mando bitter. »Du hast ja gehört, meine Mutter kann jetzt erst über ihre Aussteuer verfügen. Ich muss also erst heiraten und dann warten, bis mein Mann stirbt, ehe ich selber über mein Eigentum bestimmen kann!«

»Dann heirate einen sehr alten Mann«, schlug Vassiliki vor. »Den jagst du kurz danach ein paarmal um den Tisch und dann …« Ihre Worte verloren sich. Es war wohl gerade jetzt nicht sehr passend, jemandem einen Herzanfall anzudichten.

»Ich will überhaupt nicht heiraten.«

»Dann bleibst du bis in alle Ewigkeit von deiner Familie abhängig.«

Eine sehr unerfreuliche Aussicht, dachte Mando, dann schon lieber Jakinthos.

»Erzähl mir was Fröhliches, Vassiliki«, wechselte sie das Thema. »Zum Beispiel deine Flucht aus dem Harem des Sultans.«

Vassilikis Lippen wurden schmal. Als Kind hatte Mando von ihren Eltern ein paar Worte aufgeschnappt, aus denen sie geschlossen hatte, dass Vassiliki einst Bedienstete im Serail des Sultans gewesen sein musste. Vassiliki hatte dies immer als ausgemachten Unsinn bestritten. Sie sei direkt von ihrem Elternhaus in Nauplia vor 30 Jahren als Kindermädchen in die Dienste der Mavrojenous-Familie getreten. Wann sollte sie da Zeit gehabt haben in einem Harem zu dienen? Aber jedes Mal, wenn Mando die Dienerin ärgern wollte, kam sie auf das Thema zurück.

»Dein Türkischlehrer sollte dich über die Umstände in einem Harem informieren«, sagte Vassiliki jetzt, »dann würdest du wissen, dass eine Flucht ganz und gar unmöglich ist.«

»Und woher weißt du das so genau?«, erkundigte sich Mando.

Mando wunderte sich, dass es Pappas Mavros nicht eilig hatte, nach Tinos zurückzukehren und sich sogar bereit erklärte, beim Einladen des Hausrats in ein großes Khaiki zu helfen. Ihr Vater hatte sechzehn Jahre zuvor beim Umzug von Triest nach Paros sicher keinen Finger gerührt, aber Priester gehörten offensichtlich zu einer anderen Gattung Mann. Vermutlich trugen sie auch deshalb lange Röcke.

Sie selber hatte ihrer Mutter nur geholfen das kostbare Service, die Heiligenbilder und die Gläser einzupacken, der Rest wurde der Dienerschar überlassen. Die meisten Angestellten trugen eine Trauermiene, denn am Tag nach der Beerdigung war ihnen mitgeteilt worden, dass ihre Dienste nicht länger benötigt wurden.

Zakarati wollte nur Vassiliki, ihre persönliche Zofe Sophia, den Kutscher und die Köchin mit nach Tinos nehmen. Über Letztere hatte es mit der ältesten Tochter eine kleine Auseinandersetzung gegeben, da Irini keineswegs gewillt war ihrer eigenen Köchin zu kündigen. Zakarati hingegen schauderte bei dem Gedanken der bäuerlichen griechischen Kost ausgesetzt zu sein und machte schließlich den ganzen Umzug von der Mitnahme ihrer eigenen Köchin abhängig.

Irinis Mann Antonis fand eine salomonische Lösung. Da Zakarati und Mando ohnehin eine eigene Wohnung in seinem Herrenhaus beziehen würden, schlug er vor eine zweite Küche anzubauen, wo Zakaratis Köchin auf gewohnte Weise ihre italienischen und französischen Speisen zubereiten konnte. Mit einer gewissen Genugtuung verfolgte Mando die absurde Diskussion. Irini, die das Elternhaus nach ihrer Hochzeit vor acht Jahren verlassen hatte, schien vergessen zu haben, wie schwer es war, der Mutter etwas recht zu machen. Vielleicht versteht Irini jetzt, weshalb ich so oft die Geduld mit Mama verliere, dachte sie und wünschte, dass Marcus noch lange genug geblieben wäre, um die Auseinandersetzung mitzuerleben.

Selbst der Vater hatte es in den letzten Jahren aufgegeben, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln. Er hatte erkannt, dass so unterschiedliche Charaktere, wie die langsame, ängstliche Zakarati und die schnell aufbrausende und entschlossene Mando schwer zu vereinbaren waren.

»Wenn ich nicht genau wüsste, dass dich deine Mutter unter Schmerzen geboren hat, würde ich wetten, dass du Vassilikis Tochter bist«, hatte er oft scherzhaft geäußert. Der unausgesprochene Vorwurf, dass sie sich nämlich nicht ihrem Stand entsprechend betrage, traf Mando nicht, denn als Kind hatte sie sich oft vorgestellt Vassilikis Tochter zu sein. Wer hatte sie denn getröstet, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte oder zur Strafe in ein dunkles Zimmer gesperrt wurde? Wer hatte ihre heiße Stirn gekühlt, ihr Zimmer aufgeräumt, ihre Partei ergriffen, wenn die Hauslehrer ungerecht waren? Vassiliki war immer für sie da gewesen und der einzige Mensch, dem sie bedingungslos vertraute. Es berührte sie auch nicht, wenn sie von der Mutter gerügt wurde zu vertraulich mit dem Personal umzugehen, denn schon als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass dies erheblich mehr Vorteile mit sich brachte, als den von der Mutter gewünschten Abstand zu halten. Die Köchin steckte ihr Süßigkeiten zu, die Mägde wuschen ihre verdreckte Kleidung, bevor die Mutter merkte, dass sie wieder in den Booten am Hafen gespielt hatte, und der älteste Knecht hatte sie einmal heimlich zu seiner Familie nach Naoussa mitgenommen. Sie erinnerte sich immer noch gern daran, wie sie mit rotznasigen und zerlumpten Fischerkindern zum ersten Mal barfuß am Strand gespielt hatte und die Kinder sie mit einem Muschelkranz zur Königin krönten, weil sie so schönes Haar hatte und so feine Kleidung trug.

Sie stand am Fenster ihres ausgeräumten Mädchenzimmers, griff nach ein paar vergessenen Keksen auf der Fensterbank und warf sie auf die Gasse. Sie beobachtete, wie sich laut grunzend zwei Schweine um die Beute stritten, und winkte der Dienerin aus dem Nachbarhaus zu, die mit einem Eimer Schmutzwasser die Schweine auseinander trieb. Es war einer jener warmen Januartage, an denen es fast nach Sommer roch und man sich nicht vorstellen konnte, dass sich der Februar, meistens der kälteste und feuchteste Wintermonat, wieder von seiner ungemütlichsten Seite zeigen könnte. Überall flatterte Wäsche, selbst der Schrei der Esel klang froher, und zwischen dem satten Grün der Berge schimmerten die weißen Landhäuser, die im Sommer bewohnt waren, wenn Hitze und Nordwind die wohlhabenden Bürger aus der Stadt trieben.

»Warum kann ich nicht einfach allein auf Paros bleiben?«, sagte sie laut.

»Weil ein neues Kapitel in deinem Lebensbuch aufgeschlagen wird«, hörte sie die Stimme ihres Onkels hinter sich. Pappas Mavros stellte sich zu ihr ans Fenster und setzte den grünen Kasten, den er getragen hatte, auf der Fensterbank ab.

»Das kann auch auf Paros geschrieben werden«, erwiderte Mando trotzig. »Ich habe keine Angst hier vergiftet zu werden. Nur weil Mutter Gespenster sieht, muss ich mich meinem Schwager und meiner Schwester unterordnen!«

»Deine Trauer lässt dich undankbar werden«, schalt Pappas Mavros sanft.

Mando deutete auf den grünen Kasten.

»Was wird hiermit geschehen?«, wechselte sie das Thema.

Der Pope hob eine Augenbraue, eine Angewohnheit, die Mando schon als Kind vergeblich versucht hatte nachzuahmen.

»Kennst du den Inhalt?«, fragte er zurück.

Mando lachte.

»Eine Erinnerung an das erste und einzige Mal, dass mich mein Vater geschlagen hat, kurz nachdem wir aus Triest hierher gezogen sind.«

Sie erzählte, wie sie den grünen Kasten im Arbeitszimmer ihres Vaters entdeckt und aus Neugierde geöffnet hatte.

»Ich war erst sechs Jahre alt, aber ich wusste, dass ich zum ersten Mal dem lieben Gott wirklich ins Gesicht blickte«, sagte sie ernst. »Ich habe die Statue herausgenommen und bin sofort in mein Kinderzimmer gerannt. Dort stand das Puppenhaus, das mir Dimitri gebastelt hatte …«

»… und mit dem du zum Kummer deines Bruders nie gespielt hast«, nickte Pappas Mavros.

»Puppen waren tot für mich, ich habe nie verstanden, weshalb Mädchen solche reglosen Dinger an- und ausziehen«, fuhr Mando fort. »Aber diese Figur war nicht tot, sondern richtig lebendig … Es war der liebe Gott, der auf seinem Thron saß und über mich richtete. Ich musste ihn gnädig stimmen, ihm ein Haus schenken … ihm opfern … Die Haupthalle in meinem Puppenhaus ging über alle drei Stockwerke. Ich habe das gesamte Mobiliar herausgefegt und den lieben Gott da mitten hineingesetzt. Ich habe mir nur über eins Sorgen gemacht …«

»Dass er aufsteht und mit seinem Kopf gegen die Decke kracht?«, schlug Pappas Mavros leicht belustigt vor.

»Woher wissen Sie das? Dauernd habe ich damit gerechnet, dass er sich erhebt und seinen reich geschmückten Thron verlassen will, weil es nichts zu richten gibt. Aber es hat sich jemand ganz anderes erhoben.«

»Dein Vater.«

»Ja. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.«

»Du hast etwas genommen, was dir nicht gehörte.«

»Nein, das war es nicht. Es war viel schlimmer. Ich spürte, dass mein Vater Angst um die Figur hatte, so wie man Angst um einen Menschen hat.« Sie klopfte leicht gegen den Kasten. »Lassen Sie ihn mich noch einmal sehen, Pappas Mavros. Vielleicht verstehe ich heute, was damals vorgefallen ist.«

Der Priester zögerte einen Moment, stellte den grünen Kasten dann auf den Fußboden und öffnete das Schloss. Mando rutschte an der Wand zu Boden und sah gespannt, wie ihr Onkel die etwa 70 Zentimeter hohe Figur aus mehreren Stofflagen schälte und auf den Fußboden stellte.

»Denkst du noch immer, dies ist der liebe Gott?«, fragte er leise.

Mando schüttelte den Kopf. Sie war einen Moment sprachlos, spürte wieder die gleiche Ehrfurcht in ihr aufsteigen, die sie als Kind geleitet hatte dem lieben Gott ein Haus zu geben. Jetzt war sie einundzwanzig Jahre alt und es war ihre Kenntnis von Kunst und Kultur, die sie den Atem anhalten ließ. Vor sich sah sie eine mächtige, in sich ruhende Männergestalt, die auf einem Thron saß, die goldene Sandalen und einen Mantel mit einem Figuren- und Blütenmuster trug. Ein Kranz aus Ölzweigen krönte das Haupt und in der Linken hielt der Sitzende ein metallbeschlagenes Zepter. Mando erkannte die Nike in seiner rechten Hand. Auch diese Figur war aus Gold und Elfenbein gefertigt und ebenfalls bekränzt. Mit einem Finger näherte sich Mando Thron und Schemel, aber sie wagte es nicht, die plastisch gemalten und verzierten Figuren aus Holz, Elfenbein, Gold und anderem kostbaren Material, das sie nicht kannte, zu berühren.

»Zeus«, flüsterte sie. »Das Kultbild des Phidias.«

»Eine Nachbildung«, nickte Pappas Mavros, »wenn du genau hinsiehst, kannst du die Figurenfriese erkennen, da, der Tod der Niobekinder, hier oben an der Rückenlehne die Horen und Moiren, und schau, hier unten die goldenen Figuren auf dem schwarzen Stein, die Geburt der Aphrodite, die Götterschar …«

»Was stellt das hier dar?«, fragte Mando, die sich inzwischen der Länge nach auf den Fußboden gelegt hatte und ganz dicht an die Figur herangerutscht war.

»Die Amazonenkämpfe«, klärte Pappas Mavros sie auf, »sieh hier, am Fußschemel wird das Thema weiter verfolgt, hier ist Theseus der Vorkämpfer, kaum zu erkennen, auf dem zwölf Meter hohen Original sicher sehr beeindruckend. Mando, sieh mich an …«

Der Pope hatte sich vor die Figur gehockt, sein weites schwarzes Gewand fächerartig um sich ausgebreitet. Sein fahles langes Gesicht mit den intensiven, fast stechenden Augen erinnerte Mando an ein El-Greco-Gemälde.

»Ja?«, fragte sie.

»Hast du eine Ahnung vom Wert dieser Figur?«

»Von wann stammt sie?«, fragte Mando zurück.

»Das ist nicht wichtig«, erwiderte er, leicht ungehalten.

»Und ob das wichtig ist!«

Mando setzte sich auf und berührte ihren Onkel aufgeregt an der Schulter. »Das hier ist eine Nachbildung eines der sieben Weltwunder! Stellen Sie sich einmal vor, dieser Zeus stammte aus der Zeit, als das Kultbild noch nicht verschwunden war, eine wirkliche Nachbildung der richtigen Sache!«

»Mando, Mando«, seufzte der Pope. »Du musst doch gelernt haben, dass es keine derartige Figur gibt. Wir wissen nur aus den Schriften des Pausanias, wie der Zeus des Phidias ausgesehen hat, und irgendein Künstler unserer Zeit hat sich nach der Beschreibung gerichtet und eine recht gelungene Arbeit abgeliefert …«

»Aber vielleicht stammt es doch aus der Antike! Immer wieder taucht irgendwo eine griechische Skulptur auf, die irgendwo von irgendwem ausgegraben wurde, warum also nicht auch eine echte Kopie des Kultbildes?«

»Und so eine Kostbarkeit würde dann bei deinen Eltern in einem grünen Kasten aufbewahrt werden? Denk doch mal nach, mein Kind!« Er schüttelte den Kopf. »Du bist eine Schwärmerin, das hat dein Vater schon immer gesagt.«

»Hat er das? Und wofür habe ich seiner Meinung nach geschwärmt?«

»Für alles Unerreichbare.«

Ganz vorsichtig berührte Mando den Bart des Zeus. »Weiß man, wer die Figur gemacht hat? Wie sie in unsere Familie gekommen ist? Was sie wert ist?«

»Sie ist ganz bestimmt sehr wertvoll, denn Gold und Edelsteine sind echt, und das Elfenbein ist fein verarbeitet«, erwiderte der Pope. »Deshalb hat mich dein Vater in seinem letzten Brief auch gebeten sie so lange aufzubewahren, bis ich sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben kann.«

Mando blickte überrascht auf. »Sie gehört gar nicht uns?«

Pappas Mavros schüttelte den Kopf.

»Und wer ist der rechtmäßige Besitzer?«

Ein feines Lächeln spielte um die Lippen des Popen. Er ließ sich mit der Antwort Zeit.

»Der rechtmäßige Besitzer«, sagte er langsam, »kann seinen Anspruch im Augenblick nicht geltend machen, weil er sich in Gefangenschaft befindet.«

»Ein Geschäftspartner von Papa? Unterschlagung? Mord? Oder was hat er sonst getan?«

Vorsichtig wickelte Pappas Mavros die Figur wieder ein und legte sie zurück in den grünen Kasten. »Du gehst davon aus, dass er schuldig ist, ohne dass du die Tatsache kennst?«

»Ohne Grund sitzt man nicht im Gefängnis. Schon gar nicht so lange!«

Mit einem lauten Knall, der in dem leeren Zimmer wie ein Schuss klang, ließ Pappas Mavros das Schloss zuschnappen. »Ich freue mich darauf, dich in Tinos als Schülerin zu haben, Magdalini. Du musst noch eine Menge lernen.«

»Wollen Sie mir denn meine Frage nicht beantworten?«, fragte sie, leicht irritiert, dass er sie mit ihrem Taufnamen ansprach.

»Du kannst selber herausfinden, warum sich der rechtmäßige Eigentümer dieser Figur noch immer in Gefangenschaft befindet, und um wen es sich dabei handelt«, meinte der Pope und erhob sich mit knackenden Gelenken. »Ich werde dir ein Rätsel aufgeben: Der rechtmäßige Besitzer dieser Figur«, er deutete auf den wieder geschlossenen Kasten, »hat sich nicht genügend gewehrt, als eine Räuberbande in sein Haus einfiel. Er hat sich aus Dank für kleine Gnaden sogar in den Dienst des Räuberhauptmanns gestellt. Zum Teil aus Bequemlichkeit, zum Teil aus Dummheit und Geldgier hat er seine eigenen Ideale verraten, seine Familie verleugnet und sich schließlich der Resignation ergeben. Er war einst respekteinflößend und mächtig und ist heute arm, schwach und bemitleidenswert.«

»Lebt er noch?«, erkundigte sich Mando, während sie sich den Kopf zermarterte. Ihr Vater hatte zwar eine Menge seltsamer Geschäftsfreunde gehabt, aber sie konnte sich an niemanden erinnern, auf den diese Beschreibung passte.

Pappas Mavros' Lachen klang fast etwas bedrohlich.

»Er wird zur Zeit gewissermaßen wieder zum Leben erweckt! Komm, Kind, lass uns zum Boot gehen, sonst denkt deine Mutter noch, du willst sie ärgern.«