PHILEMON UND BAUCIS
»Es war einmal eine Mutter, die hatte fünf Kinder«, sagte Zakarati verbittert, als Mando ihr zum ersten Mal seit Jahren wieder gegenübersaß. »Dimitri und Irini sind tot, Antonio lebt mit seiner Familie im Ausland und hat seit sieben Jahren nichts mehr von sich hören lassen, Stefano ist verrückt geworden …«
»Wo steckt er überhaupt?«, erkundigte sich Mando, die nach der überstürzten Abfahrt ihres Bruders aus Nauplia erfahren hatte, dass die Nachricht von der schweren Krankheit ihrer Mutter auf einem Übermittlungsfehler beruhte. Zakarati erfreute sich bester Gesundheit.
»Wieder auf Paros«, beantwortete Zakarati Mandos Frage und schüttelte den Kopf. »Er behauptet, dass er sich dort vor den Mördern eures Vaters verstecke. Ausgerechnet da!«
»Wieso ausgerechnet da?«, fragte Mando neugierig.
»Weil die Leute von Paros deinen Vater umgebracht haben! Du wolltest es mir damals nicht glauben, aber ich bin ganz sicher, dass sie ihn wegen eines kleinen Stückchens Land, das er nicht verkaufen wollte, vergiftet haben. Dein Bruder …« Zakarati brach ab und schüttelte den Kopf.
»… glaubt, dass Vaters Tod etwas mit einem grünen Kasten zu tun hatte«, vollendete Mando den Satz und hakte gleich nach: »Wie ist dieser Kasten überhaupt zu uns in die Familie gekommen?«
»Das weiß ich nicht mehr«, gab Zakarati müde zurück. »Irgendwann hat ihn dein Vater aus Konstantinopel mitgebracht. Ich war froh, dass er nicht darauf bestand, die Figur aufzustellen. Sie war wirklich eine Monstrosität, eine teure und geschmacklose Arbeit. Ich habe sie gern Pappas Nikolaos Mavros überlassen und was dann aus ihr und dem Kasten geworden ist, weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht.«
»Aber wie kommt Stefano dann darauf, dass der Kasten etwas mit Vaters Tod zu tun hat?«
»Er hat sich in eine abenteuerliche Verschwörungstheorie verstiegen. Ich sagte dir ja, er ist verrückt geworden. Und du, du hast mich auch enttäuscht«, setzte sie leise hinzu.
Schon mein ganzes Leben lang, dachte Mando. Ob ich mich mit meiner Tochter verstehen würde?
Sie war erst seit einer Woche wieder auf Mykonos, aber einer ihrer ersten Wege hatte sie nach Alefkandra geführt. Sie wusste, dass Marmellakis dort in einem der Häuser direkt am Meer lebte, und sie hatte gehofft ihr Kind, das nach des Seeräubers Mutter auf den Namen Lambrini – die Strahlende – getauft worden war, wenigstens einmal von weitem zu sehen. Die Kleine war jetzt fast drei Jahre alt und Mando hatte geglaubt sie in einer Gruppe von Gleichaltrigen, die um die Weißwäscherinnen herumtobten, erkannt zu haben. Jedenfalls war nur ein Mädchen darunter, das genauso schwarzes und auffallend glattes Haar wie Marcus hatte. Außerdem schien dieses Mädchen eine Art Anführerin zu sein und trug einen Kranz aus knallroten Geranien im Haar.
Wenn die Gesetze nicht immer gegen mich gewesen wären, hätten wir eine glückliche Familie sein können, dachte Mando und verbot sich auf der Stelle jeden weiteren Gedanken an Marcus.
»Wenn du dich deiner Erziehung entsprechend benommen hättest, wäre dir Prinz Ypsilanti nicht davongelaufen«, klagte Zakarati. »Du hast keine Ahnung, was ich hier mitmachen muss! Die Leute zeigen mit Fingern auf mich und flüstern so laut, dass ich alles verstehen muss. Die Dinge, die sie über dich sagen …«
»Verleugne mich doch einfach«, sagte Mando, »das dürfte dir nicht schwer fallen, du hast mich ja nie gemocht.«
Sie stand auf. Es war ein Fehler gewesen, ihre Mutter zu besuchen, aber sie hatte in erster Linie Vassiliki den Gefallen tun wollen. Außerdem hatte sie gehofft von ihrer Mutter Aufklärung über den Ursprung des grünen Kastens zu erhalten. Vassiliki hatte sie bereits gelöchert, aber die Dienerin wusste nichts anderes zu erzählen, als dass der Kasten immer schon im Hause ihrer Eltern gewesen wäre. Inzwischen hatte sich Vassiliki auch längst eine Antwort auf die Frage zurechtgelegt, wo sie den aus Mandos Haus in Nauplia gestohlenen Kasten wieder aufgetrieben habe. Verwandte hätten ihr erzählt, dass die Mutter Gottes einem Bauern in der Nähe von Jannina eine Herrgottsfigur in einem grünen Kasten geschickt hätte. Aus Neugierde habe sie den Bauernhof aufgesucht, den grünen Kasten erkannt und in einem unbeobachteten Augenblick entfernt.
Bevor Mando das Haus ihrer Mutter verließ, rief sie noch ins Zimmer: »Wenn du nicht dafür sorgst, dass ich meine Diamanten wieder bekomme, werde ich dich verklagen. Das könnte für dich schlecht ausgehen, ich habe inzwischen nämlich juristische Erfahrung gesammelt.«
»Aber da du ja alle deine Prozesse verlierst, habe ich nichts zu befürchten«, hörte sie noch, ehe sie die Tür hinter sich zuschlug.
Mando gestand sich ein, dass sie mehr von ihrer Mutter erwartet hatte als nur Information über einen Kasten, der jetzt das Haus eines Seeräubers schmückte. Sie hatte gehofft, dass sie sich nach all den Jahren der Trennung wenigstens normal mit ihr würde unterhalten können. Wenn es Zakarati nur fertig gebracht hätte, ihr ein klein wenig Zuneigung entgegenzubringen! Sie erwartete kein Verständnis, nur ein bisschen Mitgefühl. Eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Jemand, der ihr zustimmte, dass das Leben ungerecht war, und der sie tröstete. Außer Vassiliki war ihr doch niemand mehr geblieben!
Mando war einsamer als je zuvor in ihrem Leben, unglücklich und verzweifelt. Sie hatte keine Hoffnungen mehr. Zornig wischte sie sich eine Träne von der Wange. Sie sollte inzwischen gelernt haben, dass sich die Menschen nicht verändern! Sie hatte von ihrer Mutter etwas erwartet, was diese nicht zu geben imstande war. Zakarati dachte nur an sich selber, hatte wahrscheinlich fünf Schwangerschaften auf sich genommen, um im Alter versorgt zu sein. Geschah ihr ganz recht, dass auch sie jetzt allein war.
Bevor sie Nauplia endgültig verlassen hatte, war Mando noch ein Gedanke gekommen, wie sie ihre Fähigkeiten nutzbringend einsetzen könnte. Nach dem Vorbild der französischen Salons hatte sie in ihrem Haus eine Art Begegnungsstätte einrichten wollen. Schließlich lebten sie in hochinteressanten Zeiten!
Nach dem russisch-türkischen Krieg war der Friede von Adrianopol unterzeichnet worden, in dem die Hohe Pforte das Erste Londoner Protokoll anerkannte. Dieses hatte die Errichtung eines autonomen Griechenlands innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches gefordert. Den Engländern aber gefiel es überhaupt nicht, dass sich Russland als Befreier Griechenlands aufspielte. Sie verfassten ein Zweites Londoner Protokoll, das Griechenland die volle Souveränität zusagte. Aus lauter Angst vor den Russen ließen sich die Türken das Diktat der Westmächte gefallen. Die Grenze des neuen griechischen Staates wurde gezogen, die im Norden vom Golf von Volos bis nach Arta verlief. Bis auf Kreta, Samos, Chios, viele andere Inseln, Makedonien, Epirus und den größten Teil Thessaliens war Griechenland jetzt also frei. Aber was sollte das Land mit seiner Freiheit anfangen? Ein Problem bestand auch darin, dass den Griechen keines ihrer wichtigen Handelszentren zugesprochen worden war, sondern diese immer noch zum Osmanischen Reich gehörten. Nicht nur auf der Landkarte, auch in den Köpfen herrschte ein gehöriges Durcheinander und kaum jemand konnte dabei noch die Übersicht bewahren. Grund genug, fand Mando, einen Salon einzurichten, in dem sich die gebildete Oberschicht über die Zukunft von Hellas den Kopf zerbrach und wo Ideen zur Gestaltung des neuen Staates geboren werden konnten.
Die Schutzmächte hatten darauf bestanden, Griechenland in eine Erbmonarchie zu verwandeln. Gesucht wurde ein König, am besten einer aus einem neutralen Reich, damit sich die Alliierten nicht in die Haare gerieten.
Ein Prinz aus deutschen Landen schien die beste Lösung zu sein und alle Beteiligten hatten sich auf Prinz Leopold von Sachsen-Coburg geeinigt. Der sagte zunächst zu, lehnte dann aber ohne Angabe von Gründen dankend ab. Es wurde gemunkelt, dass Kapodistrias dabei seine Hände im Spiel gehabt haben soll. Aus Angst vor eigenem Machtverlust sollte er Prinz Leopold zugeraunt haben, die Lebensfähigkeit des neuen Griechenreiches sei höchst fragwürdig. Prinz Leopold ließ sich dann doch lieber die belgische Königskrone aufsetzen. Also sah man sich zurzeit unter den deutschen Prinzen nach einem neuen Kandidaten für das Königsamt um.
Mando hatte viel Geld für die Umgestaltung ihres Empfangsraums, für elegante Häppchen und Getränke und das Verschicken der Einladungskarten zur ersten Zusammenkunft in ihrem Salon ausgegeben. Dafür hatte sie wieder einmal von dem wenigen Schmuck, der ihr geblieben war, verkaufen müssen. Als der Tag kam, stand Jorgo parat, um den Besuchern die Tür zu öffnen, und Poppy, um die Tabletts herumzureichen. Mando saß in ihrem neu geschneiderten Kleid auf dem Sofa und wartete aufgeregt auf ihre Gäste. Niemand hatte abgesagt.
Gegen Mitternacht musste sie sich eingestehen, was die Uhr geschlagen hatte: Niemand war gekommen. Mando Mavrojenous war nicht einmal eine Absage wert. Sie flüchtete am nächsten Tag nach Mykonos.
Und jetzt war sie aus dem Haus ihrer Mutter geflüchtet. Kalo Livadi, dachte Mando, ich muss irgendwohin gehen, wo ich glücklich gewesen bin. Vielleicht finde ich da am Strand etwas, das mich an gute Zeiten erinnert. Vielleicht sehe ich die Yaludes und kann endlich wieder tanzen.
Da ihr Pferd längst verkauft war, lieh sie sich einen Esel und ritt in Richtung Ano Mera. Alle Knochen taten ihr weh, als sie nach über einer Stunde von dem schaukelnden störrischen Tier stieg und es an einem Baum nahe jener Hütte band, in der sie so unvergessliche Stunden erlebt hatte. Sie blickte aufs Meer und lächelte versonnen, als sie die Felsengruppe im Wasser sah, die einst in ein mit Dampf betriebenes Kriegsschiff verwandelt worden war, um die Türken zu vertreiben.
Damals war sie noch jemand gewesen! Hunderte von Menschen hatten ihre Anordnungen befolgt, sie war bejubelt und geachtet worden. Jung war sie gewesen, schön und von allen Männern begehrt. Auf Händen hatte man sie getragen und an ihren Lippen hatte man gehangen. Sie war die Heldin von Mykonos gewesen! Ein Generalleutnant der griechischen Armee! Wo war das alles geblieben?
»Du voran, Mando«, sang sie den alten Schlachtruf, als sie sich der Hütte näherte.
Überrascht blieb sie stehen. Sie hatte erwartet ihr altes Liebesnest halb verfallen und von verwilderten Ranken überwuchert vorzufinden. Stattdessen erblickte sie einen relativ gepflegten Gemüsegarten und eine offensichtlich frisch geweißte Hütte. Das einzige Fenster verfügte jetzt sogar über zwei blau gestrichene Fensterläden.
Sie war enttäuscht.
Marcus musste Land und Gebäude an den Bauern zurückgegeben haben. Wahrscheinlich übernachtete der Mann manchmal dort, wenn er seine Tiere auf den Hängen von Kalo Livadi weiden ließ.
Mando schlug mit der Hand gegen die Tür. Marcus hätte die Hütte niederreißen sollen! Unerträglich, dass der kleine Raum durch einen anderen Menschen entweiht wurde! Aber der Bürgermeister von Paros hatte natürlich anderes zu tun, als sich über eine bescheidene Hütte im mykoniatischen Kalo Livadi den Kopf zu zerbrechen.
Die Tür hatte nachgegeben und sich einen Spalt geöffnet. Mit dem Fuß stieß Mando sie ganz auf und blieb starr vor Staunen stehen.
Das Bett stand da wie immer, etwas Sand war in die Hütte geweht, ein paar Käfer krabbelten umher und in den Ecken gingen Spinnen ihrer Beschäftigung nach. Im Kamin befanden sich noch Spuren eines Feuers und in der Wandnische lag neben der Öllampe ein kleines ledergebundenes Büchlein. Es glitt ihr aus der Hand, als sie danach griff und fiel aufgeschlagen auf den Boden. Sie hob es auf, und ihr Blick fiel auf die überaus vertrauten Worte:
»Und doch in deinem Leid, wie bist du
schön,
Verschwund'ner Götter, toter Helden Land;
Es künden grünes Tal und schneebedeckte Höh'n,
Dass die Natur als ihren Liebling dich erkannt …«
Tränen stürzten ihr aus den Augen, als sie sich auf das Bett fallen ließ. Es war das Buch, das sie einst Marcus geschenkt hatte. Konnte es sein, dass … Nein, sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er war auf Paros, verheiratet, wahrscheinlich Familienvater, ein wichtiges Glied der Gemeinde und hätte schon deshalb überhaupt keine Zeit sich ein solches Refugium in Mykonos zu erhalten. Er hatte das Buch einfach hier vergessen und der Bauer hatte es aus Respekt vor dem gedruckten Wort liegen lassen.
Sie wischte sich die Augen, trat wieder vor die Tür und sah erst jetzt die beiden Olivenbäume, die neben der Steinbank standen. Sie waren noch jung, höchstens drei Jahre alt, aber diese Bäume würden sie, Marcus und Lambrini überdauern.
Vielleicht hat Marcus sie ja gepflanzt, dachte sie, zur Erinnerung an unsere Liebe. Die beiden Bäume sind wir, Philemon und Baucis, die den Göttern Gastfreundschaft gewähren. Wir haben zwar nicht Zeus und Hermes, dafür aber Amor und Cupido bewirtet, und damals waren sie uns günstig gesinnt. Bei den griechischen Göttern waren Liebesbeziehungen unter Verwandten schließlich ganz normal.
Sie blickte vorbei an Naxos zu der Stelle, wo sich ein Zipfel von Paros erahnen ließ.
»Marcus!«, brüllte sie so laut sie konnte.
Ihr Wellen, tragt meine Stimme hinüber zu ihm, dachte sie, Wind, tue deine Arbeit, lass ihn mich noch einmal hören!
Es würde eine Neumondnacht werden, also brauchte sie mit den Yaludes nicht zu rechnen. Trotzdem ging sie hinunter an den Strand, zog sich den langen Rock aus und rannte nur mit Hemd und langer Unterhose bekleidet über den Strand. Egal, wenn jetzt der Bauer käme. Sie brauchte das Gefühl von Freiheit und im Laufen löste sie sich die Haare.
Sie war – eine alte Jungfer, würde ihre Mutter sagen – beinahe Mitte dreißig, aber sie fühlte sich genauso jung wie damals auf dem Treppenabsatz in Irinis Haus auf Tinos, als Marcus sie zum ersten Mal an jener Stelle berührt hatte, die noch niemand zuvor angefasst hatte. Die Erinnerung ließ sie wohlig erschauern. Vielleicht sollte sie die alte Gewohnheit wieder aufnehmen, nachts mit den Händen zwischen den Beinen einzuschlafen. Einen Mann würde es in ihrem Leben wohl nie wieder geben.
Erst gegen Einbruch der Dämmerung bestieg sie den Esel und kehrte nach Mykonos-Stadt zurück. Wenigstens habe ich einen Ort auf der Welt, wo ich mich wohl fühle, dachte sie, wenn nur der Bauer nie da ist, wenn ich komme! Ich könnte das Kreuz meines Vaters verkaufen und dafür Land und Hütte erwerben, überlegte sie. Sie begann zu lachen, bis Tränen auf den Rücken des Esels tropften.
Die Frau, die in der ganzen Welt als die Heldin von Mykonos bekannt geworden war und in Frankreich, wie sie wusste, sogar schon als lebende Legende galt, die Frau, die eine türkische Armada vertrieben hatte, mit einem Prinzen verlobt gewesen war und mit den Großen der Welt getafelt und korrespondiert hatte, überlegte, ob sie es sich leisten könnte, eine hühnerstallgroße Hütte auf ihrer Heimatinsel zu erwerben!
Dass viele bedeutende Leute nach ihrem Tod der Vergessenheit anheim fallen, ist wohl normal, dachte sie, Geschichte hat eben ein selektives Gedächtnis. Aber dass jemand, der Wichtiges in seinem Land bewirkt hat, als noch nicht einmal alter Mensch von der gesamten Umwelt ignoriert wird, ist schon seltsam. Auf den einfachen Spruch, dass Undank der Welt Lohn sei, wollte sich Mando nicht zurückziehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben suchte sie die Schuld bei sich. Irgendwann hatte sie eine falsche Entscheidung getroffen, den verkehrten Weg eingeschlagen.
Marcus, dachte sie, aber kann etwas, das so viel Glück gegeben hat, wirklich falsch gewesen sein? Nein, ihr Fehler lag woanders: Sie hatte zu viel gewollt, Liebe, Macht, Ruhm, Reichtum und nie daran gezweifelt, dass ihr dies alles zustand. Ich bin sogar noch schlimmer als meine Mutter, dachte sie, Zakarati bewegte sich ausschließlich innerhalb der streng gezogenen Grenzen ihrer Klasse, während sie selber alle Tabus durchbrochen und trotzdem gesellschaftliche Anerkennung gesucht hatte. Mein ganzes Leben lang habe ich Rollen gespielt, dachte sie, die Rolle der aufmüpfigen Tochter aus gutem Haus, die Rolle der gelehrigen Schülerin, die Rolle der Heldin, die Rolle der Verführerin, die Rolle der Verlobten und die Rolle der zu Unrecht Verlassenen. Wer hat sich hinter all diesen Rollen versteckt? Wer ist Mando Mavrojenous wirklich? Wann habe ich nicht Theater gespielt? Wenn ich mit Marcus zusammen war. Aber Marcus gibt es in meinem Leben nicht mehr.
Vassiliki fand es erstaunlich, dass sich Mando auf einmal mit ihrem Los abgefunden zu haben schien. Der erwartete Anfall von Melancholie blieb aus, stattdessen stürzte sich Mando auf Projekte der Nächstenliebe. Sie besuchte Arme und Kranke, fand es nicht mehr unter ihrer Würde, der immer älter und schwächer werdenden Vassiliki im Haushalt zu helfen und richtete ein kleines Büro ein, wo sie den des Lesens und Schreibens Unkundigen Briefe vorlas und schrieb. Das brachte sie auf die Idee eine kleine Schule für die Kinder der Insel zu gründen. Der Gedanke, dass ihre eigene Tochter als Analphabetin durchs Leben gehen würde, gefiel ihr gar nicht. Sobald Lambrini alt genug war, würde Mando eine Dorfschule eröffnen, und dann hätte sie Gelegenheit das Kind ihrer Liebe kennen zu lernen.
Aber für diesen Plan brauchte sie Geld. Da seit ihrer Rückkehr nach Mykonos das Taschengeld der Regierung ausgeblieben war, sah sie sich gezwungen, wieder nach Nauplia zu reisen. Sie hatte unzählige Briefe an Kapodistrias und beinahe alle Minister geschrieben, um die zugesagte Unterstützung gebeten und immer mit ›die Patriotin Mavrojenous‹ unterzeichnet. Auf Antwort wartete sie vergebens. Mando Mavrojenous spielte keine Rolle mehr.
»Ich werde wieder betteln gehen müssen«, sagte sie eines Abends zu Vassiliki, nachdem sie von einem Besuch in Kalo Livadi zurückgekommen war. Sie hatte sich angewöhnt mindestens einmal wöchentlich zur Hütte zu reiten. Stundenlang saß sie dann im Schatten von Philemon und Baucis auf der Steinbank vor dem Häuschen und schaute übers Meer. Anfangs hatte sie noch über ihr Leben, die Vergangenheit und Zukunft, über Marcus, Ypsilanti und Lambrini nachgedacht, später merkte sie, dass es ihr viel besser tat, an gar nichts zu denken.
Welch ein Luxus, dachte sie manchmal, ich kann es mir erlauben, stundenlang aufs Wasser zu schauen und meinen Kopf ganz leer zu halten. Hinterher fühlte sie sich jedes Mal seltsam erfrischt.
An diesem schönen Sommertag aber war sie zum Strand hinuntergegangen, hatte all ihre Kleider abgestreift und genau an der Stelle niedergelegt, wo sie viele Jahre zuvor zum ersten Mal Marcus umarmt hatte. Sie stürzte sich ins Wasser, schwamm weit hinaus und blickte immer wieder hinter sich zu den Hügeln von Kalo Livadi. Wenn jetzt nur wieder der einsame Reiter käme! Aber er war Bürgermeister auf Paros und würde sich nie wieder mit ihr am Strand wälzen.
Als sie aus dem Wasser stieg, legte sie sich auf ihre Kleider und ließ sich von der Sonne erwärmen. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie und unwillkürlich griff sie sich zwischen die Beine. Sie stellte sich vor, wie Marcus' langes glattes schwarzes Haar ihre Brüste streichelte, seine Zunge erst ihren Mund erforschte und ihr dann wieder sein Zeichen einbrannte. Sie vermeinte die Schwere seines Körpers zu fühlen und spürte die Hitze dort, wo lange kein Feuer mehr gebrannt hatte.
»Marcus!«, schrie sie wieder dorthin, wo der Zipfel von Paros im Dunst verborgen lag. Ein Zittern führ durch ihren Körper. Sie setzte sich rasch auf, blickte sich erschrocken um und atmete erleichtert aus. Es war kein Mensch im Tal. Leider.
Die neue Mando forderte nicht mehr. Sie bettelte.
Voller Misstrauen musterte Zakarati die Tochter, die ihr immer fremd geblieben war, deren renitente Arroganz sie hingegen nur zu gut kannte. Aber Mandos Überheblichkeit hatte einer milden Demut Platz gemacht, die Zakarati beunruhigte. Bescheiden hatte Mando ihre Mutter um einen Zuschuss für die Reise nach Nauplia gebeten.
»Ich muss jede Münze umdrehen«, wies Zakarati sie ab.
»Bitte, Mutter, ich brauche ja nicht viel …«
»Du hast deine ganze Aussteuer verschleudert. Jetzt musst du die Konsequenzen tragen.«
»Dann gib mir bitte wenigstens das Geld, das du für meine Diamanten gekriegt hast. Oder die Diamanten, falls du sie nicht verkauft hast.«
Ein böses Glitzern erschien in Zakaratis Augen, als sie nur sagte: »Verklag mich doch!«
Mando stand auf, packte den Stuhl bei der Lehne und stellte ihn mit einem lauten Knall auf den Holzboden.
»Genau das werde ich tun! Und dann wirst du auch noch Strafe obendrauf bezahlen!«
Ohne sich zu verabschieden, verließ sie das Haus ihrer Mutter.
Zakarati blickte ihr zufrieden nach. So kannte sie ihre Tochter.
Kalo Livadi, dachte Mando, ich werde Philemon und Baucis besuchen und an nichts denken. Für die meisten Probleme findet sich eine Lösung, wenn man nicht zu intensiv über sie nachdenkt.
Aber als sie auf der Steinbank saß, konnte sie sich das Denken nicht verbieten. Sie blickte übers Meer, sah am Horizont ein kleines Boot und dachte an Zeiten, in denen sie genug Geld gehabt hatte ganze Kriegsschiffe auszurüsten. Genau darum bin ich jetzt arm, überlegte sie.
Vielleicht half es, wenn sie sich auf das Bett legte und ein bisschen schlief. In den vorangegangenen Nächten war sie kaum zur Ruhe gekommen, weil sie immer wieder über ihre Geldsorgen nachgedacht hatte.
Hoffentlich kommt der Bauer nicht, dachte sie noch, bevor sie einschlief. Der Mann musste in der vergangenen Woche in der Hütte gewesen sein, denn die fadenscheinige Decke war durch eine dicker gewebte in bunten Farben ausgetauscht worden. Außerdem war der Garten versorgt und das Öl in der Lampe nachgefüllt worden.
Der Mann, der sein Boot auf den Strand zog, sah schon von weitem, dass die Hüttentür offen stand. Endlich, dachte er, endlich. Trotzdem blieb er noch einen Augenblick am Strand stehen und sah hinüber zu der Insel, von der er am Morgen weggesegelt war. Noch konnte er umkehren. Sein Leben war friedlich und beschaulich geworden, ein kleines Glück, wie er es nannte. Wenn er ehrlich mit sich selber war, was ihm in diesen Zeiten schwer fiel, gab er ihm auch einen anderen Namen: Einsamkeit.
Aber er glaubte, dass es ihm gelungen sei, das ganz große Gefühl, das einst sein Herz und sein Leben beherrscht hatte, tief in seinem Innern zu begraben. Wenn es gelegentlich nach oben zu kriechen drohte, nahm er sein Boot und fuhr nach Kalo Livadi. Er redete sich ein, dass er dort nach seinem Gärtchen und dem Haus sehen müsste, aber er kam sich dabei vor wie ein Katholik, der ein Grab pflegte.
Das erste Anzeichen von anderem Leben war ihm wenige Monate zuvor aufgefallen. Byrons Buch hatte nicht an seinem gewohnten Platz in der Nische gelegen und jemand hatte Sand und Käfer aus der Hütte gefegt. Er stellte sich vor, einfach in der Hütte wohnen zu bleiben, bis sie wiederkäme. Nie wäre es ihm eingefallen, sie in Mykonos-Stadt zu besuchen, aber die Hütte war etwas anderes. Sie war eine Welt für sich. Dort war er ein junger Mann, in Liebe zu seiner Cousine entbrannt.
Seine Frau wusste, dass er um die Zeit des Vollmondes regelmäßig seinen Besitz in Mykonos inspizierte und manchmal ein paar Tage dort blieb. Sie konnte nicht wissen, dass er nachts in Kalo Livadi auf einer Steinbank saß, auf den Strand blickte und jeden Augenblick damit rechnete, dass dort ein Mädchen einen wilden Tanz aufführen würde.
Irgendwann würde sie sich wieder bei den Yaludes einreihen wollen und dann müsste er ihr abermals das Leben retten. Jetzt aber war sein eigenes beschauliches Leben in Gefahr geraten und wenn er vernünftig wäre, würde er sich sofort wieder in sein Boot setzen und nach Paros zurücksegeln. Er wollte aber nicht vernünftig sein!
Sie hatte ihr europäisches Gewand ausgezogen, trug nur ein dünnes Unterkleid und lag mit angewinkelten Beinen halb auf der Seite. Sie atmete regelmäßig. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, setzte er sich auf den Bettrand. Mando bewegte sich, streckte ein Bein aus und stieß ihn in die Seite. Ein Lächeln flog über sein Gesicht.
Typisch Mando, dachte er, die erste Berührung nach Jahren ist ein Tritt! Er griff nach der schmalen weißen Fessel. Mando stöhnte leise, hielt die Augen aber fest geschlossen. So wie er es damals in Irinis Haus getan hatte, fuhr er mit der Hand blitzschnell die Innenseite ihres Beins hinauf, hielt aber vor dem Eingang zum Paradies inne und zog die Hand weg.
»Ich gehöre dir, Marcus«, flüsterte Mando, und dann erst machte sie die Augen auf.
Sie schloss sie sofort wieder.
»Geh nicht weg, Traum«, murmelte sie.
Er stand auf, zog sich schnell aus und stieg ins Bett. Behutsam und unendlich langsam legte er sie auf den Rücken, streckte sie aus und schälte sie wie eine Puppe aus dem Unterkleid. Dabei versuchte er ihre Haut nicht zu berühren. Als sie, immer noch regelmäßig atmend, nackt vor ihm lag, sog er den Atem durch die Zähne ein. Nein, es war ihm ganz und gar nicht gelungen, das große Gefühl für alle Zeiten zu verbergen!
Marcus sah nicht die Spuren der Schwangerschaft, über die sich Dimitri so abfällig geäußert hatte, er sah Aphrodite. Noch nie hatte er sie so begehrt. Er beugte sich über sie und umkreiste ihre Brustwarzen mit der Zungenspitze. Er drückte seine Hände fest aufs Bett, damit sie bloß nicht auf die Idee kämen, die prallen Früchte sofort zu ergreifen. Er war nicht Tantalus, er würde erlöst werden. Als seine Zunge den Bauch hinuntergewandert und bei dem dichten Busch angekommen war, bewegten sich Mandos Beine leicht auseinander. Sanft nahm er ihre Hand weg, die sich zu jener Quelle hingeschoben hatte, aus der er sich laben wollte. Sie stöhnte und murmelte seinen Namen. Er hob den Kopf und sah, dass ihre Augen immer noch geschlossen waren. Vorsichtig rutschte er aufwärts und glitt mühelos hinein ins Paradies. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht mit groben harten Bewegungen die Einsamkeit der vergangenen Jahre aus sich herauszustoßen. Er passte sich dem langsamen Rhythmus der Wellen an, die gegen den Strand schlugen und hätte ewig so weiterreiten können, wenn Mando nicht die Augen geöffnet hätte.
»Du bist es wirklich«, sagte sie, schlang die Arme um ihn, krallte ihre Fingernägel in seinen Rücken und gab ihm die Sporen.
»Ich weiß, dass du nicht geschlafen hast«, sagte er, als er ihr hinterher einen Becher Wasser reichte.
»Mit solchen Träumen würde ich gern den Rest meines Lebens verschlafen«, gab Mando zurück und strich sanft über die Falten neben seinen Mundwinkeln.
»Wir sind die zwei Hälften, die einst auseinander geschnitten wurden und ein ganzes Leben brauchen, um wieder zueinander zu finden«, sagte sie und schmiegte sich so dicht an ihn, das nicht einmal eine der winzigen roten Ameisen, die inzwischen Marcus' Proviantbeutel entdeckt hatten, dazwischen gepasst hätte.
»Schwimmen?«, fragte er und blickte sie verwegen an.
Nackt liefen sie Hand in Hand aus der Hütte den Hang hinunter zum Strand und stürzten sich in die Wellen. Sie ließen sich am Strand von der Sonne trocknen und nachdem sie sich unter freiem Himmel wieder geliebt hatten, wuschen sie lachend den Sand vom Körper und zogen sich in ihre Hütte zurück. Beide vermieden es, über Vergangenheit oder Zukunft zu reden, es gab keine griechische Revolution, keine Geldsorgen, keinen Ypsilanti, keine Ehefrau, die Welt bestand nur aus den beiden Liebenden in Kalo Livadi. Später saßen sie in die bunte Decke gehüllt auf der Steinbank.
»Beschützt von Philemon und Baucis«, meinte Mando und deutete auf die beiden Olivenbäume.
Marcus nickte. »Genau daran habe ich gedacht, als ich sie gepflanzt habe. Es war wie ein Tribut an unsere Liebe.«
Marcus Mavrojenous, der Bürgermeister von Paros, und seine Ehefrau Anna geben dem ehrenwerten Monsieur Elitis ein Bankett …
»Warum?«, flüsterte Mando und weil er wusste, was sie meinte, schwieg er.
Der Vollmond spiegelte sich im Wasser und Mando hörte wie von fern den Klang einer Musik, die sie nur einmal zuvor vernommen hatte.
»Marcus!« Sie griff nach seiner Hand. »Schau, die Yaludes!«
Mando kniff die Augen zusammen, konnte die Silhouetten der tanzenden Frauen am Ufer nur undeutlich erkennen, hatte das Gefühl, durch sie hindurch das glitzernde Meer zu sehen. Sie wollte sich losreißen, aber Marcus hielt ihre Hand in einem Eisengriff fest.
»Vergiss die Yaludes«, sagte er, »ich bin doch hier!«
Er drehte ihren Kopf zu sich und küsste sie hart auf die Lippen. Als sie wieder zum Wasser blickte, war die Erscheinung verschwunden.
»Schade«, murmelte sie, »ich hätte so gern einmal wieder getanzt.«
Zwei Tage und zwei Nächte verbrachten sie in der Hütte. Dann war es Zeit für Marcus, die Segel zu setzen.
»Ich muss nach Nauplia«, teilte er ihr mit, »es gibt Ärger …«
»Nauplia!«, unterbrach sie ihn. »Da muss ich auch hin!«
»Nein, Mando«, sagte er leise, »so einfach geht das nicht …«
Schnell setzte sie ihn ins Bild, versprach ihm nicht lästig zu fallen, aber er möge sie bitte mitnehmen, sie wisse sonst nicht, wie sie an ihr Geld kommen könnte.
»Du und das Geld«, stöhnte er, versprach aber, sie und Vassiliki in zwei Tagen am Hafen von Mykonos abzuholen.
Mando war überglücklich. Sie hatte nicht nur eine Möglichkeit gefunden nach Nauplia zu reisen, sondern würde dabei auch noch von dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben begleitet werden!
»Was für einen Ärger gibt es denn?«, wollte sie von Marcus wissen, nachdem sie ihn abgeküsst hatte.
»Miaulis. Der englandfreundliche Admiral hat sich zusammen mit den Rebellen von Hydra gegen Kapodistrias erhoben, versucht das Arsenal der Marine zu erobern und wird demnächst wahrscheinlich unsere Flotte versenken.«
»Was!«
»Du hast dich in letzter Zeit wohl nicht viel mit dem Geschehen in unserem Land beschäftigt?«
Entgeistert schüttelte Mando den Kopf.
»Dann kann ich dir nur sagen, dass sich dein Freund Kapodistrias überall Feinde gemacht hat. Der gute Diplomat kümmert sich zu sehr um die Auslandskontakte und hat sich trotzdem bei England und Frankreich unbeliebt gemacht. Er herrscht zu autokratisch und unterdrückt die letzten Spuren von Selbstverwaltung. Ist dir klar, Mando, dass die Gemeinden unter den Türken fast mehr Selbstständigkeit hatten?«
»Paros ist also unzufrieden mit unserem Ministerpräsidenten«, bemerkte Mando spitz.
»Nicht nur Paros. Und nicht nur die Inselaristokraten. Beinahe alle ersten Familien des Landes. Auch die liberalen Intellektuellen. Die landlosen Bauern. Er ist der falsche Mann für unser Land.«
»Er hat mit dem Piratenwesen ganz gut aufgeräumt«, verteidigte Mando ihren alten Freund, »er richtet Schulen ein und hat die Verwaltung in Ordnung gebracht …«
»Ihm fehlt die Übersicht«, unterbrach Marcus, »er ist etwas zu selbstherrlich.«
»Und was ist mit Kolokotronis?«, erinnerte sie an den markanten Krieger mit dem langen weißen Haar.
»Er ist Kapodistrias Freund und treu wie Gold, natürlich. Jannis Kolettis tut alles, um ihn in Misskredit zu bringen. Auch der Herr, dessen Namen ich deinen Ohren nicht zumuten will, unterstützt Kapodistrias und tut viel Gutes für unser Land. Aber es schwelt ein Bürgerkrieg und darum muss ich nach Nauplia.«
»Nur um dein Ohr an den Puls der Zeit zu legen?«
»Du traust mir wohl gar nichts zu?«
»Doch«, sagte sie leise. »Alles. Wenn wir nur zusammen sind.«
Marcus hatte Recht gehabt. Admiral Miaulis war es tatsächlich gelungen, am 13. August bei Poros die Regierungsflotte in die Luft zu jagen. Wie viel Wut muss in diesem Mann gesteckt haben, fragte sich Mando, die sich jetzt darüber ärgerte, dass sie so viele wichtige Entwicklungen verpasst hatte. Wie konnte es sein, dass zwei so großartige und befähigte Männer nicht an einem Strang zogen, um Griechenland zu neuer Blüte zu bringen? Wie sollte das Land jemals wirklich unabhängig sein können, wenn sich seine bedeutendsten Führer freiwillig den Großmächten auslieferten und deren Zwistigkeiten auf dem Rücken des griechischen Volkes austrugen? Gut, als Ibrahim Pascha durch das Land tobte, hatte auch sie die Hilfe des Auslands ersehnt und gefordert, aber jetzt war der türkisch-ägyptische Alptraum vorbei, und Hellas sollte eigentlich kein Kindermädchen mehr brauchen.
Als Erstes suchte sie in Nauplia ihr altes Haus auf. Zu ihrer Überraschung öffnete Poppy die Tür. Hinter ihr sah sie Aristoteles Vlachos im Flur.
»Wohnt ihr alle noch hier?«, fragte Mando.
»Und noch eine Person mehr«, meinte Vlachos und hob ihr einen Säugling entgegen.
Poppy führte sie in den Salon, setzte sich dann ebenfalls auf einen Sessel und berichtete. Nach Mandos Auszug hatte das Trio ausgerechnet, dass es die Miete für das Haus zusammen bezahlen könnte. Poppy, die von Jorgo schwanger war, brauchte einen Ehemann und als solcher hatte sich Aristoteles Vlachos angeboten.
Mando blieb der Mund offen stehen.
»Meine ehemalige Frau hat nämlich einen Weg entdeckt, wie sie nach den neuen Gesetzen doch Geld von mir verlangen kann«, erklärte Vlachos, »nur, wenn ich eine neue Familie zu ernähren habe, gibt es eine Möglichkeit, ihren Forderungen zu entkommen.«
»Es hat sich also nichts geändert«, meinte Poppy fröhlich, »außer, dass ich verheiratet bin und ein Kind habe.«
»Verheiratet nur auf dem Papier«, brummte Vlachos.
Besorgt sah Poppy ihre frühere Herrin an.
»Finden Sie das sehr unmoralisch?« Keineswegs, versicherte Mando, sie werde es ihr sogar beweisen, indem sie zwei Zimmer im Haus zu mieten wünsche.
»Die haben wir noch«, meldete sich Vlachos.
Habe ich wirklich einmal geglaubt, dass mich dieser Hanswurst vor Gericht vertreten könne, fragte sich Mando. Ich muss ziemlich verzweifelt gewesen sein. Das wäre sie wahrscheinlich immer noch, wenn sie Marcus nicht bei sich gehabt hätte.
Dieser war nicht nur über das heruntergekommene Domizil entsetzt, sondern auch darüber, dass er sich mit Mando ein Zimmer teilen sollte. Vassiliki stimmte zu.
»Mein Hühnchen, das geht wirklich nicht! Marcus ist verheiratet!«
»Das weiß doch niemand in Nauplia. Hier kennt man ihn als meinen Adjutanten.«
»Ein Grund mehr, dass er nicht in deinem Zimmer schlafen kann.«
»Vassiliki, das wird doch niemand außer uns wissen!«
Letztendlich einigten sie sich darauf, dass offiziell Mando und Vassiliki in einem und Marcus im anderen Zimmer schlafen würde. Da es sich um die Dachkämmerchen handelte und Vassiliki Poppy versprochen hatte alles selber in Ordnung zu halten, konnten Marcus und Mando jede Nacht ungestört zusammen verbringen. Das Schlüsselloch hatten sie zugestopft und an die Türränder Stoff geklebt.
Auch Marcus schaffte es nicht, dass Mando beim Innenminister vorgelassen wurde. Aber er riet ihr, Ministerpräsident Kapodistrias beim Kirchgang aufzulauern.
»Sobald er dich erkannt hat, wird er dir auch zuhören. Er hat damals dafür gesorgt, dass du Geld gekriegt hast, und er wird dir wieder helfen«, meinte er.
Da sie sich noch gut daran erinnern konnte, dass der Graf eine elegante Erscheinung zu würdigen wusste, richtete sie sich am Morgen des 9. Oktober 1831 besonders sorgfältig her. Erst als jedes Löckchen saß und jede Falte richtig fiel, machte sie sich zusammen mit Marcus auf den Weg zur Kirche des Heiligen Spiridion.
»Am besten du wartest am Eingang«, flüsterte ihr Marcus zu, der einen Bekannten entdeckt hatte, mit dem er sich rasch im Kafenion gegenüber verabredete.
»Auch wieder in Nauplia?«, hörte sie eine etwas spöttische Stimme. Sie wandte sich um und blickte in die Augen eines der Mavromichalis-Brüder.
»Guten Tag«, erwiderte sie steif und blickte wieder geradeaus.
Eine Männergruppe näherte sich, aus der Kapodistrias herausragte.
Mando ging auf ihn zu.
»Graf!«, rief sie. Er trat aus der Gruppe heraus. In dem Moment wurde neben ihr ein Schuss abgefeuert. Mando schrak zusammen. Sie blickte von der rauchenden Pistole in Konstantin Mavromichalis Hand in die Augen von Kapodistrias, in denen sich Überraschung und Trauer widerspiegelten. Dann fiel noch ein Schuss. Diesmal aus der Pistole von Jorgo Mavromichalis, der auf der anderen Seite der Kirchentür gestanden hatte. Mando erkannte die Pistolen und schrie, bis sie das Bewusstsein verlor.
»Es ist nicht deine Schuld«, flüsterte Marcus, als er ihr den Tee ans Bett brachte. »Er hatte so viele Feinde und es gibt so viele Pistolen.«
»Ich habe es doch nur getan, um Dimitri zu ärgern«, schluchzte sie. »Und jetzt ist es beinahe so, als ob ich Kapodistrias mit dem Schwert meines Vaters selber durchbohrt …«
Sie setzte sich auf.
»Marcus, das Schwert! Jetzt, wo der Graf tot ist, muss ich es zurückhaben!«
»Das geht leider nicht«, informierte sie Marcus, »er hat es weiter verschenkt.«
»Was!«
»An General Maison, als Dank für seine Hilfe beim Befreiungskampf. Dein Schwert befindet sich nun in Frankreich.«
Sprachlos sah sie Marcus an, schüttelte dann den Kopf und murmelte: »Wie so vieles, das eigentlich nach Griechenland gehört.«
»In der Tat«, stimmte ihr Marcus zu und dachte dabei an die Aphrodite von Milos.
»Ich hätte es sowieso nicht verkauft. Marcus, bitte verlass mich nicht.«
Aber ihm blieb keine Wahl. Am Mittag hatte ihn die Nachricht von der Fehlgeburt seiner Frau erreicht.
»Mando«, flüsterte er und küsste ihre Augenlider, »ich muss sofort nach Paros zurück.«
»Ist es deiner Frau zu einsam ohne dich?«
Es war das erste Mal, dass sie auf seine Ehe anspielte.
»Sie hatte eine Fehlgeburt.«
»Eine Fehlgeburt!«
Mando setzte sich auf und funkelte ihn an. »Eine Fehlgeburt!«, wiederholte sie und wurde bleich. »Das bedeutet ja …«
»… dass mein Kind tot ist«, sagte er tonlos.
»Dein Kind …«, dein Kind lebt, hätte sie beinahe gesagt, stattdessen hob sie die Arme, als wollte sie ihm das Gesicht zerkratzen und fuhr ihn an: »Geh! Und werde glücklich! Komm mir nie wieder vor die Augen! Philemon und Baucis! Dass ich nicht lache! Deine Mätresse bin ich, weiter nichts! Und du machst einer anderen Frau ein Kind!«
Er öffnete die Tür.
»Ich bin verheiratet, Mando«, sagte er traurig, »was hast du denn erwartet?«
Wieder verschwand er aus ihrem Leben.
»Er hat uns Geld dagelassen«, meldete Vassiliki später und warf Mando einen prall gefüllten Beutel aufs Bett.
»Ich will sein Geld nicht.«
»Das kann schon sein, aber du brauchst es«, meinte die Dienerin. »Glaubst du, dass du es einige Tage ohne mich aushalten kannst?«
»Nein!«, rief Mando. »Du wirst mich doch nicht auch verlassen!«
»Nie, mein Täubchen, das weißt du doch. Aber es gibt da eine Familienangelegenheit.«
Mando sprang aus dem Bett und packte die Dienerin bei den mageren Schultern.
»Oh nein, Vassiliki, nicht schon wieder! Familienangelegenheit! Das letzte Mal warst du deswegen mehr als ein halbes Jahr weg …«
»Das war etwas anderes. Hör auf mich zu schütteln, das ertragen meine alten Knochen nicht. Ich verspreche dir, dass ich höchstens eine Woche weg bin.«
»Eine Woche ohne dich! Das halte ich nicht aus!«
»Poppy wird sich um dich kümmern.«
»Poppy! Was weiß die schon!«
»Zu deinem Glück nicht so viel wie ich.«
Vassiliki war nicht nur keine Sklavin, sondern – mild ausgedrückt – auch eine ausgesprochen unterbezahlte Dienerin. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, für einige Tage Urlaub zu machen, konnte Mando sie daran nicht hindern.
Aber Vassiliki musste keinen Urlaub antreten, denn ihr Problem löste sich wenige Stunden später in Nauplia.
Mando lag auf ihrem Bett und zerfloss in Selbstmitleid. Wieder einmal hatte sie alles und jeden verloren, war mitschuldig an der Ermordung des griechischen Ministerpräsidenten, hatte sich aus Geldgier eine glänzende Zukunft mit Ypsilanti verbaut und ihre Tochter weggeben müssen. All dies wäre nicht passiert, wenn ihr Marcus nie über den Weg gelaufen wäre. Ihre Liebe hatte sich als höchst zerstörerisch erwiesen. Ihr Leben war eine Katastrophe.
Sie ignorierte die lauten Männerstimmen, die durch das offene Fenster bis in ihre Dachstube drangen.
Ein Schuss peitschte durchs Haus. Mando sprang aus dem Bett, rannte auf den Flur, sah fünf wild aussehende Männer die Treppe hinaufstürmen und Poppy schreiend durch die offene Tür wegrennen. Da Jorgo und Vlachos ins Kafenion gegangen waren, gab es niemanden im Haus, der die Männerbande aufhalten konnte.
Aus dem Salon trat Vassiliki der Gruppe in den Weg.
»Was wollt ihr?«, fragte sie so ruhig, als ob es sich bei dem rüden Haufen um unerwartete Gäste handelte. Der erste der Männer schob Vassiliki mit einer Handbewegung in den Salon zurück. Dann fiel sein Blick auf Mando und er entblößte ein paar gelbe Zähne.
»Das ist sie!«, rief er, übersprang zwei Treppenstufen auf einmal und zerrte Mando die Treppe hinunter. Sie konnte nur daran denken, dass es die gleichen Männer sein mussten, die sie damals aus Ypsilantis Haus entführt hatten.
Vassiliki wusste es besser. Obwohl er griechische Tracht trug, hatte sie Selim sofort erkannt. Nicht erst jetzt im Haus, sondern am frühen Morgen beim Hafen. Da sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr Sohn in die griechische Hauptstadt gekommen war, um mit der Regierung zu verhandeln, musste er irgendetwas im Schilde führen. Deshalb hatte sie um Urlaub nachgefragt. Wenn sie üble Machenschaften ihres Sohnes verhindern könnte, würde sie keinen Augenblick zögern.
Selim hatte Mando in den Salon gestoßen und packte sie jetzt grob bei den Schultern.
»Die Tochter von Nikolaos Mavrojenous!«, zischte er. »Die Tochter! Auf die Idee bin ich nicht gekommen! Da haben wir den Sohn umsonst gequält.«
»Wer sind Sie?«, fragte Mando kühl und versuchte das Zittern ihrer Knie unter Kontrolle zu behalten.
»Der rechtmäßige Besitzer eines grünen Kastens mit wunderschönem Inhalt! Ich weiß jetzt, dass du ihn hattest. Wo ist er?«
Mando zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Wenn wir den gleichen Kasten meinen, kann ich es Ihnen leider nicht sagen. Er ist mit vor einigen Jahren aus meinem Haus gestohlen worden.« Ihr fiel etwas ein: »Sie sollten Admiral Tombasis dazu befragen.«
»Seine Männer haben ihn mir ja zurückgebracht! Aber er ist mir wieder gestohlen worden.«
»Dann hätten Sie besser darauf aufpassen sollen!«
Er versetzte ihr eine Ohrfeige, dass sie rückwärts aufs Sofa fiel.
»Durchsucht das ganze Haus!«, rief er seinen Männern zu, näherte sich dann Mando und sah sie mit gefährlich glimmenden Augen an. »Also, meine Schöne, raus mit der Sprache! Du entkommst mir nicht!« Mit einer Hand packte er sie an einer Schulter, mit der anderen riss er ihr das Kleid vorne auf. »Mit dir kann ich noch schönere Spielchen spielen als mit deinem Bruder.«
Vassiliki, die das Zimmer kurz verlassen hatte, sah bei ihrer Rückkehr entsetzt, wie er Mando mit einem weiteren Ruck das Kleid gänzlich zerriss. Starr vor Angst ließ Mando sich alles gefallen, was mit ihr geschah, sie zermarterte sich den Kopf, wie sie den gewalttätigen Eindringling ablenken könnte. Er hatte sich gerade die Schärpe vom Leib gerissen, als Vassilikis Stimme von der Tür kam.
»Kouklaki!«, rief sie.
Er hielt inne und wandte sich um. Mando konnte nur denken, dass ihre Dienerin verrückt geworden sein musste. Wie konnte sie in einem solchen Augenblick auf die Idee kommen, sie Püppchen zu nennen?
Vassiliki hielt die linke Hand auf.
»Kommen Sie, Herr«, krächzte sie, »ich weiß, wo der grüne Kasten ist!«
Selim ließ von Mando ab und näherte sich der Frau mit den seltsam vertrauten kleinen schwarzen Augen.
»Ich kenne dich doch«, murmelte er, als er dicht vor ihr stand und auf sie hinabblickte.
»Das stimmt!«, erwiderte sie, zog die rechte Hand hinter dem Rücken hervor und stieß ihm mit aller Macht das Fleischmesser in den Bauch.
Er krümmte sich, griff mit der Hand automatisch nach dem Schaft, starrte die alte Frau aus harten schwarzen Vogelaugen noch einmal an und öffnete den Mund.
»Kouklaki«, sagte sie wieder, »weißt du noch?«
Ein Schimmer des Erkennens trat in seine Augen, bevor sie brachen.
Mando hielt starr vor Entsetzen die Hand an den Mund. »Die anderen Männer!«, flüsterte sie. »Was jetzt?«
»Tu, was ich sage«, befahl Vassiliki.
Als wenige Augenblicke später sich die anderen Männer an der alten Frau auf dem Flur in den Salon vorbeischieben wollten, schüttelte sie den Kopf und deutete aufs Schlüsselloch.
»Ich würde jetzt lieber nicht stören«, flüsterte sie. »Er hat gesagt, ihr sollt schon mal vorgehen und euch selber was zum Amüsieren suchen.«
Trotzdem öffnete einer der Männer die Tür, schloss sie aber sogleich wieder.
»Der Alte lässt sich auch nichts entgehen«, sagte er zu den anderen, die sich nacheinander zum Schlüsselloch beugten. Sie sahen die Rückseite ihres Herrn, der mit heruntergezogener Hose zwischen den Beinen der nackten Frau auf dem Teppich lag und sich ruckartig bewegte.
Lachend verließen die Männer das Haus.
Vassiliki riss die Tür auf.
»Sie sind weg!«, rief sie Mando zu, die ihren Unterleib immer noch verzweifelt gegen den Körper des Toten stieß.
Mando schob den Mann weg, blickte entgeistert auf ihre über und über mit Blut verschmierte Haut und begann zu schreien.
»Hör auf!«, rief Vassiliki und gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben eine Ohrfeige.
»Es ist niemand da. Komm in die Küche, da waschen wir alles ab.«
Mando deutete auf den Mann am Boden. Sie versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur einen Kehllaut hervorstoßen.
»Später.«
Bevor Vassiliki eine Decke über die Leiche warf, sah sie sich ihren Sohn noch ein letztes Mal an. Ich habe dir das Leben gegeben, dachte sie, und ich habe es dir wieder genommen, weil du nur Unglück in diese Welt gebracht hast. Es war richtig so und trotzdem zerreißt es mir das Herz.
Sie machte den Mund zu einem schmalen Strich und scheuchte Mando in die Küche.
Als nach Einbruch der Dunkelheit Vlachos, Jorgo und eine verängstigte Poppy wieder das Haus betraten, berichtete ihnen Vassiliki, dass Räuber erst das Schloss des Hauses zerschossen und dann versucht hätten Mando zu entführen. Sie habe den Hauptmann erstochen. Die beiden Männer sollten die Leiche möglichst weit vom Haus entfernt deponieren und sofort wieder zurückkehren. Selim wurde also wie einst Kleopatra in einen Teppich gerollt und aus dem Haus geschafft.
Mando hatte ein Glas Cognac in einem Zug heruntergestürzt und hielt sich jetzt an einem zweiten fest, als Vassiliki wieder in den Salon trat.
»Wer war der Mann?«, fragte Mando. »Du kanntest ihn und er kannte dich.«
Vassiliki blickte sie lange und unfreundlich an.
»Das war mein Sohn«, sagte sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Irgendjemandem musste sie es sagen, aber mehr würde sie nicht preisgeben.
Mando verschüttete ihren Cognac.
»Dein Sohn!«
Fassungslos starrte sie Vassiliki an, wiederholte immer wieder: »Dein Sohn, dein Sohn!«, rief dann entgeistert: »Du hast ihn getötet!«
»Hätte ich ihn leben lassen sollen?«
»Wer war er?«
»Ein Räuberhauptmann. Ein schlechter Mensch.«
»Du hast deinen Sohn getötet, um mich zu retten.«
»Still. Ich will nicht darüber reden.«
»Aber der grüne Kasten, er wusste …«
»Still, Mando!«
Sie verstummte vor Schreck. Noch nie hatte Vassiliki sie bei ihrem Namen genannt. Ruhelos lag sie später im Bett und dachte so lange über das Geschehene und Gesagte nach, bis sie die richtige Erklärung gefunden zu haben glaubte: Vassilikis Sohn, der Räuberhauptmann, musste seiner Mutter vor vielen Jahrzehnten den grünen Kasten anvertraut haben. Aber sie hatte es vorgezogen, mit dem kostbaren Gegenstand zu verschwinden. Irgendwann war sie Nikolaos Mavrojenous begegnet und hatte ihm den Kasten im Tausch gegen eine Lebensstellung gegeben. Diese Erklärung für die Zusicherung ihres Vaters, dass Vassiliki unkündbar wäre, gefiel ihr wesentlich besser als die Befürchtung, die sie früher gehegt hatte.
Aber vielleicht ging die Geschichte auch ganz anders, dachte Mando und erinnerte sich an das Gerücht von Vassilikis Flucht aus dem Harem. Möglicherweise hatte ihr der Räuberhauptmann dazu verholfen und sie hatte den grünen Kasten mitgehen lassen. Dass sie geübt im Stehlen des grünen Kastens war, hatte sie in den vergangenen Jahren oft genug bewiesen.
Mando wusste, dass sie noch so viel in Vassiliki dringen konnte, die Dienerin würde ihr nur erzählen, was sie für nötig befand. Wie entsetzlich, dass sie ihren Sohn getötet hatte! Selbst wenn Lambrini der schlechteste Mensch der Welt werden würde – Mando konnte sich nicht vorstellen ihr ein Haar zu krümmen.
Da wohnen Abgründe in Vassiliki, dachte sie erschrocken, der einzige Mensch, der zu mir hält, hat sein eigenes Fleisch und Blut vernichtet! Andererseits hatte sie Mando dadurch vor einem üblen Schicksal bewahrt.
Marcus, dachte Mando verzweifelt, du hättest mich retten sollen, als mein Adjutant und Geliebter wäre das deine Aufgabe gewesen. Aber du bist nie da, wenn ich dich brauche!
Nach der Ermordung von Joannis Kapodistrias brach in Griechenland das Chaos aus. Der Versuch, einem Triumvirat die Regierungsgeschäfte zu überlassen, missglückte.
»Wie kann man auch erwarten, dass sich Kapodistrias Bruder Augustinos, Jannis Kolettis und der gute Kolokotronis auf irgendetwas einigen können! Das musste ja zu Anarchie führen!«, rief Mando, als sie im Mai 1832 in ihr Bulletin blickte. Sie befand sich schon längst wieder in ihrem Haus in Mykonos und lebte immer noch von dem Geld, das ihr Marcus vor mehr als einem halben Jahr in Nauplia hinterlassen hatte. Es war nicht ausreichend, um davon eine kleine Schule zu finanzieren, und außerdem fühlte sich Mando nicht kräftig genug, um sich mit einer Kinderschar zu umgeben. Lambrini war erst fünf Jahre alt, es würde genügen, wenn sich Mando in zwei Jahren erbot das Kind zu unterrichten. Sie nahm ihre Krankenbesuche wieder auf und verbrachte die Abende damit, Bulletins oder Schriften über die Situation in ihrem Heimatland zu lesen.
Augustinus Kapodistrias war bereits ins Ausland geflüchtet. Die alte Feindschaft zwischen Kolettis und Kolokotronis hatte einen Bürgerkrieg heraufbeschworen, der zur Errichtung zweier rivalisierender Regierungen geführt hatte, die jeweils von einer Privatarmee gestützt wurden. Auch Mavrokordatos tauchte wieder auf und schloss sich Jannis Kolettis an, von dessen Politik er sich mehr versprach. Nur die Anwesenheit von französischen Streitkräften sorgten dafür, dass der Archipel nicht gänzlich verbrannte. Die Schutzmächte steckten die Köpfe zusammen, um das Land, das sie hatten befreien helfen, vor sich selber zu schützen. Wieder wurde der Ruf nach einem starken Monarchen laut.
»Hör dir das mal an, Vassiliki: Einen Sechzehnjährigen haben sie gefunden!«
»Einen Sechzehnjährigen was?«, fragte Vassiliki.
»König. Otto heißt er und ist der Sohn des bayrischen Königs, ein Wittelsbacher Prinz. Das hat der Londoner Kongress beschlossen. Alle wichtigen griechischen Angelegenheiten werden offenbar im Ausland beschlossen. Ach, Vassiliki, was gäbe ich darum, nach Paris fahren zu können!«
»Aber du hast doch gerade London gesagt.«
Mando ließ das Bulletin sinken. Sie hatte früher schon einmal London gesagt. Vor der fürchterlichen Auseinandersetzung mit Ypsilanti, als sie darauf gedrängt hatte, nach London geschickt zu werden, um für die Sache Griechenlands zu werben. Dimitri hatte sie ausgelacht.
Wie sie diesen Mann hasste! Nicht nur diesen, dachte sie, alle Männer und vor allem Marcus. Eine dicke Träne tropfte auf das Bulletin. Sie wischte sich rasch die Augen, als es heftig an der Tür klopfte.
Vassiliki öffnete und Mando hörte aufgeregtes Murmeln im Flur.
Wenig später kam Vassiliki wieder ins Zimmer. Sie war bleich und mühte sich die richtigen Worte zu finden. »Ich habe eine furchtbare Nachricht«, begann sie.
»Wer ist tot?«
»Prinz Ypsilanti. Er hat furchtbar gelitten und muss ausgesehen haben wie ein Hundertjähriger. Malaria.«
Mando wischte die Träne von ihrem Bulletin und hielt es sich wieder vors Gesicht.
»Ich hoffe, dass er an seinem eigenen Speichel erstickt ist«, sagte sie gleichgültig.
Seit ihrer Rückkehr war Mando nicht mehr in Kalo Livadi gewesen. Sie hatte sich geschworen das Tal nie wieder aufzusuchen. Aber jetzt würde sie dort hinreiten. Nicht, um an schöne Zeiten zurückzudenken oder zu hoffen, dass Marcus dort sein Boot auf den Strand zog. Nein, sie wollte Philemon und Baucis vernichten, mit sämtlichem Wurzelwerk. Für sich selber – und auch für Marcus – musste sie ein Zeichen setzen.
Es war endgültig vorbei. Sie war erwachsen geworden, ernüchtert und keine hoffnungslose Romantikerin mehr! Philemon und Baucis würden einst er und Anna sein. Sie würden unter Olivenbäumen in Paros sitzen und zusehen, wie die Enkelkinder zu ihren Füßen spielten. Gelegentlich würde Marcus an seine Cousine denken und froh sein, dass er dieser kapriziösen und komplizierten Frau entkommen war.
Sie war erschüttert, als sie an der Hütte ankam. Nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet. Die Winterstürme hatten die weiße Farbe weggefegt und der rote Wüstensand, den der Südwind aus fernen Landen mit sich führte, das Blau der Fensterläden abgeschmirgelt. Nicht einmal einem geübten Auge wäre aufgefallen, dass es hier jemals ein Gärtchen gegeben hatte. Mando holte tief Luft und versuchte die Tür zu öffnen. Diese klemmte, gab erst nach gehörigem Zerren nach, fiel dann aus den Angeln und polterte auf die winzige Steinterrasse, die Marcus einst angelegt hatte und deren unregelmäßige Fliesen jetzt von ausgetrocknetem Unkraut überwuchert waren. Im Innern der Hütte herrschte ein größeres Chaos als in Griechenland.
Die einstmals bunte Decke auf dem Bett zerfiel, als Mando sie mit spitzen Fingern anfasste. Offensichtlich hatten sich dort Mäuse häuslich niedergelassen. Aus der verschimmelten Matratze kroch eine Armee aufgescheuchter schwarzer Käfer. Durch einen Vorhang von Spinnweben war zu erkennen, dass die Reste von Byrons halb aufgefressenem Buch in der Wandnische zu Wellen erstarrt waren. Mando schrak zusammen, als unter ihren Füßen Glasscherben knirschten, die von der umgefallenen Öllampe stammten. Die Fledermäuse im Schornstein schliefen und im Kamin unter ihnen befand sich ein riesiges ausgetrocknetes Vogelnest. Die ganze Hütte war mit schwarzweißen Tupfern bekleckert und Verwesungsgestank verdrängte die Moderluft.
Mando würgte und stürzte wieder ins Freie. Da auch die Haare des Besens aufgefressen und die Putzlappen verschimmelt waren, hätte sie selbst dann nicht Ordnung schaffen können, wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht, denn sie wusste überhaupt nicht, wo sie hätte anfangen sollen. Zum Aufräumen hatte sie Vassiliki. Die hätte sich wahrscheinlich aus starkem Trockengras einen neuen Besen gebastelt, alles aus der Hütte geräumt, eimerweise Wasser verteilt und dabei auch noch fröhlich gesungen.
Mando setzte sich stattdessen auf die Steinbank, von der große Stücke abgebröckelt waren. Ihr fiel wieder ein, weshalb sie gekommen war. Philemon und Baucis. Die beiden Bäume waren nur wenig gewachsen, hatten vielleicht etwas dickere Stämme. Winterstürme, Saharawind, Ungeziefer und mangelnde Versorgung waren ihnen nicht anzusehen. Die silbrig grauen Blätter raschelten leise. Mando blickte zu ihrem Esel. Sie hatte eine Spitzhacke mitgebracht, um den Wurzeln von Philemon und Baucis zu Leibe zu rücken. Aber sie rührte sich nicht. Durfte sie denn das Einzige zerstören, das sich allen Elementen widersetzt hatte, vom Chaos unberührt, schön und stark geblieben war?
Die Bergschluchten von Naxos zeichneten sich deutlich ab, daneben der kleine Zipfel von Paros.
Mando stand auf und streckte die Arme aus.
»Marcus!«, schrie sie. »Marcus!«
Vassiliki erwartete sie bereits an der Tür. »Du musst sofort zu deiner Mutter!«, drängte sie.
»Wieso? Stirbt sie?«, fragte Mando, die sich vorgenommen hatte, nie wieder ihre Mutter zu besuchen.
»Nein.« Vassiliki zog Mando ins Zimmer, schob ihr einen Stuhl hin und drückte ihr ein Glas starken unverdünnten mykoniatischen Weins in die Hand. Misstrauisch blickte Mando erst auf das Getränk, dann auf Vassiliki.
»Raus damit!«, befahl sie. »Was ist los?«
Vassiliki zögerte. »Stefano«, sagte sie schließlich.
»Er ist hier?«
»Bei deiner Mutter.«
»Immer noch verrückt?«
»Schlimmer denn je.«
Mando verengte die Augen. »Wie ist er dann hierher gekommen?«, fragte sie.
»Geh zu deiner Mutter!«
Vassilikis Mund war ein schmaler Strich.
Auf alles war Mando vorbereitet, nur nicht darauf, Marcus im Salon ihrer Mutter wieder zu begegnen. Er begrüßte sie mit einer steifen Verbeugung.
»Kind«, sagte ihre Mutter, »du musst mir helfen!«
Das ist ja ganz was Neues, dachte Mando grimmig und schwieg.
»Es handelt sich um deinen Bruder Stefano«, erklärte Marcus, ohne sie anzusehen. Seine Stimme klang belegt und er sah bleich und gealtert aus.
»Was immer es ist, ich kann ihm nicht helfen«, sagte Mando und wandte sich wieder zur Tür. Sie wollte nur noch fliehen.
»Marcus hat ihn aus Paros hierher gebracht. Er liegt im Sterben«, sagte Zakarati mit flacher Stimme, »und er hat nur noch einen Wunsch. Er will mit dir sprechen.«
»Wo ist er?«
Beide richteten die Augen nach oben. Mando verließ das Zimmer und kletterte die steile Treppe ins Obergeschoss hinauf.
»Stefano?«, fragte sie flüsternd, als sie das abgedunkelte Zimmerchen betrat.
»Mando?«
Seine Stimme kam wie von weit her.
»Komm zu mir.«
Sie schob einen Hocker an das Bett und fasste ihren Bruder an die brennend heiße Stirn.
»Du bist sehr krank«, flüsterte sie. »Streng dich nicht so an.«
»Ich muss mit dir reden.«
Die Stimme klang kräftiger, aber sie erschrak, als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Stefano sah ausgezehrt aus und wie ein Mann von mindestens sechzig.
»Ich weiß, wer unseren Vater getötet hat. Und warum.«
»Still, Stefano, schone deine Kräfte.«
»Du bist in Gefahr, Mando, das muss ich dir sagen.«
»Er war bereits da, der Räuberhauptmann. Vassiliki hat ihn umgebracht. Du musst dich um nichts mehr sorgen. Es ist vorbei.«
»Selim?«, fragte Stefano.
»Selim?«, echote Mando.
»Ali Paschas Sohn …«
»Du hast Fieber, Stefano, schlaf ein bisschen, morgen geht es dir besser.«
»Ich sterbe, Mando, ich habe keine Zeit. Wenn du weißt, wo der grüne Kasten ist, schick ihn zurück nach Jannina, zu Ali Paschas Sohn Selim.«
»Ein großer grober Mann mit gelben Zähnen und kleinen schwarzen Vogelaugen?«
Stefano machte ein zustimmendes Geräusch. »Du hast ihn gesehen?«, fragte er mühsam.
»Ja. Er ist tot.«
»Gut.«
Sie griff nach einer schlaffen Hand und drückte sie leicht.
»Es ist vorbei«, sagte sie, und das war es dann auch.
Totenbleich erschien sie im Salon ihrer Mutter.
»Er ist heimgegangen«, verfiel sie in die Sprache ihrer gesellschaftlichen Kreise, setzte sich auf einen Stuhl und blickte zu Boden. Zakarati schrie und rannte aus dem Zimmer.
Marcus und Mando waren allein.
»Mein Beileid«, flüsterte er.
Ein leerer Blick aus dunkelbraunen Augen traf ihn. Er trat einen Schritt zurück.
Mando stand auf.
»Kümmere dich um meine Mutter«, sagte sie und verließ das Haus.
»Der Räuberhauptmann war Ali Paschas Sohn!«, fuhr sie Vassiliki an. »Was hattest du mit dem Löwen von Jannina zu schaffen?!«
»Was wohl!«, gab Vassiliki zurück.
»Ich kann es nicht glauben!« Mando warf die Hände in die Luft. »Eine Griechin!«
»Eine Dienerin«, erwiderte Vassiliki.
»Du hast meinem Vater den grünen Kasten gegeben!«
Nie hätte Mando geglaubt, dass harte, schwarze Vogelaugen so flehentlich blicken konnten.
»Mein Täubchen«, flüsterte Vassiliki, »du weißt genug. Lass es sein. Er ist tot. Ich habe meinen Sohn getötet.«
»Und wen sonst noch?«, fragte Mando eisig.
»Deinen Vater«, antwortete Vassiliki.
Es war heraus.
Weil Vassiliki schon geahnt hatte, dass Stefano seine Schwester auf die Spur bringen würde, hatte sie den Kräutertrunk gebraut, als Mando bei ihrer Mutter war. Es gab für sie jetzt keinen Grund zum Leben mehr. Mando war stark, sie würde ihren eigenen Weg finden. Und wenn nicht, würde es ihr eben auch nicht anders ergehen als den meisten Menschen. Vassiliki war müde, sie wollte kein Püppchen mehr haben, sie wollte nur noch schlafen und nie wieder aufwachen.
»Er war mein Sohn«, hatte sie in Nauplia gesagt, und damals schon gewusst, dass sie damit ihr Todesurteil unterzeichnete. Sie würde ihre eigene Henkerin sein. Der Tee mit dem gleichen Gift, das Mandos Vater getötet hatte, stand neben ihr auf dem Kaminsims. Aber sie schuldete Mando eine Erklärung.
Mandos »Warum!« hallte noch durch den Raum, als sie den ersten Schluck des todbringenden Getränks zu sich nahm. Es befand sich eine viel stärkere Dosis darin als in der Tasse, die sie Nikolaos Mavrojenous einst gereicht hatte. Er hätte nicht im eigenen Haus, sondern in dem seines Gastgebers sterben sollen.
In stockenden Worten erzählte Vassiliki ihre Geschichte. Sie ließ nichts aus. Schon früh war sie dahinter gekommen, dass Nikolaos Mavrojenous einer der führenden Köpfe der Hetärie der Freunde war. Jannis Kolettis, damals Leibarzt am Hofe Ali Paschas, hatte Mavrojenous auf Paros aufgesucht und gefragt, ob er bereit wäre den Albaner gegen den Sultan zu unterstützen. Mavrojenous forderte als Gegenleistung Hilfe bei der Verteidigung der Kykladen. Kolettis hatte erwidert, dass sich Ali Paschas Interesse an den Inseln in Grenzen hielte. Darauf hatte Mandos Vater erwidert, dass er einen besonderen Trumpf habe, den er Jannis Kolettis nicht verraten würde. Aber im kommenden Monat würde er persönlich nach Jannina reisen und Ali Pascha ein Angebot machen, das er nicht ausschlagen könne.
»Ich wusste, dass er ihm den grünen Kasten zurückgeben wollte«, sagte Vassiliki, deren Stimme immer schwächer wurde. »Dann teilte er mir mit, dass ich ihn in der kommenden Woche auf eine Reise begleiten sollte. Ich wusste, dass ich von dieser Reise nicht zurückkehren würde. Damit hatte dein Vater unseren Vertrag gebrochen. Ich wäre meinem Sohn ausgeliefert gewesen – und hätte dich verloren, mein Täub …«
Sie fiel um.
Mando schrie nicht. Sie blieb ganz still sitzen, versuchte zu verstehen, was sie gehört hatte, was mit Vassiliki geschehen war und konnte alles nicht glauben. Sie sah den Becher Tee, den die Dienerin wieder ordentlich auf den Kaminsims abgestellt hatte, und sie begriff.
Jetzt war sie wirklich allein.
Ihre Mutter sah sie das nächste Mal vor Gericht.
Mando verlor den Prozess um die Diamanten, da nicht nachzuweisen war, dass ihr Zakarati das Geld nicht ausgehändigt hatte. Im Zweifel für den Angeklagten. Mando schwor sich, nie mehr in ihrem Leben Gerichte zu bemühen. Sie erinnerte sich einmal gehört zu haben, dass das Recht mit den Schwachen sei. Demnach müsste sie über Bärenkräfte verfügen.
Sie hatte keine Hilfe im Haus mehr und würde in Kürze überhaupt kein Haus mehr haben. Es war das Einzige, was sie noch besaß. Von dem Erlös seines Verkaufs würde sie eine Wohnung mieten müssen und sich wenige Jahre lang von dem Rest des Geldes ernähren können. Sie hatte die Hoffnung längst aufgegeben, dass der griechische Staat ihr irgendetwas zurückzahlen würde. König Otto hatte andere Sorgen.
Mando auch. In ihrer frühen Jugend hatte sie zwar einmal gelernt, komplizierte Muster in feine Tüchlein zu sticken, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie Risse in ihren Kleidern reparieren konnte. Sie verstand nichts vom Kochen, wusste nicht, wie sie ihr Haus sauber halten und bei wem sie was einkaufen konnte. Einmal erstand sie am Hafen einen Fisch, aber als sie ihn zu Hause auspackte, war sie ratlos, was sie damit tun sollte. Er musste geschuppt und ausgenommen werden, aber sie ekelte sich, mit den Fingern in das glitschige Innere zu fahren und sie riss sich die Hand an einer Kieme blutig. Sie warf den Fisch in den Mülleimer und begann zu weinen. Zum ersten Mal begriff sie, wie hart Vassiliki gearbeitet hatte, um ihr ein angenehmes Leben zu ermöglichen.
Vassiliki. Sie fehlte ihr mehr als je ein Mensch zuvor in ihrem Leben. Sogar mehr als Marcus. Fünfzehn Jahre lang hatte Mando versucht herauszufinden, wie ihr Vater gestorben war, und jetzt wünschte sie, es nie erfahren zu haben. Sie wunderte sich, dass sie keinen Groll gegen Vassiliki hegte, nicht das Andenken des Menschen verfluchte, der ihren Vater auf dem Gewissen hatte. Sie war von tiefer Trauer erfüllt. Trauer um Vassiliki, ihren Vater und Stefano, alles Menschen, denen ein grüner Kasten zum Verhängnis geworden war.
Phidias muss sein Werk verflucht haben, dachte sie, dass es so viel Leid über die Welt bringt! Seltsam, Pappas Mavros, Vassiliki, Ypsilanti, Stefano, Selim und auch ich, wir haben fast immer nur von dem grünen Kasten gesprochen. Als ob die Hülle wichtiger als der Inhalt wäre. Wer aber hat das griechische Kunstwerk in den Kasten gestellt? Grün ist die Farbe des Islams.
Plötzlich erschrak sie. Was würde mit Lambrini geschehen, der jetzigen Besitzerin der Kostbarkeit? Vielleicht würden andere Söhne oder Enkel von Ali Pascha ihrer Tochter nachstellen, um sich in den Besitz der Zeusstatue zu bringen. Vielleicht hatten Marmellakis oder Lena anderen Seeräubern stolz von ihrer Beute erzählt?
Sie musste Lambrini schützen!
Mando wusch sich schnell die nach Fisch stinkenden Hände, setzte sich eine Kappe auf und eilte nach Alefkandra. Eine Weißwäscherin sah sie höchst verwundert an, als sie nach Marmellakis' Haus fragte, führte sie dann aber hin.
Der Pirat öffnete die Tür.
Haar und Bart waren lang, grau und verwildert und sein Blick wirkte irgendwie verloren. Er schien Mando nicht sofort zu erkennen.
»Guten Tag, Lambrini!«, rief Mando ins Zimmer, wo ein nicht ganz sauberes Kind mit schwarzen und ungewöhnlich glatten Haaren auf dem Boden Papierschiffchen umherschob.
Das Kind sprang auf, stellte sich neben Marmellakis und ließ ein Händchen in einer seiner riesigen Pranken verschwinden.
»Wo ist Lena?«, fragte Mando.
Marmellakis ließ Lambrinis Hand los, wandte sich ab, ging ans Fenster und starrte schweigend aufs Meer.
»Meine Mama ist tot«, sagte das Mädchen zu der fremden Frau und streckte schüchtern eine Hand aus, um das schöne graue Seidenkleid zu berühren.
Mando bückte sich zu ihr hinunter, legte die Arme um das Kind und drückte es sanft an sich.
»Wer sorgt denn für dich?«, fragte sie leise.
»Papa!«, rief das Kind, rannte wieder zu Marmellakis und zog an seiner Hose.
»Gib der Frau etwas zu trinken!«, drängte sie, rannte dann zu einer Blechdose auf einem Regal, öffnete sie, nahm ein paar Kekse heraus und bot sie Mando an.
»Kaffee kann ich noch nicht machen«, erklärte das kleine Kind, »aber ich hole schnell ein Glas Wasser.«
»Nein, bleib hier«, bat Mando, die unwillkürlich lächeln musste. Zakaratis Enkelkind schien zu wissen, was sich gehörte. Vielleicht war es keine Frage der Erziehung, sondern eine des Blutes.
»Darf ich sie Ihnen zurückgeben?«
Marmellakis' erste Worte waren so leise, dass Mando zunächst glaubte sich verhört zu haben. Er wandte sich ihr wieder zu, deutete auf einen harten Holzstuhl und setzte sich ihr gegenüber.
»Das Kind braucht eine Mutter«, sagte er, »und ich werde nie wieder heiraten. Lena war mein Leben. Wir wollten zusammen alt werden …«
»Schick mich nicht weg!«, schrie Lambrini und klammerte sich an den alt gewordenen Piraten.
»Das tue ich nicht, Kind«, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du ziehst nur ein paar Häuser weiter weg. Diese Frau wird sich um dich kümmern und du kannst mich jeden Tag besuchen kommen.«
Mando nickte. Wieder berührte das Kind den schönen grauen Stoff.
»Kriege ich dann auch so ein schönes Kleid?«, fragte sie Mando.
»Wenn du etwas größer bist«, lächelte Mando, zog das Kind heran und setzte es sich auf die Knie.
»Und so schöne Locken?«
»Willst du das wirklich? Du hast so schönes glattes Haar …«, und als Mando eine Strähne dieses Haars durch ihre Finger gleiten ließ, zersprang in ihr eine Saite. Sie schluckte, sah zu Marmellakis und fragte: »Ich hatte Ihnen damals etwas für Lambrini mitgegeben, besitzen Sie es noch?«
»Der grüne Kasten.« Marmellakis nickte grimmig. »Der ist weg.«
Schon wieder, dachte Mando und wusste nicht, ob sie darüber erleichtert oder unglücklich sein sollte.
»Gestohlen?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Marmellakis und berichtete. Sein Schiff war auf der Rückreise von Nauplia in einen fürchterlichen Sturm geraten. Er, Lena, der Säugling und einer seiner Leute waren von der Mannschaft eines griechischen Schiffs aus dem Wasser gefischt worden, sein Boot, mit allem, was darauf war, auf den Boden der Ägäis gesunken. Auch der grüne Kasten.
Da liegt er gut, dachte Mando.
Mando, die kaum für sich selber sorgen konnte, zerbrach sich den Kopf, wie sie Lambrini ein gutes Leben bieten konnte. Es gab nur eine Lösung. Sie verkaufte ihr Haus und fragte Marcus' Mutter, ob sie wieder bei ihr wohnen könnte. Die alte Frau, die es sehr edel fand, dass sich Mando um die Piratenwaise kümmerte, war begeistert und bot ihr Marcus' alte Kammer an. Lange stand Mando in dem Wandschrank und blickte nach oben. Später zeigte sie Marcus' Mutter ihre Entdeckung und schlug vor Lambrini im Dachzimmerchen unterzubringen und im Schrank eine Leiter anzubringen.
»Dann wird sie nicht durch mich gestört, aber ist doch nah bei mir«, erklärte sie.
Zwei Jahre später flatterte Mando ein langer Brief ins Haus. Er stammte von Theodoros Kolokotronis, der bereits seit Oktober 1833 auf der Palamidi-Festung in Nauplia gefangen gehalten und jetzt wegen Hochverrates zum Tode verurteilt worden war.
»Rechnen Sie aber nicht mit meiner Hinrichtung«, schrieb er. »Das würden die bayrischen Beamten, die unser Land regieren, nicht wagen. Prinz Otto, für den ich mich selber eingesetzt habe und der ein guter Junge ist, hat mir zugesichert, dass er mich am Tage seiner Volljährigkeit und Machtübernahme augenblicklich begnadigen wird. Sie werden gehört haben, lieber Generalleutnant, dass sich unser geschätzter Gegner Jannis Kolettis bei der neuen Administration recht nützlich macht, aber Ministerpräsident ist er trotzdem nicht geworden. Diesen Posten hat unser alter Widersacher Mavrokordatos ergattert. Der Englandfreund im Dienst der Bayern! Wieder einmal wird unser Land von Ausländern regiert, diesmal von einem vierköpfigen bayrischen Regentschaftsrat. Was wissen diese Germanen schon von Griechenland und den Griechen! Graf Josef Ludwig von Armansperg tritt die Ideale unserer Revolution mit Füßen, spielt sich als Herrscher der Hellenen auf, Ludwig von Maurer mag zwar ein tüchtiger Jurist sein, aber ihm fehlt jegliches Verständnis für unser Volk, und Generalmajor Heidegger von Heydeck ist der seltsamste Soldat, der mir je begegnet ist. Er versteht, glaube ich, mehr von der Kunst als vom Kämpfen, von Politik überhaupt nichts und von Griechenland noch weniger. Legationsrat von Abel glaubt ausschließlich an das geschriebene Wort und ist unfähig sich auf ein Land einzustellen, in dem der Handschlag und das gesprochene Wort eines Mannes etwas gelten. Lieber Generalleutnant, sollte Sie dieser Brief erreichen – meine Korrespondenz mit Damen wird aus verständlichen Gründen weniger streng kontrolliert, tun Sie einem alten Mitstreiter den Gefallen und besuchen Sie ihn! Ich möchte wissen, wie es Ihnen ergangen ist, wie es draußen im Lande aussieht, wie es meinen armen Griechen ergeht, die nach so vielem Leid ein besseres Los verdient haben, als von herzlosen bayrischen Beamten zur Ader gelassen zu werden!«
»Kind«, sagte ihre Tante später, »du willst doch nicht etwa Lambrini mit auf die Reise nehmen?«
»Warum nicht?«, fragte Mando.
Marcus' Mutter sah ihre Nichte forschend an, sagte dann: »Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Lass mich erst ausreden, bevor du etwas sagst. Ich bin alt, werde nicht mehr lange leben und du kannst dich nicht allein um Lambrini kümmern. Ich hänge an der Kleinen. Auf seltsame Weise erinnert sie mich an meine eigenen Kinder, und ich möchte, dass sie es gut haben wird im Leben. Warum überlässt du das Kind nicht Marcus und Anna? Du würdest den beiden eine große Freude bereiten, denn Anna darf keine Kinder kriegen. Das hat ihr der Arzt nach zwei Fehlgeburten gesagt.«
Mando war aufgestanden und hatte zum Hof hinausgesehen, wo Lambrini die Kleider ihrer Puppe wusch.
»Die Tochter des Bürgermeisters von Paros«, sagte sie leise.
»Genau!«, rief ihre Tante. »Du kannst sie ja in den nächsten Tagen hinbringen und dann gleich weiter nach Nauplia fahren.«
Sie hatte ihren Besuch angekündigt. Marcus und Anna standen am Hafen, um sie und Lambrini zu begrüßen. Anna, ein kleines, zierliches Persönchen, das Mando an ihre Schwester Irini erinnerte, umarmte die Mykoniatin herzlich.
»Sie wissen gar nicht, was für ein Glück Sie in unser Haus bringen!«, rief sie, nahm Lambrini auf den Arm und drückte sie an sich.
Marcus nickte und küsste Mando die Hand.
Anna konnte ihre Augen nicht von Lambrini lassen, als sie sich später im Salon den Tee servieren ließen.
»Schau, Marcus«, rief sie, »Lambrini hat das selbe glatte Haar wie du, man könnte denken, sie wäre wirklich deine Tochter!«
»Wie alt ist sie?«, fragte er ruhig und sah Mando in die Augen.
Sie wich seinem Blick nicht aus.
»Sie wird sieben im Oktober.«
»Sieben«, wiederholte Marcus und Mando sah ihn rechnen. »Sieben«, sagte er noch einmal, warf Mando einen unendlich traurigen Blick zu und verließ das Zimmer.
»Sie müssen ihn entschuldigen«, wandte sich Anna an Mando, »er ist manchmal etwas geistesabwesend. Aber er freut sich genau wie ich über das Kind, das müssen Sie mir glauben.«
Sie setzte sich neben Mando aufs Sofa und erklärte, wie glücklich sie sei, die berühmte Heldin von Mykonos endlich kennen zu lernen. Sie müsse ihr alles über die alten Zeiten erzählen, denn aus Marcus wäre kaum etwas herauszubringen.
»Manchmal denke ich, dass ihm die Aufregung fehlt«, meinte Anna und flehte Mando an einige Tage bei ihnen zu verbringen.
Mando staunte über sich selber. Sie hatte erwartet bei Marcus' Anblick in Ohnmacht zu fallen, aber es hatte ihr nur einen winzig kleinen Stich versetzt. Es war unmöglich, Anna nicht gern zu haben, und sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, die Kinderlosigkeit des Paares zu bedauern. Es wäre schön, wenn Lambrini mit Geschwistern hätte aufwachsen können.
Marcus kehrte erst am späten Abend nach Hause zurück. Er war so heiser, dass er kaum sprechen konnte und erklärte, dass er sich wohl eine Erkältung zugezogen habe. Er erzählte nicht, dass er mit seinem kleinen Boot weit aufs Meer hinausgesegelt war und stundenlang nicht hatte aufhören können zu schreien.
Er hob Lambrini hoch, setzte sie auf seine Knie und verlor sich in ihren Augen.
»Ist sie ganz gesund?«, krächzte er, ohne Mando anzublicken.
»Marcus!«, rief seine Frau, »du sprichst ja, als ob wir ein Pferd gekauft hätten!«
»Kerngesund«, erwiderte Mando ruhig, »kein bisschen wie der kleine Jorgos aus Lakka.«
»Wer ist das?«, fragte Anna.
»Ein Verwandter von ihr«, erklärte Mando, »der verkauft Lose und ist noch ein richtiges kleines Kind, obwohl er schon über Zwanzig ist.«
Anna nickte verständnisvoll. »Solche Kinder haben wir hier auf Paros auch. Das kann passieren, wenn zwei Leute heiraten, deren Familien miteinander verwandt sind. Aber das ist bei Lambrinis Eltern ja nicht der Fall. Ein Seeräubermädchen!«, lachte sie. »Wer hätte das gedacht!«
Sie nahm Lambrini an der Hand, erklärte, dass sie das Kind jetzt zu Bett bringen und sich danach selber auch hinlegen würde.
»Bitte«, sagte sie zu Mando, »fahren Sie morgen noch nicht ab!«
»Ich kann leider nicht anders«, erwiderte Mando, »ich habe einen wichtigen Termin in Nauplia.«
»Nauplia«, sagte Marcus, als sich die Tür hinter Anna geschlossen hatte. »Diese Stadt hat dir nur Unglück gebracht.«
»Nicht nur«, sagte sie und dachte an das zugestopfte Schlüsselloch.
Dann schwiegen sie, beide von zu vielen Gefühlen überwältigt. Mando staunte, dass sie nicht das Bedürfnis verspürte Marcus in die Arme zu fliegen, ihn abzuküssen und auf den Teppich zu zerren. Ich liebe ihn immer noch, dachte sie erschüttert, vielleicht sogar mehr als früher, jetzt, wo sein Gesicht so zerfurcht und sein langes glattes Haar ganz grau geworden ist. Ja, ich möchte an seiner Brust liegen, seine Falten glatt streichen, seinen Atem auf mir spüren, morgens neben ihm aufwachen und mit ihm im Meer schwimmen. Aber ich kann es nicht. Ich kann ihn nicht anrühren.
Marcus ging es ähnlich. Die Erkenntnis, dass sich Mando monatelang in ihr Haus eingeschlossen hatte, um heimlich sein Kind zu kriegen, war ein Schock für ihn gewesen. Er verstand auf einmal alles, auch warum sie so lange bei Ypsilanti in Nauplia gelebt hatte und was sie sich davon erhofft hatte. Er war zutiefst betroffen, dass sie alles mit sich allein ausgemacht und ihn nicht eingeweiht hatte. Wie stark sie ist, dachte er, und wie ruhig sie geworden ist. Diese Mando liebe ich mehr als jemals zuvor. Ja, ich würde gern wieder ihre herrlichen Brüste berühren und in die dunkle Höhle zwischen ihren Beinen heimkehren, aber wie viel mehr wünsche ich mir einfach nur neben ihr auf der Steinbank zu sitzen. Im Schatten von Philemon und Baucis.