NAUPLIA

Als Ypsilanti eine Stunde später bei Mando vorsprechen wollte, wies Vassiliki ihn mit den Worten ab, ihre Herrin sei krank und wünsche niemanden zu empfangen. Irritiert musterte der Prinz das kleine alte Weiblein mit den schwarzen Vogelaugen, auf das sogar er herabschauen konnte, und fragte sich, wo Mando so plötzlich eine Dienerin aufgetrieben hatte.

»Ich bin Prinz Dimitri Ypsilanti«, sagte er mit seiner Feldherrenstimme, »Mademoiselle Mando ist meine Verlobte und wenn sie sich misslich fühlt, ist es meine Pflicht, ihre Stimmung zu heben.«

Da sich Vassiliki immer noch nicht vom Fleck rührte, schob er sie einfach zur Seite und betrat das Haus. Im Salon fand er eine in Tränen aufgelöste Mando vor.

»Teuerste, was ist mit dir?«, rief er erschüttert. Nicht einmal, als Jakinthos gestorben war, hatte er sie so weinen sehen.

Mando schrak beim Klang seiner Stimme auf. Hastig wischte sie sich die Augen mit dem Ärmel ab und versuchte wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen.

»Meine Schwester«, schluchzte sie. »Ich muss sofort nach Tinos! Ich habe gerade gehört, dass meine Schwester Irini stirbt …« Ein neuer Schwall von Tränen schnitt ihr das Wort ab.

Ypsilanti kniete sich neben sie und reichte ihr ein großes blütenweißes Taschentuch mit aufgestickter Krone.

»Das tut mir entsetzlich Leid«, murmelte er. »Ich würde dich ja gerne nach Tinos begleiten.« Er dachte nach. Der Putsch gegen die aristokratische neue Regierung, den er zusammen mit Kolokotronis plante, war für Mitte Mai angesetzt. Nicht einmal mehr zwei Wochen! Nein, er konnte Mando unmöglich auf die Kykladen begleiten und angesichts der Verhältnisse in der Ägäis musste er ihr auch von der Reise abraten.

»Woran leidet deine Schwester?«, fragte er.

»Malaria! In der letzten Phase!«

Dimitri nickte voller Mitgefühl. In Griechenland forderte diese Krankheit mehr Opfer als der Krieg. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

»Du sagtest, dass deine Schwester auf Tinos lebt?«, fragte er.

Mando nickte.

»Ich habe gehört, dass dort eine wundertätige Ikone der Panagia entdeckt worden ist …«

Mando vergaß zu weinen.

»Jetzt sag nur noch, dass du daran glaubst!«, rief sie.

Dimitri zuckte mit den Achseln. »Man sollte nichts unversucht lassen. Ich habe in Russland so viele Wunderheilungen miterlebt, dass ich nicht mehr den Hochmut besitze, mich darüber zu erheben.«

»Nichts geschieht ohne Grund und nichts geschieht, was nicht geschehen kann. Geschieht tatsächlich das, was geschehen kann, kann es nicht als Wunder betrachtet werden. Also gibt es keine Wunder«, zitierte Mando.

»Cicero«, bemerkte Dimitri anerkennend. Wahrlich, es war eine Freude, mit einem gebildeten Menschen zu sprechen, auch wenn dieser Mensch zurzeit in eine tiefe Melancholie verfallen zu sein schien.

So sehr Dimitri General Kolokotronis schätzte, so sehr ging es ihm gegen den Strich, dass sich der bärbeißige Feldherr mit so vielen groben Menschen umgab. Wie wenig europäisiert der Alte von der Morea war, hatte sich erst vor wenigen Tagen gezeigt, als er sich von Dimitri dazu überreden ließ, auf einen Ball in Nauplia zu gehen. Angesichts der mit Männern tanzenden Frauen hatte der alte Krieger entsetzt den Kopf geschüttelt, dass ihm die weißen Strähnen nur so ums Gesicht flogen. »Das, mein Freund«, hatte er seinem Begleiter zugeflüstert, »ist kein Tanz, sondern der Auftakt zum Geschlechtsverkehr!«

Kolokotronis fand es zutiefst beklagenswert, dass die Exilgriechen lieber elegant gekleidet im Walzertakt über das Parkett schwebten, als, wie es sich gehörte, in Fustanellas gehüllt, den Männertanz Zamiko aufführten. Außer mit diesem einen Satz hatte sich Kolokotronis an jenem Abend nicht mehr zu Wort gemeldet, sondern nur mit versteinertem Gesicht die Menschen beobachtet, von denen Griechenlands Wohl abhängen sollte.

Andererseits, es herrschte immer noch Krieg, und da waren Taten wichtiger als schöne Worte. Kolokotronis war kein Diplomat, aber er schaffte es immer wieder, abtrünnige Landsleute zur Vernunft zu bringen. Er machte niemandem Versprechungen, warnte im Gegenteil das einfache Volk vor den Fallstricken der Freiheit, die es anstrebte, und empfahl jedem sich die Grundbegriffe des Lesens und Schreibens anzueignen.

Dimitri fand das nicht ganz ungefährlich, meinte aber, dass man später über die Ausbildung der Volksmassen nachdenken und Schulen und Universitäten für die einfachen Bürger errichten könne – so wie er es im Staat des inzwischen ermordeten Ali Pascha gesehen hatte. Nicht, dass er viele gute Worte für den einstigen Räuberhauptmann übrig hatte, aber dieser Mann hatte zumindest versucht Kultur einer breiten Masse zugänglich zu machen – und nicht nur so entzückenden Damen wie Mando Mavrojenous.

»Meine angebetete Teure, ich halte es mit Shakespeare, dass es nämlich mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als sich unsre Schulweisheit träumen lässt«, meinte Ypsilanti jetzt, »und daher kann es nicht schaden, wenn du den Vorschlag machst deine Schwester zu dieser Ikone zu bringen.«

Mando nickte nachgiebig. Bald würde sie Ypsilanti von Irinis wundersamer Heilung berichten.

Der Prinz flehte sie an, sich nicht den Gefahren des Meeres auszusetzen, und nachdem er die Zusicherung hatte, dass sie in Nauplia für die Genesung der Schwester beten würde, brachte er das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Die Admirale Miaulis und Tombasis sind in der Stadt und ich möchte ihnen am 11. Mai ein Bankett geben«, sagte er, »könntest du dabei als Gastgeberin in Erscheinung treten?«

Mandos Augen leuchteten und einen Augenblick lang vergaß sie ihren Kummer.

»Was soll ich anziehen?«, fragte sie kokett und überlegte, ob das fliederfarbene Kleid, das Vassiliki mitgebracht hatte, angemessen wäre.

»Lass dir ein Gewand schneidern, das deine Schönheit noch mehr zum Strahlen bringt«, erklärte Dimitri und überreichte ihr ein kleines Beutelchen mit Geld. »Ich bin so stolz auf dich und ich möchte, dass mich an diesem Abend jeder Mann um mein Glück beneidet!«

Wie dumm Männer doch waren! Als ob ihr eine Schneiderin innerhalb von zwei Tagen ein Traumgewand herzaubern könnte! Das fliederfarbene Kleid würde seinen Zweck erfüllen und sie brauchte sich in den nächsten Tagen über ihre Ausgaben kein Kopfzerbrechen mehr zu machen.

Da ihr allerdings bewusst war, dass sie mit Dimitris milder Gabe keine großen Sprünge würde machen können, suchte sie am nächsten Morgen das Büro auf, das ihr genannt worden war, um Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Diesmal ließ sie sich nicht von dem Beamten abfertigen, der ihr eine Heirat als Ausweg empfohlen hatte, sondern bestand als Verlobte von Dimitri Ypsilanti und als Generalleutnant Mando Mavrojenous darauf, sofort mit dem zuständigen Herrn zu sprechen.

Dieser erwies sich als ein dicker, gemütlicher Mann, der sie in aller Form begrüßte, ihr eine Tasse Kaffee servieren ließ, sich dann zurücklehnte und offensichtlich nachdenklich die Augen schloss, als sie ihm ihre Geschichte erzählte.

Sie legte den Schuldschein von Mykonos auf seinen Schreibtisch, zählte ihm auf, wie viele Millionen Grossia sie persönlich zur Befreiung des Vaterlandes aufgewendet hatte, und erwähnte nebenbei, dass sie auch Leib und Leben Gefahren ausgesetzt habe. Ausführlich berichtete sie von ihrer Mission, türkisches Unheil von Mykonos abzuwenden, schilderte in den lebhaftesten Farben die Kampfesszenen in Euböa und schloss damit, dass sie nur noch das besitze, was sie am Leibe trage.

»Ich sehe ein, dass die griechische Regierung noch nicht über die Mittel verfügt, mir alle meine Ausgaben zurückzuerstatten. Daher bitte ich nur um genug Geld, damit ich einigermaßen standesgemäß leben und meine Diener bezahlen kann. Außerdem ist es sicherlich nicht zu viel verlangt mir ein bewohnbares Haus zur Verfügung zu stellen, finden Sie nicht auch?«, schloss sie und wartete auf eine Antwort.

Die Stille im Raum wurde nur durch das regelmäßige Schnarchen des Herrn gestört.

Mando schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Was wünschen Sie?«, fragte der so unsanft aus dem Schlaf geschreckte Herr verwirrt.

»Ein Haus!«, donnerte Mando. »Ein Haus, in dem ich menschenwürdig leben kann!«

»Mit welcher Begründung?«

Der kleine Beamte aus dem Vorzimmer trat ein und verbeugte sich leicht vor Mando.

»Mir ist Anweisung gegeben worden Ihnen ein Haus zur Verfügung zu stellen«, sagte er höflich.

»Von wem?«

»Von oben«, erwiderte er und schüttelte den Kopf, als Mando ihm den Schuldschein aus Mykonos vor die Nase hielt.

»Da kann ich leider nichts machen. Das müssen Sie mit dem Ältestenrat von Mykonos klären.«

»Ist die Sache damit erledigt?«, erkundigte sich der gemütliche Herr.

»Sie werden noch von mir hören!«, drohte Mando und folgte dem kleinen Mann ins Vorzimmer.

»Ich freue mich, dass Sie meinem Rat gefolgt sind«, lächelte der junge Mann sie an, »mit Prinz Ypsilanti als Ehemann wird es Ihnen sicher bald an nichts mehr fehlen.«

Er zog sich eine Jacke über und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

»Das Haus liegt in der Innenstadt und ist bei den Kämpfen verschont geblieben«, erklärte er. »Es ist kein Palast, wird Ihnen aber bis zu Ihrer Eheschließung sicherlich gute Dienste leisten.«

Er teilte ihr noch mit, dass dieses Gebäude ein bescheidenes Geschenk der Regierung an eine verdiente Kämpferin sei und bat sie, bei ihrem künftigen Ehegemahl ein gutes Wort für ihn einzulegen, da er sich beruflich zu verändern wünschte. Sie habe ja selber erlebt, dass sein Vorgesetzter weniger zugänglich sei, als seine Statur vermuten ließe.

»Ich spreche Griechisch, Türkisch und etwas Französisch und bin auf der Suche nach einer Stelle als Schreiber«, erklärte er, »und natürlich kenne ich mich auch mit den Gesetzen aus.«

Mando blieb stehen und fragte nach seinem Namen.

»Aristoteles Vlachos«, stellte er sich vor und sah sie erwartungsvoll an.

»Wenn Sie sich mit den Gesetzen auskennen, werden Sie sicher auch noch Wege wissen, wie ich zu meinem Geld kommen kann?«, fragte sie.

»Kein Problem«, versprach er, »wir haben ja jetzt den Areopag.«

Mando bedachte sich nicht lange.

»Sie können in meinen Dienst treten«, sagte sie langsam, »aber Sie werden verstehen, dass ich Sie erst bezahlen kann, wenn mir das Meine zurückgegeben worden ist. Es wird also in Ihrem eigenen Interesse sein, mich vor dem Areopag gut zu vertreten.«

»Und wovon soll ich in der Zwischenzeit leben?«, fragte er.

»Darum kann ich mich nicht kümmern.«

Bedauernd zuckte er mit den Achseln. »Dann bin ich leider nicht imstande Ihr Angebot anzunehmen«, sagte Aristoteles Vlachos, »ich habe Frau und Kinder.«

Mittlerweile waren sie vor dem Haus angekommen, das nach seinen Worten die provisorische griechische Regierung der Heldin des Freiheitskampfes geschenkt hatte. Es war zwar nur wenig größer als ihre alte Bleibe, aber es machte von außen einen wesentlich repräsentativeren Eindruck. Aristoteles Vlachos öffnete die Haustür und ließ sie vorangehen. Mando atmete erfreut eine schimmelfreie Luft ein.

Die Räume waren spärlich, aber geschmackvoll möbliert, die Tapeten hatten zwar bessere Tage gesehen, würden bei Kerzenlicht aber immer noch als edel durchgehen können und die Küche war geräumig, gut gelüftet und verfügte nicht nur über einen großen Herd, sondern auch über fließendes Wasser.

»Mögen Sie in diesem Haus glücklich sein«, wünschte ihr Aristoteles Vlachos und verabschiedete sich.

Glücklich, dachte Mando und setzte sich auf einen der Sessel neben dem Kamin im Wohnzimmer, glücklich bin ich nur, wenn Marcus wiederkommt. Ob er wirklich nach Mykonos zurückgekehrt ist? Wo hat er die letzte Nacht verbracht? Vielleicht hat er aus Verzweiflung auf einem der Schiffe angeheuert, die das Piratenunwesen bekämpfen. Vielleicht stürzt er sich in eine Seeschlacht, um mich zu vergessen. Ich wäre auch lieber tot als ohne ihn. Werde ich ihn jemals wieder sehen? Wieder begannen ihre Tränen zu fließen.

Ihre Sorgen waren unbegründet. Marcus war nach Verlassen des Hauses in eine der Hafentavernen gegangen, hatte sich fürchterlich betrunken und war am Morgen nicht nur mit einem schweren Kopf, sondern auch neben einer Frau aufgewacht, die er am Abend zuvor erheblich schöner gefunden hatte.

Stolz, einen so attraktiven Fang gemacht zu haben, wollte sie ihn wieder an ihren Busen ziehen, aber er sprang nur wortlos aus dem Bett, warf ihr ein paar Münzen hin, fuhr in seine Kleider und rannte zum Strand. Dort stürzte er sich ins eiskalte Wasser und schwamm weit hinaus bis zu dem vorgelagerten Inselchen der Heiligen Theodora. Er setzte sich auf den Kai der kleinen Festung Burtsi, von den Venezianern Castel da Mar genannt, betrachtete den hohen achteckigen Turm und gestand sich ein, wie ein Esel gehandelt zu haben.

Wer war er denn, dass er Mando eine so vorteilhafte Ehe nicht gönnte! Er wusste, dass sie nur ihn liebte, und Dimitri Ypsilanti war schließlich kein Adonis wie Jakinthos, dessen Reize ihm hätten gefährlich werden können. Er dachte an Vassilikis Worte, überlegte, ob ihm die Rolle des heimlichen Liebhabers stand und sagte sich, dass er genau das bisher ja auch gewesen war. Zu seiner künftigen Lage gab es nur einen Unterschied, aber dieser Unterschied war entscheidend.

Er zitterte, und das lag nicht an der Kälte, als er daran dachte, dass auf Mando eheliche Pflichten warteten. Dass der hässliche Zwerg mit seinen knochigen Fingern ihren göttlichen Busen kneten und sie küssen würde! Dass er das Recht haben würde sich auf sie zu legen und Einlass zu fordern!

Marcus sprang auf und lief erregt auf dem Kai hin und her. Seine einzige Hoffnung blieb, dass sich Ypsilanti als impotent erwies. Aber nein, das war auch keine Hoffnung, denn dann würde er nach anderen Mitteln suchen sich Befriedigung zu verschaffen. Schließlich kam er aus Russland, und Marcus hatte gehört, dass es dort bei feinen impotenten Herren selbstverständlich war, reihenweise junge Männer ins Haus zu holen, die die Gattin bestiegen, während der Gemahl zusah. Gemunkelt wurde auch von Werkzeugen, die der Lust auf die Sprünge helfen sollten und Foltergeräten nachempfunden waren. Welch fürchterliches Schicksal wartete da auf Mando!

Natürlich hatte sie keine Ahnung von diesen Niederungen der menschlichen Natur. Er musste sie beschützen, ihr Halt geben und dafür sorgen, dass sie nicht an diesem Unglück zerbrach. Als Gegenleistung würde er ihr einige Versprechen abverlangen. Dass ihr künftiger Gatte sie nicht auf die Brüste küssen dürfte, hatte sie bereits beteuert. Er würde auch darauf bestehen, dass sie nicht zuließ, sich vor der Eheschließung von Ypsilanti berühren zu lassen, und danach hatte sich dieser ausschließlich mit jener Handlung zu bescheiden, die zum Fortbestehen der Art erforderlich war. Ohne Umschweife! Das war schon schlimm genug.

Das wahre Glücksgefühl würde weiter ihm vorbehalten bleiben, der sich als ihr Adjutant jederzeit in ihrer Nähe und so oft wie möglich in ihrem Bett aufhalten würde. Er würde sie wieder zu seiner Aphrodite machen. Hephaistos konnte ihm gestohlen bleiben! Unter solchen Überlegungen wurde ihm wärmer ums Herz und er beschloss sofort zu ihrem Haus zurückzukehren und den Pakt mit ihr zu besiegeln.

Er fand Vassiliki bereits beim Packen vor. Als wäre nichts geschehen, bot er seine Hilfe an und suchte einen Kutscher, der den Transport übernehmen würde. Bei seiner Rückkehr waren die meisten von Mandos Habseligkeiten bereits weggeschafft worden, nur der grüne Kasten stand noch im Wohnzimmer. Er erinnerte sich öfter Anspielungen auf einen grünen Kasten vernommen zu haben und rüttelte an dem Schloss, um zu sehen, ob es sich leicht öffnen ließe.

»Marcus!«

Er wirbelte herum. »Ich wollte nur sehen, ob der Kasten gut genug verschlossen ist, damit er sich beim Transport nicht aus Versehen öffnet«, sagte er zu Mando. »Was steckt eigentlich darin?«

»Nichts Wichtiges«, flüsterte sie. »Hast du mir verziehen?«

Schweratmend stand sie vor ihm und blickte mit so flehenden Augen zu ihm auf, dass er augenblicklich den Kasten vergaß. Mando hatte gerade noch Zeit den Schlüssel in der Wohnzimmertür umzudrehen, bevor Marcus sie packte und auf den fadenscheinigen Teppich riss.

»Werden wir denn nie genug voneinander kriegen?«, fragte sie hinterher fast verzweifelt, als sie sich vor dem halb blinden Spiegel das Haar wieder aufsteckte.

»Nie!«, versicherte er. »Und wenn du mit dem abscheulichen Zwerg verheiratet bist, werde ich vor seiner monströsen Nase bei Tisch meinen Fuß unter deinen Rock schieben.« Er griff nach ihr, setzte sie auf einen Stuhl am Tisch, ließ sich ihr gegenüber nieder und zeigte ihr genau, was er vorhatte. Als sie um mehr bat und auf dem Stuhl immer weiter herunterrutschte, hörte er auf.

»Wir werden dies noch oft üben müssen, Mademoiselle, diese Haltung schickt sich nicht bei Tisch.«

»Nicht aufhören!«, bat sie, froh, dass er sich mit der unvermeidlichen Lage abgefunden zu haben schien und außerordentlich erregt bei dem Gedanken mit Marcus neue Liebesspiele zu erfinden. Aber er schüttelte den Kopf. Ein bisschen Strafe musste schon sein.

Mando ließ sich zu Boden fallen. Sie konnte nicht bis zum Einbruch der Nacht warten, irgendwie musste sie Marcus dazu bewegen, eine begonnene Angelegenheit fortzusetzen. Auf allen vieren kroch sie zu ihm hin und biss ihn leicht in den Unterschenkel, wandte sich dann rasch um, kroch zum Kamin und schob mit der rechten Hand ihren Unterrock nach oben. Sie ließ sich auf die Unterarme fallen, drückte das Kreuz durch, hob den Unterkörper so weit sie konnte und wackelte einladend mit ihrem entzückend gerundeten Hinterteil. Der Tropfen Honig, der aus der weit geöffneten schimmernden Muschel auf den zerschlissenen Teppich fiel, zeitigte Folgen, die die inzwischen zurückgekehrte Vassiliki voller Missbilligung durchs Schlüsselloch beobachtete.

Genau so etwas hatte sie schon befürchtet. Wendete Marcus Mavrojenous etwa die Methode an, die Ali Paschas Frauen ihren Liebhabern zugestanden hatten, damit sie nicht von ihnen geschwängert wurden? Das Verfahren, das liebeshungrigen jungen Mädchen in den Dörfern die Erhaltung der Jungfräulichkeit garantierte? Aber wozu? Sie hatte Mando doch Kräuter und Öl gegeben! Erst, als alle beide vor Erschöpfung auf die Seite fielen, erkannte sie, dass ihre Befürchtungen unbegründet gewesen waren, und sie atmete erleichtert auf. Wie verletzlich ihr Püppchen aussah! Wie schön sie war mit ihrem geröteten feuchten Gesicht, und was für ein Glück Marcus hatte ihre weiche Haut berühren zu dürfen!

Vassiliki lief ein Schauer über den Rücken, als sie daran dachte, wie weich die Haut von Frauen war. Das hatte sie in einer Nacht vor vielen Jahrzehnten erfahren, als sie weinend in ihrem Bett lag, weil Ali Pascha aufgehört hatte nach ihr rufen zu lassen. Sie hatte nie zu seinen offiziellen Frauen gehört, die erst dann nicht mehr voller Verachtung auf sie herabgesehen hatten, als sie dem Herrn einen Sohn geschenkt hatte. Zwei italienische Sklavinnen waren zu ihr ins Bett gekrochen, um sie zu trösten, was ihnen vorzüglich gelungen war. Wenn Vassiliki an diese Nacht zurückdachte, schien sie unter ihren Fingern immer noch die samtige Haut der Trösterinnen zu spüren. Obwohl sie damals wusste, dass sie etwas Verbotenes taten, wurde sie nie die Erinnerung daran los, wie vertraut und weich ihr die weiblichen Körper erschienen waren.

Es hatte sich für Vassiliki nie eine Gelegenheit ergeben diese Erfahrung zu wiederholen. Im Harem des Sultans herrschten strenge Regeln, die zwar von den Ehefrauen, nicht aber von den einfachen Dienerinnen gebrochen werden konnten. Als Vassiliki nach ihrer Flucht den Dienst im Hause Mavrojenous angetreten hatte, war sie schon längst nicht mehr an jenen leiblichen Freuden interessiert, die ein Mensch einem anderen bereiten konnte.

Wenige Jahre später war Mando geboren worden und von da an konzentrierte sich ihre ganze Liebe auf das kleine, hilflose und so liebebedürftige Geschöpf, das ihr von der Mutter anvertraut worden war. Zakarati hatte sich die Haare gerauft, als sich herausgestellt hatte, dass sie schon wieder schwanger war. Nach Mandos Geburt wollte sich bei ihr einfach nicht das Gefühl der Zärtlichkeit einstellen, das sie bei ihren vier anderen Kindern verspürt hatte. Schon der Säugling war ihr fremd vorgekommen, wie ein Wechselbalg, den ihr ein ungnädiges Schicksal untergeschoben hatte.

Für Vassiliki war Mando ein Geschenk des Himmels. Ihr eigener Sohn war ihr gleich nach der Geburt weggenommen und von den regulären Frauen Ali Paschas zusammen mit deren Söhnen erzogen worden. Als er älter wurde, schämte er sich, dass seine Mutter nur eine einfache Dienerin war, und das ließ er sie schon als Sechsjähriger spüren. Nie hatte Vassiliki ihr eigenes Kind ans Herz drücken oder liebkosen dürfen und als Selim – der nach einem berühmten Sultan benannt worden war – fünfzehn war, verbot er der Mutter ihn zu grüßen und nahm sie von da an nicht mehr zur Kenntnis. Erst als erwachsener Mann erinnerte er sich wieder ihrer, und dann auch nur, um seinen Vater dazu zu überreden, sie für einen gefährlichen Auftrag einzusetzen.

Auf Selims Rat schenkte Ali Pascha dem Sultan die Dienerin Vassiliki mit dem Hinweis, dass diese Frau sich vorzüglich auf den Umgang mit und das Säubern von kostbaren Gegenständen verstand. Wie erwartet, erhielt Vassiliki Zugang zu den Gemächern der Sultana, wo der grüne Kasten stand. Diesen hatte Ali Pascha einst von räubernden französischen Ausgräbern in der Nähe des alten Olympia erbeutet und ihn dem Sultan als Geschenk geschickt. Davor hatte er eine kurze Beschreibung des Inhalts anfertigen lassen, die er später einem deutschen Altertumsforscher zeigte. Diesem verschlug es fast die Sprache und er flüsterte Ali Pascha zu, dass er möglicherweise eines der bedeutendsten Kunstwerke aus der Antike weggegeben habe. Natürlich könne er aus der Beschreibung nicht mit Sicherheit sagen, ob die Kopie der Zeusstatue wirklich aus jener Zeit stamme, in der das siebente Weltwunder angefertigt worden war. Sollte dies aber der Fall sein, befände sich jetzt im Serail des Sultans ein Gegenstand von unschätzbarem Wert.

Ali Pascha, der schon zu jener Zeit mit dem Gedanken liebäugelte, sich vom Sultan abzunabeln und ein eigenes Reich zu errichten, musste den Kasten zurückhaben. Die ganze Welt würde an seinen Hof in Tepelenë kommen, um eine möglicherweise von Phidias selber angefertigte authentische Nachbildung des Weltwunders zu sehen. Dies würde ihm endlich die internationale Anerkennung verschaffen, der seine Vergangenheit als Räuberhauptmann bisher im Wege stand. Er beriet sich mit seinen Söhnen.

Alle wussten, dass die Mauern des Serails undurchdringbar waren, seine Räume wie ein Labyrinth, in dem selbst Ariadne mit ihrem Wollknäuel verloren gegangen wäre und dass ein Außenstehender nicht einmal in die Nähe des Harems kommen könnte. Die einzige Hoffnung waren die Gärten hinter der Beschneidungshalle und dem Pavillon von Bagdad, wie Ali Pascha von einer alten Kreolin erfuhr, die Jahre zuvor wegen besonderer Verdienste aus dem Harem freigelassen worden war. Wenn es irgendeiner Frau gelingen konnte, den Kasten dort einem bestochenen Eunuchen auszuhändigen, bestand Hoffnung ihn entfernen zu können.

Es war Selim, der die Idee hatte seine Mutter mit dieser gefährlichen Aufgabe zu betrauen. Vassiliki wusste, dass dahinter der Gedanke stand, ihrer peinlichen Gegenwart für alle Zeiten enthoben zu sein, und das brach ihr das Herz. Sie hatte allen Lebenswillen verloren, keine Angst hingerichtet zu werden, und vielleicht war das der Grund, weshalb der Plan vorzüglich funktionierte. Allerdings mit einer kleinen Abweichung. Dem bestochenen Eunuchen hatte sie einige der goldüberzogenen Pastillen gegeben, mit denen sich die Frauen des Sultans den Opiumrausch verschafften, und dann war sie in seine Kleider geschlüpft und auf verblüffend einfache Weise aus dem Harem gelangt.

Sie wusste allerdings, dass sie mit dem schweren Kasten, den sie in einem Handkarren unter den zu verbrennenden Monatstüchern der Haremsbewohnerinnen verborgen hatte, nicht weit kommen würde, und so sprach sie auf gut Glück einen Griechen an, der ihr nahe des Palasts begegnete. Dies war Nikolaos Mavrojenous. Sie händigte ihm den Kasten aus, erhielt dafür seine Protektion und eine Stellung auf Lebenszeit. Nikolaos hielt sein Wort. Auch Zakarati erfuhr von ihm nur, dass Vassiliki aus dem Harem geflüchtet sei und deshalb bei Besuchen türkischer Gäste nicht in Erscheinung zu treten habe. Alles war gut gegangen, bis zu jenem furchtbaren Tag, aber an den wollte Vassiliki jetzt nicht denken.

Dazu war auch keine Zeit, denn heftiges Klopfen an der Eingangstür schreckte sie auf. Sie erstarrte, als sie Dimitri Ypsilantis Stimme erkannte, rief atemlos durchs Schlüsselloch: »Verhaltet euch still, der Prinz ist da!«, und öffnete die Tür.

Mademoiselle Mando wäre bereits in ihrem neuen Domizil, teilte die Dienerin dem Besucher mit einem ungewöhnlich freundlichen Lächeln mit. Dimitri dankte ihr und verabschiedete sich frohen Mutes. Ihm war am vergangenen Tag aufgefallen, wie nahe Mando dieser Magd offensichtlich stand, und er vermutete, dass sie ihre Amme gewesen war. Auch er hegte noch zärtliche Gefühle für die Frau, die ihn an Mutters statt an die Brust gehalten hatte.

Er hoffte, dass sich Mando von der schlechten Nachricht des Vortages erholt hatte. Nie würde er ihr verraten, dass ihr neues Haus keine Gabe der Regierung war, sondern dass er es für sie gekauft hatte.

Er hatte sich persönlich bei Mavrokordatos für Mando eingesetzt, aber dieser hatte ihn mit der Bemerkung abgewiesen, niemand habe die Mykoniatin gezwungen ihr Vermögen für den Befreiungskampf einzusetzen und im Übrigen strebe sie ja mit ihm, Prinz Ypsilanti, einer finanziell sorglosen Zukunft entgegen. Außerdem wisse er aus sicherer Quelle, dass Mando keineswegs völlig mittellos sei, sie besitze immer noch mehr Schmuck und Wertsachen als die meisten griechischen Aristokratinnen, deren Männer am Freiheitskampf teilnahmen. Wisse Ypsilanti denn nicht, dass sich in ihrem Besitz das mit Diamanten besetzte Schwert Konstantin des Großen befände, das sie bei einem Verkauf sämtlicher finanzieller Sorgen entheben würde?

Auch Kolokotronis war es nicht geglückt, Mavrokordatos umzustimmen. Allerdings vertröstete er Ypsilanti mit dem Hinweis auf den geplanten Putsch. Wenn sie beide erst der Regierung vorstünden, würde Mando zu ihrem Recht kommen. Aber mit der Bemerkung, Mando strebe mit ihm einer finanziell sorglosen Zukunft entgegen, hatte Mavrokordatos einen Stachel in Dimitris Brust gedrückt. Immer öfter fragte er sich, ob sie sich nur deswegen mit ihm verlobt hätte, und die Erinnerung an ihr Drängen auf einen vorehelichen Vertrag hinterließ einen bitteren Geschmack.

Ihre Hand habe ich, dachte er, als er sich zu ihrem neuen Haus aufmachte, um ihr Herz muss ich noch kämpfen.

Schweigend hatten sich Mando und Marcus eilig angekleidet und immer wieder besorgte Blicke zur Tür geworfen.

»Es wird nicht einfach werden«, sagte Marcus, als er sich mit einem hastigen Kuss von ihr verabschiedete, und Mando versuchte erst gar nicht darüber nachzudenken, welche Folgen es hätte haben können, wenn Dimitri sie auf frischer Tat ertappt hätte.

Am nächsten Abend war sie strahlender Mittelpunkt einer illustren Gesellschaft. Admiral Miaulis hatte darauf bestanden, neben der Heldin zu sitzen, der auf Mykonos zu begegnen er bereits die Ehre gehabt hatte. Ihr fiel auf, dass sich Admiral Tombasis von seinem Kollegen fern hielt, und sie vermutete, dass der politische Riss, der sich durch die einstige Hetärie der Freunde zog, auch die beiden Seebären voneinander getrennt hielt.

Wer auf welcher Seite stand, und welche Ziele von wem verfolgt wurden, war nicht genau zu erkennen, weil die Grenzen fließend waren und sich oft verschoben. Deutlich abgegrenzt waren nur die beiden alten Konflikte, der zwischen Politikern und Militärs und der zwischen dem Peloponnes und den Inseln.

Mando begriff, dass jeder erst dann seine wahre politische Flagge zeigen würde, wenn sich die Großmächte endlich in den Befreiungskampf einmischten, und daran, dass sie dies tun würden, zweifelte sie nicht im Geringsten. In ihrem Schreibtisch stapelten sich Briefe von angesehenen Bürgern aus Frankreich, England, Deutschland, Russland und sogar Österreich, die beteuerten, auf ihre jeweilige Regierung in Sachen griechische Befreiung Einfluss nehmen zu wollen.

Als Gastgeber war Dimitri äußerst charmant. Auf die Kunst, witzige Anekdoten zu erzählen, verstand er sich ebenso wie auf die scharfsinnige politische Analyse. Mando ertappte sich dabei, dass sie stolz auf ihren Verlobten war, an dessen Lippen alle Anwesenden hingen. So hässlich ist er eigentlich auch nicht, gestand sie sich ein, als sie seine vom Kerzenlicht weich gezeichneten Züge betrachtete. Der Widerschein fing sich in seinen Augen und er lächelte ihr liebevoll zu. Wie wunderschön sie war! An diesem Abend wirkte sie weniger spröde, weniger geziert, und dies verlieh Dimitri Ypsilanti Schwingen. Ein Mann, der ganze Städte und Landstriche erobert hatte, würde doch auch noch das Herz einer einzigen Frau erstürmen können!

Der Nachtisch war noch nicht serviert, als die Flügeltüren aufflogen und ein aufgeregter Adjutant ins Zimmer stürzte, der Dimitri hastig etwas zuflüsterte. Der Prinz wurde kreidebleich, stand so schnell auf, dass sein Stuhl hintenüberfiel und rief: »Mademoiselle Madons Haus steht in Flammen! Wir müssen sofort etwas unternehmen!«

»Überlassen Sie das mir.« Admiral Tombasis, der den ganzen Abend kaum ein Wort gesprochen hatte, stand auf und lief zu seinen Männern ins Vorzimmer.

Dimitri trat auf Mando zu, die ebenfalls aufgesprungen war, nahm ihre Hand und küsste sie. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er ihr zu und sagte laut: »Niemand kann so gut Feuer löschen wie ein Seemann, der sein brennendes Kriegsschiff vor dem Untergang retten muss.«

»Trotzdem würde ich gern nach Hause gehen«, bat Mando, »vielleicht kann ich ja helfen! Außerdem … wenn Vassiliki was passiert ist …« Oder Marcus, dachte sie und dann fiel ihr mit unendlicher Erleichterung ein, dass alle beide an diesem Abend zu einer Messe in die Kirche des Heiligen Spyridon gegangen waren.

Sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und drückte die Hand aufs Herz. Der grüne Kasten! Er war aus Metall, aber wenn nun durch die Hitze das Gold von der Zeusstatue schmolz? Sie hatte keine Ahnung, wie Elfenbein auf Feuer und Hitze reagierte, wusste nur, dass Edelsteine auch den Flammen der Hölle trotzen könnten.

»Der Prinz hat Recht, gnädiges Fräulein«, sagte Admiral Miaulis mitfühlend, »Sie können gar nichts ausrichten und würden die Männer höchstens von ihrer Arbeit ablenken.«

»Außerdem«, meinte Dimitri, »habe ich den Eindruck, dass sich Admiral Tombasis bei einem solchen Einsatz erheblich wohler fühlt als bei einem formellen Abendessen!«

Das Dessert wurde aufgetragen, aber Mando konnte keinen Bissen zum Mund führen.

Wenig später erschien Admiral Tombasis. »Alles unter Kontrolle«, bemerkte er knapp, setzte sich nieder und schaufelte Tortenstücke in seinen Mund.

Mando sah ihn fragend an, aber er hatte ihr nichts weiter zu sagen. Flehentlich blickte sie zu Dimitri, der ihren stummen Ruf verstand und nickte.

»Sie entschuldigen, aber ich glaube, Mademoiselle Mavrojenous macht sich große Sorgen um ihr Haus. Dürfte ich Sie bitten sich zum Cognac ins Herrenzimmer zu begeben? Ich werde meine Verlobte zu ihrem Haus begleiten und so schnell wie möglich zurückkehren.«

Sie mussten nur wenige Minuten zu ihrem Domizil gehen. Brandgeruch lag in der Luft und trotz der warmen Witterung dieses Maiabends zitterte Mando am ganzen Körper. Als sie in die Straße einbogen, floss ihnen das Löschwasser schon entgegen und als Erstes sah Mando die dunklen Fenster, aus denen die Scheiben gesprungen waren. Sie hastete zum Eingang, wo ein alter Mann damit beschäftigt war, Schutt wegzuräumen. Von Admiral Tombasis Männern fehlte jede Spur.

Ohne Rücksicht auf ihr elegantes fliederfarbenes Kleid stürzte Mando in den Flur. Sie wäre auf dem schlammigen Boden ausgerutscht, wenn Dimitri sie nicht aufgefangen hätte. Er hielt sie einen Augenblick fest, froh den begehrenswerten Körper wenigstens Sekunden lang gegen den seinen zu spüren, und er sah sie voller Mitgefühl an. Die Wände waren rauchgeschwärzt, die Türen knarrten müde in den Angeln, die Tapeten im Salon waren verbrannt und in der Küche hing immer noch so viel Rauch, dass sie gar nicht erst eintrat.

»Hier ist das Feuer ausgebrochen«, bemerkte Dimitri, und Mando fragte sich, ob Vassiliki mit dem großen Herd mehr Mühe gehabt haben könnte, als sie zugeben wollte. Schließlich war sie eine ungeübte Köchin.

»Was ist hier los?«

Ein völlig erschütterter Marcus trat mit einer ebenso erschreckten Vassiliki in den Flur. Fassungslos sahen sich die beiden um und kamen erst zu sich, als Mando ein spitzer Schrei entfuhr. Sie war ins obere Stockwerk gegangen und stand jetzt stocksteif auf dem Treppenabsatz. In ihrer Hand hielt sie eine Schmuckschatulle.

»Leer!«, rief sie und schüttelte die Schatulle. Ihre Stimme überschlug sich. »Alles gestohlen! Mein Schmuck, mein letztes Geld, das Schwert meines Vaters …«

»… der grüne Kasten«, flüsterte Vassiliki, die sofort einen Blick in den Salon geworfen hatte.

»Bist du sicher?«, fragte Dimitri unsicher und Marcus musste sich zusammenreißen ihm keine Ohrfeige zu verpassen.

»Das Silber ist auch weg«, verkündete Vassiliki und deutete auf die herausgerissene Lade des Wohnzimmerschranks.

»Dann war es Brandstiftung«, stellte Dimitri fest, der versuchte, die Fassung zu bewahren. »Erst wurde das Haus ausgeraubt und dann Feuer gelegt.«

»Nein«, sagte Vassiliki, die hustend aus der Küche kam. »Keine Brandstiftung. Es war meine Schuld«, setzte sie leise hinzu, »in der Kirche habe ich noch überlegt, ob ich die Holzscheite vom Herd genommen habe …« Sie begann zu schluchzen. »Ich hätte zurückgehen sollen …« Mit ihrer rußschwarzen Hand zog sie an Mandos Ärmel. »Mein Püppchen, ich habe dir ja gesagt, dass dieser Herd ein Ungeheuer ist! Jetzt hat er dein schönes Haus gefressen!«

»Wenn es keine Brandstiftung war …«, begann Mando langsam und sah Ypsilanti an.

»Wohin geht ihr?«, rief ihnen Marcus nach, als alle beide aus dem Haus eilten. Er holte sie ein und erfuhr, dass die Männer von Admiral Tombasis den Brand gelöscht hatten. Als sie in Dimitris Haus zurückkehrten, wurden sie darüber informiert, dass der Admiral mit seinen Männern bereits aufgebrochen war, da sie die Nachricht einer bevorstehenden Seeschlacht erreicht hatte.

Fragend blickte Dimitri zu Admiral Miaulis. Der hob die Schultern. »Mir ist davon nichts bekannt, aber möglich ist es schon.«

»Ist es auch möglich, dass sich ein dekorierter Admiral auf dem Festland als Pirat betätigt?«, fragte Mando mit flammenden Augen.

Miaulis blickte zu Boden. »Ein Admiral wohl kaum«, sagte er leise, »aber man kann nicht immer seine Hand für die eigenen Männer ins Feuer legen.«

Jetzt war sicher nicht der geeignete Zeitpunkt, um die Anwesenden darüber aufzuklären, dass mancher griechischer Seemann, der auf einem Kriegsschiff Dienst tat, sich zuvor seinen Lebensunterhalt als Pirat verdient hatte. Diese Männer waren von unschätzbarem Wert für die griechische Flotte, da sie mit dem Meer, seinen Untiefen, Klippen, Unruhen und heimtückischen Fahrwassern erheblich vertrauter waren als die Seeleute der Handelsschiffe. Außerdem waren sie geübtere Kämpfer. Hinzu kam, dass mit jedem Piraten, der zur Flotte stieß, einer weniger auf See sein Unwesen trieb. Miaulis hätte auch noch hinzufügen können, dass die noch reichlich vorhandenen aktiven Seeräuber einen siebten Sinn dafür zu haben schienen, wenn ihresgleichen auf einem Kriegsschiff dienten und sie dann meistens einen Bogen um derart bemannte Schiffe machten. Möglicherweise gab es auch ein geheimes Zeichen – schließlich hatten sich die Piraten seit altersher schon immer zu Banden zusammengeschlossen.

Er bedauerte es außerordentlich, dass die schöne Mykoniatin, an der er einen Narren gefressen hatte, nun ein Opfer geworden war, aber da war nichts zu machen. Wären es seine Männer gewesen, hätte er auch ein Auge zukneifen müssen. Schließlich konnte die Regierung den angeheuerten Männern oft genug den Sold nicht auszahlen, da musste man es ihnen nachsehen, wenn sie auf Beutezüge ausgingen.

»Gefallen lassen werde ich mir das nicht!«, rief Mando. »Es muss doch irgendjemanden geben, bei dem ich mich offiziell beschweren kann.«

»Das wird nicht viel nützen«, meinte Dimitri, aber Admiral Miaulis kam eine Idee. Er zog Mando in eine Ecke und flüsterte ihr etwas zu. Dimitri sah, dass sie heftig nickte, aber als er Mando später fragte, was ihr der Admiral geraten habe, blickte sie ihn nur spitzbübisch an. »Es könnte funktionieren«, war alles, was sie dazu sagte.

Dimitri staunte, wie schnell sie wieder Oberwasser gewonnen hatte und vermutete nicht ganz zu Unrecht, dass Mando zu den Menschen gehörte, die Abenteuer in ihrem Leben brauchten, um zu merken, dass sie existierten. Er bot Mando, Marcus und Vassiliki Obdach an und erklärte, dass er es als eine Ehre empfinden würde, sie in seinem Haus zu beherbergen. Marcus musste sich mit einem Verschlag im Erdgeschoss zufrieden geben und Mando wurde in einem Schlafzimmer im zweiten Stock untergebracht. Im angrenzenden Ankleidezimmer wurde eine Pritsche für Vassiliki aufgestellt. Das beruhigte Mando, die bereits ungewünschte Annäherungsversuche ihres Verlobten befürchtet hatte. In der Nacht ließ sie die Tür zu Vassilikis fensterloser Kammer offen und griff nach einem Buch, das ihr Dimitri aufs Bett hatte legen lassen.

»Mein Püppchen«, hörte sie Vassilikis Stimme, als sie das Büchlein aufschlug, »dein Prinz ist so übel nicht, versuche ein ganz klein wenig Platz in deinem Herzen für ihn zu finden.«

Als Antwort kam nur ein tiefer Seufzer.

»Ich weiß«, fuhr Vassiliki fort, »du hast zu viel Gedichte und Ritterromane gelesen. Die Poeten glauben, dass es nur eine Art der Liebe gibt und dass diese ein ganzes Leben lang nur einem Menschen gelten kann. Aber das ist Dichtung, mein Täubchen, in der Wirklichkeit ist das Herz viel größer und hat Platz für mehr als nur einen Menschen.«

»Woher willst du das wissen!«

»Du brauchst mir nicht zu glauben«, erwiderte Vassiliki, »aber du musst es dir nicht unnötig schwer machen. Marcus wirst du nicht verlieren und Prinz Ypsilanti kannst du dazugewinnen.«

Mando versuchte die Bilder ihres Alptraumes zu verscheuchen. »Wenn er nur nicht so hässlich wäre!«

Vassiliki dachte daran, wie sie den massigen Körper Alis vergessen hatte, wenn sie in seinen Armen lag, wie zärtlich und einfühlend der Albaner in gewissen Stunden ihr, der Dienerin, gegenüber gewesen war, und erwiderte: »Gerade Männer, die von der Natur nicht so begünstigt sind, geben sich oft mehr Mühe, ihren Frauen Glück zu bringen, als schöne Männer.«

Mando rutschte aus dem Bett, nahm ihr Öllämpchen, schlich zu Vassiliki in die Kammer und beleuchtete deren Gesicht. Aus wachen schwarzen Vogelaugen blickte die Dienerin zu ihr hinauf.

»Vassiliki«, begann Mando, »hast du jemals bei einem Mann gelegen?«

»Ja«, sagte Vassiliki und machte den Mund zum Strich.

Aber Mando wollte sich damit nicht abspeisen lassen. Sie stellte die Öllampe auf den Boden, kroch zu Vassiliki auf die schmale Pritsche und schlüpfte unter die Decke.

»Erzähl! Hast du ihn geliebt? Und wer war es?«

Hoffentlich nicht mein Vater, dachte sie einen Augenblick lang bestürzt. Sie erinnerte sich, dass Nikolaos Mavrojenous einmal erklärt habe, Vassiliki habe sich das Recht erworben ihr Leben lang bei der Familie zu bleiben. Das hatte er über keinen anderen aus der Dienerschaft gesagt.

Vassiliki zwang sich, nicht mit der Hand über die weiche Haut ihres Püppchens zu fahren, genoss einen Augenblick lang die Körperwärme der geliebten Kleinen, atmete ihren immer noch leicht rauchigen Duft ein und schob sie dann mit einem rüden Schulterstoß aus dem Bett.

»Geh schlafen. Ich erzähle dir die Geschichte ein andermal.«

»So wie du mir die Geschichte von deiner Flucht aus dem Harem erzählen wirst?«

»Aus einem Harem kann man nicht flüchten.«

»Es ist ungehörig, mich aus dem Bett zu stoßen.«

»Diesen Satz wirst du von deinem Prinzen sicher auch noch hören, wenn du nicht versuchst ihm etwas Zuneigung entgegenzubringen.«

Weil sich der Kreis des Gesprächs geschlossen hatte, stand Mando auf, nahm die Öllampe und zog sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Neugierig betrachtete sie das Buch. Es war eine französische Übersetzung von Byrons ›Childe Harold's Pilgrimage‹. Das Buch war 1812 erschienen und spiegelte dem Leser nicht vor, dass Griechenland heute noch eine von Göttern und Nymphen bewohnte Märchenwelt der Antike war. Beim Lesen staunte Mando, wie akkurat Byron die aktuelle Situation des Landes beschrieben hatte. Sie freute sich, dass er dies so vielfarbig und lebendig schildern konnte und dabei immer ein Fünkchen Hoffnung mitschwingen ließ. Eine Stelle gefiel ihr so gut, dass sie sie noch in jener Nacht auswendig lernte:

»Und doch, in deinem Leid, wie bist du schön,
Verschwund'ner Götter, toter Helden Land;
Es künden grünes Tal und schneebedeckte Höh'n,
Dass die Natur als ihren Liebling dich erkannt.«

Mando fiel die sommerbraune mykoniatische Steinwüste ein und sie fragte sich, ob jene Insel, auf der die Titanen ihre Kämpfe ausgetragen haben sollten, auch zu den Lieblingen der Götter gehörte.

Ypsilanti hatte das Haus bereits verlassen, als sie am späten Morgen die breite Treppe zur Empfangshalle hinunterkam.

»Der Herr lässt Ihnen sagen, dass Sie sich wie zu Hause fühlen sollen. Er erwartet Sie am Abend zum Essen«, teilte ihr einer der Diener mit. Mando bat eine Kutsche für sie anzuspannen und machte sich auf die Suche nach Marcus.

Sie fand ihn in ihrem ausgebrannten Haus, wo er zwischen den Trümmern herumwühlte, als ob er noch etwas zu finden hoffte.

»Das hat keinen Sinn«, sagte Mando, »alles, was nur geringen Wert hat, ist verschwunden. Darum musst du mich in die Hauptstadt begleiten.«

Er hob die Augenbrauen. »Nach Tripolis?«

»Das ist doch zurzeit die Hauptstadt«, erwiderte Mando ungeduldig. »Admiral Miaulis hat mir gestern einen guten Vorschlag gemacht. Ich erzähle es dir unterwegs.«

»Du kannst doch nicht einfach mit Ypsilantis Kutsche davonfahren!«, rief er, als ihn Mando wenig später aufforderte, sein Pferd zu satteln.

»Warum denn nicht? Ich bin schließlich seine Verlobte!«

Marcus schüttelte den Kopf, aber half ihr und Vassiliki ohne ein weiteres Wort beim Einsteigen. Der Kutscher wartete auf Anweisungen.

»Nach Tripolis«, sagte Mando einfach.

Das schien dem Mann die Sprache zu verschlagen und ihn bewegungslos zu machen.

»Worauf warten wir noch?«, fragte Mando ungeduldig.

Stotternd erklärte er, dass er sie gern zu irgendeinem Ziel in der Nähe von Nauplia fahren würde, ohne den Befehl seines Herren aber ungern in das fast eine Tagesreise entfernte Tripolis.

»Dann tust du es eben ungern«, erwiderte Mando pampig.

Vassiliki warf ihr einen strafenden Blick zu, kletterte zum Kutscher auf den Bock und sagte etwas zu ihm. Wenig später setzte sich die Kutsche in Bewegung.

»Wie hast du das geschafft?«, fragte Mando.

»Mit etwas Höflichkeit, stell dir vor, die kostet nichts«, erwiderte die Dienerin. »Außerdem habe ich ihm versprochen in Tripolis für ein frisches Pferd zu sorgen, damit er gleich wieder zurückfahren kann.«

»Und das hat gereicht?«

»Nicht ganz.«

»Sprich schon.«

»Es gibt Dinge, die eine Dame besser nicht hören sollte«, meinte Vassiliki nur und lehnte sich zurück. Marcus würde ihr schon helfen in Tripolis ein Mädchen aufzutreiben, das dem Kutscher die Rückreise versüßen würde.

Bei der ersten Rast teilte Mando Marcus und Vassiliki ihre Pläne mit.

»Selbst Piraten sind gläubig«, begann sie. »Admiral Miaulis hat mir geraten, beim Minister für Religion vorzusprechen und ihm alles zu erzählen. Der Mann ist ein guter Freund von Pappas Mavros.«

»Und was soll das nützen?«, fragte Marcus.

»Der Minister wird die Männer von Admiral Tombasis exkommunizieren, wenn sie mir nicht mein Eigentum zurückgeben.«

Marcus zweifelte am Erfolg dieser Aktion und er sollte Recht behalten. Drei Wochen, nachdem die Räuber aus der orthodoxen Kirche verbannt worden waren, gab es immer noch keine Spur von ihrer Beute.

Vassiliki hatte sich in Tripolis von Mando und Marcus verabschiedet, da sie beschlossen hätte Verwandte aufzusuchen, wie sie sagte. Sie würde im Laufe des Sommers nach Nauplia zurückkehren.

Den Aufenthalt in der Hauptstadt finanzierte Marcus, der inzwischen Anweisung gegeben hatte eines seiner Grundstücke auf Mykonos zu verkaufen. Er verdrängte den Gedanken, dass ihn die Liebe zu seiner Cousine bisher erheblich mehr Geld gekostet hatte als je eine andere Leidenschaft in seinem Leben.

Marcus fand es zwar sehr bedauerlich, dass Mando so viele Wertgegenstände verloren hatte, genoss es aber andererseits, so viel Zeit allein mit der Geliebten verbringen zu können. Diese für ihn ungetrübten Tage kamen allerdings an ein Ende, als Prinz Ypsilanti in der Stadt einritt und darauf bestand, dass die beiden im selben Gebäude wohnten, wo er abzusteigen pflegte.

Er verlor kein Wort über ihre unangekündigte Abreise und den Gebrauch der Kutsche, sondern zeigte volles Verständnis für ihre Eile ihr Eigentum zurückzuerhalten. Er teilte ihr nichts von dem geplanten, aber nicht ausgeführten Putschversuch mit, sondern erzählte nur, dass Kolokotronis die Präsidentschaft angetragen worden sei, dieser sich aber Bedenkzeit ausgebeten habe.

Er sorgte dafür, dass der Innenminister einen gepfefferten Brief an Admiral Tombasis schrieb, und innerhalb von einer Woche konnten ihr fast alle Gegenstände wieder ausgehändigt werden. Besonders froh war sie, dass sich darunter auch das Schwert von Konstantin dem Großen befand – der grüne Kasten aber blieb verschwunden.

»Was für eine Kostbarkeit befindet sich denn darin?«, wollte Dimitri wissen und auch Marcus horchte auf. Sie berichtete von der Zeusfigur.

»Der Kern ist Holz, aber alles drum herum aus Gold, Elfenbein und Edelsteinen«, sagte sie, »dass es sich um eine sehr wertvolle Figur handelt, ist klar, wie wertvoll, weiß ich nicht.«

»Vielleicht ist es das Vorbild, nach dem Phidias sein Weltwunder angefertigt hat«, überlegte Dimitri, »du weißt ja, dass Künstler oft erst ein Modell schaffen.«

An diese Möglichkeit hatte Mando überhaupt noch nicht gedacht.

»Dann wäre die Statue ja unbezahlbar«, flüsterte sie voller Ehrfurcht.

»Wenn man nur wüsste, wo sie herkommt«, mischte sich Marcus ins Gespräch ein.

»Pappas Mavros weiß es. Er hat mir einmal ein Rätsel aufgegeben und war recht ungehalten, als ich die Lösung nicht fand.«

Mando kam aber nicht mehr dazu, den beiden Männern das Rätsel vorzutragen, denn ein Diener trat ins Zimmer und überreichte ihr einen Brief. Gespannt beobachteten die beiden Männer, wie sie das Siegel erbrach und den Inhalt las.

Ein Leuchten flog über ihr Gesicht. »Wie schön!«, rief sie und hielt das Papier hoch, damit die beiden Männer die Unterschriften von Mavrokordatos und Kolokotronis lesen konnten. »Stellt euch vor, dies ist ein offizieller Dankesbrief für meine Beteiligung am Freiheitskampf, eine Würdigung meines Einsatzes.«

»Und wie viel Geld wird dir zugesichert?«, fragte Marcus bissig, da er fand, dass Dimitri Ypsilanti allzu selbstgefällig aussah.

Mando blickte wieder auf das Papier.

»Davon steht hier nichts«, sagte sie, »aber das kommt sicher noch. Verdirb mir nicht die Freude!«

»Verzeih«, sagte Marcus. Er stand auf und verabschiedete sich schnell. Ypsilanti hatte natürlich bessere Kontakte als er und ganz andere Möglichkeiten Mando zu beeindrucken. Vielleicht war es besser, wenn er nach Mykonos zurückkehrte, denn es war eine Qual, Mando und Dimitri zusammen zu erleben. Nicht nur, weil er wusste, dass es der Prinz kaum erwarten konnte, die vermeintliche Knospe zu brechen, sondern auch, weil sich Mando in Ypsilantis Gegenwart von einer Seite zeigte, die er schon bei ihrer ersten Begegnung auf Paros nicht hatte leiden können.

Während sie Marcus gegenüber das Herz auf der Zunge trug, sich natürlich, herzlich und ungekünstelt gab, verwandelte sie sich im Beisein des Prinzen wieder in die kokette Tochter aus gutem Haus, die ihre Meinung in Anspielungen verkleidete, gezierte Manierismen brauchte und sich besser als der Rest der Welt dünkte. Er wünschte, Vassiliki wäre in Tripolis, um Mando zurechtzuweisen.

Aber er kehrte nicht auf die Insel zurück. So wie er Mando kannte, würde sie ihn für seine Abreise bestrafen, und zwar genau mit jener Handlung, vor der ihm so graute. Sie würde sich Mut antrinken und Ypsilanti ihre Schlafzimmertür öffnen. Marcus war nämlich aufgefallen, dass sie längst nicht mehr so vor ihm zurückzuschrecken schien, wie das anfangs der Fall gewesen war. Sie hatte sich an sein Äußeres gewöhnt, war beeindruckt von seinem Einfluss, der auch ihr zugute kam, und hatte vor wenigen Tagen sogar erwähnt, dass man Ypsilanti ein gewisses Charisma nicht absprechen könne.

Marcus gestand sich ein, dass sein Ärger zum größten Teil daher rührte, dass er nach dem Umzug in Ypsilantis Domizil in Tripolis keine Möglichkeit mehr hatte Mandos göttlichem Leib nahe zu kommen. Der Prinz hatte wieder dafür gesorgt, dass ihm ein weitab gelegenes Kämmerchen zugewiesen wurde, während Ypsilanti selber in jenem Raum schlief, von dem aus es zu Mandos Zimmer eine Verbindungstür gab.

Jede Nacht musste sich Marcus zwingen, nicht in den oberen Flur zu schleichen und wie Vassiliki sein Ohr ans Schlüsselloch zu legen. Er litt unsägliche Qualen, vor allem, weil Mando ihm mit keinem Zeichen zu verstehen gab, dass auch sie Sehnsucht nach ihm hatte.

Ihm gegenüber verhielt sich Ypsilanti ausgesprochen höflich, nur ein Hauch von Kühle war merkbar. Marcus war zwar dankbar, dass sein Nebenbuhler nicht versuchte sich mit ihm anzufreunden, andererseits aber kränkte ihn dies auch ein wenig in seiner Eitelkeit. Ypsilanti hielt ihn offensichtlich nicht für interessant oder wichtig genug, um sich weiter mit ihm abzugeben. Er sah ihn als Mandos Cousin, der den Posten des Adjutanten von dem gefallenen Jakinthos übernommen hatte, und der weder in politischen noch in militärischen Angelegenheiten um Rat gefragt werden brauchte.

Marcus dachte an die Arbeit, die er jahrelang für die Hetärie der Freunde geleistet hatte, an seine weiten Reisen, an die geheimen und manchmal auch gefährlichen Aufträge und er fragte sich, wo in dem neu zu bildenden griechischen Staat für ihn eine Aufgabe zu finden sei. Oder war es ihm etwa vorherbestimmt, sein ganzes Leben der Liebe zu einer Frau zu opfern, die demnächst einem anderen Mann angehören würde?

Schlaflose Nächte waren die Folge solcher Gedanken und Mando konnte nicht entgehen, dass ihr Cousin abmagerte und sein Gesicht eine ungesunde fahle Farbe aufwies.

»Die Meeresluft bekommt dir offensichtlich besser«, sagte sie eines Morgens, als sie zu dritt beim Frühstück saßen. »Vielleicht solltest du nach Nauplia zurückkehren.«

Willst du mich loswerden, wollte er fragen, konnte sich aber gerade noch auf die Zunge beißen.

Er blickte zu Ypsilanti hinüber, der an diesem Morgen besonders aufgeräumt schien, seine Augen nicht von Mando lassen konnte und ihr immer wieder die Hand küsste.

Unterm Tisch hob Marcus einen Fuß und überlegte einen Augenblick lang, damit Mando unter den Rock zu fahren. Aber als sein Fuß ihr Bein streifte, warf sie ihm einen so eisigen Blick zu, dass er bis ins Mark erschauerte. Und da wusste er es.

»Du hast es getan!«, fuhr er sie an, nachdem sich Dimitri von den beiden verabschiedet und das Haus verlassen hatte.

Sie stand auf und ging ebenfalls zur Tür. »Irgendwann einmal musste es ja geschehen«, sagte sie kalt und ließ ihn stehen.

Dimitri Ypsilanti war froh, dass ihm der Vorstoß endlich gelungen war, auch wenn er zugeben musste, eine nicht in jeder Hinsicht erfolgreiche Eroberung gemacht zu haben. Von einer Frau mit so flammenden Augen hatte er mehr Leidenschaft erwartet. Andererseits sollte er nicht so anspruchsvoll sein, überlegte er, was konnte man denn von einer 26-jährigen Jungfrau erwarten, die aus Kreisen kam, in denen Mädchen auf alle Bereiche des Ehelebens vorbereitet wurden – bis auf jenen, von dem sich die Gatten gemeinhin das meiste versprachen.

Er schmunzelte bei dem Gedanken an Mandos Verschämtheit. Die junge Frau, die es mit Admiralen, Seeräubern und hochrangigen Politikern aufnahm, sich todesmutig in die Schlacht stürzte und vor keinem Amt Respekt zu haben schien, hatte schüchtern darauf bestanden, alle Lampen auszudrehen und war nicht zu bewegen gewesen das Nachthemd einen Zentimeter höher als nötig hinaufzuschieben. Am meisten befremdete ihn, dass sie ihm zwar ohne Widerstand Einlass gewährt, aber geradezu panisch reagiert hatte, als er nach vollzogenem Akt endlich auch über die üppigen Brüste herfallen wollte, die ihn schon bei der ersten Begegnung so erregt hatten.

Mit der Auswahl ihrer Kleider, von denen einige mehr als nur den Busenansatz zeigen, verspricht sie mehr als sie zu halten bereit ist, dachte er etwas enttäuscht. Da er nur unter Gewaltanwendung mit den prallen Früchten hätte spielen können, hatte er sich zurückgezogen. Jeder kluge Feldherr weiß, dass es mit der Eroberung der Festung nicht getan ist, es geht auch darum, sie zu halten – etwas, was er seinen Soldaten immer wieder einschärfte und ihm selber mit Blick auf Griechenland große Sorgen bereitete.

Sicher, erhebliche Teile des Landes waren schon befreit, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich der Sultan dies noch viel länger gefallen lassen würde. Die Hohe Pforte hatte schließlich viele Verbündete in der arabischen Welt, die mit großer Begeisterung und mit Feuer und Schwert den Christenhunden das Eroberte wieder abjagen würden. Wäre er der Sultan, würde er Mehmet Ali, den hochintelligenten und weisen Vizekönig von Ägypten, mit noch mehr Macht ausstatten, um die rebellierenden Griechen in die Schranken zu weisen. Er würde ihm großzügige Versprechungen machen, zum Beispiel Kreta und Zypern. Außerdem verfügte Mehmet Ali über eine nicht zu unterschätzende Waffe, seinen Adoptivsohn Ibrahim Pascha. Diesem jungen Mann ging ein Ruf von militärischer Exzellenz voraus, den er sich bei der Niederschlagung des Aufstands der Wahabiter in Arabien verdient hatte. Dimitri wusste, dass Ibrahim Pascha zur Zeit eine neue ägyptische Armee nach dem Muster der europäischen Armeen ausbildete und dass die ausgeklügelten Strategien dieses Mannes Griechenland viel gefährlicher werden konnten als die etwas verstaubten Taktiken, die von den Generälen des Sultans angewendet wurden. Wehe den nur mäßig ausgebildeten griechischen Rebellen, wenn Ibrahim Pascha jemals das Kommando führen sollte! Gegen einen so genialen und skrupellosen Feldherren würden griechischer Todesmut und die Begeisterung für den Befreiungskampf nur wenig ausrichten können. Einem solchen Mann könnte es gelingen, eroberte Gebiete für die Hohe Pforte zurückzugewinnen.

Damit kehrten seine Gedanken wieder zu Mando zurück. Sie war jetzt die seine, aber er würde ihre leise geflüsterte Bitte respektieren und mit eine Wiederholung des Aktes bis zur Eheschließung warten. Hätte sie nur ein wenig Passion gezeigt, wäre es ihm schwerer gefallen, dieses Versprechen zu geben. So aber tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er zur Erfüllung seiner Bedürfnisse weiterhin jene Frauen aufsuchen konnte, die dafür da waren. Mädchen aus gutem Hause dienten eben anderen Zwecken.

Mando hatten zwei Gründe geleitet Dimitris Werben um ihren Körper endlich nachzugeben. Zum einen war ihre Monatsblutung ausgeblieben und sie befürchtete, trotz aller Kräuter, Öle und Vorsichtsmaßnahmen doch schwanger zu sein. Wenn sie sich Ypsilanti hingab, würde er das Kind als das seine akzeptieren und die Hochzeit eben vorverlegen. Zum anderen wollte sie sich von diesem ständigen leisen Druck, den Dimitri auf sie ausübte, befreien. Sie vermutete, dass es dem Soldaten in erster Linie um die Eroberung ging und dass er sie in Ruhe lassen würde, wenn er erlebte, dass sie eine untaugliche Geliebte wäre. Von einer Dame würde er sowieso nichts anderes erwarten.

Also hatte sie die Verbindungstür, an der Dimitri jede Nacht leise rüttelte, in jener Nacht unverschlossen gelassen. Als er mit einem freudigen Schrei in ihr Zimmer gestürzt war, hatte sie ihn nur schüchtern angelächelt und gebeten die Lampen zu löschen. Dabei ging es ihr weniger darum, ihn nicht sehen zu müssen. An sein Äußeres hatte sie sich inzwischen gewöhnt und außerdem würde er sowieso erwarten, dass sie die Augen schloss. Sie hatte vielmehr Angst, dass er nach vollendeter Tat das Laken untersuchen und spurenfrei finden würde. Lange hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen, wie sie ihn täuschen sollte, hatte erwogen, ein kleines Stück ihres Badeschwamms abzuschneiden, in Blut zu tränken und einzuführen. Was aber, wenn er zufällig das Stückchen Schwamm entdeckte? Sie hatte überlegt sich an einem scharfen Schmuckstück einen Finger anzuritzen. Während er seinen Kopf keuchend in ihrem Nacken vergrub, würde sie das Blut schnell über das Laken streichen können. Doch sie stellte sich vor, dass sie danach die Hand in die Höhe würde halten müssen, um das Bluten zu stoppen und hielt daher auch diese Lösung für ungeeignet.

Aber Dimitri ließ sich nicht davon abbringen, das Ergebnis persönlich zu besichtigen. Mando protestierte heftig, als er eine Kerze anzünden wollte, aber das fruchtete nichts. Rücksichtsvoll zog er ihr Nachthemd bis zu den Knien, wickelte sich selber eine Decke um die Lenden, rollte Mando auf die Seite, nahm die Kerze und suchte das Laken ab. Mando lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, wartete auf das Urteil, das sie verdammen würde, und überlegte, welche Erklärung sie ihm anbieten könnte.

Stattdessen kam ein freudiger Ruf.

»Mir war schon aufgefallen, dass der innere Widerstand groß war«, bemerkte er glücklich, »und hier ist der Beweis!«

Ungläubig richtete sich Mando auf und blickte auf einen kleinen Blutfleck. Der Himmel hatte ein Einsehen gehabt! Sie war also nicht schwanger!

Der Kuss, den sie Dimitri gab, ließ ihn hoffen, dass er im Laufe der Zeit doch noch eine gewisse Leidenschaft in ihr würde entfachen können.

»Ich hoffe nur, dass ich dir nicht zu sehr wehgetan habe«, meinte er besorgt. »Beim nächsten Mal wird es besser für dich.«

»Dimitri«, hauchte sie, »es war sehr schmerzhaft. Könntest du mir einen Gefallen tun?«

»Jeden!«, versprach er.

»Bitte – erst wieder, wenn wir verheiratet sind …«

Er schluckte, drückte ganz schnell eine ihrer Brüste und nickte.

Ypsilanti war höchst überrascht Marcus Mavrojenous am frühen Nachmittag im Vorzimmer des Innenministers zu begegnen. Da Dimitri einen Termin hatte, wurde er vorgelassen. An der Tür wandte er sich noch einmal um und fragte, ob er in irgendeiner bestimmten Sache für Marcus intervenieren solle. Marcus schüttelte den Kopf. Auf die Protektion seines Nebenbuhlers konnte er dankend verzichten.

Was er dann aber doch nicht tat.

Als er später dem Innenminister gegenüber saß, hatte sich Ypsilanti an einem großen Konferenztisch niedergelassen und seinen kahlen Kopf über Akten gebeugt.

»Prinz Ypsilanti wird uns nicht stören«, meinte der Innenminister und sah Marcus fragend an. Etwas zögernd erklärte dieser, die Regierung habe die volle Unterstützung der Mykoniaten, und da er jetzt auf seine Heimatinsel zurückzukehren gedenke, wolle er wissen, mit welchen Aufgaben man ihn dort für die Befreiung Griechenlands zu betrauen wünsche.

Ypsilantis Kopf fuhr hoch, ehe der Innenminister den Mund öffnen konnte.

»Mein lieber Freund«, sagte er zu Marcus, »Sie haben doch eine Aufgabe und bitte unterschätzen Sie ihren Wert nicht! Ihre Cousine wird morgen nach Nauplia zurückkehren und da braucht sie den Schutz ihres Adjutanten!«

Wer weiß, was für einen hübschen Knaben sie sich dafür sonst wieder aussuchen wird, dachte er besorgt. Er musste unbedingt zusehen, dass Marcus in Mandos Nähe blieb, bekanntlich überwachten Cousins die Ehre ihrer Cousinen fast so gut wie Brüder die ihrer Schwestern!

»Welchen besseren Schutz kann sie denn haben als den ihres Verlobten«, bemerkte Marcus.

Ypsilanti zuckte bedauernd mit den Achseln.

»Leider ist es mir jetzt noch nicht möglich, so viel Zeit mit meiner Verlobten zu verbringen, wie ich es mir wünsche. Ich werde erst in wenigen Wochen nach Nauplia zurückkehren können und würde es sehr begrüßen, Sie dort dann anzutreffen.«

Da Marcus immer noch zögerte, setzte Dimitri hinzu: »Selbstverständlich werden Sie Ihrem Posten entsprechend entlohnt werden.«

Mando kam ihn wirklich ziemlich teuer zu stehen!

»Dann ist dies also ein Befehl«, lächelte der Innenminister, reichte Marcus die Hand und wandte sich wieder seinen Papieren zu.

Mando war verzweifelt. Jetzt befand sie sich schon eine Woche lang ohne Dimitri mit Marcus in Nauplia und er hatte nicht ein einziges Mal den Versuch unternommen mit ihr allein zu sein. Er nahm seine Mahlzeiten getrennt von ihr ein, sprach nur das Allernotwendigste mit ihr und wollte sich ihre Erklärung nicht anhören.

Natürlich wusste sie, dass sie ihm am Morgen nach der Nacht mit Dimitri einen Schock versetzt hatte, und was sie getrieben hatte, ihm die Nachricht auf so grausame Weise zu übermitteln, konnte sie nur ahnen. Vielleicht nahm sie es Marcus übel, dass er sie zu sehr beherrschte, vielleicht aber auch, dass er sie vor dem unerfreulichen Akt auf ihrem Bett nicht hatte schützen können. Dennoch musste sie zugeben, dass Dimitris Umarmung erheblich weniger abscheulich gewesen war als der Alptraum jener Nacht, in der Marcus nach Nauplia gekommen war. Es war eine hastige Angelegenheit gewesen und wenn es in der späteren Ehe auch so schnell vorübergehen würde, wollte sie sich nicht beklagen. Widerstand kostete mehr Kraft als schnelles Nachgeben.

Sie machte sich auch Sorgen um Vassiliki, denn sie hatte keine Ahnung, wo sich diese aufhielt und was sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten bewogen haben mochte, irgendwelche Verwandten aufzusuchen. Mando nahm ihr die Geschichte auch nicht ab, denn sie wusste, dass Vassiliki nie Briefe erhielt und somit gar nicht wissen konnte, ob es ihre Familie überhaupt noch gab. Früher hatte sie einmal behauptet aus Nauplia zu stammen, dies aber bestritten, als sie in die Stadt gekommen waren.

Weil Mando aber als Dame unmöglich ohne Dienerin sein konnte, hatte Dimitri Anordnung gegeben ihr eine Zofe zu suchen.

Maria Jannaki war ein hübsches, schüchternes Mädchen aus Argos. Der Dienst im Hause des Prinzen würde ihre arme Familie ernähren und sie gab sich große Mühe Mando zufrieden zu stellen. Doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Nichts konnte sie Mando recht machen, aber das lag nicht an ihr. Mando wollte keine andere Dienerin als Vassiliki und sie machte der armen Maria das Leben ziemlich schwer.

Das war auch der Grund, weshalb Marcus sie nach zehn Tagen des Schweigens zur Rede stellte.

»Es zeugt nicht gerade von Klasse, wenn man seine Launen an den Dienstboten auslässt«, sagte er, nachdem er mitbekommen hatte, wie Mando Maria wieder einmal Nachlässigkeit beim Aufstecken ihrer Haare vorgeworfen hatte.

»Du sprichst wieder mit mir!«, strahlte sie. »Dann kann ich dir ja jetzt endlich alles erklären.«

»Ich spreche von Maria«, sagte er kühl, »jedes andere Thema interessiert mich im Moment nicht.«

»Und mich interessiert Maria nicht«, erwiderte sie, sah ihn herausfordernd an und überlegte, ob sie es wagen durfte, ganz schnell eine ihrer Brüste zu entblößen. Irgendwie musste sie doch an ihn herankommen.

»Dann, verehrte Cousine, haben wir uns nichts mehr zu sagen.« Er stand auf und verließ das Zimmer.

Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Was unterstand er sich sie so zu behandeln! Alles hatte sie ihm geopfert! Nun, vielleicht nicht alles, wenn sie ehrlich war, und das Wort Opfer kam ihr jetzt, im Zusammenhang mit Marcus, auch erstmals in den Sinn. Aber trotzdem! Es gab nur ein Mittel, ihn zum Einlenken zu bewegen. Wenn Worte nicht halfen, dann musste sie zu Taten greifen, die ihn nicht unberührt lassen würden. Am besten nachts, wenn er im Bett lag.

In der folgenden Nacht wartete sie, bis im Haus kein Geräusch mehr zu hören war. Sie zog sich ihren Morgenmantel über, nahm eine Kerze und schlich die Treppe hinunter. Vor dem Kämmerchen unweit der Küche blieb sie stehen und atmete tief durch. Jetzt durfte nichts schiefgehen. Sie würde sich neben ihn legen und ihn anfassen. Und dann würde alles gut werden.

Mit der einen Hand hielt sie die Kerze, mit der anderen drehte sie sanft den Knauf um und öffnete die Tür. Erstarrt blieb sie auf der Schwelle stehen und blickte mit offenem Mund auf das kleine Bett, das beinahe das ganze Zimmer in Beschlag nahm.

Die Decken waren auf den Boden gerutscht und das Paar auf dem Lager ging einer vertrauten Beschäftigung nach.

Ein kleiner Schrei entfuhr ihr.

Marcus blickte über seine Schulter. »Geh weg«, sagte er auf Französisch, »oder leg dich zu uns.«

Da erst erkannte sie Maria.