|131|Das Tier mit dem Gewissen

Alle instinktmäßigen Impulse eines wilden Tieres sind so beschaffen, daß sie schließlich zu seinem eigenen Wohle und dem der betreffenden Art ausschlagen müssen. Es gibt in seinem Lebensraume keinen Konflikt zwischen natürlichen Neigungen und einem »Sollen«, jede innere Regung ist »gut«. Diesen paradiesischen Einklang hat der Mensch verloren. Die spezifisch menschlichen Leistungen, Wortsprache und begriffliches Denken, ermöglichten die Anhäufung und die traditionsmäßige Weitergabe eines gemeinsamen Wissens. Die daraus folgende geschichtliche Entwicklung der Menschheit vollzieht sich um ein Vielfaches schneller als die rein organische, stammesgeschichtliche, aller übrigen Lebewesen. Die Instinkte aber, die angeborenen Aktions- und Reaktionsweisen des Menschen, blieben an das bedeutend langsamere Entwicklungstempo der Organe gebunden, sie vermochten mit der kulturhistorischen Menschheitsentwicklung nicht Schritt zu halten: Die »natürlichen Neigungen« stimmen nicht mehr ganz zu den Bedingungen der Kultur, in die sich der Mensch durch seine geistigen Leistungen versetzt hat. Er ist nicht böse von Jugend auf, jedoch nicht gut genug für die Anforderungen der kultivierten menschlichen Gesellschaft, die er selbst geschaffen hat. Anders als das wilde Tier, kann der Kulturmensch – und in diesem Sinne sind alle Menschen Kulturwesen – sich nicht mehr blind auf die Eingebungen seiner Instinkte verlassen. Viele von ihnen widersprechen so offensichtlich den Forderungen der menschlichen Gesellschaft, daß sie auch für den naivsten Betrachter ohne weiteres als kultur- und gesellschaftsfeindlich zu erkennen sind. Die Stimme des Instinktes, der das wilde Tier in seinem natürlichen Lebensraume hemmungslos gehorchen darf, rät sie doch immer nur zum Wohle des Individuums und der Art, ist beim Menschen nur zu häufig verderbliche |132|Einflüsterung, die um so gefährlicher ist, als sie in derselben Sprache zu uns spricht, in der auch andere Impulse laut werden, welchen wir auch heute nicht nur gehorchen dürfen, sondern müssen. Deshalb ist der Mensch gezwungen, mit Hilfe des begrifflichen Denkens jede einzelne Triebregung zu prüfen, ob er ihr nachgeben darf, ohne dadurch jene Kulturwerte zu schädigen, die er geschaffen hat. Die Früchte vom Baume der Erkenntnis waren es zwar, um derentwillen der Mensch das Paradies einer tierisch-sicheren, instinktmäßigen Einpassung in einen bestimmten, engen Lebensraum verlassen mußte. Sie aber sind es auch, die es ihm ermöglichten, seinen Lebensraum weltweit auszudehnen und an sich selbst jeweils die Frage zu richten: Darf ich der Neigung, die mich eben anwandelt, nachgeben? Gefährde ich dadurch nicht höchste Werte der menschlichen Gesellschaft? Was geschähe, täten alle, wozu es gegenwärtig mich drängt? Oder, mit Kant, aber biologisch formuliert: Kann ich die Maxime meines Handelns zum allgemeinen Naturgesetz erheben?

Jede echte Moral, im höchsten, menschlichen Sinne verstanden, setzt geistige Leistungen voraus, zu welchen kein Tier imstande ist. Die Verantwortlichkeit jedoch wäre ihrerseits wieder nicht möglich ohne ganz bestimmte gefühlsmäßige Grundlagen. Auch beim Menschen hat sie feste Wurzeln in den tiefen instinktmäßigen »Schichten« seines Seelenlebens. Nicht alles, was die kühle Vernunft bejaht, darf der Mensch auch tun. Selbst wenn die ethischen Motive der Handlung durchaus untadelig sind, kann der Fall eintreten, daß das Gefühl unmißverständlich widerspricht; wehe dem, der dann dem Verstande und nicht dem Gefühl gehorcht. Hierzu sei eine kleine Geschichte erzählt.

Vor vielen Jahren hatte ich im zoologischen Institut junge Riesenschlangen zu pflegen, die gewohnt waren, tote Mäuse und Ratten zu fressen. Da nun Ratten leichter zu züchten sind als Mäuse, wäre es vernünftig gewesen, jene zu verfüttern, aber dann hatte ich junge Ratten totschlagen müssen. Nun haben aber junge Ratten von der Größe einer Hausmaus, mit ihrem dicken Kopf, den großen Augen, den kurzen |133|dicken Beinchen und ihren kindlich täppischen Bewegungen, all das an sich, was junge Tiere und kleine Menschenkinder für unser Gefühl so ansprechend und rührend macht. Ich wollte also nicht recht an die Ratten heran; erst als der Mäusebestand des Institutes erheblich dezimiert war, verhärtete ich mein Herz mit der Frage, ob ich eigentlich ein experimenteller Zoologe oder eine sentimentale alte Jungfer sei, schlug sechs Rattenkinder tot und verfütterte sie an meine Pythons. Vom Standpunkt Kantischer Moral war diese Tat durchaus zu verantworten. Vernunftmäßig ist es auch nicht verwerflicher, eine junge Ratte zu töten als eine alte Maus. Aber daran kehrt sich das Gefühl nicht. Ich mußte es schwer büßen, seiner abratenden Stimme nicht gehorcht zu haben. Mindestens eine Woche lang, Nacht für Nacht, träumte ich von jenem Geschehen: Die Rattenkinder erschienen, sie waren noch viel herziger als in Wirklichkeit, nahmen deutlich Züge menschlicher Kleinkinder an, schrien mit menschlicher Stimme und wollten einfach nicht sterben, sooft ich sie auch auf den Boden schleuderte (dies ist eine schnelle und schmerzlose Methode, derartige Kleintiere zu töten). Zweifellos brachte mich die Beschädigung, die ich mir durch die Tötung jener süßen jungen Ratten zugefügt hatte, bis hart an die Grenze einer kleinen Neurose. Dergestalt belehrt, schämte ich mich nie wieder, sentimental zu sein und gefühlsmäßigen Hemmungen zu gehorchen.

Diese tief im Emotionalen wurzelnde Form der Reue hat auch Entsprechungen im Seelenleben hochentwickelter sozialer Tiere. Zu diesem Schlusse zwingt ein Verhalten, das ich mehrmals an Hunden beobachtet habe.

Es war für meinen Bully ein harter Schlag, als ich den schon erwähnten Hannoveraner Schweißhund heimbrachte, der es durchgesetzt hatte, mich nach Wien zu begleiten. Hätte ich Bullys Eifersucht vorausgesehen, dann hätte ich den schönen Hirschmann doch nicht mitgenommen. Tagelang währte die Atmosphäre verhaltenen Grimmes, ehe sich die Spannung in einem der erbittertsten Hundekämpfe entlud, die ich je erlebt habe, übrigens dem einzigen, der im |134|Zimmer des Herrn stattfand, wo gewöhnlich auch die schärfsten Feinde Burgfrieden halten. Als ich die Kämpfer trennen wollte, geschah es, daß mich Bully versehentlich in den Kleinfingerballen meiner rechten Hand biß. Der Kampf war damit zwar zu Ende, Bully aber vom schwersten Nervenschock befallen, den es für einen Hund überhaupt geben kann: Er brach buchstäblich zusammen. Denn obgleich ich ihm nicht die geringsten Vorwürfe machte, sondern ihn sofort streichelte und ihm freundlich zusprach, lag er wie gelähmt auf dem Teppich, unfähig, sich zu erheben. Er zitterte wie im Schüttelfrost, und in Abständen von wenigen Sekunden durchlief ein Schauer seinen Körper. Seine Atmung war ganz oberflächlich, von Zeit zu Zeit nur drang ein tiefer, stoßender Seufzer aus seiner gequälten Brust, aus seinen Augen kollerten dicke Tränen. Ich mußte Bully an jenem Tage in meinen Armen zur Straße hinuntertragen; den Weg zurück ging er zwar selbst, doch hatte die vegetative Störung den Tonus, die Spannkraft der Muskulatur, so verringert, daß er nur mit Anstrengung die Stiege zu erklimmen vermochte.

Jeder, der den Hund sah, ohne die Vorgeschichte zu kennen, mußte ihn für körperlich schwer krank halten. Es dauerte mehrere Tage, bis er wieder fraß, und selbst dann nahm er Futter nur nach langem Zureden und nur aus meiner Hand. Wochen nachher noch verharrte er vor mir in übertriebener Demutstellung, die von dem sonstigen Verhalten des eigenwilligen und wenig botmäßigen Hundes traurig abstach. Sein schlechtes Gewissen rührte mich um so mehr, als ja ich kein besseres hatte: Die Anschaffung Hirschmanns dünkte mich jetzt als unverzeihliche Roheit.

Ebenso eindrucksvoll, wenn auch nicht derart herzzerreißend, war ein Erlebnis mit einem männlichen englischen Bulldogg, der einer benachbarten und befreundeten Familie in Altenberg gehörte. Bonzo, so hieß der Rüde, war zwar gegen Fremde scharf, für hundeverständige Freunde der Familie aber recht zugänglich, zu mir sogar höflich: Freudig begrüßte er mich, wenn wir einander unterwegs trafen. Einst war ich auf Schloß Altenberg, dem Heime Bonzos und seiner |135|Herrin, zur Jause geladen. Von auswärts kommend, hielt ich mein Motorrad vor dem Eingang des einsam im Walde liegenden Schlosses an, und als ich mich bückte, um die Maschine auf den Ständer zu stellen, wobei ich der Tür den Rücken zukehrte, schoß Bonzo wütend daher, erkannte verzeihlicherweise meine mit einem Overall bekleidete Hinterfront nicht und packte mich kräftig am Bein, das er nach Bulldoggenart nicht mehr losließ. Derlei ist schmerzhaft; ich brüllte demnach auch laut und vorwurfsvoll Bonzos Namen. Wie von einer Kugel getroffen, fiel das Tier von mir ab und wand sich, Verzeihung erflehend, auf dem Boden. Da offenbar ein Mißverständnis vorlag und meine Sportkleidung eine ernstliche Verletzung verhinderte – etliche blaue Flecken zählen für einen Motorradfahrer nicht –, so redete ich dem Hunde freundlich zu, streichelte ihn und wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Nicht so Bonzo. Die ganze Zeit, die ich auf dem Schlosse blieb, folgte er mir nach, während der Jause saß er eng an mein Bein gelehnt, und sooft ich ihn auch nur ansah, setzte er sich hoch aufgerichtet mit weit zurückgelegten Ohren und schmerzlich vorquellenden Bulldoggaugen vor mich hin und suchte sein Bedauern durch phrenetisches Pfotengeben auszudrücken. Selbst als wir einander etliche Tage später zufällig auf der Straße begegneten, begrüßte er mich nicht wie bisher mit Emporspringen und plumpen Scherzen, sondern nahm die beschriebene Demutstellung an und gab mir die Pfote, die ich herzlich schüttelte.

Bei der Beurteilung des Verhaltens dieser beiden Hunde ist zu beachten, daß keiner je vorher weder mich noch einen anderen Menschen gebissen hatte. Woher wußten sie also, daß das, was sie getan hatten, wenn auch nur aus Versehen, ein so verdammenswertes Verbrechen war? Sie mögen wohl in einer ähnlichen Seelenverfassung gewesen sein wie ich, als ich die jungen Ratten getötet hatte: Sie hatten etwas getan, das zu tun ihnen eine tief im Gefühlsmäßigen verankerte Hemmung verbot. Daß dies aus Versehen geschah, sich also vernunftmäßig durchaus entschuldigen ließ, verhinderte bei ihnen ebensowenig eine erhebliche nervliche Selbstbeschädigung |136|wie bei mir die vernunftmäßige Rechtfertigung des Rattenkindermordes.

Auf einem anderen Blatte steht das schlechte Gewissen intelligenter Hunde, wenn sie etwas angestellt haben, das zwar vom Standpunkt ihrer angeborenen sozialen Hemmungen durchaus natürlich und erlaubt, aber durch ein dressurmäßig erworbenes »Tabu« verboten ist. Jeder Hundefreund kennt die Miene falscher Unschuld und übertriebener Bravheit, die kluge Hunde an den Tag legen, und vermag daraus mit Sicherheit zu entnehmen, daß sie kein reines Gewissen haben. Dieses Verhalten wirkt so menschlich und erheiternd, daß es einem recht schwer fallen kann, die verdiente Strafe zu vollziehen. Ebenso schwer fällt es mir allerdings auch, ein erstmaliges Vergehen zu bestrafen, bei dem der Hund ein gutes Gewissen hat und Strafe nicht erwartet.

Ein Rüde der älteren Generation meiner Chow-Schäferhund-Kreuzungszucht, Wolf I., war einer der blutgierigsten Jäger, doch ist es nie vorgekommen, daß er eines meiner vielen Tiere verletzt hätte, sofern er nur wußte, daß das betreffende Wesen unserem Tierbestand angehörte. Bei neuen, ihm unbekannten Pfleglingen dagegen gab es wiederholt peinliche Überraschungen. So erbrach Wolf einmal die Tür zur Kammer, in der vier halbwüchsige Pfauhähne eingesperrt waren. Glücklicherweise kam ich dazu, als er erst einen getötet hatte. Wolf wurde bestraft und hat künftig die anderen Pfaue niemals auch nur eines Blickes gewürdigt.

Da wir vorher keine Hühnervögel gehalten hatten, zählten die Pfaue für Wolf offenbar nicht zu den unverletzlichen Tieren. Übrigens warfen seine Hemmungen, verschiedene Vogelarten zu töten, ein interessantes Licht auf die Fähigkeit des Hundes, Gattungsmäßiges zu unterscheiden, bis zu einem gewissen Grade zu »abstrahieren«. Entenvögel waren ihm unter allen Umständen unverletzlich; auch bei Arten, die stark von den bisher gehaltenen abwichen, brauchte dem Hunde nicht erst gesagt werden, daß die Neulinge zu den vom Gesetz geschützten Tieren gehörten. Deshalb rechnete ich darauf, daß Wolf, nachdem ihm das Töten der Pfaue abdressiert |137|worden war, nunmehr alle Hühnervögel ebenso schonen würde, wie er alle Entenvögel schonte. Dies war jedoch ein Irrtum; denn als ich einen Stamm Zwerg-Wyandottes angekauft hatte, die mir verschiedene Enteneier ausbrüten sollten, brach der Hund wieder in dieselbe Kammer ein, in der er jenen Pfau erwischt hatte, und brachte alle sieben Hühnchen um, ohne jedoch auch nur eines zu fressen. Der Hund wurde bestraft – es genügte eine milde Strafe, man brauchte ihm ja bloß gewissermaßen zu sagen, was verboten sei –, dann wurden neue Hühnchen angeschafft, an denen er sich nun nie mehr vergriff.

Als ich einige Monate später Gold- und Silberfasane bekam und im Garten eingewöhnte, war ich klug geworden, rief meinen Hund, um vorzubeugen, an die Transportkisten, stieß ihn mit der Nase sanft auf die Fasane, versetzte ihm ein paar leichte Klapse und äußerte dazu drohende Worte. Diese vorbeugende Züchtigung erreichte ihren Zweck vollkommen, Wolf hat nie einen dieser Fasane angerührt.

Dagegen geschah einmal etwas tierpsychologisch Hochinteressantes. Ich kam an einem schönen Frühlingsmorgen in den Garten und sah, erstaunt und empört, meinen prächtigen Wolf inmitten der Wiese stehen, einen Fasan im Fang! Der Hund hatte mich nicht bemerkt, so daß ich ihn ungestört beobachten konnte. Wolf schüttelte weder den Fasan, noch tat er sonst etwas, er stand nur still da, mit dem Vogel im Maul und merkwürdig ratlosem Gesicht. Als ich ihn anrief, zeigte er keine Spur schlechten Gewissens, sondern kam, die Rute erhoben und den Vogel immer noch im Maul tragend, auf mich zu. Da sah ich, daß er einen wilden Jagdfasan gefangen hatte, also nicht einen unserer freilaufenden Gold- oder Silberfasane. Offensichtlich hatte sich der hochintelligente Hund in einem schweren Gewissenszweifel befunden, ob dieser eine, in unseren Garten eingedrungene Jagdfasan zu den »geheiligten« Tieren zähle oder nicht. Er hatte ihn wahrscheinlich zuerst für rechtmäßiges Wild gehalten und gefangen, dann aber, vielleicht weil der Geruch an verbotene Hühnervögel erinnerte, ihn nicht getötet, wie er es sonst mit |138|jeder Jagdbeute getan hätte. Wolf war daher sogleich bereit, mir die Entscheidung zu überlassen, merkbar erleichtert, dies tun zu können. Der Jagdfasan, der völlig unverletzt war, hat jahrelang in einem unserer Flugkäfige gelebt und mit einer später aufgezogenen Henne viele Kinder gezeugt.

Manche Altenberger Versuchstiere schätzten jedoch die Schonung, die ihnen von unseren großen, scharfen Hunden zuteil wurde, völlig falsch ein: Diese waren zwar zu belehren, daß Graugänse tabu seien, die Gänse legten es jedoch anders aus; sie »glaubten« nämlich, es sei nur ihrer Kampfeskraft zu verdanken, daß die Hunde, um Konflikte zu vermeiden, ihnen in weitem Bogen aus dem Wege gingen. So war denn die Furchtlosigkeit der Wildgänse erstaunlich. Da rannten beispielsweise an einem kalten Wintertage drei große Hunde an den Zaun hinunter, um einen Feind anzubellen, der die Dorfstraße entlangkam. Mitten auf ihrem angestammten »Bellwege« aber lag dichtgedrängt eine kleine Schar Wildgänse. Die Hunde sprangen, ununterbrochen laut bellend, in hohem Bogen über die Gänse hinweg, von denen keine auch nur Miene machte, aufzustehen, wohl aber fuhren zischend ein paar lange Hälse empor und drohten hinter den Hunden her. Rückkehrend, zogen es die Hunde vor, den ausgetretenen Pfad zu meiden und im tiefen Schnee das scheue Wild zu umgehen.

Besonders ein alter Gänserich, der Despot der Kolonie, schien es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, die Hunde zu quälen. Seine Frau brütete in der Nähe einer kleinen Stiege, die vom Garten in den Hof und von dort zum Tor führt. Da es zu den selbstgewählten und unausweichlichen Pflichten der Hunde gehört, am Tor zu bellen, sooft es sich öffnet, mußten sie diese Stiege viele Male täglich passieren, lauter Gelegenheiten für den alten Wildgänserich, der auf der obersten Stufe postiert war, die Hunde in den Schwanz zu zwicken. Mußten die Hunde ihrer Pflicht zu bellen genügen, waren sie gezwungen, mit eingezogenen Schwänzen an dem zischenden Ganter vorbeizuhuschen, um an das Hoftor zu gelangen. Vor allem unser gutmütiger und |139|etwas wehleidiger Bubi, Wolfs I. Großvater, wurde regelmäßig angegriffen. Der Hund pflegte schon im vorhinein das Jaulen des Schmerzes auszustoßen, sooft er sich anschickte, jene gefährliche Treppenstufe zu überschreiten.

Dieser unhaltbare Zustand fand ein dramatisches und tragikomisches Ende. Eines Tages lag der böse alte Gänserich tot auf seinem Wachtposten. Die Leichenschau ergab eine minimale Impressionsfraktur am Hinterkopf, offensichtlich von einem leichten Druck eines Hundezahnes hervorgerufen. Bubi aber fehlte; nach langem Suchen fanden wir ihn völlig zusammengebrochen zwischen alten Kisten im finstersten Winkel des Waschküchenbodens, wohin noch nie einer unserer Hunde gekommen war. Der Hergang des Unglücks war mir so klar, als sei ich Zeuge gewesen. Der alte Gänserich hatte den vorbeihuschenden Hund so kräftig am Schwanz zu fassen bekommen und gezwickt, daß Bubi ein leichtes Schnappen der Abwehr nach der Stelle des Schmerzes hin nicht unterdrücken konnte. Dabei hatte er den Ganter so unglücklich erwischt, daß einer seiner Reißzähne das Schädeldach des alten Herrn eindrückte, wahrscheinlich nur deshalb, weil die Knochen des Greises, der nachweisbar in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre stand, schon brüchig waren. Bubi wurde nicht bestraft, da das Gericht sinngemäß auf »besondere Körperbeschaffenheit des Opfers« erkannte. Es wurde feierlich für die Sonntagstafel des Hauses bestimmt und hat beigetragen, den weitverbreiteten Aberglauben zu zerstreuen, daß alte Wildgänse zähe seien. Der große fette Ganter schmeckte ausgezeichnet und war durchaus mürbe. Meine Frau meinte, vielleicht würden alte Gänse, etwa vom zwanzigsten Lebensjahre an, wieder weich.