|97|Zäune

Ein alltäglicher Vorfall: Ich gehe einen Gartenzaun entlang, und dahinter bellt, knurrt und wütet ein großer Hund. Mit gefletschten Zähnen drängt er gegen den Maschendraht, offensichtlich hindert nur der Zaun das Tier, mir an die Gurgel zu springen. Ich lasse mich jedoch von den schrecklichen Drohgebärden nicht einschüchtern, sondern öffne unbedenklich das Gartentor. Der Hund stutzt, ist verlegen, bellt zwar der Form halber weiter, aber es klingt bereits weniger bedrohlich; man merkt deutlich, er hätte schon vorher nicht so wütend gebelfert, hätte er vorausgesehen, daß ich die Undurchdringlichkeit des Zaunes nicht respektieren würde. Es kann sogar vorkommen, daß er nach Öffnen der Gartentür viele Meter flieht und nun aus sicherer Entfernung in völlig anderen Tönen weiterbellt. Es kann schließlich aber auch sein, daß ein sehr scheuer Hund oder Wolf hinter dem Gitter überhaupt kein Zeichen von Feindseligkeit oder Furcht erkennen läßt, aber, sobald sich – eine Tür in dem Hindernis auftut, den eintretenden Menschen augenblicklich angreift, und zwar nicht nur zum Schein, sondern mit gefährlicher Tatkraft.

So widerspruchsvoll und einander ausschließend diese beiden Verhaltensweisen zu sein scheinen, sind sie doch durch einen und denselben Mechanismus zu erklären.

Jedes Tier, vor allem jeder größere Säuger, flieht vor einem überlegenen Gegner, sobald sich dieser über eine gewisse Entfernungsgrenze hinaus nähert. Die Fluchtdistanz, wie Prof. Hediger, ihr Erforscher, diese Verhaltensweise nennt, wächst in dem Grade, in welchem das Tier den betreffenden Gegner fürchtet. Mit derselben Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit, mit der ein Tier bei Unterschreitung der Fluchtdistanz flieht, stellt es sich aber zum Kampfe, wenn der Feind sich ihm auf eine ebenso bestimmte, viel kleinere Entfernung |98|nähert. Naturgemäß kommt eine solche Unterschreitung der kritischen Distanz (Hediger) nur in zwei Fällen vor: wenn der gefürchtete Feind das Tier überrascht, das heißt, von ihm erst bemerkt wird, sobald er sich in nächster Nähe befindet, oder, wenn das Tier in einer Sackgasse steckt und daher nicht fliehen kann. Ein Spezialfall der ersten Möglichkeit liegt vor, wenn ein großes wehrhaftes Tier den herankommenden Gegner zwar bemerkt, aber nicht sofort mit Flucht reagiert, sondern sich versteckt, als hoffe es, der Feind gehe vorüber, ohne es zu bemerken. Will es nun der Zufall, daß der Gegner unmittelbar auf ein Tier, das »sich drückt«, stößt, so sieht es sich häufig erst entdeckt, wenn die kritische Distanz bereits unterschritten ist. In diesem Falle erfolgt sofort ein verzweifelter Angriff. Der zuletzt beschriebene Mechanismus ist es, der die Suche nach angeschossenem Großwild, vor allem nach großen Raubtieren, so ungemein gefährlich macht. Der Angriff, den die Überschreitung der kritischen Distanz auslöst, ist bei weitem der gefährlichste, dessen das betreffende Wesen überhaupt fähig ist. Derlei Reaktionen gibt es aber nicht nur bei großen Raubtieren, sie sind beispielsweise auch bei unserem heimischen Hamster stark ausgeprägt, und der wütende Angriff einer in eine ausweglose Enge getriebenen Ratte ist im Englischen sogar sprichwörtlich für verbissenes Kämpfen geworden: Fighting like a cornered rat.

Die Effekte der Fluchtdistanz und der kritischen Distanz sind es nun, die man zur Erklärung des oben beschriebenen Verhaltens des Hundes hinter der geschlossenen und der dann geöffneten Gartentüre in Betracht ziehen muß. Das trennende Gitter wirkt nämlich wie eine dazwischenliegende Entfernung von vielen Metern: Der Hund fühlt sich vor dem Feinde sicher und ist dementsprechend mutig. Anderseits wirkt das Öffnen der Türe, als hätte sich der Gegner plötzlich die nämliche Strecke auf das Tier zubewegt. Besonders bei Tieren in zoologischen Gärten, die sehr lange hinter Gittern gesessen und daher von deren Undurchdringlichkeit überzeugt sind, kann sich folgender gefährliche Effekt einstellen. |99|Mit dem Gitter zwischen sich und dem Menschen fühlt sich das Tier sicher, seine Fluchtdistanz ist nicht unterschritten, es ist sogar fähig, mit dem Menschen, der vor den Stäben steht, einen freundlichen sozialen Kontakt aufzunehmen. Tritt nun der Mensch, etwa im Vertrauen darauf, daß sich das Tier durch das Gitter ruhig hat streicheln lassen, unerwartet in den Käfig, so kann es nicht nur geschehen, daß das Tier erschrocken flieht, sondern auch, daß es angreift, weil nach Wegfall des Gitters sowohl die Fluchtdistanz als auch die bedeutend kleinere kritische Distanz unterschritten wurde. Dem Tiere wird dieses Verhalten selbstverständlich als »Falschheit« angekreidet.

Der Kenntnis dieser Gesetzlichkeiten habe ich es zu danken, daß ich von einem zahmen Wolf nicht angegriffen wurde. Als ich nämlich meine Hündin Stasi mit einem schönen und großen sibirischen Wolf verheiraten wollte, der im Königsberger zoologischen Garten lebte, riet man mir dringend ab, da der Wolf als bösartig galt.

Ich brachte die beiden Tiere zunächst in benachbarte Käfige der Reserveabteilung des Gartens und öffnete die Verbindungstür nur so weit, daß Stasi und der Wolf die Nasen hindurchstecken und einander beriechen konnten. Da beide nach der Zeremonie des gegenseitigen Naseberiechens freundlich mit den Schwänzen wedelten, schob ich schon nach wenigen Minuten die Tür vollends zurück, was ich nicht zu bereuen hatte, da sich die Tiere sofort und für immer reibungslos vertrugen. Als ich nun meine vertraute Freundin Stasi mit dem gewaltigen Grauwolf spielen sah, kam mich der Ehrgeiz an, mich als Tierbändiger zu produzieren und ebenfalls den Wolf im Käfig aufzusuchen. Da er mich durch das Gitter mit größter Freundlichkeit behandelte, schien die Sache für Uneingeweihte völlig unbedenklich zu sein, doch hätte ich mich vielleicht auf ein böses Abenteuer eingelassen, hätte ich von den Beziehungen zwischen Käfiggitter und kritischer Distanz nichts gewußt. So lockte ich denn Stasi und den Wolf in den hintersten der langen Reihe von Käfigen und evakuierte hernach einige Hunde, einen Schakal und eine Hyäne. Dann |100|öffnete ich alle Zwischentüren, betrat langsam und vorsichtig den vordersten Raum und stellte mich so, daß ich durch alle Käfige sehen konnte. Die Tiere bemerkten mich vorerst noch nicht, da sie im Augenblick meines Eintretens abseits der Fluchtlinie der Verbindungstüren standen. Nach einer Weile sah zufällig der Wolf durch die Tür des hintersten Käfigs und erblickte mich. Und derselbe Wolf, der mich genau kannte, der durch das Gitter meine Hände geleckt und sich von ihnen hatte kraulen lassen, der mich schon von weitem mit freudigen Sprüngen begrüßte, wenn er mich kommen sah, dieser selbe Wolf erschrak bis ins Mark, als ich nun völlig ruhig in sechzehn Meter Entfernung vor ihm stand, aber ohne trennendes Gitter dazwischen! Er senkte die Ohren, hob die Rückenmähne zu einem bedrohlichen Kamm und verschwand blitzschnell mit eingekniffener Rute aus der Türöffnung. Doch im nächsten Augenblick erschien er wieder, zwar immer noch in ängstlicher Stellung, aber nicht mehr drohend gesträubt, sah mit schief gehaltenem Kopf nach mir und wedelte kleinschlägig mit der immer noch eingezogenen Rute. Ich sah taktvoll zur Seite, da der fixierende Blick Tiere, die nicht im seelischen Gleichgewicht sind, ängstigt. In diesem Moment mußte mich auch Stasi entdeckt haben, denn als ich vorsichtig die Fluchtlinie der Käfige entlangschielte, sah ich sie in gestrecktem Galopp auf mich zubrausen. Unmittelbar hinter ihr folgte – der Wolf! Ich gestehe, daß ich mich während des Bruchteils einer Sekunde gefürchtet habe. Ich war jedoch rasch beruhigt, als der Wolf einen tollpatschig spielenden Galoppsprung mit jener angedeuteten Schüttelbewegung des Kopfes machte, die Hundekennern als Aufforderung zum Spiel bekannt ist. So stemmte ich mich denn mit aller Kraft dem zu erwartenden freundlichen Anprall des gewaltigen Tieres entgegen; dabei stellte ich mich seitlich, um dem nur zu wohlbekannten fürchterlichen Tritt in den Bauch zu entgehen. Aber trotz diesen Vorkehrungen wurde ich krachend an die Wand geschleudert. Im übrigen war der Wolf wieder völlig vertrauensvoll und freundlich. Von der gewaltigen Kraft und der entsprechenden Grobheit seines Spieles |101|aber kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man sich in einem Hund die Muskelhärte eines Foxterriers und das Gewicht einer dänischen Dogge vereinigt denkt. In diesem Spiele wurde mir klar, warum ein Wolf im Kampf einer stattlichen Meute von Hunden überlegen ist, zumal ich trotz aller Fußtechnik wiederholt auf dem Boden landete.

Eine andere »Gitter-Geschichte« handelt von meinem alten Bully und seinem Feinde, einem weißen Spitz. Dieser bewohnte ein Haus, dessen langgestreckter und schmaler Vorgarten gegen die zur Donau führende Dorfstraße von einem grünen Lattenzaun abgegrenzt war. Längs dieses etwa dreißig Meter langen Zaunes pflegten die beiden Helden unter wütendem Gebell hin und her zu galoppieren, wobei sie an den Wendepunkten kurz anhielten und einander mit allen Gebärden und Lauten höchster Wut bedrohten und beschimpften. Nun geschah jedoch eines Tages etwas für beide Hunde Peinliches und Überraschendes: Der Zaun wurde gründlich überholt und zu diesem Zwecke teilweise fortgenommen. Die bergwärts liegenden fünfzehn Meter waren noch da, die donauwärts gelegene Hälfte des Zaunes fehlte. Nun kam ich mit meinem Bully vom Berge herab die Dorfstraße entlanggegangen. Der Spitz sah uns natürlich schon von weitem und erwartete uns knurrend und zitternd vor Erregung in der obersten Ecke des Vorgartens. Zunächst entspann sich, wie immer, ein stationäres Schimpfduell am oberen Ende des Zaunes, dann aber rasten beide, diesseits und jenseits der Latten, zu ihrem üblichen Frontgalopp los. Und nun geschah das Erschreckende: Sie rannten über die Stelle, von der ab der Zaun fehlte, hinaus und bemerkten sein Fehlen erst, als sie in der unteren Ecke des Gartens, also dort, wo ein neuerliches Schimpfduell vorgeschrieben war, hielten. Da standen nun die beiden Helden mit gesträubten Haaren und gefletschten Zähnen und hatten keinen Zaun! Schlagartig verstummte ihr Bellen. Zögerten sie, überlegten sie? Nein. Wie ein Hund machten sie kehrt, rasten Flanke an Flanke nach dem Teil des Gartens zurück, wo der Zaun noch stand, und bellten wutbeflissen weiter.