|116|Verpflichtung

Ich besaß einst ein wundervolles Büchlein, das völlig verrückte Humoresken enthielt. Es hieß ›Snowshoe Al’s Bettime Stories‹ und barg hinter der Maske des blühendsten und tollsten Unsinns jene scharfe und etwas grausame Satire, die dem amerikanischen Humor sein besonderes Gepräge verleiht und vielen Europäern nicht leicht verständlich ist. In einer dieser Geschichten erzählt »Snowshoe Al« romantischrührselig von den Heldentaten seines besten Freundes. Beweise unglaublichen Mutes, übertriebener Mannhaftigkeit und vollkommener Selbstlosigkeit werden zu einer komischen Persiflage westamerikanischer Romantik aneinandergereiht und gipfeln in den Szenen, in welchen der Held seinem Gefährten, der von Wölfen, Grizzlybären, Hunger, Kälte und von etlichen anderen Gefahren bedroht ist, in rührendster Weise das Leben rettet. Dann schließt die Geschichte mit dem kurzen Satz: »Dabei aber erfror er sich beide Füße so stark, daß ich ihn leider erschießen mußte.«

Daran muß ich oft denken, wenn mir jemand von den Eigenschaften und Taten seines treuen Hundes erzählt. Fragt man dann, ob der Betreffende das Tier noch habe, bekommt man nur zu häufig die wunderliche Antwort: »Nein, ich mußte ihn weggeben, weil ich in eine andere Stadt übersiedelte... in eine kleinere Wohnung zog... eine Anstellung bekam, in der es mir schwer fiel, einen Hund zu halten...« Das Erstaunlichste daran ist, daß auch viele sonst moralisch durchaus einwandfreie Menschen offensichtlich keine Scham empfinden, ein derartiges Verhalten einzugestehen. Sie haben einfach keinen Sinn dafür, daß zwischen ihrem Benehmen und dem in jener Humoreske gegeißelten nicht der geringste Unterschied besteht. Das Tier ist eben rechtlos, nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern auch nach dem Gefühl vieler Menschen.

|117|Die Treue eines Hundes ist ein kostbares Geschenk, das nicht minder bindende moralische Verpflichtungen auferlegt als die Freundschaft eines Menschen. Der Bund mit einem treuen Hunde ist so »ewig«, wie Bindungen zwischen Lebewesen dieser Erde überhaupt sein können. Dies mag jeder bedenken, der sich einen Hund anschafft. Allerdings kann es auch geschehen, daß man, ohne es zu wollen, die Herrentreue eines Hundes erwirbt. So lernte ich auf einer Skitour einen Hannoveraner Schweißhund namens Hirschmann kennen. Er war damals etwa ein Jahr alt und der Typus des herrenlosen Hundes. Denn sein Besitzer, der Oberförster, liebte ungemein seinen alten Rauhhaarrüden und hatte für den jungen Tolpatsch, der vielleicht zur Jagd wirklich nicht recht geeignet war, wenig Zuneigung. Hirschmann war sehr weich und sensitiv, seinem Herrn gegenüber auch ein wenig handscheu, welcher Umstand nicht sehr für die erzieherischen Fähigkeiten des Försters sprach. Anderseits rechnete ich es dem Tier durchaus nicht als ein Zeichen guten Charakters an, daß es uns schon am zweiten Tage unseres Aufenthaltes auf eine längere Skitour begleitete. Ich hielt den Hund für einen »Kalfakter«, sehr zu Unrecht übrigens, denn es stellte sich bald heraus, daß er nicht uns, sondern mir nachlief. Als ich ihn dann eines Morgens schlafend vor der Tür meines Zimmers fand, begann ich zurückhaltender zu werden, da ich ahnte, daß hier eine große Hundeliebe zu keimen begann.

Doch es war schon zu spät: Der Treueid war geleistet. Bei der Abreise wurde die Tragödie offenbar. Als ich ihn einfangen wollte, um ihn daran zu hindern, uns wieder nachzulaufen, verweigerte Hirschmann den Gehorsam. Mit eingezogenem Schwanze und zitternd vor Erregung stand er in sicherer Entfernung, und seine bernsteingelben Augen sagten: »Alles kannst du mir befehlen, nur nicht, daß ich von dir lassen soll!« Ich kapitulierte. »Herr Oberförster, was kostet der Hund?« Der Oberförster, von dessen Standpunkt aus gesehen Hirschmanns Verhalten reine Desertion war, antwortete, ohne sich eine Sekunde zu besinnen: »Zehn Schilling.« Es |118|klang wie ein Schimpfwort und war auch so gemeint. Ehe er sich eines Besseren besinnen konnte, hatte er das Geld in der Hand, und klappernd setzten sich drei Paar Skier und zwei Paar Hundepfoten in Bewegung.

Ich wußte, Hirschmann würde mir folgen, nahm aber fälschlicherweise an, daß er zunächst noch voll schlechten Gewissens in großer Entfernung hinter uns herschleichen würde, befangen im Glauben, dies eigentlich nicht zu dürfen. Es kam aber anders: Wie eine Kanonenkugel traf mich der Ansprung des wuchtigen Rüden, und hart schlug mein Hüftknochen auf das Eis der Straße, denn die Standfestigkeit eines Skifahrers gegen einen seitlich anspringenden großen Hund ist nur gering. Hirschmann aber vollführte einen Freudentanz auf meiner hingestreckten Leiche. Ich hatte seine Situationseinsicht ausgesprochen unterschätzt.

Die Verpflichtung, die einem aus der Treue seines Hundes erwächst, habe ich immer sehr ernst genommen, und ich bin stolz darauf, daß ich einmal, um einen Hund zu retten, ernstlich in Lebensgefahr geriet, als ich bei minus achtundzwanzig Grad, wenn auch unfreiwillig, in die Donau stürzte! Mein Schäferhund Bingo war auf dem Randeise des Stromes dahingelaufen, ausgerutscht und in das Wasser gefallen. Da seine Krallen auf dem Eisrande keinen Halt fanden, konnte er nicht heraus. Erfahrungsgemäß erschöpfen sich Hunde bei dem Versuch, ein unersteigbares Ufer zu erklimmen, erstaunlich rasch. Sie geraten in eine ungünstige, immer steiler werdende Schwimmlage und kommen sehr schnell in ernste Ertrinkungsgefahr. Ich lief daher dem treibenden Hunde einige Meter stromabwärts voraus, legte mich nieder und kroch bäuchlings, um das Gewicht möglichst zu verteilen, auf das Randeis hinaus. Als der Hund in meine Reichweite kam, ergriff ich ihn am Nacken und zog ihn mit einem Ruck zu mir auf das Eis. Dieses brach jedoch unter unserem Gewicht, und ich glitt lautlos mit dem Kopf voran in das kalte Wasser. Dem Hunde, der im Gegensatz zu mir mit dem Kopf uferwärts stand, gelang es, auf festeres Eis zu kommen. Nun war die Lage umgekehrt: Bingo rannte aufgeregt und voll |119|einsichtiger Besorgnis winselnd das Randeis entlang, und ich trieb im Strom. Da jedoch die Menschenhand für das Klettern auf glatter Unterlage weit besser geeignet ist als die Krallenpfote des Hundes, entkam ich aus eigener Kraft dem Verhängnis: Ich spürte Grund unter den Füßen, schnellte mich ab und warf mich mit dem Oberkörper auf das Randeis...

Die Moral befreundeter Menschen werden wir füglich danach beurteilen, welcher von ihnen das größere Opfer zu bringen bereit ist, ohne dabei an eine Gegenleistung zu denken. Nietzsche, bei dem – anders als bei den meisten Menschen – die Bestialität nur Maske ist, hinter der sich echte Herzensgüte verbirgt, sagte das schöne Wort: »Es sei dein Ehrgeiz, immer mehr zu lieben als der andere, nie der Zweite zu sein!« Menschen gegenüber kann es mir unter Umständen gelingen, dieses Gebot zu erfüllen, im Freundschaftsbunde mit meinem treuen Hunde dagegen bin ich immer der »Zweite«. Welch merkwürdige, ja einmalige soziale Beziehung! Hat man schon einmal bedacht, wie verwunderlich dies alles ist? Der Mensch, das Vernunftwesen mit seiner hohen, verantwortlichen Moral, der Mensch, dessen schönstes und edelstes Glaubensbekenntnis die Religion der Bruderliebe ist, steht gerade in der Fähigkeit zu reinster Bruderliebe einem – Raubtiere nach! Ich weiß genau, was ich sage, ich mache mich dabei sicher keiner sentimentalen Vermenschlichung schuldig. Auch die edelste Menschenliebe quillt nämlich nicht aus dem Verstande und der spezifisch menschlichen vernunftmäßigen Moral, sondern aus viel tieferen, uralten, rein gefühlsmäßigen, und dies heißt immer soviel wie instinktmäßigen, Schichten. Auch das einwandfreieste und selbstloseste moralische Verhalten verliert für unser Empfinden jeglichen Wert, wenn es nicht solchen Gründen, sondern dem Verstande entspringt: »Doch wirst du nie Herz zu Herzen schaffen, wenn’s dir nicht selbst vom Herzen geht.« Gerade dieses Herz aber ist beim Menschen auch heute noch das gleiche geblieben wie bei höheren sozialen Tieren, so sternweit sich auch die Leistungen seines Verstandes und |120|damit auch seiner vernunftmäßigen Moral über die höchsten Tiere erhoben haben mögen.

Die schlichte Tatsache, daß mein Hund mich mehr liebt als ich ihn, ist einfach nicht wegzuleugnen und erfüllt mich immer mit einer gewissen Beschämung. Der Hund ist jederzeit bereit, für mich sein Leben zu lassen. Hätte mich ein Löwe oder ein Tiger bedroht – Ali, Bully, Tito, Stasi und wie sie alle heißen, sie alle hätten ohne einen Augenblick zu zögern den aussichtslosen Kampf aufgenommen, um mein Leben auch nur für einige Sekunden zu schützen. Und ich?