ACHTUNDZWANZIG

Tom rannte durch die Calisthenics Arena und schloss mitten im Getümmel der Schlacht von Gettysburg zu Vik auf. Sein Stubenkamerad hob sein Bajonett, um ihn zu durchbohren, erkannte dann jedoch, dass er es war, und senkte die Waffe wieder.

»Tom! Hey, bist du jetzt fertig mit dem Versteckspiel?«

»Noch nicht. Lauf schneller.«

»Aah«, stimmte ihm Vik zu. Die Konföderierten hatten sie fast erreicht.

Die beiden stürmten über die Wiese. Vor ihnen feuerten die Soldaten der Nordstaaten auf ihre Stellung. Die beiden Armeen nahmen sie in die Zange wie eine zuschnappende Stahlfalle.

»Wo bist du denn gewesen?« Vik schrie die Worte, um sich durch das Donnern der Geschütze Gehör zu verschaffen. »Du solltest mal hören, was für Gerüchte über dich im Umlauf sind, Mann. Ich rede hier von Entführungen durch Außerirdische und geheimen CIA-Experimenten in Sachen Bewusstseinskontrolle.«

»Kellergeschoss.« Viel mehr brachte Tom nicht hervor. Nicht weil es der Geheimhaltung unterlag, sondern weil er außer Atem war. Zwei Tage ohne Schlaf und mit wenig zu essen und trinken, dazu die fortwährende Memografie, hatten ein körperliches Wrack aus ihm gemacht.

Olivia hatte angeboten, ihm eine Entschuldigung für Fitnessübungen zu schreiben, doch Tom wusste nicht, wie viel Zeit ihm im Turm noch blieb, und er wollte so viel wie möglich davon mit seinen Freunden verbringen.

Plötzlich färbte sich der Himmel über ihnen schwarz, und die gefallenen Soldaten der Konföderierten und der Nordstaaten erhoben sich wieder und entpuppten sich als Vampire, die nun unter den Auszubildenden ein Blutbad anrichteten. Tom setzte sein Bajonett ein, um einen von ihnen aufzuspießen, doch zwei Nordstaatenvampire packten ihn und schlitzten ihm mit ihren Reißzähnen die Kehle auf.

Sitzung abgelaufen. Immobilitätssequenz initiiert. Von der Brust abwärts wich jedes Gefühl aus ihm, und er fiel ins Gras.

Vik fiel ebenfalls tot neben ihm ins Gras. »Dann erzähl mal alles«, rief er über das Dröhnen des Geschützfeuers hinweg.

»Du stirbst doch sonst nie bei Fitnessübungen.«

»Ich habe einen auf Beamer gemacht und mich umbringen lassen.«

Einen auf Beamer gemacht. Tom seufzte, und eine düstere Stimmung bemächtigte sich seiner, während die Vampire über seine Leiche hinwegtrampelten, um sich den Rest der Auszubildenden vorzuknöpfen. Er musste Medusa besiegen, sonst wäre er derjenige, der wirklich einen auf Beamer machte. Er wäre raus aus dem Programm, und der Neuronalprozessor würde ihm stufenweise aus dem Gehirn entfernt werden.

»Und, Tom?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Und er wollte nicht darüber sprechen. Echt nicht.

Doch Vik blieb hartnäckig. »Das ist eine lange Schlacht. Komm schon. Rede.«

Abgetretene Stiefel zermalmten das Gras neben Toms Kopf, und eine vertraute Stimme ertönte. »Timothy.«

Tom wollte fragen, warum Yuri wieder den falschen Namen benutzte, erinnerte sich dann aber daran, dass Vik nichts von Yuris Dechiffrierung wusste. Also begnügte er sich mit: »Hey, Mann.«

»Tom wollte gerade erklären, wer ihn hatte verschwinden lassen«, sagte Vik. »Lass dich schnell töten.«

»Aber gerne.« Yuri warf seine Muskete weg, damit der nächste Vampir ihn töten konnte.

Doch er kalkulierte seinen Tod falsch ein. Der Vampir stürzte sich auf seinen großen Rücken, riss ihm die Kehle heraus, und Yuris Immobilitätssequenz aktivierte sich. Er stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum – und landete quer über den Bäuchen von Tom und Vik, was den beiden den Atem raubte.

»Puh!« Tom quälte sich mit dem Gewicht ab. »Yuri, musstest du denn wirklich direkt auf uns fallen?«

»Tut mir leid, Tim. Ich werde mich rüberrollen.« Yuri krallte sich in das Gras und hievte seinen unbeweglichen Körper in mühsamer Kleinarbeit beiseite, kam aber nur langsam voran.

»Wyatt, hilf uns mal!«, rief Vik.

In ihrer Nähe wich Wyatt einem Vampir aus – der daraufhin einen Rekruten hinter ihr tötete – und taumelte auf sie zu. »Tom, da bist du ja wieder!« Ein breites Grinsen überzog ihr Gesicht. »Wir dachten schon, du wärst irgendwo in ein Loch gefallen und gestorben.«

»Nah dran. Ich befand mich in Blackburns Händen. Hey, kannst du die Leiche deines Freundes von uns herunterzerren, bevor wir ersticken?«

»Meine enorme Muskelmasse macht mich so schwer«, sagte Yuri entschuldigend.

Sie zog an Yuris Arm und zerrte ihn so weit auf die Seite, dass die beiden anderen vom Großteil des Gewichtes befreit waren. Doch dann erwischte ein Vampir sie von hinten, und Wyatt fiel auf Yuri, wobei ihr Gewicht die wenigen Zentimeter, die sie ihn weggezerrt hatte, wieder wettmachte. Tom und Vik stöhnten beide auf.

»Entschuldigung«, sagte Wyatt. »Immerhin können wir einander jetzt hören. Wo bist du gewesen?«

»Memograf.« Tom versuchte, Yuris reglosen Körper zu verschieben, doch da Wyatt nun auf ihm lag, ließ er sich nicht mehr vom Fleck bewegen. »Blackburn hat mich für die undichte Stelle gehalten. Ich habe da so eine Online-Freundin in China. Das sah nicht gut aus. Die Freundin ist übrigens Medusa.«

Damit erntete er verblüfftes Schweigen. Als Tom sich umdrehte, sah er, wie die anderen drei toten Auszubildenden ihn mit offenem Mund anstarrten. Mehr als alles andere erinnerte dies Tom daran, wie dumm er gewesen war, sich mit Medusa überhaupt erst angefreundet zu haben.

»Hört zu«, sagte er. »Nach dem feindlichen Übergriff wollte ich Medusa unbedingt wiedersehen. Wir haben Games gespielt, und sie hat mich häufig umgebracht und so. Ach, und Vik: Medusa ist ein Mädchen. Tja, das habe ich herausgefunden.«

»Ein Mädchen?«, fragte Wyatt und runzelte die Stirn. »Im Sinne von dein Mädchen?«

Tom errötete. »Nein. Ich meine …« Er war sich immer noch nicht sicher, was er dazu sagen sollte. »Nein!« Dann dachte er über diesen Kuss nach. »Na ja, vielleicht … Ich bin mir nicht sicher.«

»Wie lange läuft das schon?«, murmelte sie.

»Noch nicht so lange.«

»Du hast uns kein Sterbenswörtchen davon erzählt.«

»Na und? Ist das denn so eine große Sache?«

»Ist es nicht«, sagte Wyatt. »Mir ist das egal.«

»Gut.« In diesem Moment wurde Tom abgelenkt. Eine neue Rekrutin der Machiavellis mit Stoppelhaaren lief mit Jenny Nguyen an ihrer Seite an ihnen vorbei. Das neue Mädchen, von seinem Prozessor als Iman Attar identifiziert, wies auf sie. »Warum liegen die alle übereinander?«

Jenny schaute in ihre Richtung und schob sie dann weiter vorwärts. Ihre Stimme wurde in ihre Richtung getragen. »Die Jungen von Alexander sind schräg drauf. Neulich hat sich dieser Vikram im Planetarium neben mich gesetzt und …«

Vik stöhnte auf und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Neugierig geworden, hob Tom den Kopf, um etwas zu sehen. Wyatt und Yuri taten es ihm gleich.

»… und Vikram sagte: ›Oh-oh, sieht aus, als hättest du was Scharfes vom Inder auf den Lippen.‹«

»Das war jetzt dein toller Spruch?« Zum ersten Mal seit Tagen brach Tom in Gelächter aus.

»Halt die Klappe«, brummelte Vik.

Jennys Stimme drang über die Schreie und das Geschützfeuer zu ihnen. »Ich daraufhin: ›Du bist gruselig‹ und will weg, und da ist er mit dem Kopf gegen mich geknallt.«

Die beiden Mädchen gingen weg. Absolutes Schweigen hing in der Luft. Tom starrte Vik an. Wyatt presste die Lippen fest zusammen, so als strengte sie sich an, nicht zu reagieren.

»Und?«, fragte Vik schließlich. »Spuckt es einfach aus.«

»Wir werden dich nicht auslachen, Vik«, versicherte ihm Tom. »Ich habe gerade größere Probleme, über die ich mir Sorgen machen muss« – unterdrücktes Lachen ließ seine Stimme beben – »also spielt die Frage keine Rolle, ob du ein SCHARFER INDER bist.«

Yuri und Wyatt brachen in schallendes Gelächter aus, und Tom warf den Kopf zurück und konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. Und einen wunderschönen Moment lang fühlte es sich so an, als hätte das mit dem Memografen nie stattgefunden und als hätte er überhaupt keine Sorgen.

»Danke, euch allen. Ihr seid gute Freunde«, grummelte Vik.

»Und ich kann nicht glauben, dass du ihr einen Kopfstoß versetzt hast, nachdem wir gesehen haben, was Wyatt zugestoßen war!«

»Ist überraschend einfach hinzukriegen, Tom!«

»Ja, vielleicht wenn ein Mädchen verzweifelt versucht, vor dir wegzulaufen.«

»Nimm ihre Abweisung nicht persönlich, Viktor«, sagte Yuri sanft. »Vielleicht hat sie ja eine Phobie vor Scharfen Indern.«

Vik hob den Arm und versetzte erst Yuri und dann Tom einen Klaps. Tom lachte immer noch. Vik verpasste ihm einen gezielten Schwinger.

»Vik«, protestierte Wyatt. »Hör auf, dich herumzuprügeln. Du bekleckerst uns mit Scharfem vom Inder.«

Vik gab ein frustriertes Geräusch von sich und machte eine ungeduldige Handbewegung, um den anderen zu bedeuten, das Lachen ein für alle Mal einzustellen. Als es langsam verebbte, sagte er schließlich: »Sind wir jetzt durch damit?«

»Scharfes vom Inder ist nie ganz durch«, erklärte Tom.

»Tja, also schön, im Moment hast du größere Sorgen.«

Toms Lachen erstarb. Seine Gedanken schnellten zurück zu den vergangenen beiden Tagen, und sein Magen revoltierte.

»Eins will ich wissen«, fuhr Vik fort. »Medusa. Erzähl es uns. Sie ist ein Mädchen. Und, sieht sie geil aus?«

Tom war erleichtert, weil es nicht annähernd so schrecklich war, über Medusa zu sprechen als über Blackburn und dessen Verdacht, er wäre der Verräter. »Sie hat sich mir nicht gezeigt«, räumte er ein.

»O nein, junger Skywalker. Darin sind Hässliche gut.«

Wyatt starrte ihn wütend an. »Vielleicht hat sie ja auch eine geheime Identität. Ihr wisst schon, so wie wir auch?«

»Nee. Sie ist potthässlich. Finde dich damit ab, Tom«, sagte Vik. »Kein Mädchen, das so kämpft wie sie, kann dazu auch noch geil aussehen. Das würde sonst ein gewaltiges Ungleichgewicht im Kosmos verursachen, welches das Raum-Zeit-Kontinuum auflöst und das Universum zum Implodieren bringt. Und sie zeigt sich dir nicht. Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ein großer, gewaltiger Zaunpfahl.«

Tom schüttelte die Vorstellung von Medusas angeblicher Hässlichkeit ab. Denn er wäre ein Volltrottel gewesen, sich darüber in diesem Moment den Kopf zu zerbrechen, da ihn doch Probleme quälten, die sein Leben verändern würden.

»Es spielt sowieso keine Rolle, Vik. Ich kann Medusa nicht wiedersehen. Ich bin erwischt worden, und nun macht sich Blackburn daran, mein Gehirn im Memografen zu verbrutzeln.«

Wyatt stockte der Atem. »Er hat deine Erinnerungen gesehen?«, fragte sie ungläubig.

Yuri schaute mit offenem Mund zu ihm herüber.

Tom wusste, worüber sie sich Sorgen machten. »Er hat nicht alles gesehen«, sagte er bedeutungsvoll und schaute die beiden dabei an. »Aber er weiß, dass ich etwas vor ihm verberge, und er wird nicht ruhen, bis er es herausfindet.«

»Dann zeig es ihm eben«, sagte Vik. »Egal, was es ist, Kumpel, so schlimm kann es nicht sein.«

Doch Wyatt und Yuri sahen einander an, und die Erkenntnis stand ihnen im Gesicht geschrieben.

»Du verstehst das nicht, Vik«, erwiderte Tom. Vik war nicht eingeweiht und begriff nicht, dass zwei seiner Freunde mit zehn Jahren Gefängnis rechnen mussten, falls Blackburn diese Erinnerung in die Finger bekam. »Ich habe alles unter Kontrolle. Es gibt einen Weg, wie ich aus der Sache rauskommen kann: Marsh lässt mich beim Gipfel im Kapitol gegen Medusa antreten. Er will, dass ich Elliot vertrete. Wenn ich sie besiege, setzt er sich vor dem Verteidigungsausschuss für mich ein. Wenn ich verliere, brutzeln sie mir entweder das Gehirn weg oder entfernen mir meinen Neuronalprozessor.«

Beklommenes Schweigen breitete sich aus.

»Das ist eine tolle Abmachung«, sagte Vik.

»Das ist eine schreckliche Abmachung«, sagte Wyatt gleichzeitig.

»Es ist super. Er fliegt beim Gipfel ins Kapitol! Ich kann nicht fassen, dass Marsh dich das als Rekrut machen lässt«, bemerkte Vik und klang dabei neidisch. Und atemlos, da ihn der Haufen von Leichen zu erdrücken drohte.

»Es ist alles andere als super, Vik«, widersprach Wyatt. »Tom kann Medusa unmöglich besiegen. Dafür ist er noch nicht ausgebildet, und selbst wenn er es wäre, keiner, der dafür ausgebildet wurde, hat es jemals geschafft, sie zu besiegen.«

Sie zog es so sehr in Zweifel, dass sich Toms Stolz regte. »Hey, ich schnalle Simulationen schnell. Das sagen alle. Und ich habe Medusa in anderen Schlachtsimulationen gegenübergestanden. Ich schwöre, ich war immer dicht dran.«

»Dann mach es«, sagte Vik. »Mach deine Online-Freundin fertig. Mach sie fix und fertig, Tom.«

Tom ließ den Kopf hängen. »Ich muss viel Glück haben. Sie ist besser als ich. Sie ist schneller, cleverer und in jeder Beziehung tödlicher.«

»Dann sei link«, sagte Vik.

»Link sein?«, rief Yuri. »Er braucht nicht falsch zu spielen! Er kann als ehrenhafter Krieger über Medusa triumphieren.«

Vik stöhnte und wandte sich erneut Tom zu, so als habe er beschlossen, dass Yuri jetzt ein hoffnungsloser Fall war. »Doktor, Sie müssen link sein, um zu gewinnen. Gewinnen ist heldenhaft.«

»Vik, wenn ich wüsste, wie ich sie reinlegen könnte, dann würde ich es sofort tun. Ich weiß aber noch nicht einmal, in welchem militärischen Szenario wir kämpfen werden.«

»Ich kann ein Virus für dich programmieren«, meldete sich nun Wyatt und klang dabei so, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet. »Damit kannst du ihre Zentraleinheit zerhacken.«

»Der Gipfel findet übermorgen statt.«

Wyatt zog einen Schmollmund. »Kennst du mich, oder kennst du mich nicht? Das ist mehr als genug Zeit.«

»To … Timothy, dir entgeht die offenkundige Lösung«, sagte Yuri, wobei er sein massiges Gewicht verlagerte und Tom damit noch weiter auf das Gras quetschte. »Warum bittest du Medusa nicht, absichtlich zu verlieren?«

Tom starrte ihn an. »Was?«

»Bitte Medusa, absichtlich zu verlieren«, wiederholte Yuri.

Tom starrte ihn an. Der Plan schien absolut vernünftig zu sein, zugleich aber undurchführbar. »Warum sollte sie sich jemals auf so etwas einlassen?«

»Ist das denn nicht offensichtlich? Sie mag dich. Wenn sie erfährt, dass dir eine Anklage wegen Landesverrats blüht, denkt sie vielleicht darüber nach, mit Absicht zu verlieren. Das ist doch keine echte Schlacht. Es ist die Vorführung einer Schlacht. Bei einer Niederlage kommt kein Land zu Schaden.«

»Aber das kann ich nicht«, brachte Tom entsetzt vor.

»Du würdest lieber ihre Zentraleinheit zerhacken?«, bemerkte Vik. »Tom, ich sage es wirklich nicht gern, aber du solltest lieber auf den Androiden hier hören. Setz auf emotionale Erpressung.«

»Aber mein Virus …«, begann Wyatt.

»Wenn es schiefgeht, kann er immer noch ein Virus einsetzen, okay?«, sagte Vik. »Du bist ganz schön blutrünstig bei so etwas, was, Böse Hexe?«

»Wenigstens habe ich keine winzigen, zerbrechlichen Hände.«

»Was? Was ist mit meinen Händen? Von wem hast du das?«

Tom blendete sich aus ihrem Streit aus. Emotionale Erpressung. Bei Medusa. Nachdenklich schaute er hinauf in die stürmische Nacht.

Es würde nicht hinhauen. Medusa war seine Konkurrentin. Dass sie Freunde geworden und sich sogar einmal geküsst hatten, spielte da keine Rolle. Schon bei dem Gedanken, sie darum zu bitten, kam er sich wie ein Trottel vor. Sie würde sich niemals darauf einlassen.

Schließlich würde er selbst es auch nicht tun.

In dieser Nacht erwachten Tom, Vik und Yuri um 02:00. Sie trafen sich mit Wyatt in dem dunklen Gemeinschaftsraum. Den Ortungssender des Turms hatte sie bereits ausgeschaltet.

Sie bedeutete Tom, sich in einen der neuronalen Zugangsports in der Wand einzuklinken. »Du hast zehn Minuten, Tom. Länger sollten wir die Firewall des Turms nicht lahmlegen.«

»Es wird schnell gehen«, versicherte ihr Tom.

»Viel Glück, Doktor.« Vik reichte Tom ein Neuronalkabel.

»Danke, Doktor. Wir sehen uns dann in ein paar Minuten.« Tom klinkte sich ein.

Taubheit und Finsternis umgaben ihn, während er sich vom echten Tom in einen Internetavatar verwandelte. Er hinterließ eine Nachricht auf dem Forum. Der Zeitpunkt war perfekt gewählt, denn schon wenige Minuten später erhielt er eine private Eingangsbestätigung von Medusa mit einer neuen URL.

Tom klinkte sich in ihr passwortgeschütztes Programm ein. Er schaute sich in dem reich verzierten Raum, den sie für die Simulation ausgewählt hatte, um. Bei dem Schauplatz handelte es sich – wie ihn das Programm informierte – um Hatfield Palace im England zur Zeit der Renaissance. Ihm gegenüber erschien flackernd Medusa als schlanke Rothaarige mit dunklen Augen und einem coolen, überlegenen Lächeln. Ihr bodenlanges Kleid wirbelte herum, als sie sich im Kreis drehte.

»Nett«, sagte Tom und musterte sie von oben bis unten. »Welche Rolle spielst du?«

»Prinzessin Elizabeth Tudor.« Sie trat auf ihn zu. »Wir können im Turnier kämpfen oder eine Verschwörung aushecken und Queen Mary stürzen. Oder wir können die Figuren austauschen und gegen die Iren, Schotten und Franzosen kämpfen … oder als Iren, Schotten oder Franzosen gegen die Engländer kämpfen. Nachher gibt es sogar eine Schlacht mit der spanischen Armada. Das Programm ist flexibel. Mit jeder Menge Enthauptungen.«

»Und wer bin ich?« Er sah an sich hinunter. Er trug enge Strümpfe. Stirnrunzelnd streckte er seine virtuellen Beine versuchsweise aus. Strümpfe erschienen ihm nicht besonders männlich.

Der Informationsalgorithmus des Programms informierte ihn, dass er Robert Dudley, der Mann, den Queen Elizabeth I. von England ihr ganzes Leben lang liebte, spielte. Das war ein gutes Zeichen, vermutete er. Ihm war aufgefallen, dass Medusa Programme und Szenarios manchmal gezielt aussuchte.

Dennoch war er nervös und beklommen, als Medusa auf ihn zuschlenderte und ihn unter ihrer roten Löwenmähne mit funkelnden Augen anschaute. »Ich habe schon das Schlimmste befürchtet, als du dich nicht mehr gemeldet hast.«

Toms Magen revoltierte. »Das Schlimmste ist geschehen«, gab er zu. »Einer der Offiziere im Turm hat herausgefunden, dass ich mich mit dir treffe.«

Ihr Gesichtsausdruck erstarrte. »Oh.«

»Jetzt halten sie mich für die undichte Stelle.«

Sie wandte sich von ihm ab. »Was wird jetzt mit dir geschehen?«

»Tja, entweder werde ich … äh …« – er suchte nach einer Möglichkeit, den Memografen zu erklären, ohne die Wahrheit zu enthüllen, und begnügte sich mit – »›verhört‹ über dich, bis ich den Verstand verliere, oder ich fliege aus dem Turm raus. Für immer.«

»Vielleicht war das hier doch eine schlechte Idee.«

»Hey, aber es war meine schlechte Idee, okay?« Und das war jetzt sein Moment. Sein Moment zu verraten, dass er derjenige sein würde, der ihr im Kapitol entgegentrat, sein Moment, ihr zu sagen, dass sie die Einzige war, die ihn retten konnte, indem sie den Kopf für ihn hinhielt.

Warum also brachte er kein Wort heraus?

Tom konnte an nichts anderes denken als daran, wie demütigend es sein würde, wenn er sie anflehte, für ihn zu verlieren. Und wie erbärmlich es sein würde, wenn sie ihm ins Gesicht lachte. Denn wer bitte tat so etwas? So etwas tat kein Mensch. Nicht im richtigen Leben. In welcher Welt Yuri lebte, wusste er nicht, aber schon allein die Vorstellung, Medusa anzuflehen, ihm bitte, bitte zu helfen, ließ Tom innerlich zusammenzucken, da er wusste, dass sie ihn dann geringschätzen würde. Sie würde es jämmerlich finden, dass er solche Hilfe benötigte, dass er sie bat, für ihn zu verlieren. Da konnte er gleich fragen, ob sie auch bereit wäre, noch ein paar lebenswichtige Organe zu spenden. Sie würde es nicht tun.

»Wir könnten uns aber weiter online treffen, oder nicht?«, fragte Medusa. »Wenn du nicht mehr im Turm bist, ist es ja kein Landesverrat mehr, wenn wir uns treffen.«

Tom trat einen Schritt zurück. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, wie er enden würde, wenn ihm der Neuronalprozessor herausoperiert würde und er nicht mehr der tolle und intelligente Tom war, der im Turm entstanden war. Was für ein Mensch er sein würde, wenn er wieder dieser Junge war, der Neil folgte. Dieser hässliche, dumme Junge, der wertlos war.

Er hätte sich eher den Arm abgehackt, als ihr diesen Typen zu zeigen.

»Das wäre keine gute Idee«, sagte Tom.

»Ich verstehe.« In ihrer Stimme schwang etwas Ausdrucksloses mit. »Wenn du also raus aus dem Militär bist, möchtest du nicht mehr belästigt werden. Ich verstehe.«

Für so etwas hatte Tom keinen Kopf. »Was? Wie kommst du denn auf so etwas?«

»Vielleicht war das hier von Anfang an eine schlechte Idee.« Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Programm und ließ Tom in seinen dämlichen Strümpfen allein im England der Renaissance zurück.

Tom zog das Neuronalkabel heraus und setzte sich aufrecht. Im dunklen Gemeinschaftsraum warteten seine Freunde gespannt auf seine Reaktion.

Vik sagte als Erster etwas. »Fehlanzeige?«

»Fehlanzeige«, bestätigte Tom.

Wyatt hatte die Knie bis an die Brust hochgezogen und hüpfte geradezu auf ihrem Stuhl herum. »Virus, also?«

Tom nickte resigniert. »Virus.«

»Den größten Teil davon habe ich bereits fertiggestellt für dich.« Sie klang sonderbar vergnügt, während sie sich daranmachte, die Firewall des Turms zu hacken, um sie wieder funktionsfähig zu machen.

»Na toll«, erwiderte Tom kraftlos.

Sicher, er hatte gar keine richtige Gelegenheit gehabt, Medusa zu fragen, ob sie den Kopf für ihn hinhalten würde. Dass sie jetzt sauer auf ihn war und dass er die Frage nicht mehr stellen konnte, war so, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Wäre er wie ein erbärmlicher Versager vor ihr zu Kreuze gekrochen und dann ausgelacht worden, hätte ihn das umgebracht. Wenn er sie um so etwas gebeten hätte, hätte sie ihm hinterher nie mehr Respekt entgegengebracht.

»Dann hat sich der Android also getäuscht«, murmelte Vik. »Tut mir leid, Kumpel. Medusa steht wohl doch nicht so sehr auf dich. Hey« – er schlug Tom kräftig auf die Schulter – »erst recht ein Grund, sie fertigzumachen.«

»Klar doch. Fertigmachen.« Von der Kleinigkeit abgesehen, dass sie ihn immer fertigmachte.

Wyatt nickte in der Dunkelheit, während sie die letzten Eingaben machte, bevor die Firewall des Turms wieder voll in Kraft trat. »Was ich da gerade programmiere, nennt sich ›Adware Virus‹.«

»Adware Virus?«, wiederholte Tom.

»Im Grunde funktioniert es so, dass das Virus immer mehr Kapazität der Zentraleinheit beansprucht, bis der Rechner zu langsam wird, als dass er noch großartig etwas tun könnte. Es aktiviert sich in dem Augenblick, in dem du es Medusa sendest. Deshalb habe ich es so eingestellt, dass es sich im gleichen Moment von deiner Zentraleinheit löscht, damit es dich nicht ebenfalls verlangsamt. Du sendest es ihr einmal zu Beginn des Kampfes und besiegst sie dann, bevor sie sich davon erholen kann. Wahrscheinlich wirst du keinen Zugang zu einer Tastatur haben, deswegen werde ich es mit einem Trick versuchen, den Blackburn mir gezeigt hat, und stelle ihn so ein, dass er auf eine Gedankenschnittstelle reagiert.«

»Ist das die einzige Möglichkeit?«, fragte Tom sie. »Vik und ich haben mal mit einer Gedankenschnittstelle mit Netsend experimentiert, aber es war mir nicht möglich, mich nur auf eine Sache gleichzeitig zu konzentrieren.«

»Okay, du bekommst von mir ein Codewort, um es auszulösen. Es wird dir doch wohl für kurze Zeit gelingen, dich nur darauf zu konzentrieren, oder?«

Tom zuckte die Schultern. »Also gut, schieß los.«

»Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, das Virus zu versenden, dann will ich, dass du Folgendes denkst: ›Winziger scharfer Vikram‹.«

So ernst seine Lage auch sein mochte, Tom fing an zu lachen.

»Moment, nein«, protestierte Vik. »Mit diesem Codewort bin ich nicht einverstanden.«

»Denk es nicht zu früh«, mahnte sie Tom. »Du musst Medusas Schiff vor Augen haben. Konzentrier dich auf sie und denke dabei immer wieder ›winziger scharfer Vikram‹, bis das Virus sich ausbreitet.«

»Das ist alles?«, fragte Tom. »Und was ist mit den Firewalls?«

»Bei dem Gipfel werdet ihr beide auf dem gleichen Server arbeiten, deshalb sollte das kein Problem sein. Und wenn das Virus ausgelöst ist, wird sie ein Weilchen nirgendwohin fliegen, das kannst du mir glauben.«

»Ich bin nicht winzig«, verkündete Vik mit einiger Verspätung. »Ich bin größer als ihr beide.«

Wyatt beachtete ihn nicht. »Ich denke, Plan B wird funktionieren.«

Nun meldete sich Yuri. »Vielleicht sollten wir auch einen Plan C ins Auge fassen.« Er saß am weitesten weg von Tom, das Kinn auf die Hand gestützt.

Tom war sich nicht sicher, was Yuri vorschwebte, doch Wyatt ahnte es. »Nein, Yuri! Dein Plan ist echt scheiße.«

»Ich habe noch gar nicht gesagt, wie mein Plan aussieht.«

»Ich habe ihn erraten, und ich weiß, dass er scheiße ist.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Thomas den Kopf für mich hinhält«, sagte Yuri zu ihr.

Vik schreckte auf. Er starrte Yuri eine ganze Weile an, wies dann auf ihn und schaute verstört zwischen Wyatt und Tom hin und her. »Habt ihr das gerade gehört? Er hat Thomas gesagt.«

Wyatt biss sich auf die Lippen und sah Tom an.

Vik bemerkte es. »Also schön.« Er senkte die Stimme. »Warum verschlägt es euch beiden jetzt nicht vor Schreck den Atem? Was ist hier los?«

Doch Tom wandte sich Yuri zu. »Ich schulde euch was. Ich werde dich nicht verraten.«

»Das brauchst du auch nicht, Tom. Ich werde mich stellen. Ich werde gestehen.«

»Jetzt hat er Tom gesagt! Ich weiß, dass ihr das auch gehört habt!«, beharrte Vik.

»Wenn Blackburn herausbekommt, dass du dechiffriert worden bist, wird er dich für die undichte Stelle halten, Yuri«, gab Wyatt zu bedenken.

»Dechiffriert?«, wiederholte Vik.

»Aber dann wird dir nichts passieren«, entgegnete Yuri.

»Du wirst nicht nur dich selbst gefährden«, erklärte Tom, ohne auf Vik zu achten, der sich regelrecht die Haare raufte. »Wyatt hat deine Firewall manipuliert. Man wird auch sie wegen Landesverrats zehn Jahre ins Gefängnis werfen. Ich wandere wegen Beihilfe in den Knast. Und wir werden alle unseren Neuronalprozessor herausgenommen bekommen.«

»Yuri, du hast deinen Prozessor schon zu lange«, erklärte Wyatt entsetzt. »Wenn sie ihn dir rausnehmen, wirst du das nie überleben.«

»Also dürfen wir es nicht riskieren«, sagte Tom. »Und du hältst die Klappe, Yuri.«

Vik rieb sich den Kopf. »Wartet mal … Lasst mich das jetzt erst mal auf die Reihe kriegen. Yuri ist nicht mehr chiffriert? Und das wusstet ihr beide?«

»Ist er nicht«, antwortete Wyatt und richtete sich zu voller Größe auf. »Na und? Wieso ist das ein Problem für dich?«

»Wieso das ein Problem ist?«, wiederholte Vik. »Lebst du in der gleichen, echten Welt wie wir? Das ist ein Riesenproblem, Wyatt!«

Yuri fasste sich. »Ich bin kein Spion, Vikram.«

»Das spielt keine Rolle, Yuri!«, sagte Vik. »Kapiert ihr das denn nicht? Wie wird das denn aussehen? Im Militär herrscht eine Hierarchie. Du kannst nicht einfach deren Abwehr ausschalten, nur weil du glaubst, dass dein Freund vertrauenswürdig ist. Dazu hast du kein Recht.«

»Aber die Firewall im Turm außer Gefecht zu setzen, weil du glaubst, dass dein Freund vertrauenswürdig ist, ist für dich in Ordnung?«, konterte Wyatt.

»Das ist was anderes. Wir haben es zehn Minuten lang getan, und keiner wird was davon mitkriegen. Aber das hier? Das ist ein Dauerzustand. Glaubt ihr etwa ernsthaft, Yuris neue Software wird Blackburn auf ewig entgehen?« Er wandte sich Yuri zu. »Ich weiß, dass du kein Spion bist. Ich kenne dich, Mann, aber wenn du glaubst, dass Blackburn nicht dahinterkommt, dann machst du dir was vor!«

Wyatt hob ihre Unterarmtastatur. »Wenigstens wirst du dich nicht daran erinnern.«

Viks Augen weiteten sich. Tom machte einen Satz nach vorn und schlug ihr den Arm hinunter. »Tu es nicht.« Kaum hatte er sie erreicht, nahm Yuri ihn in den Schwitzkasten und presste ihn gegen seine breite Brust.

»Thomas, nicht«, warnte er ihn.

Tom zerrte heftig an Yuris massigem Arm. »Ich rühre sie nicht an, Yuri, aber sie darf Vik kein Virus verpassen. Heute wird niemandem das Gehirn verbrutzelt, okay?« Yuri lockerte seinen Griff, und Tom befreite sich ruckartig aus seinen Armen. »Okay?«

Wyatt fixierte Vik mit ihrem Blick, und Yuri türmte sich drohend über Tom auf, bereit einzugreifen, falls die Situation eskalieren würde.

»Vik, wenn Yuri erwischt wird, sind Wyatt und ich auch dran«, erklärte Tom. »Ich verstehe ja, dass du dich diesem militärischen Dingsbums verpflichtet fühlst, aber das hier muss unser Geheimnis bleiben. Willst du uns alle drei ins Gefängnis bringen? Willst du Yuris Leben aufs Spiel setzen?«

Vik stieß einen Laut des Unmuts aus. »Tom, ich will mich überhaupt nicht in dieser Lage befinden!«

»Ich weiß, ich weiß. Das will keiner von uns. Aber im Leben muss man manchmal unangenehme Entscheidungen treffen, oder? Entweder hältst du den Mund und hängst bei uns mit drin, oder du bringst uns alle zu Fall und musst dann damit leben. Wie entscheidest du dich?«

Vik wandte sich abrupt von ihnen ab und raufte sich das Haar.

»Und, Vik?«, drängte Tom, während er besorgt auf Viks Rücken schaute.

»Na schön, aber unter einer Bedingung«, sagte Vik und wirbelte wieder zu ihnen herum. »Ich werde mir eine männliche Version von ›Böse Hexe‹ ausdenken, und du musst darauf hören.«

»Abgemacht«, stimmte Tom zu, insgeheim erleichtert. Er wusste, dass dies Viks Art war zu sagen, dass er sich nicht gegen sie wenden würde. Als Nächstes knöpfte Tom sich Yuri vor. »Und du kapierst, wie wichtig es ist, jetzt den Mund zu halten? Für mich und für Wyatt. Ist das klar?«

»Ja«, erwiderte Yuri, auf dessen Stirn sich eine Sorgenfalte bildete. »Ich werde die Klappe halten.«

»Gut. Also läuft es jetzt wie folgt: Wyatt, du programmierst ein Virus. Yuri, du versuchst, nichts Dummes anzustellen, wie zum Beispiel die Wahrheit zu erzählen. Vik – du denkst dir eine männliche Entsprechung von ›Böse Hexe‹ aus.«

»Ideen habe ich schon«, murrte Vik.

»Und ich muss einfach darauf hören. Ach ja, und Marsh und dem Verteidigungsausschuss beweisen, dass ich der Typ bin, der die größte Kämpferin auf der ganzen Welt zur Strecke bringen kann.«

So gesehen, war alles ganz einfach.