ZWEI

Als kleinem Jungen war Tom Neil wie ein Gott vorgekommen. Sein Dad hatte nicht so einen langweiligen Job wie alle anderen – er war Spieler. Er nippte an seinem Martini wie James Bond und schlug sich durch, indem er anderen das Geld abnahm. Tom hörte während seiner Kindheit Geschichten darüber, wie sein Dad kostenlos zu Turnieren mit professionellen Pokerspielern eingeflogen worden war, dass er die größten Hotelsuiten in den obersten Stockwerken bewohnte und dem Zimmermädchen ein paar Tausend Dollar Trinkgeld zusteckte. Die Frauen suchten immer einen Grund, ihn anzusprechen, doch Neil ließ sie abblitzen, beachtete sie gar nicht, weil er in die hübscheste Frau von allen verliebt war.

Als kleines Kind glaubte Tom an diesen Traum. Er war davon überzeugt, dass die ruhmreichen Tage für seinen Dad zurückkommen würden. Jeden Moment würde sich Neil wieder in den Gewinner zurückverwandeln, der er einmal gewesen war, und dann würden sie an ein und demselben Ort bleiben, und seine Mom würde zurückkommen, und es würde ihr furchtbar leidtun, sie beide verlassen zu haben.

Doch nun, mit vierzehn, wusste Tom, dass sein Dad nicht einmal mehr zu den Turnieren, bei denen er früher kostenlos eingeflogen worden war, eingeladen wurde, und seine Mutter kam nach wie vor nicht zurück zu ihnen. Sie blieben nie länger als ein, zwei Wochen am gleichen Ort und würden es auch nie wieder tun. Er glaubte nicht mehr, dass sich daran etwas ändern würde. Er war zu alt, um an Märchen zu glauben.

Tom stopfte die Datenhandschuhe zurück in den Sammelbehälter in der VR-Halle. Dabei hallten ihm seine eigenen Worte in den Ohren wider: Ich kann gut spielen. Er vergrub die Hände in den Taschen und ignorierte die Angst, bis nur noch ein flaues Gefühl im Magen übrig blieb.

Er bemühte sich, seine Gedanken auf das zu fokussieren, was heute geschehen war: Heather. Er erinnerte sich an jedes ihrer Worte, und ihr Bild schwirrte ihm im Kopf herum. Er erinnerte sich daran, wie sie gelächelt hatte, als sie mutmaßte, er wolle sie um ein Date bitten. Als er abends an der Rezeption das Doppelzimmer bezahlte, dachte er immer noch an sie und war in Erwartung der Ereignisse am nächsten Morgen derart aufgedreht, dass er erst weit nach Mitternacht einschlafen konnte.

Und dann kam sein Vater hereingetorkelt.

Neil schaltete das Licht an, woraufhin der grelle Schein durch Toms Lider drang. Als Neil auf dem anderen Bett in sich zusammensackte, quietschten dessen Federn. »Hast du uns wieder ein Zimmer organisiert, Tommy? Auf dich kann ich immer zählen. Du bist echt ein guter Junge. Du bist ei… ein … guter Junge.«

Tom öffnete die Augen, kniff sie jedoch wegen des grellen Lichts sofort wieder zusammen und schaute blinzelnd zu, wie Neil ungeschickt seine Krawatte löste. »Dad, könntest du das Licht wieder ausmachen?«

»Eines Tages kommen wir groß raus, was, Tommy?«, lallte Neil. »Beim nächsten großen Gewinn ist die Sache gebacken. Aus die Maus.«

Tom kroch unter dem Laken hervor und ging durch das Zimmer, um das Licht selbst auszuschalten.

»Hunderttausend, mehr will ich gar nicht«, schwadronierte Neil weiter. »Werd’s auch nicht wieder alles verball… ballern. Eine Wohnung mieten. Größer als die, die dieser Dalton für deine Mom organisiert hat. Vielleicht schicke ich dich dann auf eine richtige Schule. In einem richtigen Gebäude, weißt du?« Gefühlsduselig lächelte er Tom an. Mit seinem offenen Hemdkragen, seinem zerzausten Haar und seinem unrasierten Gesicht sah er völlig heruntergekommen aus.

Tom knipste das Licht aus. Neil war seine Familie. Und sein Dad hielt zu ihm, das wusste er. Doch er hatte angefangen, sich Gedanken zu machen, seit diese Sozialarbeiter sie beide das erste Mal zur Rede gestellt hatten, weil er nicht zur Schule gegangen war und Tom gesehen hatte, wie das Leben anderer Jugendlicher aussah.

Tatsache war, dass es vor Rosewood für ihn selbstverständlich und normal gewesen war, so zu leben. Er hatte geglaubt, dieses ganze Hirngespinst von Häusern und Schulen und Essen an einem Tisch gäbe es nur in der Fantasie. Neil nannte es immer »Propaganda der Unternehmen, um die Leute lebenslang an sie zu binden«.

Aber es war keine Propaganda. Nicht wirklich. Sicher, einer Menge Leute ging es schlechter. Viel schlechter. Ganze Familien lebten auf der Straße, drängten sich in Zeltstädten, in verfallenen Gebäuden und verwaisten Fabriken. Aber es gab auch Typen wie Serge Leon. Er lebte jahrelang an einem Ort und wusste, wo er am nächsten Abend schlafen würde. Für Tom war überhaupt nichts vorhersehbar. Er wusste lediglich, dass er irgendwo mit Neil sein würde. Und mit dem hier.

Mit dem hier.

Während das rotzige Schnarchen seines Vaters das Hotelzimmer erfüllte, überfiel Tom ein grässliches, düsteres Gefühl. Obwohl die Klimaanlage voll aufgedreht war, dröhnte ihm das Schnarchen in den Ohren. Er legte sich das Kissen über den Kopf, um das Geräusch zu dämpfen. Doch es war, als würde man versuchen, einen Hurrikan zu ignorieren. Er nahm das Schnarchen nur noch lauter wahr.

Schließlich warf Tom die Decke zur Seite. Er musste ein bisschen herumballern.

Um halb sechs am Morgen war die VR-Halle menschenleer, das Foyer mit seinen Sofas und dunklen Bildschirmen lag verwaist da. Tom nahm auf der mittleren Couch Platz, setzte sich einen Helm auf und blätterte das Verzeichnis durch, bis er bei einem Zombie-Spiel hängen blieb. Zwei Stunden später hatte er sich mit Erschießen und Zerfetzen bis auf Level neun hochgearbeitet und war dafür mit einer Bazooka belohnt worden. Er war gerade damit beschäftigt, ein sauberes Loch in den Zombiekörper der Queen zu ballern, als sein Display plötzlich flackerte und schließlich alles schwarz wurde.

»Hey«, protestierte Tom und langte hinauf, um sich den Helm abzunehmen. Doch knisternd tauchte nun ein anderes Bild auf.

Auf seiner Datenbrille leuchtete ein purpurfarbener Streifen auf, der sich schließlich zu einer knallroten Marslandschaft erweiterte. Überrascht schaute Tom um sich. Es war, als hätte er unabsichtlich ein anderes Spiel innerhalb des Zombie-Spiels aktiviert.

Er ließ sich darauf ein.

Als Erstes betrachtete er die Kleidung und Bewaffnung seiner Spielfigur an. Sie war in einen Raumanzug gekleidet. Also spielte er eine menschliche Figur. Am Horizont erblickte er einen Panzer, der über die blutrote Landschaft ruckelte. Eine Informationsblase erschien und klärte ihn darüber auf, dass sein Feind sich in diesem wasserstoffbetriebenen Kettenfahrzeug befand und es seine Zielvorgabe war, zu töten oder getötet zu werden.

Der zylinderförmige Geschützturm schwenkte in seine Richtung, und Toms Herz machte einen Satz. Er wirbelte so schnell herum, wie seine Figur sich bewegen konnte, und hechtete gerade noch rechtzeitig in einen Graben, bevor eine bis ins Mark gehende Explosion um ihn herum Staub aufwirbelte. Er kroch durch den Dunstschleier zum nächstgelegenen Schützenloch. Ein weiterer Schuss verfehlte ihn knapp, und er ließ sich in den notdürftigen Unterschlupf fallen.

Während der Panzer weiter auf ihn zuhielt, wurde die dünne Marsatmosphäre von seinem Grollen erfüllt, dem langsamen Vorboten des Todes. Ein Schauer der Erregung durchströmte Tom. Er war es nicht gewohnt, blindlings in eine Simulation zu geraten. Das Laserzielgerät des Panzers würde sich optimieren, wenn er erst einmal näher gekommen war, und dann würde ihm auch dieses Schützenloch nicht mehr helfen. Er musste seinen Feind in die Luft jagen, bevor es dazu kam.

Allmählich begriff er, was hier vor sich ging. Es musste sich um einen Übergriff von außen handeln; das war ein Streich, den Gamer anderen Gamern spielten, indem sie sich in deren Systeme hackten, um sie in einer Simulation herauszufordern. Bei Tom hatte das bislang noch nie jemand getan, und er selbst konnte es gar nicht, weil er nicht wusste, wie so etwas funktionierte.

Ihm wurde fast schwindelig vor Glück. Er hoffte inständig, dass dies ein überragender Gamer war, jemand, der es voll draufhatte. Jemand, der eine Chance hatte, ihn zu besiegen. Für eine echte Herausforderung hätte Tom alles gegeben.

Rasch warf er einen Blick um sich. Er saß in einer Rinne fest, befand sich in einer absolut ungünstigen Lage. Die einzige Waffe in seiner Nähe war ein Ionen-Schwefel- Streugewehr, das im roten Staub lag. In der Ferne konnte er die anderen Schützengräben erkennen, und die Markierungen an ihren Seitenwänden verrieten ihm, dass in einem davon eine Ladung Granaten, in einem anderen C-29-Panzerabwehrraketen lagerten. Der Informationsblase zufolge, die nun am Rand seiner Datenbrille aufklappte, waren diese genau das Richtige, um den Panzer zu knacken. Aber wie konnte er dorthin gelangen, ohne dabei in die Luft gesprengt zu werden?

Eine weitere Explosion ließ den Boden in seiner Nähe erbeben, das Grollen seinen Körper vibrieren. Tom machte sich den purpurfarbenen Dunstschleier zunutze und warf sich auf die Ionen-Schwefel-Waffe. Er ergriff sie und ließ sich wieder in die Vertiefung fallen. Wenn man der neuen Informationsblase Glauben schenkte, war die Waffe ziemlich einfach zu handhaben. Sie war zwar zu schwach, um einen Panzer auszuschalten, aber sie konnte kleinere Explosionen auslösen, seine Umgebung mit einem Dunst erfüllen und für Ablenkung sorgen. Er musste sie abfeuern und den Dunstschleier als Schutz nutzen, um zu dem Erdloch mit den panzerbrechenden Waffen zu gelangen. Und dann?

Der Panzer näherte sich ruckelnd, und nun erkannte Tom den Fehler in seiner Logik: Wer immer dieser Gamer war, er musste sich darüber im Klaren sein, dass das Erdloch mit den C29 Toms sicherer Weg zum Sieg war. Wäre er selbst der Typ in dem Panzer, würde er auf den Schwefeldunst warten. Er würde darauf bauen. Er würde sich vorher die Koordinaten für das Erdloch mit den Panzerabwehrraketen geben lassen, ein paar Sekunden warten und dann eine Salve genau auf den Weg dorthin abgeben.

Nein, Tom durfte ihm nicht in die Hände spielen. Ein wenig trickreicher würde er schon sein müssen.

Also täuschte er einen fatalen Fehler vor. Er feuerte das Ionen-Schwefel-Streugewehr ab und erfüllte die Atmosphäre um den Panzer mit einer weißen Staubwolke.

Aber er rannte nicht in Richtung der Panzerabwehrraketen.

Stattdessen sprang er aus dem Graben heraus und sprintete direkt auf den Panzer zu. Nachdem er einen letzten Blick auf ihn erhascht hatte, um seine Geschwindigkeit und Position einzuschätzen, wandte er sich seitwärts, bevor das Kettenfahrzeug den Dunstschleier durchbrechen und ihn überrollen konnte. Das ohrenbetäubende, an ihm vorbeiziehende Rumpeln ließ den Boden immer stärker erbeben und warf seine Spielfigur um. Durch die Staubwolke hindurch sah Tom das nackte Metall und stürmte hinterher.

Er sprang vor, tastete nach einem Halt und zog sich hinten auf den Panzer hinauf. Nach einigen herumtastenden Griffen mit den Datenhandschuhen war Toms Figur oben auf dem Panzer, über der Luke. Das war nun sehr wohl etwas, was ein Ionen-Schwefel-Gewehr erledigen konnte. Er richtete es auf den Verschluss, sprengte ihn weg und riss die Luke auf, bevor der Typ im Innern auch nur ahnte, dass ihn sein Verderben von oben ereilen würde.

Mit einem siegessicheren Lachen ließ sich Tom durch die Luke fallen, bis seine Füße mit einem metallischen Klang auf dem Boden aufkamen. Er ging auf den zappelnden Körper zu. Der Mann trug keinen Raumanzug, war also nicht für die Marsatmosphäre ausgerüstet. Die dünnere Atmosphäre des Mars führte dazu, dass der in seinem Blut gelöste Stickstoff Blasen bildete und im Begriff war, eine tödliche Embolie auszulösen.

»Netter Versuch, Kumpel«, sagte Tom und rammte dem Kerl den Kolben seines Gewehrs immer wieder gegen den Kopf, bis er reglos liegen blieb.

Tom ließ das Gewehr fallen, setzte sich neben die Leiche und wartete auf den nächsten Level, hoffte, dass der eingedrungene Gamer nicht kniff und sich davonmachte.

Doch in diesem Moment veränderte sich der Körper. Tom sprang auf die Beine und sah fasziniert zu, wie aus dem Mann im Kampfanzug eine Frau wurde. Ein Mädchen.

Sie setzte sich auf, strich sich ihre dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und bedachte ihn mit einem milden, faszinierten Lächeln. Tom starrte sie an, während sein Verstand Kapriolen schlug.

»Heather.« Mit einem Mal wurde ihm klar, dass sie der Eindringling war … Sie war es gewesen, die ihn in der Simulation herausgefordert hatte. Er fragte sich, ob der Schauer und die Erregung, die seinen Körper ergriffen, ein Zeichen dafür waren, dass er verliebt in sie war. »Du bist ja auch Gamer!«

»Nicht wirklich, Tom.« In ihrer Stimme schwang eine spöttische Note mit. »Glückwunsch. Du hast bestanden.«

»Bestanden? Was denn?«

Doch sie verschwand, und die Simulation wurde schwarz. Verwirrt starrte Tom in die Dunkelheit. Dann drang ein langsames, gleichmäßiges Klatschen an seine Ohren.

Seine richtigen Ohren.

Tom nahm seinen Helm ab, wirbelte herum und sah sich dem einzigen anderen Menschen in der VR-Halle gegenüber.

Der Neuankömmling war ein älterer Mann mit ergrauendem Haar; er hatte ein längliches, blasses Gesicht mit einer Knollennase und trug einen militärischen Tarnanzug. Er erhob sich von der Couch gegenüber, und Tom ging mit einem Gefühl des Unbehagens auf, dass der Mann schon eine Weile dort gesessen haben musste, um ihn zu beobachten.

»Tja, Sie sind ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte, Mr Raines«, sagte der Alte. »Die meisten schaffen es beim ersten Versuch nicht einmal in den Panzer.« Er tippte sich sachte auf das Ohr und sagte zu jemandem: »Ich habe Sichtkontakt – es ist Raines. Sie können sich jetzt ausloggen. Die Netzwerkadresse meldet sich ab. Gute Arbeit, Heather.«

Beim Vorgang der Verwandlung vom virtuellen Tom zum richtigen Tom fühlte er sich immer komisch und unbehaglich, selbst dann, wenn er nicht von einem Gamer überrascht wurde, der ihn beim Spielen beobachtet hatte. »Moment mal, Sie kennen Heather? Sie beide haben diese Simulation aufgebaut?«

»Ms Akron hat Sie für mich gefunden«, sagte der Alte. »Ich bin schon seit einem Monat hinter Ihnen her. Sie sind schwer aufzuspüren. Nachdem Sie sich Ihre Netzwerkadresse für heute beschafft hatte, bin ich ins Flugzeug gesprungen. Ich wollte, dass Sie dieses Szenario einmal durchlaufen, bevor ich meine Entscheidung treffe. Aber ich war mir sicher, dass Sie mich nicht enttäuschen würden. Und das haben Sie auch nicht.«

Toms Gedanken schnellten zu den ständigen Behauptungen seines Dads – »Das Finanzamt würde mich nur zu gerne in die Finger bekommen« –, und er trat zurück. Andererseits konnte dies auch etwas mit der gestrigen Drohung von Ms Falmouth zu tun haben, das Jugendamt zu benachrichtigen. So oder so … »Warum sind Sie denn hinter mir her?«

»Sagen wir einfach, ich suche junge Leute, die einem bestimmten Profil entsprechen, und Sie stehen oben auf meiner Liste. Einer meiner Offiziere hat Sie in einem Spielenetzwerk entdeckt, aber bevor wir Kontakt aufnehmen konnten, sind Sie immer woandershin weitergezogen. Ich habe zugesehen, wie Sie gestern Abend in der Lounge Ihren Kontrahenten fertiggemacht haben. Das war eine gute Finte, die Sie in dem Autorennen angewandt haben.«

Tom erstarrte. »Oh, das haben Sie gesehen?«

»Ich habe Ihnen noch ein paar andere Male zugeschaut. In Südkalifornien, in New Mexico.«

Tom heftete seinen Blick auf die Spitze der Knollennase des Mannes, während er über eine Ausrede nachdachte. Er hatte nichts Verbotenes getan … Na ja, außer dass er noch minderjährig war und deshalb gar nicht spielen durfte. Das allein war schon ein Verstoß gegen das Gesetz. Was konnte er sagen? Wie sollte er das erklären?

»Ich habe Sie nicht persönlich gesehen«, beruhigte ihn der Mann. »Man hat mir eine Einspielung von ein paar Ihrer alten Spiele zukommen lassen. Das hier ist nicht das erste Kasino, in dem Sie aufschlagen. Sie sind ein richtiger Gamer. Ich bin beeindruckt.«

Tom blinzelte. »Beeindruckt?« Damit hatte er nicht gerechnet.

»Ich bin General Terry Marsh. Wie Sie vielleicht wissen, durchforstet die Regierung das Land nach vielversprechenden jungen Leuten, um sie zu Kombattanten auszubilden.«

Tom erwiderte nichts. Die Worte ergaben für ihn keinen Sinn.

»Ich bin hier, weil wir jemanden wie Sie im Turm des Pentagons brauchen könnten«, fuhr Marsh fort.

Der Turm des Pentagons.

Der Turm des Pentagons. Wo die Kombattanten der Intrasolaren Streitkräfte trainierten. Wo Leute wie Elliot Ramirez lebten.

Nun begriff Tom, worum es hier ging. Lachend wandte er sich von dem Alten ab. »Also schön, wer steckt hier wirklich dahinter? Ich bin nämlich kein Volltrottel. Ganz egal, worum es hier wirklich geht, mir gefällt es nicht.«

»Das ist aber schade«, bemerkte Marsh trocken. »Die meisten Teenager würden ihr letztes Hemd dafür geben, sich unseren Kombattanten anzuschließen.«

Tom wirbelte herum, um dem alten Mann ins Gesicht zu schauen, denn dieser wirkte unnachgiebig und trug immerhin ja auch militärische Kleidung. »Sie verarschen mich hier, ja? Bestimmt tun Sie das.«

Marsh bedeutete ihm, sich hinzusetzen. »Mr Raines, Sie haben von der aktuellen Kriegssituation gehört. Das müssen Sie.«

Tom rührte sich nicht vom Fleck. »Ich lebe nicht in einer Höhle.«

»Ich nehme an, das heißt Ja. Wir haben Programmierern die Kontrolle der indo-amerikanischen Maschinen überlassen, die im Sonnensystem kämpfen. Diese Leute haben Programme geschrieben, mit denen die Bewegungen dieser Maschinen koordiniert werden. Logische Bewegungen. Die russisch-chinesische Allianz hat sich dieselbe Strategie zu eigen gemacht, sodass der Kampf sehr vorhersehbar wurde. Das Ergebnis war ein regelrechtes Patt. Deswegen sind wir nun schlauer vorgegangen. Wir haben einen menschlichen Faktor in das Verhalten von Maschinen eingefügt.«

»Kombattanten.«

»Nein, zuerst nur Hacker. Sie haben die russisch-chinesische Software manipuliert. Russland und China haben daraufhin ihrerseits Hacker eingesetzt, und wir landeten erneut in einer Pattsituation. Aber das russisch-chinesische Militär ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat Menschen die aktive Steuerung ihrer Kampfmaschinen überlassen. Strategen. Unkonventionellen Denkern. Risikoträgern. Rebellen. Es sind ausschließlich junge Leute, denn Teenager haben gewisse Eigenschaften, die von entscheidender Bedeutung für diese Art der Kriegsführung sind. Deshalb schicken auch wir mittlerweile junge Leute an die Front. Junge Leute, die eine entscheidende Rolle bei der Kriegsführung spielen.«

»Junge Leute wie Elliot Ramirez«, äußerte Tom.

Mit anderen Worten junge Leute, die verheißungsvoll, talentiert und draufgängerisch waren. Junge Leute, die alles andere als er waren.

»So ist es«, sagte der General unverdrossen. »Elliot besitzt besondere Gaben, die er unseren Streitkräften zur Verfügung stellt. Ausstrahlung, Charme, und er ist ein ausgezeichneter Eiskunstläufer.«

Tom schnaubte verächtlich. Mit Elliot Ramirez in einem funkelnden Gymnastikanzug vor Augen konnte er gar nicht anders.

Marsh kniff die Augen zusammen. »Sie können sich darüber lustig machen, so viel Sie möchten, junger Mann, aber dieser Junge hat eine goldene DNS. Er wäre überall groß herausgekommen. Wäre er nicht bei uns gelandet, würde Ramirez bei den Olympischen Spielen antreten. Für uns zählt nur das Potenzial. Wir suchen Leute, die vielversprechend sind, Leute, die wirksame Strategien gegen die russisch-chinesischen Kombattanten entwickeln können. Wir können unsere Rekruten ausbilden, wir können sie besser machen, als sie es sich je hätten vorstellen können, aber Potenzial? Das ist die einzige Eigenschaft, die wir nicht antrainieren können. Ramirez hat etwas Einzigartiges mitgebracht. Und wir hoffen, dass Sie es ebenfalls tun.«

Tom beschlich ein ungläubiges Gefühl. Das hier konnte nicht wahr sein.

»Brauchen Sie Beweise, Tom?«

»Ja«, erwiderte Tom sofort.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen meine Challenge Coin zeige?« Marsh zog eine Münze aus seiner Tasche. »Mitglieder der Air Force…«

»Zeigen sie sich gegenseitig, um zu beweisen, dass sie zum Militär gehören. Ich weiß. Ich habe ungefähr eine Million militärische Simulationen gespielt.« Tom ergriff die Münze und drehte sie zwischen den Fingern. Auf der Rückseite erkannte er das Abzeichen der Air Force.

Marsh nahm sie ihm wieder ab und presste die Fingerkuppe auf das Logo. »Brigadegeneral Terry Marsh, United States Air Force«, sagte der Alte. Die Oberfläche der Münze blitzte grün auf, wodurch sie gleichzeitig seine Stimme, seine Identität, seinen Fingerabdruck und seine DNS verifizierte.

Tom betrachtete Marshs Wurstfinger, mit denen dieser die Münze umklammert hielt. Dabei sann er über Möglichkeiten nach, ob jemand die Technologie der Air Force fälschen konnte. Die andere Möglichkeit, also dass dieser General wirklich seinetwegen hier war, erschien ihm so unglaublich, dass es seine Vorstellungskraft sprengte.

»Hält das Ihrer Prüfung stand?«, fragte ihn Marsh, während er die Münze zwischen zwei Fingern hin und her schwenkte.

Tom starrte sie an und richtete dann seinen Blick auf Marsh. »Sie sind wirklich meinetwegen hier? Sie glauben, ich könnte ein Kombattant werden?«

»Das ist eine große Chance, Tom. Unsere Ausbildung beinhaltet theoretische Strategie, und wenn unsere Auszubildenden sich gut machen, geben wir ihnen die Chance, jene Kombattanten zu sein, die unser intrasolares Waffenarsenal kontrollieren. In Fällen wie dem Ihren befähigen die von diesen Spielsimulationen geförderten kognitiven Fähigkeiten und Reflexe Sie bestens dafür, Kampfmaschinen zu bedienen.«

»Deshalb haben Sie mich ausgesucht? Weil ich gut spielen kann?«

»Genau. Deswegen wollen wir Sie.«

Tom musste auf einmal an Ms Falmouth denken. Ihre Worte hallten noch in ihm nach: Was kannst du gut?

Das, offenbar. Das Land retten genau wie Elliot Ramirez.

»Und Ihr rascher Sieg in diesem Testszenario«, fuhr Marsh fort, »ist sozusagen das i-Tüpfelchen. Sie würden perfekt zu uns passen.«

Tom schloss kurz die Augen, und als er sie öffnete, rechnete er damit, dass sich alles um eine Art Wunschbild handelte. Doch Marsh war immer noch da, und die VR-Halle war echt.

Etwas, das Marsh in Toms Gesicht sah, ließ ihn knapp nicken. »Es stimmt, mein Junge. Ihr Land braucht Sie im Turm des Pentagons. Die Frage ist nur: Sind Sie Manns genug, um einen Krieg für uns zu gewinnen?«

»Kommt nicht infrage«, sagte Neil.

Tom saß auf dem Rand seines Bettes in ihrem Hotelzimmer. Neil nippte an einem Drink, weil, wie er immer gerne sagte, ein guter Screwdriver das einzig zuverlässige Mittel gegen Kater war. Schon Toms bloße Erwähnung, dass er General Marsh begegnet war, führte dazu, dass sich die Falten in Neils Gesicht tiefer eingruben.

»Dad, diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen.« Tom blätterte das Formular der elterlichen Einverständniserklärung durch, das Marsh ihm mitgegeben hatte. »Die bilden mich aus, und dann bin ich Kombattant. Und es ist ja für unser Land …«

»Du wirst keinen Krieg für dieses Land kämpfen, Tom.« Er fuchtelte mit der Hand herum, sodass Orangensaft über den Rand seines Glases schwappte. »Unser Militär kämpft, um Nobridis, Inc. die extraplanetarischen Rechte auf Bodenschätze zu sichern. Die russisch-chinesische Allianz ihrerseits kämpft, um sie Stronghold Energy zu sichern. Bei dem Krieg geht es nicht um Länder! Die Multis setzen das vom Steuerzahler finanzierte Militär ein, um geheime Scharmützel auszutragen, und verkaufen die Sache der Öffentlichkeit, indem sie ihr den Mantel des Patriotismus überwerfen. Eigentlich ist es bloß ein großer Kampf zwischen Mitgliedern der Koalition, um herauszufinden, wer der reichste Vorstandsvorsitzende im ganzen Sonnensystem sein wird!«

Tom hatte das alles schon mal gehört, diese Anti-Establishment-Nummer, die Neil immer herunterleierte. Er zog sie jedes Mal ab, wenn ihn jemand fragte, warum er nie einen Job behielt – »Warum ich mich nie vor den Karren unternehmerischer Knechtschaft habe spannen lassen, meinst du?« oder keine Steuern bezahlte – »Ich habe Besseres mit meinem Geld zu tun, als das Geldsäckel von America, Inc. zu stopfen!«

Deswegen studierte Tom nun die Einwilligungserklärung und hörte ihm nicht länger zu.

»Weißt du, wie das Militär seine Leute behandelt, Tom? Sie schlucken sie und spucken sie anschließend wieder aus. Für die bist du bloß ein Ausrüstungsgegenstand. Und wofür? Nicht für dein Land. Sondern für die Brieftasche von irgendeinem Manager, den du nie kennenlernen wirst. Er lebt in irgendeiner Luxussuite, die du nie zu sehen bekommen wirst!«

Tom musterte seinen Vater mit seinem morgendlichen Drink in der Hand, seinen zerknitterten Kleidern und seinem unrasierten Gesicht. »Dad, das hier ermöglicht es mir, Karriere zu machen. Es ist das richtige Leben. Marsh sagt, ich bekäme sogar ein Gehalt.«

»Du hast ein richtiges Leben. Lass dich nicht von diesem Scheißgeneral dazu überreden …«

»Er braucht mich zu gar nichts zu überreden«, platzte Tom heraus. »Ich habe es satt. Es ist immer wieder das Gleiche. Du verspielst unser ganzes Geld, und ich versäume die Schule und gerate mit Ms Falmouth aneinander. Bestimmt ist das auch der Grund, weshalb …« Er sprach nicht weiter.

Fast hätte er ihn ausgesprochen. Diesen finsteren Gedanken, den er bisher nie über die Lippen gebracht hatte.

Bestimmt ist das der Grund, weshalb Mom uns verlassen hat.

Neil benötigte einen Moment, um etwas zu erwidern, so als hätte er Toms Gedanken gelesen. »Wir können ab jetzt auch anders leben als bisher. Wenn du es satthast, dann lassen wir uns irgendwo nieder. Du musst dich denen nicht anschließen. Nach dem nächsten Gewinn bin ich fertig damit.«

Tom schloss die Augen. Das Blut pochte in den Adern an seiner Schläfe. Einen »nächsten Gewinn« würde es nie geben. Und wenn doch, dann würde er nicht reichen – und genauso schnell wieder verspielt sein wie die anderen. Sein Dad würde dieses Leben nie mehr aufgeben. Sein Versprechen war wertlos. So wertlos wie Toms Leben, wenn er sich nicht vom Acker machte, solange er noch die Gelegenheit dazu hatte.

»Ich muss mich nicht dem Militär anschließen, Dad. Ich will es.« Er machte die Augen wieder auf und versuchte, sich in die Perspektive seines Vaters hineinzuversetzen. »Ist es wegen des Geldes? Mein Gehalt wird in einen Fonds fließen, aber ich bekomme eine Zulage. Ein bisschen kann ich dir schicken. Ich kann dich unterstützen.«

Warum sah Neil ihn jetzt so an, als hätte er ihm einen Todesstoß versetzt? Sie wussten doch beide, dass es Tom in letzter Zeit gewesen war, der ihre Zimmer bezahlte.

Neil presste den Kiefer zusammen. »Schön. Schön, Tom. Ich unterschreibe dir jedes verdammte Formular, das du willst. Du willst dein Leben wegwerfen? Willst dich der Kriegsmaschinerie der Konzerne verpflichten?«

»Ja, Dad. Ich will mich der Kriegsmaschinerie der Konzerne verpflichten.« Toms Stimme wurde grimmig. »Es ist meine Entscheidung.«

»Es ist ein Fehler, den du da machst.«

»Mag sein. Aber es ist meiner

Neil riss Tom die Einwilligungserklärung aus den Händen. »So hatte ich mir das mit der Rebellion eines Teenagers gegen seinen Vater nicht vorgestellt. Du solltest mich schockieren, indem du etwas Skandalöses tust, und nicht, indem du dich dem Establishment anschließt.«

»Skandalöser kann ich nicht mehr werden, Dad. Unterschreib das Formular.«

»Mir wäre es lieber, du lässt dich tätowieren.«

Neil kritzelte seine Unterschrift auf das Formular und überschrieb das Sorgerecht für Tom dem US-Militär.

Am späten Nachmittag kehrte General Marsh zurück, um das Formular entgegenzunehmen.

»Mr Raines, solange Tom bei uns ist, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir werden uns gut um Ihren Jungen kümmern.« Marsh reichte Neil die Hand.

Wie versteinert und voller Hass starrte Neil ihn an. Er ignorierte Marshs Hand und trat stattdessen vor, um Tom zum Abschied unbeholfen zu umarmen.

»Tom« – Neil zerzauste sich das Haar –, »was immer passiert, du passt selbst auf dich auf. Kapiert?«

»Kapiert.«

Der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters gab Tom zu denken, als er ihn gemeinsam mit Marsh verließ. Neil starrte ihnen nach, als wäre er überzeugt davon, seinen Sohn zum letzten Mal gesehen zu haben.