DREIZEHN

Bis auf wenige Ausnahmen kamen am zweiten Tag der Kriegsspiele die meisten Viren mit freundlicher Empfehlung von Wyatt. Franco Holbein von der Hannibal Division programmierte einen, den er »Eisige Nächte« nannte und damit ein paar Machiavellis erwischte, als diese sich auf ihren Stuben in neuronale Zugangsports einklinkten. Sie kauerten sich während des Mittagessens mit klappernden Zähnen aneinander und forderten lautstark, jemand solle den Thermostat der Heizung hochdrehen. Dann brachte Nigel Harrison ein Virus namens »Essensschlacht« zu Wege, das die Leute in der Kantine dazu veranlasste, ihr Gesicht auf ihren vollen Teller zu drücken. Noch bevor der Tag endete, rächte sich Britt Schmeiser von der Napoleon Division mit einem Trojaner namens »Nigel Harrison«, der sich aktivierte, sobald der Infoscreen eines Infizierten registrierte, dass Nigel Harrison in der Nähe war.

Der Trojaner infiltrierte über Nacht die Hausaufgabeneinspeisung und infizierte einen beträchtlichen Teil der Bewohner des Turms. Als Nigel am dritten Tag der Kriegsspiele zum Mittagessen in die Kantine kam, aktivierte sich der Trojaner bei fast hundert Auszubildenden gleichzeitig. Die Gesichter aller Anwesenden zuckten so, wie sein Gesicht es ständig tat.

Nigel starrte im Raum umher, als befände er sich gerade in einem surrealen Albtraum. Schließlich verlor er die Nerven. »Aufhören!«, schrie er. »Aufhören!« Dabei zuckte sein Gesicht noch heftiger als gewöhnlich, und seine verstärkten Zuckungen lösten auch bei allen Anwesenden entsprechende aus. Es kam zu einem regelrechten Debakel, bei dem Nigel mit seinem Essenstablett auf andere einschlug. Mit Tränen der Wut flüchtete er schließlich aus der Kantine, verfolgt von Gelächter und den Rufen: »Geh doch zur Sozialarbeiterin und heule dich bei ihr aus!«

Tom und Vik verpassten den Zwischenfall, obwohl sie beide vor dem Lafayette-Raum auf Nigel Harrison trafen. Deshalb waren sie in der nächsten Stunde irritiert von den allgegenwärtigen Gesichtszuckungen. Sie ließen das Mittagessen ausfallen, da sie zu beschäftigt damit waren, ihr Programm für das Duell mit Karl fertigzustellen. Es war erste Sahne, und sie nannten es »Widerwärtiges Dauerfurzen«.

»Sind Sie bereit, Doktor?«, fragte Vik Tom.

»Ich bin bereit, Doktor. Auf in die Schlacht.«

Um 20:00 marschierten sie in den Gemeinschaftsraum der Rekruten, um sich Karl zu stellen. Dem teuflischen Vergnügen nach zu urteilen, das von Karls Hängebackengesicht unter seiner neuen Frisur ausging, musste auch er etwas Hässliches auf Lager haben.

»Bei drei.« Viks Blick war auf Karls Gefährtin Lyla Mortenson geheftet. Es war das erste Mal, dass Tom sie wirklich von Nahem zu sehen bekam, und vor seinem neuen inneren Auge wurde ihr Profil eingeblendet.

Name: Lyla Mortenson

Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte, Mittlerer Dienst 0-4, Dschingis Division

Herkunft: West Palm Beach, Florida

Besondere Leistungen: Sieger im Fliegengewicht bei sechs Welt- und Landesmeisterschaften im Amateurboxen

IP: 2053:db7:lj71::275:ll3:6e8

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-4

»Einszweidrei«, rief Lyla in einem Atemzug. Tom war zu überrascht, als dass er sofort reagiert hätte.

Karl rief »Ha!« und schlug als Erster zu.

Nichts geschah. Datenstrom empfangen: Programm »Tollwütiger Fiffi« initiiert. Wert null, wurde auf Toms Infoscreen eingeblendet.

»Netter Versuch, Kumpel.« Tom startete ihr Programm.

Karl wartete. Und wartete. Dann lachte er. »Wert null, Rekrut.«

»›Geheimer indischer Ninjaangriff‹!« Vik hob die tragbare Tastatur, die er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte, hoch und löste ihr supergeheimes, superexperimentelles Back-up-Programm aus.

»Kawumm!«, rief Tom triumphierend.

Karl und Lyla schauten die beiden fragend an.

Lyla kratzte sich an der Nase. »Meine Nase juckt. Juckt deine Nase auch?«, fragte sie Karl.

Karl schüttelte den Kopf. »Nee.«

»›Geheimer indischer Ninjaangriff‹ lässt eure Nasen nicht jucken«, sagte Vik.

»Okay«, erwiderte sie. »Etwas anderes, als dass meine Nase juckt, fällt mir aber nicht auf.«

»Wieder null, Rekruten«, verkündete Karl.

Sie schauten sich alle eine ganze Weile lang an. Karl, der sich offenkundig nichts sehnlicher wünschte, als sie auf die altmodische Tour zu verdreschen, hämmerte mit einer Faust in seine fleischige Hand. Dann gingen sie alle ihrer Wege.

»Das war ja wohl das übelste Duell aller Zeiten«, befand Tom.

»Tom«, sagte Vik, als sie sich wieder auf ihrer Stube befanden, »wir sind solche Nullnummern, dass man Depressionen davon bekommen könnte.«

Unglücklicherweise war Blackburn derselben Meinung. Am nächsten Tag spielte er ihr Duell der Klasse auf dem Overheadbildschirm vor, und selbst er musste sich die Hand auf den Mund legen, um ein Lachen zu unterdrücken.

Tom beschloss, dass er den Memografen hasste. Nachdem sie Blackburn ihren Quellcode übermittelt hatten, zitierte er sie alle vier zur Auswertung ihrer Erinnerungen – nur wegen dieser Sache. Blackburn hatte ihnen allen zu ihrer Erbauung eine große Anzahl demütigender Programmiermisserfolge vorgeführt und als deren Krönung Toms und Karls langes und abenteuerliches Duell gezeigt.

»Die vergangenen drei Tage haben es bestätigt«, schloss Blackburn. »Die überwältigende Mehrheit von Ihnen ist, um es milde auszudrücken, erbärmlich. Sieger ist die Hannibal Division, in großem Abstand gefolgt von den Machiavellis. Dies geht offenbar einzig und allein auf die Anstrengungen von Nigel Harrison und, zu meiner grenzenlosen Überraschung, Wyatt Enslow zurück.«

Beifallrufe und Freudenschreie von den anderen Hannibals und Machiavellis erfüllten den Lafayette-Raum. Tom schaute hinüber und bemerkte, dass Wyatt knallrote Wangen bekommen hatte. Sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und erst recht nicht, von den anderen Mitgliedern ihrer Division, die sie sonst zumeist ignorierten, gefeiert zu werden.

»Was ist Ihr Geheimnis, Enslow?«, fragte Blackburn, während er sich an das Podium lehnte und seine grauen Augen auf sie richtete. »Wie sind Sie zu meinem Wunderkind geworden?«

Tom sah, dass Wyatt den Kopf einzog, sodass ihr das dunkle Haar ins Gesicht fiel. »Ich wollte einfach nur Leute angreifen, bevor sie mich angreifen, Sir.«

Blackburn ließ sie damit davonkommen, doch Tom fiel auf, dass er ihr ab und zu einen Blick zuwarf, auch noch nachdem er den Unterricht wieder aufgenommen hatte. »Also, mir ist da zu Ohren gekommen, dass es einige Angriffe auf Mr Ramirez gegeben hat. General Marsh möchte nicht, dass er in diesen Konflikt …«

Elliot stand auf. »Sir, für mich ist das in Ordnung, wenn …«

»Mr Ramirez, Ihnen steht ein Gipfel im Kapitol bevor. Da Sie dort vorgeben, Indo-Amerika zu repräsentieren, will es niemand riskieren, ihre Software zu verhunzen. Und machen wir uns nichts vor, Sie sind ja nicht gerade ein Programmiergenie, dessen Abwesenheit verheerende Auswirkungen auf diesen Konflikt haben würde, hm?«

Tom hätte schwören können, dass Elliot verlegen dreinblickte, als er sich wieder setzte.

»Ramirez ist außen vor, für alle. Was den Rest von Ihnen angeht« – Blackburn beschrieb mit seinem Finger einen Kreis, in den er den ganzen Raum einschloss – »so gebe ich Ihnen noch einen weiteren Tag. Ich weiß, dass das jetzt viel verlangt ist, aber versuchen Sie, damit aufzuhören, sich selbst zu demütigen.«

Als Vik und Tom im Fahrstuhl zum fünften Stockwerk hinauffuhren, fragte Tom ihn: »Was meinte Blackburn eigentlich gerade, als er sagte, Elliot würde vorgeben, Indo-Amerika zu repräsentieren?«

»Tja, du weißt ja, worum es beim Gipfel im Kapitol wirklich geht«, sagte Vik. »Dominion Agra ist mit Indien und Amerika verbündet und besitzt die Patente für die Lebensmittelversorgung. Harbinger, Inc. ist mit Russland und China verbündet und besitzt die Patente für die Wasserversorgung. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass die Koalition der Multis zusammentrifft und sich darauf verständigt, hier auf der Erde die Patente des jeweils anderen durchzusetzen, auch wenn man im All gegeneinander Krieg führt. Außerdem ist es eine große Show für die Öffentlichkeit, damit sie weiter hinter dem Krieg steht. Unsere besten Kombattanten treten den besten russisch-chinesischen Kombattanten entgegen.«

»Aber Elliot ist doch derjenige, der dort kämpft«, führte Tom aus. »Und dabei ist er gar nicht der Beste in der CamCo.«

Die Türen glitten auf und hielten auf die Räume der Alexander Division zu. »Aber wir nennen ihn unseren Besten. Und von außen sieht es so aus, als wären es Elliot und Svetlana, die gegeneinander kämpfen, weil sie hübsche Gesichter haben und deswegen in den Medien gut rüberkommen. Also tun sie vor den Kameras so, als stünden sie einander gegenüber, während hinter den Kulissen Stellvertreter den eigentlichen Kampf ausfechten. Bei Elliot steht das fest, und dass es bei Svetlana auch so ist, vermuten alle.«

Tom stieß ein Lachen aus. »Warte mal. Er geht also einfach dorthin und tut so, als würde er kämpfen?«

»Ja«, antwortete Vik. »Das ist schon irgendwie witzig – die Öffentlichkeit weiß nichts von Neuronalprozessoren, deswegen benutzen Elliot und Svetlana sogar Joysticks und Trackballs, als steuerten sie wirklich Raumschiffe im All, während ihre Stellvertreter irgendwo anders eingeklinkt sind und die Schiffe tatsächlich lenken.«

»Wer ist denn Elliots Stellvertreter?«

»Im vergangenen Jahr war es Alec Tarsus. Aber weil Svetlana in diesem Jahr ganz sicher von Medusa vertreten wird und Alec im All ständig von ihr niedergemacht wurde, weiß ich nicht, wen sie dieses Mal auswählen werden. Ich tippe auf Heather Akron oder diesen Yosef Saide aus der Dschingis Division vielleicht? Er wird Medusa zwar nicht besiegen, aber du hast Yosef ja im Einsatz gesehen – er ist ganz groß in Sachen Massenvernichtung. Er zieht vielleicht irgendwas Krankes ab, bei dem sie dann beide draufgehen.«

Sie kamen an Beamer vorbei, der gerade in Richtung Bad unterwegs war. »Hey«, rief Tom, »wer, glaubst du, wird …«

Doch Beamer ging an ihnen vorbei, als würde er sie überhaupt nicht wahrnehmen. Tom bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube, und erst als Vik ihn an der Schulter zog, setzte er seinen Weg fort.

Als sie ihre Stube erreichten, griff Vik auf den internen Prozessor des Turms zu und aktivierte einen oberflächlichen Virusscan, um zu versuchen, die anderen, in neuronale Schnittstellen eingeschmuggelten, bösartigen Viren aufzuspüren. Anschließend lehnte er sich einigermaßen schockiert zurück und zeigte Tom die Ergebnisse: Wyatt Enslow hatte inzwischen alles sabotiert. Alles. Sie hatte Attacken auf die Hausaufgabeneinspeisungen und auf die Datenbank eingefädelt. Sie hatte sogar Firewalls aufgebaut, die Viren von anderen daran hinderten, die Einspeisungen zu infiltrieren.

Vik war fix und fertig. »Doktor, Ihnen sollte klar sein, dass Bratpfannenhand jeden und alle niedergemacht hat.«

»Sie braucht einen angemessenen Oberschurkennamen. ›Bratpfannenhand‹ reicht mir nicht mehr.«

»Du hast recht. Wie wäre es mit ›Böse Hexe aus dem Dunklen Reich von Mordor‹?«

»Zu langatmig.«

»Dann eben nur ›Böse Hexe‹. Hör zu, ich weigere mich, schon jetzt eine Niederlage einzugestehen.«

»Jeder Schurke hat eine Achillesferse. Wo ist ihre?«

Vik rieb sich am Kinn und starrte stirnrunzelnd auf die Wand. Tom ließ sich plumpsend auf sein Bett fallen und stützte den Kopf auf den Ellbogen.

Wyatt spielte keine Games. Sie konnten ihr also nichts in eine VR-Simulation einschmuggeln. Sie las gerne – aber Tom fiel nichts ein, wie er ihr einen Trojaner in ein Buch hätte einschmuggeln können. Sie klinkte sich nie in eines ein, damit sich der Prozessor den Text merkte. Sie las vielmehr Wort für Wort, wie es auch ein ganz normaler Mensch ohne Neuronalprozessor tat.

»Schulungsraum, neuronale Schnittstellenbuchsen?«

»Woher willst du wissen, welches Feldbett sie sich aussucht?«, gab Vik zu bedenken.

»Man muss in jedes von ihnen ein Virus einschleusen.«

»Dann fängst du dir doch auch eins ein.«

Tom winkte ab. »Das nehme ich in Kauf, bloß um einen Punkt gegen sie zu machen.«

»Und auch Elliot wird es abbekommen.«

»Oh.« Toms Hoffnungen schwanden. Elliot zu treffen durften sie nicht riskieren. »Tja, es muss da noch eine andere …« Plötzlich wusste er, worin Wyatts Schwäche bestand: »Vik, was ist mit Yuri?«

Vik warf ihm einen schnellen Blick zu. »Der Android. Natürlich. Der ist ihr bester Freund, seit sie hier ist. Ihm vertraut sie.«

»Also bringen wir ihn dazu, ihr ein Virus unterzujubeln«, sagte Tom. »Er braucht es ja gar nicht zu kapieren. Wir sagen ihm bloß, er soll ihr etwas zeigen und dafür eine Datei schicken.«

Vik grinste. »Sie wird neugierig werden und reingucken!«

Der Plan war perfekt.

Die Sache hatte bloß einen Haken: Yuri war schon allein von der Vorstellung entsetzt, mit von der Partie zu sein, wenn es darum ging, Wyatt eins auszuwischen. »Das kann ich nicht.«

»Viel brauchst du doch gar nicht zu tun«, beteuerte Vik. »Bitte sie bloß, sich mal eines deiner Programme anzuschauen, bring sie dazu, sich nur eben mal einzuklinken …«

»Und zack, befindet sie sich im Virusland«, vollendete Tom den Satz.

»Das ist zu hinterlistig«, widersprach Yuri.

Vik warf die Hände in die Luft. »Nun komm schon. Wo bleibt dein Patriotismus? Verdammt, du bist ein Alexander!«

»Aber mir gefällt die Vorstellung nicht, Wanda zu attackieren.«

»Es ist ja nun nicht gerade so, als würde Böse Hexe dir wegen all ihrer anderen Freunde den Laufpass geben …«

»Ich will ihr Vertrauen nicht verlieren.«

»Wir verstehen ja, dass du Mitleid mit ihr hast, aber …«, begann Tom.

Yuri richtete sich zu voller Größe auf. »Warum sollte ich sie bemitleiden? Sie ist umwerfend. Sie ist so intelligent und ehrlich und …« Er hielt inne, vielleicht weil Tom und Vik ihn beide so anstarrten, als wäre er ein Geisteskranker. Vielleicht auch, weil er merkte, dass er rot anlief.

Die Erkenntnis traf Tom wie ein Blitzschlag. Fassungslos wandte er sich Vik zu. »Er steht auf sie.«

»Yuri, nein!«, beschwor Vik ihn.

Yuri wurde jetzt noch röter und bestätigte es damit.

»Yuri, jetzt hör aber auf, Mann«, schrie Tom.

Yuri zuckte hilflos mit den Schultern. »Divisionsgrenzen können nicht die Herzen der Menschen trennen.«

»O Gott«, kreischte Vik und hielt sich die Ohren zu. »Jetzt lässt er auch noch kitschige Sprüche vom Stapel. Gebiete ihm Einhalt, Tom!«

»Ich kann nicht«, beschied ihm Tom. »Meine Ohren … Sie bluten. Bluten!«

»Es ist eine Gehirnblutung! Er hat uns ermordet!«, kreischte Vik.

»Mörder!«, rief Tom und tat so, als würde er zusammenbrechen.

Yuri schüttelte den Kopf. »Besonders erwachsen verhaltet ihr euch nicht.«

Doch sie lagen schon auf dem Boden und krümmten sich wegen angeblicher spontaner Gehirnblutung. Yuri seufzte, trat über sie hinweg und ging zur Tür hinaus.

An diesem Abend opferte sich Vik dafür aufzubleiben, um das ultimative Programm zusammenzubasteln, damit sie Wyatt in der Luft zerfetzen konnten. Tom wollte nicht schlafen, während sein Doktorkollege des Unheils den Großteil des Programmierens übernahm. Als Zeichen seiner Solidarität blieb er wach und machte gelegentlich Vorschläge. Eine seiner Ideen kam ihm spät in der Nacht. Sein Geistesblitz ließ ihn aufspringen.

»Vik, was wäre, wenn wir einen Außensender benutzen?«

»Was? Ich muss mich konzentrieren, Tom.«

»Hör zu. Vielleicht brauchen wir gar kein raffiniertes Virus. Vielleicht müssen wir bloß von irgendwo auf sie losgehen, von wo sie es nicht erwartet. Wir kennen ihre IP. Und wir haben die Genehmigung, die Firewall des Turms zu überwinden. Suchen wir uns also einen Sender, der so leistungsstark ist, dass er sie aus der Entfernung erreicht. Wir hacken uns hinein und benutzen ihn, um sie mit etwas zuzuknallen.«

»Und … was soll das für ein Sender sein?«

Erwartungsvoll beugte Tom sich vor, denn bei dieser Sache war er davon überzeugt, ein Visionär zu sein. »Ein Satellit.«

»Wie sollen wir denn deiner Meinung nach einen Satelliten benutzen? Ich habe keinen Schimmer, wie die Dinger gesteuert werden.«

»Wir klinken uns in die Dinger ein. So wie die Satelliten es bei Raumschiffen tun. Genauso klinken wir uns in den Satelliten ein.«

»Raumschiffe haben eine neuronale Schnittstelle«, hielt Vik ihm vor. »Satelliten nicht.«

Tom rieb sich die Schläfen. Er durchforstete seine Erinnerung an den ersten Tag, nachdem ihm sein Neuronalprozessor implantiert worden war. »Das kriegen wir hin. Ich schwör’s dir, es ist möglich. Weißt du noch, als dir dein Neuronalprozessor installiert wurde und du für das Internet konfiguriert wurdest? Ich weiß noch, als ich willkürlich in irgendwelche Orte eingeklinkt wurde – und einer davon war ein Satellit. Es war genauso, als hätte er eine neuronale Schnittstelle. Ich war da drin. Wir müssen so etwas bloß gezielt hinkriegen.«

Vik starrte ihn an, als wäre er verrückt.

»Komm schon, erinnerst du dich denn nicht mehr an deine Installation?«, wollte Tom von ihm wissen. Er führte sich die gewaltigen Sequenzen von Nullen und Einsen vor Augen und die Art, wie sein Gehirn sich in eine unendliche Zahl von Richtungen gezogen gefühlt hatte. »Dein Gehirn gelangt erst in das Netzwerk und fängt dann an, ein bisschen herumzuswitchen …«

Vik trommelte mit den Fingern auf dem Rand seiner Unterarmtastatur herum und schaute ihn dabei nachdenklich an. »Tom, ich sage ja gar nicht, dass es nicht so gewesen wäre, aber, äh … ich mache jetzt weiter mit meiner Sache. Mit diesem Programm hier. Wenn du noch was anderes beisteuerst, von dem du glaubst, es könnte klappen, dann probier’s aus, aber ich würde mich nicht darauf verlassen, Kumpel. Die Sache da, von der du redest, ist schlichtweg nicht möglich. Es gibt keinen Neuronalprozessor auf der Welt, der sich nach Belieben mit irgendeiner Maschine verbinden könnte. Maschinen müssen für einen Neuronalprozessor gebaut werden, sonst haut das nicht hin. Wahrscheinlich hast du das bloß geträumt. In der Narkose erleben manche Leute seltsame Dinge. Mein Dad ist Arzt, ich weiß das.«

Tom war sich sicher, dass er es sich nicht eingebildet hatte. »Ich werde mich in eine neuronale Schnittstelle einklinken und es dir zeigen, Vik. Warte nur.«

»Wenn du dich ins Internet einklinkst, fängst du dir eines von Wyatts Viren ein«, warnte ihn Vik. »Die hat hier alles manipuliert.«

»Ich werde nicht den Server für die Auszubildenden benutzen.«

Kaum hatte Tom das zehnte Stockwerk erreicht, leuchtete auch schon eine Warnmeldung auf seinem Infoscreen auf: Sperrgebiet. Er ignorierte es. Er ging den menschenleeren Flur entlang, machte die Offizierslounge ausfindig und ließ sich auf einem Stuhl nieder.

In der Mitte des Tisches befand sich ein neuronaler Zugangsport, alles lag griffbereit da für Blackburn. Tom zog ein Neuronalkabel heraus, klinkte es in den Port und steckte es dann hinten in den Anschluss seines Stammhirns.

Der Internetserver für Offiziere erschien, und Tom navigierte ein wenig ziellos herum, um sich an das Gefühl zu gewöhnen, sich nur mithilfe seines Gehirns im Internet zu bewegen und Links anzuklicken. Die Bilder tauchten viel lebendiger und umfassender vor seinen Augen auf, als es bei einer VR-Datenbrille der Fall war.

Wie es ihm direkt nach der Installation seines Neuronalprozessors gelungen war, sich mit dem Satelliten zu vernetzen, war ihm nicht genau klar. Zumindest aber erinnerte er sich, dass es etwas damit zu tun haben musste, einer Verbindung zur nächsten zu folgen.

Er konzentrierte sich auf seinen Neuronalprozessor. Zwar nahm er den Computer in seinem Gehirn mittlerweile kaum mehr wahr, doch er erinnerte sich daran, wie er sich seiner zu Anfang sehr bewusst gewesen war. Er hatte sich ganz fremd angefühlt. Wenn er seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, konnte er ihn immer noch wahrnehmen, konnte nach wie vor spüren, dass die Maschine in seinem Gehirn summte wie ein vollkommen anderes Wesen und elektrische Impulse an etwas außerhalb sandte, nämlich an den Turm.

Urplötzlich, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, stellte Tom fest, dass er aus seinem Körper herausgerissen wurde. Seine Glieder fühlten sich kalt und fremd an, und sein Gehirn verschmolz mit dem Turm, eine gewaltige Energiequelle, ein als Sender mit Atomkern dienendes Gebäude, das Signale ins All sendete, die …

Das Signal riss Tom weiter von sich weg und katapultierte ihn in Satelliten auf der Umlaufbahn um die Erde, deren elektrische Impulse Daten übertrugen, einen riesigen Ring aus Nullen und Einsen, der wie der totale Widersinn erschien, als er nun in sein Gehirn strömte, und plötzlich fühlte dieser sich wieder wie ein etwas an, das durch elektromagnetische Sensoren blickte …

Dann riss ihn ein weiterer Datenstrom mit sich, und er wurde mit den Raumschiffen verbunden, die sich nahe der Schattenseite des Merkurs befanden. Dessen Oberfläche wurde von Infrarotsensoren der russisch-chinesischen automatisierten Maschinen kartografiert, die in der Umlaufbahn trieben und Signale austauschten mit den Palladium-Minen von Stronghold Energy, die wiederum angeschlossen waren an …

An den Zentralserver in der Sun-Tzu-Zitadelle in der Verbotenen Stadt, in dem zweihundertsieben Neuronalprozessoren im internen Netzwerk registriert waren, deren IPs nun durch Toms Gehirn huschten …

Er wurde so abrupt in seinen eigenen Neuronalprozessor, in seinen Körper zurückkatapultiert, dass es sich anfühlte, als wäre er von einer gewaltigen kosmischen Hand geschlagen worden. Er saß da, die Augen geschlossen, mit der Hand den Tisch umklammernd, während er hektisch keuchte. Er hatte es sich beim ersten Mal nicht eingebildet. Er hatte durch die Kameralinsen der Satelliten gesehen. Doch was er Vik zugesichert hatte, wirkte auf einmal lächerlich. Er hatte nicht bloß Satelliten gesehen, sondern einen Blick in den Server der Sun-Tzu-Zitadelle erhascht, wo die chinesischen Kombattanten trainierten. Das war … das war etwas Bedeutendes. Er war sich nicht einmal sicher, was er davon halten sollte. Wie war das nur möglich?

Nach wie vor ein wenig unter Schock stehend kehrte er auf ihre Stube zurück. Vik schaute von seiner Tastatur auf. »Und?«

Tom zögerte. Er erinnerte sich an Viks Worte: Es gibt keinen Neuronalprozessor auf der Welt, der sich nach Belieben mit irgendeiner Maschine verbinden könnte. Er überlegte eine Weile, was er sagen sollte.

Aber er hatte es geschafft. Er war sich jetzt sicher, dass er es geschafft hatte.

Doch was es auch gewesen sein mochte, das er hinbekommen hatte – es war zu groß für so ein läppisches Geplänkel im Turm. Er war sich ja noch nicht einmal sicher, was ihm da gelungen war.

Tom schüttelte den Kopf. »Du hattest recht. Ich hab’s mir wohl nur eingebildet.«