VIERZEHN

Tom und Vik luden sich im Turboverfahren die Hausaufgaben herunter, was sie eigentlich während der Nacht hätten erledigen sollen, und wollten dann ihre Stube verlassen. Keinem von beiden gelang es. Benommen fielen sie zu Boden. Tom erwachte erst, als Vik schrie: »Wach auf! Wir haben die Fitnessübungen verpasst!«

Tom sprang auf. Er fühlte sich irgendwie seltsam. Während Vik zum Mathematikunterrichtsraum losstürzte, fiel Tom zurück. Nach wie vor verwirrten ihn kurzzeitig eingeblendete Versatzstücke der heruntergeladenen Hausaufgaben und lenkten seine Aufmerksamkeit auf belanglose Fakten, die sein Prozessor noch nicht sortiert hatte. Er benötigte eine volle Minute, um sich daran zu erinnern, wie man den Knopf drückte, um den Aufzug kommen zu lassen.

Als er endlich hineinging, stellte er fest, dass Karl Marsters bereits darin stand. Die beiden Jungen erstarrten einen Moment lang vor Schreck.

Plötzlich kam Toms Gehirn wieder in Fahrt. Er riss sich den Ärmel hoch, um an seine Unterarmtastatur zu gelangen, und tippte hektisch darauf herum. Dabei registrierte er, dass Karl das Gleiche tat.

»Aha!«, rief Karl.

Tom startete »Geh nur nach rechts«, während Karl »Exorzist« startete.

»Exorzist« war schon im Umlauf, seit Alec Tarsus es geschrieben hatte. Daher machte Tom den Mund auf, um zu spotten: »Was Eigenes hat du wohl nicht hinbekommen, was?« Immerhin hatte Vik sein Programm praktisch neu geschrieben. Doch stattdessen gab er nur noch unheimliche, lateinisch klingende Worte von sich.

»Erwischt!«, frohlockte Karl. Doch sein Lachen währte nicht lange. Als er den Fahrstuhl verlassen wollte, bog er rechts ab. Als er nach links gehen wollte, ging er nach rechts. Er brüllte auf und wollte die Richtung ändern, wandte sich jedoch erneut nach rechts.

Tom hatte vorgehabt zu sagen: »Pass auf, dass dir nicht schwindelig wird«, um Karl ein bisschen Salz in die Wunde zu streuen. Stattdessen hörte er sich hinausschreien: »Ich werde auf dein Grab spucken!« Er hielt sich den Mund zu und ließ Karl in der Aufzugskabine weiter Endlosschleifen drehen.

Mit ein paar Minuten Verspätung kam er im Lafayette-Raum an. Als Tom auf die Bank neben ihm glitt, schaute Vik hoch. »Noch bei klarem Verstand?«

»Oladae holovii inuladus«, antwortete Tom.

»Oh, oh. Der Exorzist hat zugeschlagen, hm?«

Aus Gewohnheit wollte Tom bejahen. Stattdessen kreischte er: »Ich werde deine Seele fressen!«

Von dem Geschrei aufgeschreckt, zuckte Dr. Lichtenstein vorn im Raum zusammen. Vik unterdrückte sein Lachen, und Tom hielt sich abermals den Mund zu, damit er nicht noch mehr unechtes Latein oder Mördersprüche von sich gab.

»Das Programm ist vollständig kompiliert. Machen wir uns heute Abend daran, Böse Hexe fertigzumachen?«, fragte Vik mit gesenkter Stimme.

Tom nickte nur.

»Bist du sicher? Das war ein zögerliches Nicken. Ich wäre viel zuversichtlicher, wenn ich dich Ja oder Nein sagen hören würde. Sag es einfach laut genug für mich.«

Tom starrte ihn wütend an. Er wusste genau, dass Vik bloß etwas Exorzistenmäßiges von ihm hören wollte, und gab ihm daher eine nonverbale Antwort. Dafür benötigte er nur einen einzigen Finger.

Als der Abend anbrach, machten Tom und Vik den ersten Schritt: Damit er sie nicht würde aufhalten können, schlossen sie Yuri mit einer List in der Memografenkammer ein. Dann begannen sie, Wyatt wie verstohlene Jäger hinterherzuschleichen. Böse Hexe ließ sich im Arboretum nieder, wahrscheinlich um auf die Art zu lesen, wie sie es zuweilen tat. Sie warteten, bis die letzten fünf Minuten der Kriegsspiele angebrochen waren, um ihre Falle zuschnappen zu lassen, damit Wyatt keine Chance für einen Gegenangriff mehr bekommen würde.

Um 1855 gab Tom Vik grünes Licht. »Es wird Zeit. Ich gehe jetzt rein, Doktor.«

Tom spielte den Lockvogel. Eine Minute später würde Vik aus dem Schatten hervorspringen und ihr beider vernichtendes Programm starten, eine Kombination aus »Exorzist«, »Nigel Harrison«, »Gehe nur nach rechts«, »Geheime indische Ninjaattacke« und natürlich »Widerwärtiges Dauerfurzen«.

»Viel Glück, Doktor.«

»Ihnen auch, Doktor.« Er wartete, bis Vik sich davongemacht hatte, fing an zu pfeifen, und ging dann mit großen Schritten auf Wyatt zu.

Als er sie in der Nähe eines Farns sitzend und ein Buch lesend entdeckte, gab er bewusst einen überraschten Ausruf des Entsetzens von sich. Sie klappte ihren Roman zusammen und hob ihre Tastatur.

»Warte, warte.« Tom duckte sich hinter eine der Pflanzen. »Ich wusste ja nicht einmal, dass du hier sein würdest.«

Wyatt hielt Distanz zu ihm, während er hinter dem Laubdach hervortrat. »Nein?«

»Nee, ich bin bloß hierhergekommen, um mich während der letzten Minuten der Kriegsspiele zu verstecken.« Tom schob die Hände in die Taschen. »Können wir es friedlich angehen?«

Wyatt senkte den Arm. »Hast du es satt, ständig zu kämpfen?«

»Oh, ja. Ständig vor irgendwelchen Attacken auf der Hut zu sein … das ist doch anstrengend.« Tom sah, wie Vik sich hinter ihrem Rücken anschlich und unterdrückte ein Grinsen.

Wyatt runzelte die Stirn. »Kannst du mir etwas verraten, Tom? Etwas Wichtiges?«

Tom zögerte und gab Vik das Zeichen noch nicht. »Was denn?«

»Ich muss von dir wissen … Für wie dumm du mich hältst?«

»Äh, was?«

»Für wie dumm hältst du mich? Sag es einfach. Auf einer Skala von eins bis zehn.«

»Ist zehn sehr blöd oder sehr schlau?«

»Du stehst total auf Kämpfen. Wenn du könntest, würdest du es immer tun. So wie ich die Sache einschätze, lenkst du mich gerade bloß ab, damit Vik sich hinter mir anschleichen und mir ein Virus verpassen kann.«

Vik erstarrte hinter ihr. Tom schwante plötzlich nichts Gutes. Sie hatten Viks GPS-Signal vom Ortungssystem des Turms geblockt. Offenbar nicht gut genug.

»Was ihr natürlich nicht begriffen habt« – Wyatt legte ihr Buch beiseite – »ist die Tatsache, dass ich euch hier zu unserem letzten Showdown herbeigelockt habe.«

Während Tom die Worte wiederholte, formte Vik sie ungläubig mit dem Mund: »Ein letzter Showdown?«

So war das hier nicht geplant gewesen. Sie hatten ihr einen Hinterhalt legen und nicht in ihren Hinterhalt geraten wollen.

Wyatt nickte grimmig. »Siehst du, Tom, nachdem du direkt meinem teuflischen Plan zum Opfer gefallen warst, wusste ich, dass du am Ende versuchen würdest, mich zu stellen. Ich habe darauf gesetzt. Tatsächlich habe ich sogar alles dafür in die Wege geleitet, damit du hierher gelockt wurdest. Ich weiß, dass du dich jetzt fragen wirst, wie ich das alles hinbekommen habe. Deshalb erkläre ich es dir im Detail. Erstens habe ich …«

Es ist 19:00. Die Kriegsspiele sind beendet.

Tom konnte nicht glauben, was der Ping seinem Gehirn da gerade übermittelt hatte. Er stand da wie unter Schock.

Vik stolperte nach vorn. »Was … was?«

Tom bemerkte, dass Wyatt grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Da habe ich euch beide aber drangekriegt.«

»Hast du nicht«, protestierte Tom. »Du warst im Begriff, eine teuflische Falle zuschnappen zu lassen. Das hast du selbst gesagt. Dann hattest du aber keine Zeit mehr dafür.«

»Hast du echt geglaubt, ich hätte euch hierhergelockt? Wow. Nein. Yuri hatte mich über Netsend gewarnt, dass ihr beide ihn in der Memografenkammer eingeschlossen habt. Deshalb habe ich damit gerechnet, dass ihr danach zu mir kommen würdet. Ich hatte aber nicht einmal ein vernünftiges Programm vorbereitet. Deshalb beschloss ich, mich mit dir zu unterhalten, bis die Zeit abgelaufen ist.«

»Moment mal, was?«, sagte Tom. »Unser ultimatives Programm war für die Katz?«

»So ziemlich. Weißt du, wonach das schreit?« Wyatt hob die Arme und hielt beide Hände neben den Kopf, die Finger gespreizt wie die Klauen eines Monsters.

»Ein Bärenangriff?«, mutmaßte Vik.

Wyatt ließ die Hände sinken. »Ich brüste mich.«

»Sieht aber eher so aus, als wärst du ein Bär.« In der Hoffnung, von ihm unterstützt zu werden, nickte Vik Tom zu.

»Beim nächsten Mal musst du die Fäuste ballen und darauf achten, dass sie hoch über dem Kopf sind«, erklärte Tom. »Dann sagst du den ganzen Spruch auf von wegen ›Ich bin der Hammer‹. So sieht eine anständige Jubelfaust aus.«

»Wie ist es denn stattdessen damit«, erwiderte Wyatt. Sie legte die Hände an die Hüfte, räusperte sich und sagte: »Ich muss euch etwas fragen. Etwas Wichtiges.« Ihre Worte klangen gekünstelt, so als hätte sie sie schon ein paar Mal vor dem Spiegel eingeübt.

Vik legte sich eine Hand über die Augen. »Müssen wir diese Demütigung hinnehmen, Doktor?«

»Sie hat gewonnen, Mann«, sagte Tom.

Seufzend ließ Vik die Hand sinken, wandte sich Wyatt zu und machte gute Miene zum bösen Spiel. »Was willst du uns denn fragen, Wyatt?«

»Wie schmeckt Misserfolg?«, fragte sie mit einer überschwänglichen Geste. »Ist er bitter? Ich bin neugierig, weil ich ihn nicht aus persönlicher Erfahrung kenne, ihr aber wohl.«

Sie ließ die Worte wirken, und Tom zuckte zusammen. »Ja, so geht sich brüsten. Sich beweihräuchern, eigentlich.«

Vik schüttelte bedauernd den Kopf. »Dies ist dein Tag, Böse Hexe.«

»Ich bin enttäuscht«, ertönte in diesem Moment eine Stimme.

Tom fuhr so schnell hoch, dass er fast rückwärts in einen Tomatenstock gefallen wäre. Vik stieß einen Schrei aus. Wyatt erstarrte lediglich wie ein flüchtendes Tier, das vom Lichtschein gleißender Scheinwerfer erfasst worden war, und glotzte Lieutenant Blackburn an, der nun hinter den Bäumen hervortrat.

»Hier habe ich gewartet«, sagte Blackburn und rieb sich dabei die Hände, »in gespannter Erwartung darauf, was für ein gemeines Programm Sie auf die beiden loslassen würden, aber es ging ruhmlos zu Ende, nicht mit einem Ausrufezeichen. Nun, einen Trost gibt es: Wenigstens kann ich jetzt den Gewinner dieses Wettbewerbs verkünden.«

Vik ließ die Schultern hängen. »Die Hannibal Division, oder?«

»Falsch, Mr Ashwan.« Auf seinem Gesicht lag ein hämisches Grinsen. Er stach mit beiden Daumen in Richtung seiner Brust. »Ich. Ich habe gewonnen. Es gibt nur einen Grund dafür, dass ich diese Kriegsspiele organisiert habe: Ich wollte, dass der schurkenhafte Hacker sich outet.«

Wyatt erschrak.

»Und Sie haben mich nicht enttäuscht, Ms Enslow, ganz und gar nicht. Nachdem Sie die ganze Zeit auf Nummer sicher gegangen waren – was hat Sie umgestimmt? Hat Sie der Wettbewerbsgeist gepackt? Haben die anderen Sie angespornt? Das hatte ich gehofft.«

»Sie ist es nicht …«, wollte Tom sie in Schutz nehmen.

»Tom, ist schon in Ordnung«, sagte Wyatt plötzlich. Resigniert zuckte sie mit den Schultern. »Ich hatte es satt, okay? Sie haben recht. Ich war es schon die ganze Zeit, Sir. Und was passiert jetzt mit mir?«

»Tja, dann wollen wir mal sehen.« Er verschränkte die Arme und schien darüber nachzudenken. »Eine geheime Datenbank gehackt, nicht zu reden davon, den Inhalt verändert zu haben … Ich bin mir ziemlich sicher, dass eines oder beides illegal ist. Ich könnte es General Marsh melden und Anklage erheben lassen. Wenn Sie verurteilt würden, würde Ihnen ganz sicher der Neuronalprozessor entfernt werden – in diesem Programm ist kein Platz für Straftäter. Sie haben den Prozessor aber schon zu lange – ihn zu entfernen, könnte eine Reihe Ihrer intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigen. Doch die meisten davon würden Sie nach einiger Zeit wiedererlangen. In Anbetracht Ihrer Jugend würde die Haftstrafe sicher nicht so lang ausfallen. Sie haben hier schlichtweg herumgewurstelt und nicht wirklich Verrat begangen, deswegen kämen Sie auch nicht in eine Haftanstalt für Schwerverbrecher. Und sobald Sie achtzehn werden, wird Ihr Strafregister gelöscht.«

Wyatt war wachsweiß geworden, und ihre Augen quollen hervor. Tom war, als würde ein Feuer in seiner Brust brennen. Er unterdrückte den Drang, auf Blackburn loszugehen und ihm in sein selbstgefälliges Gesicht zu schlagen.

»Alternativ«, sagte Blackburn, »könnte man Sie aus dem Programmierkurs nehmen, der sich ja ohnehin nicht in dem fortgeschrittenen Tempo bewegt, das Sie benötigen. Stattdessen könnten Sie diese Zeit nutzen, um eine Reihe kleinerer Softwareupdates durchzuführen, die ich für angemessen erachte.«

Wyatts Mund bewegte sich, ohne dass ihr ein Laut über die Lippen drang. Ihr hatte es die Sprache verschlagen.

»Sie haben die Wahl, Ms Enslow«, fügte Blackburn hinzu.

»Tja, Letzteres dann«, rief sie. »Das hätte ich sowieso getan, auch ohne die ersten Option.«

»Ja«, sagte er, »und ich hätte es Ihnen sowieso angeboten, auch wenn, sagen wir, jemand mir schon an seinem ersten Tag hier Ihre Identität preisgegeben hätte.« Sein Blick richtete sich auf Tom. »Ich hasse es zu sehen, wie eine solche Begabung verkommt.«

Tom starrte ihn nur an. Er begriff, dass er Wyatt ohne jeden Grund vor Blackburn geschützt hatte.

»Gehen Sie schon mal in mein Büro, Enslow. Wir werden Ihnen einen Stundenplan erstellen.«

»Sicher. Okay. Sicher.« Wyatt huschte an ihm vorbei und lief zur Tür.

Blackburn wartete, bis sie das Arboretum verlassen hatte. Dann wandte er sich Tom und Vik zu. Die beiden standen wie angewurzelt da.

»Mr Raines, wäre ich nachtragend, dann würde ich Ihnen dies jetzt unter die Nase reiben.« Er hielt kurz inne. »Eigentlich bin ich nachtragend. Das muss jetzt eine ganz bittere Erkenntnis für Sie sein. Sie hätten sich diese ganze Qual an Ihrem ersten Tag im Unterricht ersparen können. Nicht wahr, Mr Ashwan?«

Vik nahm Haltung an. »Sir, ja, Sir!«

Tom starrte Vik an. Dieser Verräter.

»Guter Junge, Ashwan.« Blackburn beugte sich zu Tom vor und wies auf Vik. »Das ist ein schlauer Junge, der es mal zu etwas bringen wird. Schneiden Sie sich eine Scheibe von ihm ab.« Mit diesen Worten drehte sich Blackburn um und ließ sie im Arboretum zurück.

Kaum war er fort, vergrub Tom die Hände in den Taschen und knöpfte sich Vik vor. »›Sir, ja, Sir‹?«, imitierte er Viks Worte von vorhin. »Warum hast du ihm nicht gleich angeboten, sein Büro zu putzen, da du schon mal so in Fahrt warst?«

Vik zuckte mit den Schultern, nicht im Geringsten peinlich berührt. »Letzten Endes ist er unser vorgesetzter Offizier, und ich will eines Tages mal Kombattant werden. Das willst du auch Tom, gib’s zu.« Er streckte die Hand aus und klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist vorbei. Er hat gewonnen. Denk nur: Wir brauchen Wyatt nicht mehr zu decken. Das Leben hier wird einfacher werden.«

Ein paar Tage lang hegte Tom tiefes Misstrauen, Blackburn würde Wyatt lediglich in einem falschen Gefühl von Sicherheit wiegen, um ihr dann eine hässliche Überraschung zu bereiten. Doch bald stellte sich heraus, dass seine ganzen Mühen, Wyatts Geheimnis zu bewahren, tatsächlich umsonst gewesen waren.

Wyatt begann, dreimal in der Woche in Blackburns Büro zu arbeiten, wo sie alte Neuronalprozessoren neu formatierte. Wenig später verbrachte sie ihre Abendessen damit, ihnen jedes quälend langweilige Detail darüber zu berichten.

»Es ist spannend, Zorten II bei einem Prozessor wirklich einzusetzen«, beschied sie ihnen, während sie gemeinsam zu Abend aßen. »Ich verstehe jetzt, warum es ihn überfordern würde, alle Neuronalprozessoren selbst neu zu formatieren. Sie legen die Prozessoren so an, dass man Dateiverzeichnis für Dateiverzeichnis neu formatieren muss, um alle Informationen auf ihnen zu löschen …«

»Wie meinst du das, du formatierst alte Neuronalprozessoren neu?«, unterbrach Vik sie, während er seine Hühnerpastete vertilgte.

»Sie stammen von den Erwachsenen, die in der ersten Testgruppe ums Leben gekommen sind. Nach ihrem Tod wurden ihnen die Prozessoren herausoperiert« – Vik verschluckte sich an seinem Essen – »und dann wurden sie neu formatiert und in unsere Köpfe wieder eingesetzt.«

»Die verwenden generalüberholte Neuronalprozessoren bei uns?«, empörte sich Vik, nachdem er sich wieder gefangen hatte.

»Ja«, erwiderte sie und blinzelte ihm zu, als könne sie überhaupt nicht begreifen, warum er entsetzt war. Sie nahm ihr Glas Wasser und hielt es nachdenklich in der Hand. »Aber das ist schon okay. Sie sind vorher vollkommen gesäubert worden. Kannst du dir vorstellen, es wäre nicht so? Dann bekäme man ja einen Neuronalprozessor, auf dem die Persönlichkeit eines anderen gespeichert ist.«

Tom, der dabei war, seinen Hackbraten herunterzuschlingen, schaute auf. »So etwas kann geschehen?«

Wyatt nickte. »Sobald dein Neuronalprozessor implantiert wurde, werden deine Erinnerungen auf ihm gespeichert und nicht mehr in deinem Gehirn selbst. Deswegen gehe ich davon aus, dass ein Teil von dir wirklich in dem Neuronalprozessor abgespeichert wird. Blackburn hat mir erzählt, dass sie auf diese Weise Yuri codieren.« Sie warf einen schnellen Blick zu Yuri hinüber, der gerade, von dieser Unterhaltung ausgeblendet, mit seinem Salat beschäftigt war. »Die haben ihm so eine Malware eingesetzt, die Erinnerungsfetzen aus anderen Neuronalprozessoren herunterlädt und mit dem durcheinanderwirft, was er hört und sieht. Deswegen versteht er manche Sachen, andere hingegen nicht.«

Tom sah zu Yuri mit seinen glasigen Augen, schon bei dem Gedanken ein wenig beunruhigt, was wohl bei ihm im Kopf vorging.

»Blackburn hat mir eines der Gehirne gezeigt«, fuhr Wyatt fort. »Es gehörte einem der Erwachsenen, der noch fast drei Jahre mit dem Prozessor überlebt hat, weil sie jede Menge Medikamente gegen Epilepsie in ihn reingepumpt haben. Sieht man von Stirnhirn und dem limbischen Kortex ab, erkennt man, dass der Rest des Gehirns atrophiert ist. Es ist nur noch eine verschrumpelte Hülle.«

Auf Viks Gesicht lag ein solcher Ausdruck des Entsetzens, dass Tom anfing zu kichern.

»Wyatt, wir essen«, sagte Vik und wies dabei auf die perforierte Blätterteigkruste auf seinem Teller, um Wyatt dazu zu bewegen, nicht weiter darüber zu reden.

»Bauchweh?«, fragte Tom.

»Stirb langsam, Tom.« Vik starrte ihn wütend an, während er sich eine Gabel mit Hühnerpastete in den Mund schob.

Wyatt wartete, bis Vik wieder angefangen hatte zu kauen. »Vielleicht doch nicht wie verschrumpelte Hülle. Eher wie zermahlene Shiitakepilze.«

Vik würgte erneut.

»Genau genommen, Vik«, fügte Wyatt hinzu, »glaube ich, dass das Gehirn zu dem Menschen gehörte, der vor dir deinen Prozessor hatte.«

Vik spuckte sein Essen aus.

Wyatt grinste. »War bloß ein Witz.«

»Du wirst von Tag zu Tag eine bösere Hexe«, warf Vik ihr vor und gab den Versuch zu essen auf.

Bei diesen Worten erwachte Yuri aus seiner Betäubung. »Das ist sie wirklich«, hauchte er anbetend.

Seit er zugegeben hatte, dass er auf sie stand, hatte Yuri begonnen, sie auszuhorchen. Er hatte sich bemüht, ihre Gefühle für ihn auszuloten, und wiederholt angedeutet, dass er in sie verknallt war. Tom und Vik fanden die ganze Sache auf komische Weise faszinierend, wenn sie sahen, wie Yuri im Unterricht versuchte, nach einem Gähnen die Hand um sie zu legen – woraufhin die ahnungslose Wyatt sich darüber beschwerte, er mache sich zu breit. Oder wenn sie sahen, wie Yuri sie zu einem Film einladen wollte und Wyatt ihm eröffnete, der von ihm vorgeschlagene Film höre sich grauenhaft an.

Yuri benötigte eine volle Woche, um einen einzigen Erfolg zu verbuchen und es ihm endlich gelang, sie dazu zu überreden, mit ihm in ein Museum zu gehen. Unglücklicherweise jedoch kapierte Wyatt offenbar nicht einmal, dass es sich dabei um ein Date handelte, denn sie fragte Tom und Vik, ob sie nicht auch mitkommen wollten.

»Aber klar doch, gerne«, sagte Tom zu ihr und hatte für Viks warnenden Blick nur ein schamloses Grinsen übrig. Sie hatten eine Wette darauf abgeschlossen, wann Yuri es endlich schaffen würde, bei Wyatt zu landen, und Tom würde verlieren, wenn dies bald geschehen würde.

Deswegen hielten sie sich am folgenden Samstag einige Schritte hinter Yuri und Wyatt im Smithsonian zurück.

»Wenn du Yuris Bemühungen sabotierst, zählt es nicht«, beschied Vik Tom, während sie zur Ausstellung über Höhlenmenschen gingen.

»Ach, komm schon. Die sabotieren sich doch selbst.«

»Ah – er geht rein«, verkündete Vik und packte Tom am Arm, damit er stehen blieb.

Sie duckten sich hinter einem ausgestopften Säbelzahntiger, außer Sichtweite der beiden. Wyatt hatte ihren Blick auf das Skelett eines Wollhaarmammuts gerichtet, und Yuri den seinen auf sie. Yuris Gesichtsausdruck war von Entschlossenheit geprägt. Er beugte sich vor und machte Anstalten, sie in seine Arme zu nehmen – doch genau in diesem Augenblick drehte sich Wyatt um und knallte mit ihrem Kopf gegen seinen.

Tom lachte schallend auf. Vik hielt ihm eine Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen.

»Au! Warum verpasst du mir denn eine Kopfnuss?«, ertönte Wyatts Stimme.

»Ich … ich wollte bloß …«

Tom brach vor Lachen zusammen. Er konnte nicht mehr aufstehen. Es ging einfach nicht. Er würde sterben, würde vor unterdrücktem Lachen ersticken. Vik zerrte ihn aus dem Raum, ließ Tom fallen und bedeutete ihm dabei, mit dem Lachen aufzuhören, und brach dann selbst zusammen.

»Das war so …«, stieß Vik hervor, als er wieder dazu imstande war »… das war einfach so … so Enslow-mäßig.«

Tom umklammerte sein schmerzendes Zwerchfell. »Zahl einfach deine Wettschulden, Vik. Rette deine Würde.«

Die Blicke mehrerer Museumsbesucher blieben auf ihnen hängen. Vik rappelte sich auf. Auch Tom stand mit wackeligen Beinen auf. Er hatte Seitenstiche vom Lachen.

»Ich gebe nicht auf, Raines. Vielleicht versucht Yuri es noch einmal. Doppelt oder nichts, dass der Android bis heute Abend seine Hände auf Bratpfannenhand legt.«

»Du willst mir allen Ernstes das Doppelte bezahlen? Das Einzige, was Yuri hinbekommen wird, ist …« Tom hörte auf zu reden.

Wyatt stand direkt neben ihnen im Durchgang und starrte sie mit leichenblassem Gesicht an. Das Lächeln auf Viks Gesicht erstarb, und Tom fühlte sich plötzlich wie das größte Arschloch auf der ganzen Welt.

»Ich verstehe«, sagte sie. »Ich hatte mir schon meine Gedanken gemacht, als ihr angefangen habt, mich einzuladen, und mir gesagt habt, ich solle mich in der Kantine zu euch setzen. Jetzt verstehe ich es. Ich vermute, das ist wohl ein richtig guter Witz, nicht wahr?«

Tom blinzelte. Moment mal, glaubte sie etwa, sie würden sie alle auf den Arm nehmen?

Yuri trat aus dem Raum hinter ihr. »Möchtet ihr gerne …«

Wyatt wirbelte herum und schob ihn zurück. »Geh weg!«

Ein Ausdruck tiefer Kränkung spiegelte sich auf Yuris Gesicht wider.

»Such dir eine andere aus, die du mit deinen Freunden verarschen kannst!« Sie drehte sich um und stürmte hinaus.

Tom blieb wie angewurzelt stehen, während Yuri sich die Beule auf der Stirn hielt und ihr hilflos hinterhersah. Vik schaute Tom an und formte dann mit den Lippen: »Du?«

Tom stieß den Atem aus. »Ich habe verstanden.« Er drehte sich um und eilte Wyatt hinterher.

Draußen vor dem Museum holte er Wyatt ein. Sie stand auf dem Gehweg und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Tom hätte sich nie vorstellen können, dass sie jemand war, der jemals weinen würde, und nun kam er sich wirklich wie der letzte Abschaum vor.

»Hey, komm schon, Wyatt. Nicht weinen.«

Sie zuckte zusammen. »Ich weine nicht! Ich habe eine Allergie.« Sie ging in Richtung der U-Bahn-Station, und Tom folgte ihr.

»Du kannst nicht einfach weggehen, okay?«

»Ich bin doch nicht blöd.« Sie drehte sich ruckartig um und blickte ihn zornig an. »Ich weiß, dass die Leute mich nicht mögen. Ich dachte bloß, Yuri … Ich dachte du wärst anders.«

»Yuri ist anders. Er ist ein Guter. Und ich, ich bin nicht … Ich bin nicht … Nun komm schon, okay? Vik und ich sind bloß zwei Vollidioten. Wir haben uns bei der Wette nichts weiter gedacht. Wir haben bloß herumgealbert. Yuri hat keine Ahnung davon, okay? Es ist nicht so, als würden wir dich alle veräppeln. Du musst wissen, er steht total auf dich.«

»Auf mich?«, wiederholte sie ausdruckslos.

»Ja. Das musst du doch mitkriegen. Er wollte uns nicht einmal helfen, als wir es bei den Kriegsspielen auf dich abgesehen hatten.«

»Aber Vik nennt mich Bratpfannenhand.«

»Das ist bloß etwas, das wir Menschen einen Witz nennen. Vik verpasst doch fast allen einen Spitznamen. Noch einmal: Vik und ich – Vollidioten, kapiert? Das heißt doch nicht, dass jeder Typ auf der Welt genauso ist. Du musst einfach den Spieß umdrehen. Zum Beispiel sagst du Vik, dass er dich nur so nennt, weil seine eigenen Hände so zart und mädchenhaft sind. So funktioniert das. Ich habe noch nie gehört, dass Yuri das gesagt hätte. Ich wette, dass er findet, du hast zarte Hände. Ich meine, hast du gesehen, was er für welche hat?« Er hob die Handflächen. »Damit könnte er einem den ganzen Kopf zerquetschen.«

Endlich blieb sie stehen und schien darüber nachzudenken. »Und was soll ich jetzt tun?«

»Geh einfach zurück und … keine Ahnung. Rede mit Yuri. Und hau ihn nicht oder so!«

»Und was ist mit eurer Wette

Tom rieb sich den Nacken. »Magst du Yuri? Wenn nein, kannst du es ihm stecken. Und wenn ja, tja, dann gehen mir eben dreißig Mäuse flöten. Keine große Sache.«

Sie trat von einem Fuß auf den anderen und holte ein paarmal tief Luft, so als wappne sie sich vor etwas. Dann richtete sie ihre dunklen Augen zu Tom hinauf. »Findest du, ich sollte mit ihm zusammen sein?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Doch, das kannst du. Findest du, dass er wirklich derjenige ist, mit dem ich ausgehen sollte? Du hast dagegen gewettet. Hattest du einen Grund dafür?« Sie sah ihn mit einer sonderbaren Eindringlichkeit an. Verwirrt erwiderte Tom ihren Blick, woraufhin ihre Wangen sich röteten. »Ich will bloß keinen Fehler machen, das ist alles«, murmelte sie und schaute zu Boden. »Ich will bloß nicht das Falsche tun.«

»Wyatt«, erwiderte Tom lachend und knuffte sie gegen die Schulter. »Es ist doch nicht so, als würdest du den Kerl gleich heiraten.«

Nun lief sie knallrot an und wich ruckartig vor ihm zurück. »Gut. Gut, ich sage ihm dann also einfach Ja. Okay?«

Tom sah zu, wie sie davoneilte. Er fragte sich, warum sie so mürrisch wirkte, wenn ein Typ mit ihr ausgehen wollte. Wenn er, Tom, jemals mitbekommen würde, dass ein Mädchen auf ihn stand, dann würde er über sie herfallen.