ACHT

Taktik war eine ganz andere Herausforderung als Programmieren. Die MacArthur-Halle, im obersten Stockwerk des Turms angesiedelt, war ein riesiges Planetarium. Hoch über ihnen wölbte sich ein Bildschirm, und die Diagramme in Toms Kopf informierten ihn darüber, dass Dach und Bildschirm ein- und ausgefahren werden konnten. Hier hielt die CamCo ihre Einsatznachbesprechungen ab, um ihre Schlachten zu analysieren und zu erkennen, an welchem Punkt etwas schiefgelaufen war.

Und hier versammelten sich auch die Rekruten, um die letzten Schlachten der CamCo zu analysieren.

Hier lernten sie etwas über den echten Krieg.

Tom sah zu, wie sich Major Cromwell hinter das Podium im vorderen Bereich des Raumes stellte. »Setzen Sie sich.«

Ihre heisere Stimme erfüllte den Raum, auch ohne dass sie sie erhob. Die letzten Nachzügler saßen schon auf ihren Plätzen, noch bevor sie alle mit der Nachricht, der Unterricht habe begonnen, angepingt wurden.

»Sie haben die Informationen heruntergeladen«, sagte Cromwell barsch, »also sollten wir jetzt sicherstellen, dass Sie sie auch begriffen haben. Wir haben die Entwicklung von Kampfeinsätzen, Waffen und Taktik untersucht. Die Geschichte hat etwas sehr Simples bewiesen: Menschen sind Menschen. Punkt. Alle Technologie und jeder Fortschritt auf der Welt ändern nichts an den Grundlagen der menschlichen Natur. Solange der Mensch zu Neid, Hass und Angst fähig ist, wird es Krieg geben.«

Cromwell gab etwas in eine Tastatur ein, die an ihrem Podium befestigt war. Der riesige Bildschirm wurde von dem Bild eines Ölgemäldes gefüllt, das eine blutige Schlacht darstellte. »Im Laufe der Zeit haben die Kampfhandlungen neue Formen angenommen. In uralten Zeiten fielen ganze Armeen in Länder ein und kämpften dort im Namen von Königen oder Religionen. Im Lauf der Zeit präzisierte sich der Einsatz von Gewalt. Die Technologie verbesserte sich bis zu dem Punkt, an dem wir bestimmte Individuen statt ganzer Gemeinschaften vernichten konnten, indem wir aus der Luft angriffen, anstatt Armeen gegeneinander antreten zu lassen.«

Tom vernahm ein Rascheln neben sich. Als er sich umwandte, sah er, wie Beamer auf seinem Platz zusammensackte. Über seine blassen Gesichtszüge flimmerte ein grünliches Licht, und Tom schaute wieder auf die grobkörnige Übertragung auf dem Bildschirm – er zeigte ein Zielobjekt auf einem flachen, rechteckigen Gebäude, das von oben von einem Laser-Zielmarkierer ins Visier genommen wurde.

»Kriege wurden wegen Öl geführt, wegen territorialer Ansprüche. Und nun kommen wir zu der letzten Kampfhandlung auf der Erde; sie fand vor dreiunddreißig Jahren statt und vernichtete Menschenleben, beließ Gebäude und Infrastruktur jedoch intakt, und das alles im Namen von Privatunternehmen, im Namen von Patenten. Für Ihre Generation ist es vielleicht selbstverständlich, dass Länder eher im Namen privater statt öffentlicher Interessen Krieg führen. Aber das wurde früher nicht unbedingt als Grund für einen gewaltsamen Konflikt akzeptiert. Lassen Sie uns den Veränderungen nachspüren, die dazu geführt haben.«

»Lieber nicht«, murmelte Beamer. »Ich hasse Geschichte.«

Vik versetzte ihm einen leichten Puff mit dem Ellbogen, fixierte jedoch mit seinen dunklen Augen weiter den vorderen Bildschirm.

»Zu Anfang des Jahrhunderts«, fuhr Cromwell fort, »vereinte die Globalisierung die Länder über die traditionellen Grenzen von Kulturen, Sprachen und Staaten hinaus. Alte Begrenzungen wurden gewissermaßen obsolet. In der Folge entwickelte sich eine Unternehmensklasse, deren Führungskräfte sich nicht mit irgendeiner Nationalität identifizierten, sondern eher mit Geschäftsinteressen, die Unternehmen miteinander verbanden. Ohne einem Staat gegenüber loyal zu sein, verlagerten große Unternehmen Arbeitsplätze von einem Land in ein anderes, wo immer Arbeitskräfte kostengünstiger waren. Auf diese Weise rutschten die Löhne weltweit ab. Den meisten Unternehmen gingen die Märkte verloren, und das führte dann zum Großen Zusammenbruch. Die Unternehmen, die überlebten, waren diejenigen, welche die lebenswichtigen Ressourcen kontrollierten. Es gibt zwei bekannte Beispiele. Das erste ist Dominion Agra.«

Tom erstarrte. Dominion. Wo Dalton arbeitete, der Freund seiner Mutter.

»Wie Sie wissen, gehört einem Unternehmen, das lebende Zellen generiert hat, das Patent darauf. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts haben die von Dominion Agra genetisch hergestellten Pflanzen und Tiere sich mit den natürlich vorkommenden fremdbestäubt beziehungsweise gekreuzt. Heute weisen sämtliche Konsumgüter Spuren von Dominions patentiertem Material auf. Da ihre genetischen Stämme dominant waren, führte dies dazu, dass sie den Nahrungsmittelmarkt beherrschten und bis heute beherrschen. Dies bringt uns zu dem anderen Monopol, von dem Sie gehört haben: Harbinger Incorporated, mit dem Patent auf Nobriathene, einem industriellen Nebenprodukt, das sich im Laufe der Zeit wie eine Klette in die Wasserversorgung auf der ganzen Welt gehängt hat. Es ist völlig harmlos und reagiert nicht im menschlichen Körper, aber bis heute hat niemand einen wirksamen Filter dafür entwickelt. Wenn Sie Wasser trinken, Wasser benutzen, Ihre Feldfrüchte bewässern, dann nutzen Sie deren patentierte Chemikalie. Deshalb entrichten Ihre Familien neben der Wasserrechnung jedes Jahr eine Nutzungsgebühr an Harbinger. Ganz gleich, wie sich die globale Situation darstellt, die Nachfrage nach den Grundnahrungsmitteln besteht immer. Dominion und Harbinger sind die beiden Unternehmen in der Welt, die nach dem Großen Zusammenbruch aufblühten.«

Tom hatte das alles von Neil bereits gehört. Obwohl sie sich im Dritten Weltkrieg auf gegnerischen Seiten befanden, unterstützte Dominion Agra Harbingers Patent, und Harbinger unterstützte Dominion Agras Patent. Das sei auch selbstverständlich, behauptete sein Dad. Dominion Agra könne Kritik an seinem Monopol auf Nahrungsmittel so zurückweisen, indem das Unternehmen auf den anderen Missetäter wies – das Unternehmen mit dem Monopol auf Wasser. Sie rechtfertigten gegenseitig die Existenz des jeweils anderen. Und außerdem sei es ja nicht so, als ob irgendein Mächtiger der Welt wirklich ihre Monopole brechen wolle. Jeder Politiker sei darauf bedacht, nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst einen Job in einem Koalitionskonzern zu ergattern.

»Und das«, sagte Cromwell, »führt uns nun zu dem, was vor dreiunddreißig Jahren im Mittleren Osten geschehen ist. Dieser Konflikt schwelte schon lange. Es war das letzte Aufbäumen der Massen gegen die Zentralisierung globaler Macht. Während sich die Macht überall sonst immer mehr in den Händen einer weltweit agierenden Geschäftswelt konzentrierte, verlief die Entwicklung im Mittleren Osten in die entgegengesetzte Richtung. Traditionelle autoritäre Führer wurden von parlamentarischen Regierungen abgelöst. Diese Regierungen weigerten sich, die Patente von Dominion Agra oder Harbinger anzuerkennen. Da sich der Widerstand auf der Straße formierte – es war eine gesellschaftliche Weigerung, nach den gleichen Regeln zu spielen wie der Rest der Welt –, wurde beschlossen, das Problem auch auf der Straße anzugehen. Mit Neutronenbomben.«

Den Rest kannte Tom. Es war der letzte Einsatz gewesen, bei dem die Militärs der Vereinigten Staaten und Chinas zusammengearbeitet hatten. Sie überzogen den Großteil des Mittleren Ostens mit einem Bombenteppich aus Neutronenbomben, Massenvernichtungsmitteln, die Menschen töteten, Gebäude jedoch intakt ließen. Sämtliche regionalen Ressourcen blieben intakt, verfügbar, um auf dem freien Markt veräußert zu werden – sobald jemand imstande war, die 1,3 Milliarden Leichen wegzuräumen, die einem die Sicht verdarben. Angeblich waren Dominion Agra und Harbinger die ersten Unternehmen, die in der Region neue Niederlassungen gründeten.

Es habe zwar Proteste gegeben, erzählte ihm Neil, doch sie seien schlichtweg auf taube Ohren gestoßen. Die meisten Menschen hätten auf den Genozid mit einer eher lahmen Empörung reagiert, die sich bald in Apathie oder Schuldzuweisungen verwandelt habe. Jeder habe die Schuld einem anderen in die Schuhe geschoben. Die wenigen Leute in öffentlichen Ämtern, die darauf hinwiesen, Dominion Agra und Harbinger hätten ihre Länder dazu angestachelt, ein Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen, seien rasch durch großzügig finanzierte Politiker ersetzt worden, die gewillt waren, wegzusehen.

Es sei wieder einmal etwas gewesen, über das sich jeder aufgeregt habe, bei dem aber niemand einen Finger rührte, um etwas dagegen zu unternehmen. Für gewöhnlich brachte sein Dad es immer dann zur Sprache, wenn er inmitten der morgendlichen Pendler wütend herumschwadronierte, während sich die Leute in aller Regel an ihm vorbeidrängten und versuchten, ihm aus dem Weg zu gehen. Tom fragte sich plötzlich, wo sein Vater wohl in diesem letzten Monat untergekommen und ob es ihm gelungen war, in den vergangenen Wochen ein paar Spiele zu gewinnen. Zum ersten Mal wurde ihm plötzlich klar, dass er keinerlei Möglichkeit hatte, es herauszufinden.

»Wir sind nicht hier, um über Ethik zu diskutieren«, fuhr Major Cromwell fort. »Das ist nicht unser Job, das überlasse ich den Philosophen. Wir sprechen hier über Taktik, und ich bitte Sie, die Bombardierungen einmal unter rein taktischen Gesichtspunkten zu analysieren: Der Widerstand ging vom gemeinen Volk aus, und das Ziel der Neutronenbomben war das gemeine Volk. Die Waffen passten zur Natur des Konflikts. Sie zerstörten die Infrastruktur nicht, sodass einer Wiederbesiedlung nichts im Wege stand. Eines der Gründungsziele der Koalition der multinationalen Konzerne war es tatsächlich, dem Mittleren Osten als Lebensraum neuen Atem einzuhauchen.«

Tom sackte auf seinem Platz zusammen. Soweit er es wusste, hatte die Koalition der Multis – die zwölf mächtigsten Konzerne der Welt, darunter Dominion Agra und Harbinger – nach dem Einsatz der Neutronenbomben ihre Macht gebündelt. Dies taten sie, jedenfalls behaupteten sie das, um als eine Art private UNO zu fungieren und weitere Einsätze von Neutronenbomben zu verhindern. Neil dagegen hatte immer gesagt, sie hätten sich in Wirklichkeit nur aus einem Grund zusammengeschlossen. Nachdem sie mit etwas derart Entsetzlichem davongekommen waren, seien sie davon überzeugt gewesen, mit so gut wie allem davonkommen zu können, wenn sie ihre Macht vereinten und jede wichtige Regierung auf der Welt finanziell in der Hand hatten. Genau dafür setzten die zwölf Multis ihr Geld und ihren Einfluss ein. Untereinander konnten sie sich jedes Land auf dem Planeten kaufen und verkaufen.

»Nach diesem Bombenfeldzug übernahm die Koalition eine tonangebende Rolle bei der Weltherrschaft«, sagte Cromwell, »die bis zur bekannten Zersplitterung ihres Bündnisses andauerte. Eine Folge des weltweiten Zusammenbruchs war die Entwertung aller Währungen. Die Preise für Edelmetalle schnellten in die Höhe, und die Reserven auf der Erde waren fast gänzlich ausgebeutet. Nobridis Incorporated war das erste Unternehmen, das sein Augenmerk auf das Weltall richtete. Sie hofften auf die offizielle Hilfe unserer Regierung, um logistische Unterstützung vonseiten der NASA zu bekommen. Daher reichten sie eine Petition in unserem Kongress ein, um die Erstrechte auf das Territorium zu erwerben. Das brachte die Chinesen gegen sie auf. Sie argumentierten, die Vereinigten Staaten besäßen nicht die alleinige Autorität, um die Genehmigung zur Ausbeutung eines Territoriums im All zu erteilen. Als unser Kongress Nobridis diese Genehmigung dennoch erteilte, rächte sich China, indem es genau das gleiche Territorium Stronghold Energy zusprach. Das war nur eine symbolische Geste, doch sie brachte alles andere ins Rollen.«

Sie schaltete um auf ein Bild des Asteroidengürtels zwischen Jupiter und Mars. Er befand sich relativ nah an der Erde und war eines der potentesten, ressourcenreichsten Gebiete des Sonnensystems – und daher das am schärfsten umworbene Gebiet. Tom hatte so viele Nachrichtenclips über Gefechte in dem Asteroidengürtel gesehen, dass sie in seiner Erinnerung alle verschmolzen.

»Verschiedene Konzerne in der Koalition schlugen sich auf die Seite von Nobridis und den Vereinigten Staaten, während andere Partei für Stronghold und China ergriffen. Wenig später war die Koalition selbst gespalten, hatte sich jeder Konzern auf die eine oder andere Seite des Konflikts zwischen Nobridis und Stronghold gestellt. Hatten diese multinationalen Mischkonzerne zuvor Einfluss in der ganzen Welt, entwickelte sich nun ein neuer Trend. Sie konzentrierten sich darauf, bestimmte Regierungen finanziell von sich abhängig zu machen. Unsere verbündeten Multis hörten damit auf, Gelder nach China oder Russland zu schicken, und transferierten sie stattdessen verstärkt nach Indien und Amerika. Die andere Hälfte der Koalition tat das genaue Gegenteil. Auf diese Weise verwandelte sich der Kampf zwischen Nobridis und Stronghold zunächst in einen Streit zwischen den beiden Hälften der Koalition und schließlich in einen neuen Wettlauf im All zwischen den indo-amerikanischen und den russisch-chinesischen Bündnissen – und bald darauf in den Dritten Weltkrieg.«

Sie schaltete zu einem Bild einer Schiffswerft im All um. »Binnen eines Jahrzehnts wurden Territorien im ganzen Sonnensystem beansprucht, indem die eine oder die andere Seite eine Basis dort gründete – eine Bergbauanlage, eine Schiffswerft, manchmal wurde auch bloß ein Satellit dort stationiert. Als die Chinesen eine von der indo-amerikanischen Koalition gegründete Platinmine im Asteroidengürtel beschlagnahmten, verschärfte sich der Konflikt und entwickelte sich zu einem regelrechten Krieg. Natürlich kein Krieg im klassischen Sinn. Es gibt keine zivilen Opfer, keine Bomben, keine Toten. Gestritten wird dabei auch nicht über die Weltherrschaft – die sich bekriegenden Konzerne der Koalition arbeiten nach wie vor zusammen, um die globale Agenda für uns alle zu definieren. Doch draußen im All ist alles anders.«

Das Bild eines herkömmlichen Piloten, der einen Düsenjäger besteigt, erschien. »Die ersten Kämpfer waren Piloten der Air Force, welche die Raumschiffe im All fernsteuerten. Da sie mit den vorprogrammierten Manövern der russisch-chinesischen Maschinen nicht mithalten konnten, wurden sie stufenweise wieder aus dem Verkehr gezogen. In diesem Krieg, so war die vorherrschende Meinung, war für menschliche Soldaten kein Platz mehr. Beide Seiten setzten vollautomatische Angriffsflotten ein. Mit diesen automatisierten Arsenalen wurde der Krieg so lange ausgetragen, bis auf der russisch-chinesischen Seite die ersten Intrasolaren Kombattanten auftauchten. Mit dem Aufkommen von Neuronalprozessoren konnten es Menschen endlich mit den mechanisierten Streitkräften aufnehmen. Die Präsenz menschlicher Kämpfer hatte noch einen weiteren Vorteil, da sie ein individuelles Moment in den Krieg einbrachte. Das war genau das, was die amerikanische Öffentlichkeit dazu veranlasste, weiter hinter dem Krieg zu stehen.«

Tom dachte an all die Müslischachteln, auf denen Elliots Gesicht abgebildet war, und die Art, wie sämtliche Mädchen in Rosewood ihn vergötterten. Ob diese Mädchen den Krieg unterstützt hatten, wusste er nicht – seiner Meinung nach unterstützten sie wohl eher Elliot.

»Für den Großteil der Öffentlichkeit«, fuhr Cromwell fort, »ist dieser Krieg ein Publikumssport. Dem Durchschnittsamerikaner ist klar, dass er hilft, ihn zu finanzieren, er weiß aber auch, dass er seinen Einsatz nicht zurückbekommt. Seine einzige Vergütung besteht aus dem Unterhaltungswert, den er daraus zieht, wenn er die Schlachten verfolgt. Und in den vergangenen drei Jahren, in denen der Krieg von Kombattanten geführt wurde, waren die Menschen stolz auf ihre Nation, wenn ein Amerikaner neues Territorium erobert hat. Es ist wichtig, dass Sie die öffentliche Meinung nie für selbstverständlich halten. Es gibt einen Grund dafür, dass wir immer Elliot Ramirez vor die Kameras stellen. Er verleiht dem Krieg ein Gesicht. Wäre die Enttarnung nicht ein Sicherheitsproblem, würden wir sämtliche Kombattanten der Öffentlichkeit präsentieren, genau wie ihn. Ein Kombattant ist ein PR-Job und bietet Möglichkeiten, dem Krieg für die Öffentlichkeit ein Gesicht zu geben – selbst wenn man von diesem Kombattanten oder dieser Kombattantin nur das Rufzeichen kennt. Eine der wichtigsten Rollen des Kombattanten besteht darin, die Öffentlichkeit bei der Stange zu halten. Aber das ist nicht seine oberste Pflicht.«

Tom setzte sich aufrecht hin, da er spürte, dass sie nun zum Kampf selbst kommen würde.

»Amerika setzt erst seit drei Jahren Intrasolare Kombattanten an der Front ein. Das bedeutet, dass diejenigen von Ihnen in diesem Raum, denen es bestimmt ist, in die Camelot Company aufzusteigen, taktisch agierende Pioniere in diesem neuen Zeitalter sein können. Im Laufe der Zeit hat sich das Bild des idealen Soldaten immer wieder gewandelt. Basil Liddell Hart hat einmal gesagt: ›Der Verlust der Hoffnung, nicht der Verlust von Menschenleben ist der Faktor, der Kriege, Schlachten und selbst kleinste Gefechte entscheidet.‹ Und was macht die Hoffnung eines Feindes zunichte? Vor langer Zeit war der mächtige Achilles einmal der Furcht erregendste Kämpfer auf der Welt. Seine bloße Anwesenheit ließ ganze Armeen zittern. Später fiel dieser Ruhm den Generälen zu. Und heute? Wie lautet der Name, der in unseren Zeiten Hoffnung im Keim erstickt? Wer ist der größte Intrasolare Kombattant? Wer ist der Achilles unserer Zeit?«

Tom machte sich auf den Namen von Elliot Ramirez gefasst.

Doch Cromwell hämmerte auf ihrer Tastatur herum, die an dem Podium befestigt war, dann wandte sie sich der geschwungenen Wand zu. Toms Blick heftete sich auf den gewaltigen Bildschirm, der sich über ihnen krümmte. Ein dreidimensionales Bild der schwarzen Unendlichkeit des Alls erschien. Langsam rückte der Planet Venus in den Mittelpunkt. Schließlich zoomte Cromwell auf einen russisch-chinesischen Kämpfer, dessen Rufzeichen Tom aus den Nachrichten kannte.

Er hatte von diesem Kämpfer schon gehört. Allerdings nur wenig, denn dieser Kombattant wurde vom Staat China selbst gesponsert – und wenn es keinen Unternehmenssponsor gab, bedeutete das, dass es auch keine Sendezeit für den Kombattanten gab. Doch Internetgerüchten zufolge war dies der beste Kämpfer von allen. Dieser Kombattant verlor nie.

»In unserer Zeit«, fuhr Cromwell fort, »nennen wir den ultimativen Krieger Medusa.«

Totenstille breitete sich aus. Jeder einzelne Rekrut beobachtete die Schlacht, bei der die von Medusa gesteuerten russisch-chinesischen Schiffe um die indo-amerikanischen Streitkräfte tänzelten, sie ausmanövrierten und schließlich vernichteten.

Tom lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte zwar Clips von Schlachten im Internet gesehen, aber diese waren vorher bearbeitet worden und zeigten daher immer nur das, was das Militär der Öffentlichkeit von den Kriegsanstrengungen vor Augen führen wollte. Alle Clips, in denen die russisch-chinesischen Kombattanten die Oberhand behielten, fielen der Zensur zum Opfer, und dass es in deren Ländern auf gleiche Weise umgekehrt gehandhabt wurde, war klar. Daher hatte Tom noch nie ein ganzes Gefecht gesehen, hatte noch nie Gelegenheit bekommen, darüber zu staunen, was für ein außergewöhnlicher Kämpfer dieser Medusa war.

In der Dunkelheit ertönte Major Cromwells Stimme. »In den vergangenen sechs Monaten hat dieser Kombattant den Verlauf des Krieges zu unseren Ungunsten verändert. Woher wir wissen, dass Medusa dies allein bewerkstelligt? Ich zeige es Ihnen. Ein scharfsinniger Teilnehmer des Taktikkurses kann einen Gegner allein dadurch identifizieren, indem er beim Gefecht seine Taktik beobachtet. Nach und nach werden Sie den Stil wiedererkennen, der hinter jedem seiner Manöver steht.«

Als Cromwell zu einer Aufzeichnung eines Gefechts auf dem Jupitermond Io kam, erkannte Tom tatsächlich, welche der russisch-chinesischen Jagdmaschinen von Medusa gesteuert wurden. Er wusste es einfach. Sie kalkulierten die Bewegungen ihrer Gegner im Voraus. Sie feuerten Raketen auf eine Stelle im All, Sekundenbruchteile bevor ihre Gegner genau dort ankamen. Sie reagierten auf Gefahren, die andere Schiffe scheinbar gar nicht wahrnahmen.

»Ein einziger intrasolarer Kombattant kann dies bewerkstelligen«, beschied ihnen Cromwell. »Dies ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein einziger Kämpfer in der Lage dazu ist, ganze Schlachten zu entscheiden.«

Als Nächstes wurde auf dem Bildschirm eine Schlacht auf dem Merkur wiedergegeben, bei der die indo-amerikanischen Kampfmaschinen spiralförmig abdrifteten, nachdem sie durch eine List Medusas aus der Umlaufbahn geschleudert und in das Gravitationsfeld der Sonne befördert worden waren. Dann zeigte der Schirm ein heftiges Gefecht im Asteroidengürtel, wo die Schiffe von Asteroiden in Stücke gerissen wurden, die Medusa faktisch als Raketen benutzte. Die letzte Schlacht, die sie sich ansahen, fand auf dem Saturnmond Titan statt. Medusa sprengte ein Loch direkt in die Eisschichten des Mondes, wodurch flüssiges Methan ins All schoss und die indo-amerikanischen Schiffe zu einem tödlichen Sturzflug auf die Oberfläche des Mondes zwang.

Das ist es, dachte Tom. Das war es, warum er hier war. Ihn überlief eine Gänsehaut, während er sich alles anschaute und dabei immer den Blick auf Medusas Maschinen gerichtet hielt. Medusa. Medusa. Hier war ein König. Hier war ein Gott.

Mehr als alles andere auf der Welt wünschte er sich, Medusa gegenüberstehen zu können.

Wenn er dieser Mensch sein könnte, derjenige, der diesen gewaltigsten aller Kämpfer besiegte, dann wäre er jemand.

Als die Lichter um sie herum angingen und das Bild der Schiffe Medusas auf dem Bildschirm über ihren Häuptern verblasste, entließ Cromwell sie für den Nachmittag. Tom war der Einzige, der wie benommen aus dem Raum ging, so als wäre er in einem seltsamen Traum gefangen. Dabei grinste er wie ein Honigkuchenpferd.

Medusa.

Während der Fitnessübungen am nächsten Tag kreisten Toms Gedanken immer noch um Medusa. Obwohl um ihn herum die Schlacht um Stalingrad tobte, konnte er sich nicht von dem russisch-chinesischen Kombattanten losreißen.

»Ich habe die Sage um Medusa im Internet nachgeschaut«, keuchte Tom atemlos. Er rannte neben Vik durch die zerbombten Straßen, während sowohl Rotarmisten als auch Wehrmachtssoldaten auf sie feuerten. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass es sich bei Medusa um ein weibliches Monster in einer griechischen Sage handelte, dessen Anblick so furchtbar war, dass jeder, der ihr in die Augen schaute, versteinerte. »Meinst du, Medusa ist ein Mädchen?«

»Ach was!«, rief Vik über den Lärm von Gewehrfeuer hinweg. »Medusa ist ein Rufzeichen. Ob du es mit einem Typ oder einem Mädchen zu tun hast, verrät dir das Rufzeichen nicht, schon gar nicht, wenn wir über einen russischen Kämpfer reden. Denk doch mal darüber nach: Sascha ist bei denen ein Männername, richtig? Wer immer sich Medusa ausgesucht hat, hat es wahrscheinlich deshalb getan, weil es Bumm macht und du tot bist, wenn du ihm oder ihr letztendlich Auge in Auge gegenüberstehst. Du hast Medusa kämpfen sehen. Das passt doch, oder?«

»O ja«, sagte Tom, von Ehrfurcht ergriffen. Er folgte Vik in ein ausgebombtes Gebäude, während ihm die Erschütterungen der Explosionen bis ins Mark drangen. Er hatte gehört, dass die russisch-chinesischen Kombattanten Rufzeichen aus den gleichen Gründen annahmen wie die indo-amerikanischen; sie wählten es sich selbst aus, sobald sie in den aktiven Kampfeinsatz befördert wurden. Sie waren für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmt. Tom hatte genug Nachrichtenausschnitte über Enigma, Firestorm, Vanquisher, Condor und den Rest der Camelot Company gesehen. Sicher, mittlerweile kannte er die Namen, die hinter diesen Rufzeichen standen: Heather Akron, Lea Styron von der Hannibal Division, Karl Marsters und Alec Tarsus aus der Alexander Division.

Das Gebäude schwankte, und sie wichen einstürzenden Mauern aus und taumelten in eine Waffenkammer hinein, wo sie auf eine ganze Wand voller Nunchakus stießen. Tom griff sich eines dieser Würgehölzer. »Und was passiert jetzt? Wieder Rônins?«

»Mach dich nicht lächerlich. In Stalingrad gibt es keine Rônins.« Vik führte Tom durch die Türöffnung in den Innenhof des brennenden Gebäudes, wo bereits einige Rekruten dabei waren, gegen Ninjas der Wehrmacht zu kämpfen.

Tom hielt es fünf Minuten in der Übungseinheit aus. Dann legte er eine kleine Pause ein, um sich den Schweiß abzuwischen. In diesem Moment kam ein Ninja auf ihn zu und spießte ihn auf. Auf seinem Infoscreen erschien die Textzeile: Sitzung abgelaufen. Immobilitätssequenz initiiert. Von der Brust abwärts wich jedes Gefühl aus ihm, und er fiel zu Boden, das Schwert steckte nach wie vor in seinem Bauch.

»Abgemurkst worden, wie?«, rief Vik von dort, wo er nach wie vor den gegnerischen Ninja bekämpfte.

»Sieht so aus.« Tom wollte sich hochrappeln, doch obwohl er die Arme bewegen konnte, vermochten sie seinen Körper nicht nach oben zu stemmen.

»Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, dich aufrecht zu setzen«, sagte Vik, der Toms Anstrengungen bemerkt hatte. »Du musst an der Stelle, an der du getötet wurdest, bis zur nächsten Phase der Trainingseinheit bleiben. Du kannst zwar deinen Oberkörper bewegen, aber du kannst dein Eigengewicht nicht tragen und dich auch nirgendwohin schleppen.«

Tom verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Warum lassen sich die Leute nicht ständig töten, wenn die große Strafe nur aus Ausruhen besteht?«, fragte er träge.

»Weil es«, erwiderte Vik atemlos und ließ ein Lächeln aufblitzen, bevor er sich wieder seinem Duell widmete, »hier auch um Stolz geht.«

Stolz.

Tom beschloss, sich nie wieder töten zu lassen. Für den Moment jedoch begnügte er sich damit, unter dem von Rauch verdunkelten Himmel von Stalingrad zu entspannen, während ihm das Klirren der Schwerter, das Knattern von Gewehrsalven und das Dröhnen von Explosionen in den Ohren widerhallten.

Nach dem Mittagessen schmerzten seine Muskeln immer noch von der Übung, doch er hatte zum zweiten Mal in seinem Leben sämtliche seiner Aufgaben im Zivilunterricht mit der Bestnote absolviert, und seine Stimmung stieg. Elliot verbrachte die ersten zwanzig Minuten bei Angewandte Simulationen damit, eine Rede über die Macht des positiven Denkens zu halten. Dann klinkten sie sich alle in das nachmittägliche Programm ein.

Tom schlüpfte in die Figur von Gawan, einem Ritter der Tafelrunde aus der Legende um Camelot, dem Hof von König Artus. Um sie herum erwachte zischend eine Burg zum Leben. Elliot, der König Artus spielte, bestieg seinen Thron und verkündete, das Erste, was sie nun alle tun müssten, sei es, den Lehnseid auf ihn abzulegen.

Tom sah zu, wie die anderen Rekruten, die allesamt verschiedene Ritter der Tafelrunde darstellten, vor Elliot niederknieten, um ihm die Hand zu küssen, und daraufhin mit dem Schwert ihren Ritterschlag auf die Schulter erhielten. Tom überlief ein Schauer. Sie katzbuckelten regelrecht.

Elliot streckte die Hand aus, damit auch Tom sie küssen konnte. Doch der rührte sich nicht vom Fleck. Er würde sich nicht niederknien und Elliot Ramirez die Hand küssen. Das kam überhaupt nicht infrage.

»Du schwörst mir nicht die Treue, Tom?«, fragte ihn Elliot.

»Wenn du meine Treue willst, dann schwöre ich sie. Aber nur ohne Hinknien und Handküssen, Sir.«

»Dieses Ritual fördert den Zusammenhalt des Teams.«

»Ich will mich einfach nicht hinknien, okay? Das fühlt sich für mich unamerikanisch an. Tut mir leid.«

Elliot seufzte. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass du den Wert nicht begreifst, den es hat, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber wenn du wirklich nicht wie alle anderen mitspielen willst, dann kann ich dir eine andere Rolle in der Simulation geben als die von Gawan.«

Toms Hoffnung stieg. Vielleicht würde Elliot ihm die Figur eines sächsischen Barbaren zuweisen. Das wäre super, fand er.

Elliot hob die Hand himmelwärts und veränderte die Simulation.

Toms Körper verwandelte sich in den von Guinevere.

Stocksteif stand er da und starrte mit offenem Mund auf sein bodenlanges Kleid, während ihm das braune Haar bis zur Hüfte und, nun ja, über seine Möpse fiel. Auf diese starrte er immer noch mit offenem Mund, während sich die Gruppe der Ritter auf dem Hof zum Angriff gegen die Sachsen vorbereitete. Über seinen langen Rock stolpernd folgte Tom ihnen, verwirrt von der Art und Weise, wie seine Beine sich anfühlten, so als würden sie sich in einem seltsamen Winkel neigen.

»Wartet!«, rief Tom. Seine Stimme klang so mädchenhaft in seinen Ohren, dass er zusammenzuckte. Es dauerte einen Moment, bis er sich von diesem Schrecken erholt hatte und ihm wieder einfiel, was er hatte sagen wollen. »Meine Rüstung ist verschwunden!«

»Nein, Gawans Rüstung ist verschwunden«, antwortete ihm Elliot. »Als meine geliebte Gattin in der Simulation ist es nicht Guineveres Aufgabe zu kämpfen. Sie unterstützt uns nur moralisch, winkt uns zum Abschied und harrt unserer Rückkehr.«

»Ich kämpfe gar nicht?«, stieß Tom hervor.

»Nur wer Treue schwört, darf kämpfen.«

Abwartend hob Elliot eine Braue. Tom wusste, was er wollte, nämlich dass er, Tom, sich entschuldigte, zu ihm angekrochen kam und ihm die Hand küsste. Aber das konnte er nicht. Er kroch nicht zu Leuten, verbeugte sich nicht vor ihnen und küsste ihnen auch nicht die Hand.

»Schön.«

»Schön.« In Elliots Stimme schwang ein unterdrücktes Lachen mit. »Wir erzählen dir dann, wie die Schlacht gelaufen ist.«

Tom blieb im Hof stehen und hörte das dumpfe, allmählich verklingende Geräusch der Hufschläge. Auf einmal spürte er, wie ihn jemand zaghaft am Ärmel zupfte. Eine der Bediensteten der Königin sagte: »Eure Hoheit, wir sticken. Werdet Ihr uns Gesellschaft leisten?«

Die Anleitung zum Sticken wurde in sein Gehirn eingegeben. Guinevere stickte gern. Da Tom Guinevere war, mochte er es ebenfalls …

Bestürzt schüttelte er die Vorstellung ab. »Ich sticke nicht!«, rief er und nahm Reißaus vor der virtuellen Frau.

Wilde Gedanken, was er in den nächsten drei Stunden und achtundzwanzig Minuten der Simulation tun konnte, schossen ihm durch den Kopf. Er beschloss, in jedem Fall auch loszuziehen, zu Fuß, und als Guinevere zu kämpfen. Doch wie sich herausstellte, konnte er noch nicht einmal die Zugbrücke überqueren. Keine Parameter für diese Handlung vorhanden, informierte ihn die Simulation.

Der Handlungsspielraum von Guinevere war auf die Burg begrenzt. Und ihre Finger juckten von dem Bedürfnis, etwas zu sticken. Tom fand das alles absolut grauenhaft. Er würde nicht zulassen, dass Elliot nach einer geilen Schlacht zurückkehrte und ihn beim Sticken vorfand.

Daher beschloss er, die Initiative zu ergreifen. Er schwenkte Kerzenleuchter und forderte willkürlich Wachen zum Duell heraus. Die Wachen schüttelten jedoch lediglich den Kopf und lehnten es ab, etwas so Unritterliches, wie gegen eine Dame zu kämpfen, zu tun. Dies trieb ihn fast in den Wahnsinn. Also schlug er ihnen eben auf den Kopf, woraufhin sie ihn anschrien, er sei verrückt geworden – doch niemand wagte es, die psychotische Königin zu bändigen.

Dies wiederum brachte ihn auf eine brillante Idee.

Er ließ der Burgwache Anweisungen erteilen, schickte einen Laufburschen los und wartete den richtigen Augenblick ab. Tom ging den stickenden Damen aus dem Weg, indem er die Korridore der Burg erkundete. Dabei stieß er auf ein schweres Zeremonienschwert, das er, mit Guineveres Kräften versehen, zwar kaum heben konnte, das aber besser war als nichts. Das Metall scharrte über die Steindielen, während er es auf der Suche nach einer gut geeigneten, verteidigungsfähigen Stelle mitschleppte.

Als er in eine ausgedehnte Bibliothek trat, erblickte er einen bewaffneten Ritter, der über einem Stapel Schriftrollen aufragte. Perfekt. Er würde den Typen töten und seine Rüstung und sein Schwert an sich nehmen.

»Gib Acht, du hundsgemeiner Schurke!«, rief Tom, in seine Rolle schlüpfend, während er sein Zeremonienschwert schwang. »Macht Euch bereit, vor Euren Schöpfer zu treten!«

Der Ritter seufzte, drehte sich um und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.

Es war Wyatts Figur, Lancelot.

»Was machst du denn hier? Lancelot soll doch mit Artus gegen die Sachsen kämpfen.«

»Ich habe Elliot gesagt, dass ich die Burg verteidigen will, falls sie ihn umgehen würden, und das hielt er für eine gute Idee.«

»Ja, ich sehe, dass du sie verteidigst, logisch«, erwiderte Tom und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schriftrollen vor ihr. »Du liest?«

»Ich spiele einen eher gebildeten Lancelot, der lieber hier sitzt und die Burg mit seinem Geist verteidigt.«

»Er soll aber nicht Sachen mit seinem Geist verteidigen, als wäre er Yoda oder so. Er soll Lancelot sein. Und der ist ein Ritter. Er kämpft gegen Barbaren. Das macht ihm Spaß.«

»Dann tu dir keinen Zwang an und bekämpfe sie. Ich werde dich nicht aufhalten.«

»Die Simulation hält mich aber auf. Ich hänge hier in der Burg fest.«

»Tja, dann geh eben woandershin, wenn du willst.«

Tom ignorierte sie und kletterte auf den Tisch. Das war ein wenig verzwickt, weil er Guineveres Körper nicht gewohnt war. Ihr Becken schien anders gelagert zu sein, und der Schwerpunkt ihres Körpers lag an anderen Stellen, als er es von seinem gewohnt war.

»Hör zu, Wyatt, Blackburn hat mich bei seiner Demonstration als Versuchskaninchen genommen, weil ich ihm nicht sagen wollte, wer mein Profil manipuliert hat. Meine Anwesenheit zu tolerieren, ist das Mindeste, was du tun kannst.«

Wyatts Hand huschte auf ihren offenen Mund, eine Geste, die mit Lancelots Körper eindeutig mädchenhaft wirkte. »Blackburn hat dich nach mir gefragt?«

»Nach der Person, die die Profile hackt, ja. Ich habe ihm aber nichts gesagt, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.« Er rutschte hin und her, bemüht, sich hinzusetzen. »Mann, diese Mädchennummer bringt mich ins Schleudern.« Schließlich lehnte er sich zurück, die Beine weit gespreizt. Dafür erntete er einen entrüsteten Blick von Wyatt, aber nun saß er bequem, und deswegen blieb er so. »Ein Wolf ist ein völlig anderer Körper, deswegen ist einem klar, dass man sich völlig anders zu bewegen hat, aber ein Mädchenkörper ist dem meinen doch so ähnlich, dass ich versuche, mich so zu bewegen wie immer.«

»Nach ein paar mehr Simulationen als Frau bekommst du es gar nicht mehr mit.«

Der Anblick seiner Möpse lenkte Tom ab. Er langte nach unten, um sie zu packen. Wyatt räusperte sich.

»Was denn?«, verteidigte sich Tom. »Die gehören mir.«

»Du hast nicht ernsthaft vor, hier rumzusitzen und dich vor meinen Augen zu befummeln, oder? Das ist irgendwie unanständig.«

Ein wenig verlegen ließ Tom die Hand sinken. »Was denn, nun komm aber. Du hast ja auch eine neue Ausrüstung. Bist du nicht neugierig?«

Wyatts Rüstung klirrte, während sie unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. »Es ist nicht so, als hätte ich nicht schon vorher Simulationen als Mann durchgespielt.«

»Genau.« Tom grinste. »Das mit dem Herumfummeln hast du also schon hinter dir.«

»Das habe ich damit nicht gesagt«, protestierte sie. Ihre Wangen flammten derart rot auf, dass Tom die Sache allmählich Spaß machte.

»Du musst dich gefragt haben, ob …«

»Darüber will ich nicht sprechen!« Sie nahm ihre Schriftrolle und ging demonstrativ an einen anderen Tisch in der menschenleeren Bibliothek.

Aber Tom legte gerade erst los. In der Hoffnung, sie noch ein bisschen mehr ärgern zu können, hüpfte er vom Tisch hinunter, um ihr zu folgen. Doch plötzlich erfüllte ein dumpfes Rumpeln die Luft. Schreie drangen durch das offene Fenster der Bibliothek, und Tom wusste, was geschehen sein musste.

Endlich. Vor Erregung fiebernd ging er zur Tür.

»Warte«, rief Wyatt ihm hinterher. »Was geht da vor?«

Tom wirbelte herum. Er erinnerte sich daran, dass sie ein Schwert besaß, das vergessen in Lancelots Scheide steckte. Er trat auf sie zu und zog es, bevor sie richtig mitbekam, was er da tat.

»Pass auf, Wyatt, wenn du ein Bücherwurm-Lancelot sein möchtest, dann geht das in Ordnung. Sperr einfach die Tür zur Bibliothek zu und schieb vielleicht noch einen Tisch davor. Allerdings klaue ich mir dein Schwert, wenn du nicht kämpfst.«

»Was hast du damit vor? Du hast doch gesagt, Guinevere kann die Burg nicht verlassen.«

»Kann sie auch nicht. Aber Königin Guinevere kann die Zugbrücke runterlassen und der Schildwache befehlen, wegzutreten. Genau wie diese Königin Guinevere es vor ungefähr zehn Minuten getan hat. Ach ja, und sie kann auch einen Laufburschen zum König der Sachsen schicken, um ihm mitzuteilen, dass die Burg Camelot schutzlos ist.«

Wyatt starrte ihn mit offenem Mund an. »Dieser Lärm da draußen … Das ist die Armee der Sachsen, nicht wahr?«

»Yuri hat recht. Du bist echt pfiffig.« Tom hörte, wie das Geschrei lauter wurde, und eilte mit federnden Schritten auf den Lärm zu.

»Tom!«

Er hielt in der Türöffnung inne und drehte sich um.

»Danke, dass du Blackburn nichts erzählt hast. Es tut mir leid, dass du meinetwegen in einen Hund verwandelt worden bist.«

»Hey, ich war ein Hund für dich, und nun hast du mir ein ruhmreiches Instrument des Todes gegeben« – er winkte mit dem Schwert – »also würde ich sagen, wir sind quitt.«