10. Traue niemandem
Darius warf mir einen Blick zu, der mich hätte töten müssen. Ich saß im Besprechungszimmer des Rates und wartete darauf, was er mir zu sagen hatte.
Als ich aufgestanden und mir wieder eingefallen war, was sich am Vortag alles zugetragen hatte, umspielte ein so dämliches Grinsen meinen Mund, dass ich mir wie der Joker vorkam. Dem hätten sie es auch herausmeißeln müssen.
Brandon…sein Name schwebte in meinem Kopf wie eine Motte; flügelschlagend, surrend, ohne eine Pause zu machen. Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr empfunden. Ich war öfter verliebt gewesen, das schon, aber die Jungs und Männer waren mir nie zu nahe gekommen, es hatte sich nichts entwickelt, außer einigen Küssen, die nicht so süß waren, wie der, den ich gestern von Brandon bekommen hatte.
Erschrocken hatte ich mich auf das Bett fallen lassen. Es war der Rat! Der Orden! Sie hatten stets verhindert, dass es mehr wurde, dass wir weitergingen. Und ich war immer tief traurig gewesen, warum mein Objekt der Begierde nichts von mir wissen wollte. Was hatten sie getan? Ihnen gedroht? Sie beiseite geschafft? Ein Junge, in den ich mit 15 verliebt gewesen war, war überraschend weggezogen.
Wer war noch ein Opfer geworden, nur damit ich unbesorgt weiterleben konnte?
Und gerade, während ich mich anzog, um zu frühstücken, hatte es an der Tür geklopft und der Butler wies mich an, dass man mich hier erwartete.
Was wollte Darius? War es, weil ich mich so daneben benommen hatte? War Brandon der Grund?
Darius setzte sich zu mir an den Kamin. Seine lederne Haut spannte sich über das Gesicht, als wäre sie frisch gegerbt, die kalten Augen zu Schlitzen verengt. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas sehen konnte.
„Wir machen uns Sorgen um dich, Virginia. So geht das nicht weiter.“
Bildete ich mir das ein oder lag eine Warnung in seinen Worten?
„Was meinst du?“
Wo ist deine feste Stimme, Mädel?
„Cross wird als dein Beschützer abgezogen.“
Ich war irritiert.
„Wieso? Was ist passiert?“
„Tu nicht so, als wüsstest du von nichts. Er war lange in deinem Zimmer, viel zu lange. Es wurde ihm mehrfach verboten und er hat sich wiederholt nicht daran gehalten.“
„Aber wir haben nichts getan“, sagte ich laut.
Wie alt war ich? 12? Das ging alle verdammt noch mal nichts an.
In mir machte sich Verzweiflung breit. Wieso jetzt plötzlich? Er war so lange für mich verantwortlich gewesen.
Darius’ schmale Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
„So, so, nichts getan also. Du bist hier, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, du bist aller Hoffnung. Wir können es nicht gebrauchen, dass du abgelenkt wirst, dass du Gefühle entwickelst, die nur störend sind. Glaub mir eines, Gefühle tragen dazu bei, viele Dinge anders zu sehen; sie sind nur hinderlich.“
Und wie ich das glaubte! Darius war ein eiskalter Fisch, der sicher zu keiner Regung fähig war – außer Zorn, Wut und Hass. Eben all das, was ein Wesen innerlich zerstörte und langsam auffraß.
Woher wusste er, dass ich Gefühle für Brandon hegte? War mir das so sehr anzusehen? Wahrscheinlicher aber war es, dass sie sich eins und eins zusammenzählten, weil Brandon so lange bei mir geblieben war.
„Mir ging es nicht gut, er ist nur bei mir geblieben, um mir Gesellschaft zu leisten“, sagte ich schwach und sah in die tanzenden Flammen.
„Wie dem auch sei. Cross macht nur Ärger, er selbst sieht sich als Rebell. Geradezu lächerlich! Er hat genug Mist gebaut und nun darf er die Suppe auslöffeln. Rafael hat ihm viel zuviel durchgehen lassen. Es ist beschlossene Sache und damit gut.“
Darius stand auf und ging zum Fenster. Damit war es für ihn also erledigt, einfach so.
Ich musste unwillkürlich an Mom und Dad denken. Ich stellte mir vor, wie ich schon als Kind hier hätte leben müssen und war ihnen unendlich dankbar, dass ich ein normales Leben bisher hatte. Darius raubte mir die letzten Nerven.
„Ich möchte ihn aber behalten“, sagte ich bestimmt.
Darius drehte sich abrupt um.
„Du wirst dich fügen, wir dulden keine Widerrede.“
Sein eisiger Tonfall ging mir durch alle Knochen; man hätte mit ihm Glas schneiden können. Noch gab ich mich aber nicht geschlagen.
Ich erhob mich.
„So soll das also laufen? Ihr sagt mir, was ich tun soll und ich kusche dann die nächsten 500 Jahre, wie? Soll ich dir mal was sagen? Ihr seid auf mich angewiesen und nicht anders herum. Was ist, wenn ich sage, dass ich gehen will? Wenn ich einfach rausspaziere? Was tut ihr dann?“
„Dann wärest du schon tot, bevor du das Gebäude überhaupt verlassen hättest. Sie werden kein Mitleid walten lassen. Die Dunklen kennen nicht einmal dieses Wort, das gibt es nicht in ihrem Wortschatz.“
Ich schluckte hart.
Darius näherte sich mir bedächtig.
„Cross ist nicht hier, er musste zu einer Anhörung. Oh, nun schau doch nicht so überrascht, mein Kind. Wie ich schon sagte, er ist nicht der, für den du ihn hältst. Dieser strahlende Ritter, mit dem du in den Sonnenuntergang reitest.“
Er lachte verächtlich und blieb vor mir stehen. Gänsehaut überkam mich. Ich konnte nicht wegschauen, eine unsichtbare Macht befahl mir, in seine Augen zu sehen.
„Hast du schon in unseren Überlieferungen gelesen?“
Ich nickte.
„Und wie fandest du die Abhandlung über mich?“
„So…so weit war ich noch nicht.“
„Dann sage ich dir jetzt etwas, dass du dir gut einprägen musst.“
Was ging in seinen Augen vor? Die Iris schien sich zu verändern, etwas glimmte in ihr auf. Das frostige Hellblau wich einer dunkleren Farbe. Träumte ich etwa? Entsetzt wollte ich zurückweichen, als ich mich flammendroten Augen gegenüber sah. Ich stieß an den Sessel, bewegte mich nicht mehr. Rot? Das konnte nur bedeuten…
Darius Gesicht verschob sich, die Wangen wurden von dicken Falten zusammengezogen, genauso die Stirn, seine Augen wurden schmaler. Ich schrie auf, wollte weglaufen, doch er hielt mich fest.
„Wohin denn so schnell?“
„Du bist ein Dunkler“, kreischte ich und wollte mich losmachen, doch seine dürren Finger hielten meine Handgelenke fest umschlungen.
Wieso wusste keiner davon? Er hatte sich einfach in den Orden geschlichen. Ich musste alle warnen. Doch das brauchte ich nicht mehr, denn jemand kam herein.
„Lass sie los“, sagte eine ruhige Stimme hinter mir.
Rafael.
Darius leckte sich über die Lippen, die Fänge blitzen auf, verlängerten sich bis zur Unterlippe. Er gab mich frei.
Ich rannte zu Rafael und suchte seinen Schutz.
„Er ist ein Dunkler“, wimmerte ich und klammerte mich an Rafaels Seite.
„Warum erschreckst du sie so?“
Darius sah wieder normal aus, wie hatte er das gemacht?
„Sie will Cross behalten, widersetzt sich andauernd, hat sich auf deiner Party daneben benommen. Ihr muss Einhalt geboten werden.“
„Du warst auch mal jung“, lächelte Rafael.
„Das muss ich wohl.“
„Hab keine Angst, Virginia. Wir wissen, dass Darius ein Dunkler ist. Er hat sich schon lange von deren Volk abgewandt. Wir vertrauen ihm.“
Rafael strich mir sanft über das Haar. Wie bei der Morgendämmerung schob sich ein Lichtstrahl in mein Gehirn, um es zu erhellen.
„Was?“
Ich kam mir dumm vor, doch woher sollte ich es denn wissen?
Ein Dunkler im Orden…grotesk. Und wieso vertrauten sie ihm vorbehaltlos?
„Uns haben sich viele Dunkle angeschlossen. In allen Völkern gibt es Überläufer, die sich von ihrer Gemeinschaft abwenden und nicht gutheißen, was sie tun.“
„Aber ich dachte, dass man als Dunkler den Blutdurst gar nicht stillen kann? Dass man durch die Verwandlung so wird und keine Wahl hat.“
„Man hat immer eine Wahl.“
Rafael lächelte.
„Ich möchte in mein Zimmer“, bat ich leise.
„Natürlich, geh nur.“
Darius warf mir noch einen grimmigen Blick zu.
Ich konnte es nicht fassen. Darius war ein Dunkler, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Nicht nur sein Gesicht war hässlich, sondern auch seine Seele. Ich sah es mehr als bestätigt an, dass er mir die Killervampire im Motel auf den Hals gehetzt hatte. Aber warum lag ihm dann so viel an meiner Sicherheit? Täuschte er die anderen und zeigte er nur mir sein wahres Bestreben? Sollte ich mich sicher fühlen, obwohl ich es gar nicht war?
Zielsicher steuerte ich auf den Schreibtisch zu und suchte das Kapitel, das ich gestern gefunden hatte. Ich blätterte mit zitternden Fingern die Seiten um. Und dann grinste mich seine Fratze an: Darius, der Dunkle, einer der Oberhäupter des ‚Dunklen Clans’.
Was war passiert? Warum er sich abgewendet hatte und gemeinsame Sache mit den Reinen machte, darüber stand absolut nichts geschrieben. Er wurde 1758 geboren, verwandelt mit 72, so sah er auch aus, wenn nicht sogar älter. Nachdem er sich in der Armee der Dunklen einen Namen gemacht hatte, war er aufgestiegen und führte das Regiment in die Schlacht. 1839 brach ein Krieg zwischen beiden Seiten aus, der durch seine überlegte Handlungsweise für die Dunklen zum Erfolg führte. Über 5000 reinblütige Vampire ließen ihr Leben und 1500 Dunkle fielen damals.
Mein Mund wurde trocken. Warum schenkte man so jemandem blindes Vertrauen? Einem Vampir, der Hunderte von Vampiren auf dem Gewissen hatte, die einhellig mit der Menschheit lebten? Es wollte nicht in meinen Kopf.
Gerade, als ich etwas über die Prophezeiung lesen wollte, vernahm ich ein surrendes Geräusch. Suchend blickte ich mich um, bis mein Blick auf den Nachttisch fiel. Darauf lag ein Handy, das noch kurz aufleuchtete, dann wurde das Display dunkel.
Verwirrt nahm ich es in die Hand und drückte einen Knopf. Eine SMS wartete darauf, gelesen zu werden.
Ich habe dir das Handy dagelassen, so können wir uns wenigstens schreiben.
Habe dringende Angelegenheiten zu klären und hoffe, dass es dir gut geht.
B.
Die Nachricht war von Brandon. Was hatte Darius gesagt? Er musste zu einer Anhörung. Als ich vorhin aus dem Zimmer ging, war das Mobiltelefon noch nicht da, er musste es während meiner Abwesenheit hingelegt haben.
Ich tippte schnell eine Antwort.
Virginia
Mir geht es ganz gut, ich hoffe, dir auch. Du musst zu einer Anhörung, das hat mir Darius erzählt und du sollst nicht mehr mein persönlicher Leibwächter sein. Ach, und danke, dass du mir verschwiegen hast, dass er ein Dunkler ist. Habe heute reizende Bekanntschaft mit seiner Fratze gemacht.
Brandon
Da hätte ich gern dein Gesicht gesehen, das muss doch eingeschlafen sein. Ich hätte es dir wahnsinnig gern mitgeteilt, welche Vergangenheit er hat, das stand mir aber nicht zu. Ich habe schon so viel Mist gebaut, dass es für zwei Leben reicht. Mach dir mal keine Sorgen, bisher habe ich alles geschafft. Ich weiß, dass er mich von dir abziehen will. Zu einer viel wichtigeren Frage: Was trägst du gerade?
Virginia
Eine ganz schwere Bürde…
Brandon
*lach* Sei nicht immer so schlagfertig, du weißt doch genau, was ich meine.
Virginia
Wann kommst du zurück?
Brandon
Das kann ich noch nicht sagen, mein Engel, je nachdem, wie lange die mich durch den Fleischwolf drehen. Also noch mal, was hast du an?
Virginia
Einen dicken Wollpullover
Brandon
Hört sich extrem sexy an.
Virginia
Ist unser Kontakt mit dem Handy erlaubt? Hast du wieder gegen die Regeln verstoßen?
Brandon
Was denkst du wohl? Liegt die Antwort nicht auf der Hand?
Brandon reizte wirklich alles bis zum Letzten aus, doch mir gefiel es. Wenn ich ihn schon nicht sehen konnte, so freute ich mich umso mehr über seine Nachrichten.
Virginia
Schwerenöter.
Brandon
Die Definition gefällt mir. Mach keine Dummheiten, ich verlasse mich auf dich. Bis bald.
Virginia
Pass auf dich auf.
Ich legte das Handy weg, warf mich aufs Bett und dachte nach, was ich mit dem Tag anfangen sollte. Innerlich gruselte ich mich davor, weiter in den Überlieferungen zu stöbern. Zu groß war die Angst, darin zu lesen, was mit mir an meinem Geburtstag passieren könnte.
Brandon war mir ein Rätsel. Gestern wollte er mich nicht küssen, dann tat er es doch und heute war er verschwunden, ohne es überhaupt erwähnt zu haben.
Es gab immer noch so viele Ungereimtheiten, Fragen, nach denen ich lechzte und mit denen ich Maggie löchern musste. Erst dann würde ich ein wenig Ruhe finden, jedenfalls hoffte ich das inständig.
Ich schwang mich aus dem Bett, um zu Rafael zu gehen. Er würde sicher wissen, wo ich Maggie finden konnte. In diesen vier Wänden würde ich sonst noch verrückt werden. Das Handy stellte ich stumm und ließ es in die Hosentasche gleiten, damit es mich nicht verriet. Ich verließ mein Zimmer und wartete. Der Fahrstuhl öffnete sich, ich stieg ein und drückte die Taste des nächsten Stockwerks.
Ich schaute auf die Anzeige, als mir bewusst wurde, dass der Fahrstuhl nicht anhielt. Nervös drückte ich noch mal den Knopf. Nichts passierte, der Knopf leuchtete nicht auf und der Lift bewegte sich immer weiter nach unten. Nur noch zehn Etagen, dann war ich unten. Was ging hier vor? War der Fahrstuhl defekt?
Ich näherte mich dem Erdgeschoss und bekam Panik.
„Hallo?“, rief ich.
Ich erinnerte mich daran, dass es eine Kamera gab und an die Stimme, die gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei.
„Hallo?“
Niemand antwortete.
3…2…1…
Er fuhr weiter.
Kalter Schweiß brach mir aus. Ich drückte alle Knöpfe, doch nichts hielt ihn auf.
Untergeschoss.
Zitternd stand ich in der Ecke und wartete darauf, dass die Tür aufglitt. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Jemand musste den Fahrstuhl manipuliert haben. Doch wo waren die Sicherheitsleute? Die, die ihn sonst im Auge behielten?
Die Tür ging langsam auf, ich hielt den Atem an. Schwärze. Kein Licht.
Ich drückte wie verrückt auf die Knöpfe, aber der Fahrstuhl blieb wo er war.
Mein Atem kam abgehackt, das Blut rauschte mir in den Ohren wie ein reißender Fluss.
Sie waren gekommen, um mich zuholen, schoss es mir durch den Kopf.
Ich nahm all meinen verbliebenen Mut zusammen und ging mit pochendem Herzen, das eher wie eine Trommel klang, einen Schritt auf die Tür zu. Vielleicht war es doch ein Versehen und ich konnte nach der Treppe suchen, die mich wieder nach oben brachte. Nur das Licht des Fahrstuhls warf einen Strahl in die Dunkelheit.
Es roch nach Abgasen, ich vermutete ein unterirdisches Parkdeck.
„Hallo?“, rief ich, obwohl das ziemlich idiotisch war.
Vielleicht wussten sie gar nicht, dass ich hier unten war und ich verriet mich, indem sie meine Stimme vernehmen konnten. Sicher waren hier auch Kameras angebracht. Ich wagte einen zweiten Schritt, der mich aus dem Lift treten ließ. Vorsichtig lugte ich um die Ecke, doch ich konnte in der Dunkelheit niemanden ausmachen, auch nicht auf der anderen Seite. Schattenhaft erkannte ich Autos, die in mehreren Reihen geparkt waren.
Irgendwo musste eine Tür sein, die nach oben führte. Hier heraus, in die Sicherheit. Langsam schlich ich mich an der Wand lang, so würde ich sie nicht verpassen. Die kalte Betonwand verursachte ein neuerliches Schaudern, leise strichen meine Finger über sie. Ich erkannte Säulen neben mir, noch mehr Autos, und war kurz vor einer Ecke angelangt, an der ein beleuchtetes Schild hing. Der Ausgang! Zeitgleich hörte ich einen Motor aufheulen, Reifen quietschten, Scheinwerfer warfen ihr gleißendes Licht auf mich. Ich schrie entsetzt auf, rannte an der Kühlerhaube vorbei, denn nun konnte ich etwas sehen. Ich wusste innerlich, dass ich nicht die geringste Chance hatte, schloss mit allem ab und dennoch versuchte ich, zu entkommen. Mein Überlebensinstinkt war zu groß, zu heftig. Ich hörte wütende Männerstimmen, Autotüren, die aufgestoßen wurden. Da war sie! Die Tür! Ich sah sie schemenhaft auf der anderen Seite. Jetzt, da ich mich von dem Wagen entfernt hatte, wurde die Sicht schlechter. Ich stolperte einfach mit letzter Kraft weiter, meine Lungen fingen an zu brennen, ich atmete laut.
Mit bebender Brust erreichte ich die Tür, als mich ein Schmerz im Nacken traf. Ein Stich, kurz, schnell, heftig. Ich fasste mir an die Stelle und spürte eine Nadel, die in meiner Haut steckte. Ich strich an ihr entlang, sie mündete in einem Pfeil. Mit einem Ruck zog ich ihn heraus. Wärme breitete sich vom Nacken bis in die Schulterblätter aus.
Oh, tat das gut, dieses wohlige Gefühl! Nein, nein, was denkst du denn nur?
Die Wärme ging in Hitze über, ergriff von meinem restlichen Körper Besitz, langsam, über den Bauch, hinunter zu den Knien, bis in die Füße. Ich wollte die Tür öffnen, meine Lider wurden schwer, ich ertastete sie. Da war die Klinke! Ich musste sie nur öffnen!
Ich verlor den Halt, sank auf meine Knie.
Hinlegen, nur hinlegen und etwas schlafen! Mehr wollte ich gar nicht. Was war so schlimm daran?
Ich legte mich auf den Boden, meine Glieder schwer wie Blei. Bevor ich die Augen endgültig schloss, brannten sie mir ein Bild ins Gedächtnis. Drei große Gestalten sahen auf mich herab, bevor ich dieser Welt entglitt.
Unbarmherzige Kälte umfing mich, während meine Sinne wieder anfingen, zu sich zu kommen. Ich konnte meine Augen nicht öffnen, Schwere lastete auf ihnen, die es mir unmöglich machte, sie auch nur ein bisschen aufzubekommen.
Ich lag irgendwo. Frost umgab mich, hüllte mein Herz in eine Nüchternheit, die mir sagte, dass es hier, wo ich gerade war, nichts mehr gab, wofür es sich zu leben lohnte. Meinem Geist, meinem Körper, meiner Seele war es egal, was mit mir passiert war. So ein Du kannst mich mal – Gefühl, das sämtliche positiven Empfindungen auffraß und nur die negativen daließ. Und diese Gleichgültigkeit, diese verdammte Gleichgültigkeit.
Schrittweise kehrte mein Erinnerungsvermögen zurück. Ich wusste, wie ich hieß, ich war mir im Klaren darüber, was die letzten Tage geschehen war und was das Schicksal bereithielt. Eventuell. Vielleicht. Ungefähr. Das war alles. Aber irgendwie stimmte da was nicht. Ein Puzzleteil fehlte. Was wollte ich hier und warum war es so bitterkalt? Meine Zähne klapperten, ich versuchte meine Arme und Beine zu bewegen. Es gelang mir kaum, sogleich durchzuckten mich stechende Schmerzen, als ich versuchte, meinen Arm anzuheben. Ich lag auf etwas Kaltem, Glattem, soviel war mir klar. Dunkelheit umfing mich, auch wenn ich nicht die Augen öffnen konnte, spürte ich sie, nahm sie durch die geschlossenen Lider wahr.
Wo war ich?
Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber es kam mir vor, als müssten Stunden vergangen sein. Ich fühlte mich besser, meine Knochen taten nicht mehr so weh, aber ich fror immer noch so sehr.
Mit allergrößter Anstrengung zwang ich meine Augen dazu, dass sie sich dem Bild stellten, das ich gleich vor mir sehen würde. Ein Licht schien auf mein Gesicht, brachte etwas Wärme auf meine kühle Haut. Ich wollte meinen Körper in den gleißenden Schein legen, ihn zum Tauen bringen, endlich wieder Hitze in mir haben. Aber ich vermochte es nicht, auch nur einen Zentimeter zur Seite zu rutschen.
Schemenhaft, wie durch milchiges Glas schauend, nahm ich den Ort in mir auf, an dem ich mich befand. Die Umrisse wurden stärker, präziser.
Eine Halogenlampe über mir, die mich blinzeln ließ, in der Ecke ein alter Holzstuhl, kahle Wände, ansonsten nichts. Absolut nichts. Ich lag auf einer Art Bahre, gefesselt an Armen und Beinen. Deswegen hatte ich mich nicht bewegen können!
„Aaahhhhh!“, schrie ich plötzlich aus heiserer Lunge, während meine Erinnerung schlagartig über mir zusammenfuhr.
Sie hatten mich gejagt, zwischen den Autos, da war der Fahrstuhl, der einfach hinuntergefahren war. Ich wollte fliehen, dann der Pfeil in meinem Hals, Schwärze, Schwärze.
Ich wand meine Arme in den Fesseln, vergeblich, sie waren so festgeschnürt, dass ich wund unter ihnen war. Ich konnte rote Striemen erkennen, trug ein weißes Nachthemd.
Oh Gott! Sie hatten mich ausgezogen!
Tränen rannen mir über die Wangen, die sich wie eine heiße Schneise über mein Gesicht liefen. Sie tropften auf beide Seiten des Tisches hinab.
Brandon! Das Handy! Sie hatten es…natürlich.
Jäh kam alles zurück, wie ein derber Schlag in den Magen. Die Halloween-Party, verbunden mit Rafaels Geburtstag, die wunderbare Nacht mit Brandon.
Brandon…konnte man in jemanden verliebt sein, den man kaum kannte? Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich es war. Mein Verstand spielte mir übel mit, sagte mir, dass ich ihn niemals wieder sehen würde, um ihm zu sagen, dass er mein Herz gefangen genommen hatte. Doch anstatt es ihm zeigen zu können, hatte man mich gefangen genommen.
Und noch etwas anderes wusste ich so genau, dass es mich fröstelte: Ich, Virginia Lewis, lag eingekerkert und auf sich allein gestellt bei den Dunklen, die mich entweder zu ihrer Königin machen oder töten würden, wenn ich es nicht war.
Wie lange ich dalag, vor mich hinstarrte und weinte, wusste ich nicht. Raum und Zeit waren in einem Knäuel miteinander verwoben und wollten sich nicht trennen. Ich begann zu niesen und spürte meine Füße nicht mehr.
„Hallo? Ist da jemand?“
Ich rechnete nicht im Geringsten damit, dass sie Erbarmen haben würden, Brandon hatte mir jegliche Illusion genommen…Denen macht Töten großen Spaß…
Mein Leib hatte sich an die Kälte gewöhnt, ich zitterte kaum noch, alles fühlte sich wie abgestorben an. Ich wollte nur noch schlafen, die Augen schließen und schlafen, mehr nicht.
Wind blies mir ins Gesicht, ließ mich schaudern, Schatten fielen auf meine Haut wie Eiskristalle. Meine Zähne fingen an zu klappern, ich kam zu mir, quälend langsam, wollte die Augen öffnen, sie gehorchten mir nicht. Da war wieder das Licht, das erbarmungslos auf meinem Gesicht tanzte. Und trotzdem fror ich, als wäre ich im Schnee gefangen, der sich ohne Gnade um meinen Leib schloss, mich einsaugte und nicht wieder ausspucken wollte.
Langsam begriff ich, dass ich nicht unter tausenden von Schneeflocken begraben war, sondern spürte das kühle Metall unter mir, das mich brutal in die Wirklichkeit zurückholte. Ich war in diesem Raum, so gut wie nackt, durchgefroren bis auf die Knochen, versuchte es zu ignorieren, indem ich mich in den Schlaf weinte, doch es half nichts, denn es war bittere Realität. Man hatte mich gekidnappt und hier abgelegt, wie eine Leiche, die bald seziert werden würde.
Jemand ist bei mir…jemand ist in diesem Raum…und starrt mich an…
Ruckartig schlug ich meine Augen auf, die sogleich von dem hellen Licht geblendet wurden. Ich zwinkerte, mein Herz klopft wie verrückt, während ich krampfhaft versuchte, etwas zu erkennen. Tränen flossen mir über die Wangen, ich blinzelte immer wieder, schaute durch den Raum, suchte den Boden, die Wände ab. Stand dort jemand? Hockte etwas auf dem Boden? Und plötzlich sah ich ihn.
An die Wand gelehnt, mit verschränkten Armen, erblickte ich eine dünne Gestalt, deren Gesicht von den Schatten verschluckt wurde.
Darius?
Es war keine Überraschung, dachte ich nur. Ich hatte geahnt, wie sehr er mich hasste, wie er mir dies schon durch seine Blicke, Gesten und die schauderhafte Stimme gezeigt hatte. Mein Kopf wurde schwer, ich musste ihn wieder auf den Tisch unter mir legen.
Schritte näherten sich, abrupt, ließen mein Blut in den Ohren rauschen. Ich schloss mit allem ab, sah meine Eltern vor mir, Brandon, Mary und Maggie, nahm das Gute mit, verwünschte das Böse, das mir nicht folgen sollte, egal, wohin ich ging. Sie würden mich sicher nicht am Leben lassen, auch wenn ich die Auserwählte sein sollte. Sie würden es sich nicht leisten können, dass ich mich verwandelte und ihnen dann nicht folgte. Das Risiko würde viel zu groß sein, untragbar, wenn ich erst einmal genügend Macht bekommen hatte. Auch wenn ich überhaupt keine Ahnung hatte, zu was ich fähig sein würde. Es war doch gar nicht so schlimm, zu sterben, oder? So musste ich nicht mehr frieren, die Ungewissheit würde von mir abfallen und ich war keine Gefahr für die Reinen, wenn mich die Dunklen zu ihrem Spielball machen würden. So oder so ein Gewinn, nur nicht für mich. Wenigstens hatte ich noch ein normales Leben, lebte nicht die ganze Zeit in Angst und kannte mein Schicksal vorher nicht. Das ist mehr, als andere von sich behaupten können. Wie ging dieser Spruch? Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen…
Dass er sich als wahr erweisen würde, hätte ich niemals geglaubt.
„Sieh mich an“, ertönte eine heisere Stimme so laut und aggressiv neben mir, dass ich zusammenzuckte.
Sie gehörte nicht Darius. Erleichtert atmete ich auf, und wusste nicht wieso. Sollte ich doch noch kämpfen? Sie davon überzeugen, dass alles ein großes Missverständnis war? Ich drehte meinen Kopf, ließ meine Augen nach oben gleiten. Erschrocken keuchte ich auf.
Verengte rote Augen starrten auf mich nieder, eingerahmt von einem Gesicht, dass an Hässlichkeit nicht zu überbieten war. Die Nase, so lang gebogen wie ein Schnabel, Haut wie aus Papier, so dünn und eng über das Gesicht gespannt, dass sie gleich reißen müsste. An den Wangen und der Stirn Vertiefungen, die in unförmige Dellen übergingen, von einem schmutzigen Beige-Ton, der krank aussah. Ganz kurz zuckte durch meine Gedanken das Bild von Darius, der eine ebenso geschaffene Haut hatte, nur ohne die Dellen, die dem Dunklen, der vor mir stand, ein bedrohliches Aussehen gab. Er hatte kaum Lippen, die in schmalen Strichen untergingen, Zähne aber so lang und spitz, dass ich mir unweigerlich vorstellte, wie es war, von ihnen gebissen zu werden. Der Dunkle trug die ergrauten Haare zu einem ordentlichen Zopf gebunden, die Kleidung bestand aus einem dunklen Anzug, der sehr teuer aussah.
Sie hatten mich! Es war kein böser Traum, aus dem ich erwachen konnte. Alles hatte nichts genützt. Es war vorbei.
„Braves Mädchen“, schnurrte er, hob die langen Finger und schob ein paar Haarsträhnen aus meinem Gesicht.
Seine kühlen Finger verursachten eine Gänsehaut, die nicht dem Umstand geschuldet war, dass seine Haut eisig war, sondern, dass er mich berührte.
„Hab keine Angst, wir brauchen dich noch“, lächelte er.
„Was…was wollen Sie von mir?“
Sein Grinsen wurde breiter.
„Das weißt du doch schon längst, mein Mädchen, du musst mir nichts vormachen. Dumm bist du sicher nicht.“
Sein Blick schweifte über meinen Körper, der kaum von dem durchsichtigen Nachthemd bedeckt wurde. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich empfand Ekel und Angst. Was würde er mit mir tun? Was hatten sie vor?
„Ich bin nicht das, für das sie mich halten“, kam es zitternd über meine Lippen. „Bitte lassen sie mich gehen.“
„Das kann ich leider nicht, schon zu lange haben wir nach dir gesucht. Du bist uns zweimal entwischt, was sehr ärgerlich war, aber noch ist es nicht zu spät. In 14 Tagen ist dein Geburtstag, und dann werden wir sehen, ob wir richtig liegen.“
„In 14 Tagen?“, fragte ich ungläubig. „Ich habe einen Tag geschlafen?“
Er nickte.
„Der Pfeil war zu stark, wir mussten warten, bis das Mittel nachließ. Gleich werden wir dir Blut abnehmen und dich eingehend untersuchen, dann darfst du mit nach oben kommen, sonst wirst du noch krank.“
Er setzte ein selbstgefälliges Gesicht auf, das mir sagte, dass es ihm scheißegal war, wenn ich erfrieren sollte. Aber sie brauchten mich doch! Oder hatten sie nie vor, auf die Verwandlung zu warten?
Mir wurde übel, Furcht schnürte mir die Kehle zu, Hunger meinen Magen.
„Was denken Sie, was sie da finden? Ich bin ein ganz normaler Mensch.“
Meine Stimme brach.
„Das werden wir sehen. Ich muss zugeben, dass unser Informant es nicht besser hätte machen können. Aus dem Hauptsitz des Rates persönlich entführt, das soll uns mal einer nachmachen.“
Wer war er? Wer hatte mich verraten und nach unten ins Parkhaus gelockt?
„Wer ist es?“
Der Dunkle schüttelte den Kopf.
„Das erfährst du noch früh genug, hab Geduld, aber einen Tipp bekommst du: Du kennst ihn ganz gut.“
Doch Darius? Ein anderer aus dem Rat? Ich wollte es vielleicht gar nicht wissen.
Der Dunkle entfernte sich, seine Schuhe klackten auf dem Steinboden.
„Warten Sie!“, rief ich, sodass meine Worte von den Wänden schallten.
Er hielt inne, drehte sich um.
„Sie werden mich finden. Rafael wird kommen, um mich zu retten.“
Sogar in meinen Ohren klang das lächerlich. Wem wollte ich hier Angst einjagen? Ich schätzte, mir selbst, weil ich spürte, dass dem nicht so war.
Der Dunkle kam zwei Schritte zurück, blieb an meinen Füßen stehen, die fast blau waren. Er lachte boshaft.
„Mach dir keine großen Hoffnungen. Niemand weiß wo du bist. Wir werden dich nun umsorgen, hegen und pflegen, bis wir am 15. wissen, ob du wirklich das bist, was wir uns erhoffen. Und wir glauben nicht daran, dass dem nicht so sei. Du wirst uns dienen, uns in den Kampf führen, die Reinen in die Knie zwingen. Wenn es soweit ist, denken wir für dich, leiten und führen dich, bis nichts mehr übrig ist, was man zerstören könnte. Und nach einiger Zeit wirst auch du es lieben, weil du dann eine von uns bist.“
Mit diesen Worten verließ er mich und schaltete das Licht aus. Ich lag eingehüllt in der Finsternis und wartete darauf, dass auch meine Gedanken und Gefühle in die Schwärze huschten, doch sie taten mir nicht den Gefallen. Ich war hier, ich würde sterben, mehr wusste ich nicht.
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