4. No vacancy
„Hallo?“
Verschlafen meldete sich meine Freundin am anderen Ende der Leitung.
„Mary, ich bin’s!“
„Virginia, Süße! Ist irgendwas? Es ist noch so früh. Wie geht’s dir?“
Wie es mir ging? Darüber wollte ich gerade nicht nachdenken. Ich war dabei, meine Freundin anzulügen, durfte ihr nicht die winzigste Kleinigkeit erzählen. Dabei war sie die einzige Person, mit der ich darüber sprechen konnte. Ich hätte so gern einen Rat angenommen, ihre Scherze gehört, in denen sie die ganze Situation durch den Kakao zog. Marys unvergleichliches Aaaaahhhh! Was, der Typ aus dem Club? Brenn mit ihm durch! Oder ihre aufmunternden Worte, dass alles wieder gut werden würde. Wie oft hatte ich ihr schon diese Worte versprochen? Es schien so unendlich weit weg. Wie gern hätte ich mich in ihre Arme geworfen, nach einer unruhigen Nacht, und sie hätte mir versichert, dass alles bloß ein böser Traum war.
„Nicht so gut“, sagte ich stattdessen. „Meine Mutter ist sehr krank und ich bin schon auf dem Weg.“
Meine Stimme schwankte. Sofort war Mary hellwach.
„Oh mein Gott, das ist ja schrecklich!“, rief sie in den Hörer. Man hörte das Entsetzen. „Ich hoffe, dass es nichts Schlimmes ist.“
„Das wissen die Ärzte noch nicht.“
Ich kam ins Stocken. Brandon stand mit mir abseits der Tankstelle
und beobachtete mich genauestens. Immer wieder nickte er und machte
Zeichen mit der Hand, ich solle weiterreden. Es war erst kurz nach
sechs Uhr morgens. Er hatte mich genötigt, Mary jetzt schon zu
informieren, damit auch das geklärt war.
„Soll ich hinterherkommen? Ich lasse hier alles Stehen und Liegen“, sagte Mary völlig unvorbereitet und sehr entschlossen. Sie meinte es ernst! Und dafür liebte ich sie.
„Nein, ich schaffe das schon“, wehrte ich schnell ab. „Ich brauche dich dort. Bitte stelle ein Schild ins Fenster vom Geschäft, dass ich bis auf weiteres geschlossen habe. Würdest du das tun?“
„Natürlich, das weißt du doch.“
Sie besaß einen Zweitschlüssel für die Buchhandlung, das machte sich nun bezahlt.
„Und noch eine Bitte: Die bestellten Bücher werden am Vormittag angeliefert. Ruf doch bitte den Zulieferer an, die Nummer liegt an der Kasse. Er heißt Williams. Sag ihm einfach, dass er dir die Exemplare ins Cafè bringen soll. Schreib auf das Schild, dass die Leute sie bei dir dort abholen können. Es sind nur drei. Würde das gehen?“
„Ist gebongt! Das tue ich gern für dich“, versprach sie.
Brandon tippte auf seine Armbanduhr.
„Ich muss leider Schluss machen, Mary. Ich danke dir so sehr.“
„Du weißt, wie lieb ich dich habe.“
„Und ich dich.“
„Ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt.“
„Versprochen.“
„Ich wünsche deiner Mom alles Gute.“
„Danke. Mach’s gut.“
„Mach’s besser.“
Ich drückte das Gespräch weg und atmete schwer aus.
„Du kannst gut lügen, hätte ich nicht gedacht“, sagte Brandon anerkennend und zog seine Augenbraue hoch.
„Ich hatte keine andere Wahl“, flüsterte ich niedergeschlagen.
„Steig ins Auto, wir müssen weiter.“
Ihm war es egal, wie es mir ging. Er hatte niemanden belügen müssen, hatte nicht sein gesamtes Leben hinter sich gelassen, auch wenn es noch so unspektakulär war. Ich hingegen fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie in einem Vakuum bewegten sich mein Körper und Geist, zeitlupenartig, als hätte ich Angst, gleich zu stolpern. Etappenweise wurde mir das Ausmaß dieses Ausfluges bewusst, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass danach mein altes Leben nicht mehr so sein würde, wie es war.
Blood sprang auf die Rückbank, ich nahm wieder auf der Beifahrerseite Platz, Brandon fuhr los, schaltete dabei das Radio ein.
Kingdom of Rust von den Doves erklang aus den Boxen.
„Warum sind wir eigentlich nicht geflogen?“
Brandon warf mir einen Blick zu.
„Wenn dort oben etwas passiert, können wir nicht einfach so aus der Maschine hüpfen. Auf den Straßen kenne ich mich bestens aus, man kann sich immer irgendwo verstecken.“
Am liebsten hätte ich ihn angeschrien und gefordert, dass er endlich damit herausrücken sollte, was hier vor sich ging. Ich platzte vor Neugierde, mein Gehirn ratterte auf Hochtouren, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich fühlte mich, als würde ich neben mir stehen, und alles ganz still aus einer Ecke beobachten.
„Sagst du mir, wer hinter mir her ist?“
Brandons Miene wirkte müde, abgekämpft.
„Ich würde dir gern mehr sagen, aber das kann ich nicht. Bitte glaube mir. Morgen wirst du alles erfahren, das verspreche ich.“
Sein sanfter Tonfall beschwichtigte mich und ich hielt die Klappe, jedenfalls was dieses Thema betraf.
„Erzähl mir von dir“, bat ich ihn.
Dieser Mann schien von so vielen Widersprüchen befallen zu sein, dass es mir unmöglich war, seinen wahren Charakter einzuschätzen. Mal schien er besorgt, fand die richtigen Worte, dann war er wieder abweisend und richtig unzugänglich. Ein Abwehrmechanismus? Wollte er sich interessant machen? Nun, interessant war er so oder so, das musste ich unumwunden zugeben. Es lag nicht nur an seinem Aussehen, sondern an dem Zusammenspiel, an dem Gesamtpaket, das er bildete.
„Ehrlich gesagt, rede ich nicht gern über mich“, gestand er.
„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
Wie konnte ich nur so boshaft sein, in dem Moment, wo er sich ein wenig zu öffnen schien. Mist!
Und da machte er dicht, mal wieder. Danke fürs Gespräch, Mr.….
„Wie ist eigentlich dein Nachname?“
„Willst du etwa wissen, wie du irgendwann einmal heißen könntest?“
Er lachte leise. Und nun das wieder! Eben eingeschnappt, jetzt wieder angriffslustig. Wollte er mich aus der Reserve locken?
„Im Leben nicht. Ich bin nur einfach neugierig.“
„Cross.“
Brandon Cross…das gefiel mir.
Den ganzen Tag fuhren wir durch das halbe Land, so kam es mir jedenfalls vor. Meistens über Umgehungsstraßen, die sicher den Weg länger werden ließen, aber mehr Sicherheit brachten. Vorbei an Stadtvillen, die einen besonderen Charme ausstrahlten, Bauernhäusern, vor denen Hunde kläfften und Menschen, deren Profil ich kaum erkennen konnte.
Brandon hatte, seitdem wir von meinem Zuhause losgefahren fahren, noch nicht einmal geschlafen. Musste er das gar nicht? Wir hatten noch an zwei Tankstellen gehalten, dort nahm er sich wenigstens etwas zu essen und zu trinken mit. Also musste er doch ein Mensch sein, oder? Ständig schwirrte mir durch den Kopf, was genau er war. Ein Außerirdischer nicht, die verband ich im Aussehen mit E.T. oder Mars Attacks. Schon schlimm, was Filme in einem bewirkten. Ein Geist konnte er auch nicht sein, die waren durchsichtig, mussten sicher nichts zu sich nehmen. Ein Vampir wäre am helllichten Tag geröstet worden, und Brandon saß unversehrt neben mir, blickte sogar ab und an in die Sonne, die manchmal hinter den Wolken durchbrach. Ein Werwolf vielleicht? Das wäre die naheliegendste Erklärung, jedoch hätte er sich bei Vollmond verwandeln müssen…Ich gab auf, denn morgen würde ich endlich mehr wissen, und so langsam bekam ich den Eindruck, dass ich das mitunter gar nicht wollte. Und ganz nebenbei drehte ich auch noch am Rad, weil ich es nicht mehr aushalten konnte, mehr zu erfahren, so hin- und hergerissen war ich. Wer konnte mir das auch verdenken.
Es fing leicht an zu nieseln, der Himmel wurde zunehmend grau, und mein Sitz, trotz höchster Bequemlichkeit, ließ mir den Hintern langsam wund werden. Ich rutschte ungeduldig darauf herum.
„Wir werden heute Nacht in einem Motel schlafen“, informierte mich Brandon ganz nebenbei.
„Ein Bett, juchhuuuu! Auch wenn da schon Hunderte von Leuten drin geschlafen haben und die Matratze alt und schimmlig ist, ich freue mich drauf!“
Ich streckte die Hände in die Luft, dann sank ich wieder in mich zusammen.
Brandons Blick nagelte mich fest.
„Das ist der Schock, oder?“
„Sieht so aus“, pflichtete ich ihm bei.
Es dunkelte bereits, als er rechts abbog und eine Auffahrt hinauffuhr, die vor einem roten Backsteinhaus endete. Die Leuchtreklame, an der einige Lampen defekt waren, verkündete, dass alle Zimmer ausgebucht waren. Ich wollte Brandon darauf hinweisen, sagte aber nichts. Er hatte es sicher gesehen, und ließ sich trotzdem nicht beirren.
Vor uns erstreckten sich kleinere Apartments auf zwei Etagen, die ziemlich heruntergekommen aussahen. Mir war es egal, ich wollte nur noch eine heiße Dusche und die Beine ausstrecken. Zum zweiten Geschoss führte eine Treppe hinauf, die in einem Geländer, das um das Gebäude herumging, endete.
„Komm bitte mit hinein.“
Ich kam seiner Aufforderung nach, Blood blieb im Wagen. Wir betraten das Büro des Eigentümers durch eine Schwingtür. Drinnen schlug uns eine brodelnde Hitze entgegen, die mir den Atem nahm. Es roch verfault, Brandon rümpfte die Nase. Ein Mann, Mitte 50, kam aus einem hinteren Raum angeschlürft und begrüßte uns.
„Tut mir leid, aber es ist alles ausgebucht“, lächelte er und entblößte dabei eine Zahnlücke.
Wie in einem billigen Film, schoss es mir durch den Kopf.
„Hören Sie, wir sind seit Stunden unterwegs, und das nächste Motel ist mindestens eine Stunde entfernt. Also sehen Sie noch mal nach.“
Boah! Brandon, der Charmeur! Er klang so einschüchternd, dass sogar ein Riesenalligator einen doppelten Flickflack ausgeführt hätte, wenn er das zu diesem Vieh gesagt hätte. Die Tonlage war so rau und schneidend, dass sie Eiswürfel geschmolzen hätte. Hörte ich da ein Grollen in seiner Brust? Und dieser Blick! Oh man! Notiz im Stillen: Leg dich nie mit ihm an! Ab jetzt zumindest.
Dem Mann brach Schweiß aus, kleine Tropfen glitzerten auf seiner Stirn.
„Ähm…wir haben noch ein Apartment ganz am Ende, aber da hat es gebrannt. Dürfte nicht nach ihrem Geschmack sein.“
„Ist der Schaden schlimm?“, mischte ich mich ein.
„Den Teppich und ein Teil des Schrankes hat es arg mitgenommen, sonst geht es. Die Versicherungsheinis sind solche Halsabschneider! Wollen fast nichts bezahlen.“
„Wir nehmen es. Ich zahle bar.“
Brandon gab ihm einen Schein, der das Zimmer mit Sicherheit nicht annähernd wert war. Glücklich versenkte der Mann ihn in der Hosentasche, gab Brandon den Schlüssel und erklärte, dass es Apartment Nummer eins war. Wir stiegen wieder ins Auto, wo uns Blood schwanzwedelnd zurückbegrüßte, dann fuhr Brandon bis ans Ende des Komplexes und stellte den BMW um die Ecke ab, damit er nicht gleich gesehen wurde. Er schulterte meine Reisetasche, ich nahm die Tüten mit dem Essen und Bloods Decke an mich, dann betraten wir das Apartment. Es roch nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte, eher so, als hätte man ein paar Schachteln Streichhölzer angezündet und ausbrennen lassen. Zwei einzelne Betten mit bunten Tagesdecken standen auf der rechten Seite, mit jeweils einem Nachttisch und einer Leselampe. Linkerhand ein Tisch mit unechten Blumen, zwei Stühlen, ein alter Fernseher, der wie aus der Nachkriegszeit wirkte, daneben der angesengte zweitürige Schrank. Vom Teppich waren nur noch Fetzen übrig, darunter schaute Holzfußboden hervor, schwarz und morsch. Ich stellte die Tüten auf dem Tisch ab, dann breitete ich die Decke von Blood zwischen den beiden Betten aus. Brandon kam aus dem Bad.
„Alles in Ordnung“, sagte er.
„Was hast du erwartet? Dass der Typ aus Psycho in der Dusche steht?“
Er lächelte.
„Man kann nie wissen.“
Er kannte also den Film. Ein gutes Zeichen oder eher ein schlechtes?
Brandon zog die Übergardinen vor die beiden Fenster, die sich neben der Tür befanden, schloss sorgfältig ab und schien zufrieden. Ich ging ins Bad, um Bloods Schüssel mit frischem Wasser aufzufüllen. Er leckte so gierig das kühle Nass, dass ich ein zweites Mal nachfüllen musste. Eine Dusche, Waschbecken und Toilette lachten mir entgegen. Dass das Bad kein Fenster hatte, war zweitrangig. Wieso wusste man solche Dinge plötzlich wieder zu schätzen?
Mein Blick fiel wieder in den Raum, der über den Betten mit Holzpanelen verkleidet war, eine Blümchentapete, die schon ein wenig vergilbt war, zog sich über die gegenüberliegende Wand. Es war nicht anheimelnd, aber tausend Mal besser als im Auto zu sitzen, auch wenn die Rückbank sehr breit war.
„Welches Bett willst du?“
Brandons Frage holte mich aus meinen Überlegungen. Eine leichte Röte stahl sich über mein Antlitz. Was war denn jetzt schon wieder los? Er hatte gefragt, welches Bett ich wollte und nicht in welchem Bett ich mit ihm schlafen will.
„Mir egal“, erwiderte ich hastig. „Gern in dem, das dem Bad näher ist.“
So viel also zu: Ist mir doch wurscht!
Ein Grinsen glitt über sein Gesicht.
„Okay.“
Tja, ich musste wohl doch etwas cooler werden. Aber wie sollte das gehen, wenn sich ein Mann mit mir in diesem Zimmer befand, dessen Innen- und Außentemperatur zusammen die 1000 Grad-Marke sprengte?
Blood lag auf seiner Decke und hob den Kopf, während ich meine Reisetasche auf mein Bett wuchtete. Was hatte Brandon eingepackt? Meine Bücher sicher nicht.
Ich öffnete sie und war überrascht, nein das traf es nicht, überwältigt. Neben verschiedenen Klamotten wie Pullovern, zwei Jeans, dicken Strümpfen, dem Bärchennachthemd (ich zeigte es hoch, er lachte), einer Zahnbürste, Kamm und meiner Creme, befanden sich meine Lieblingsbücher darin. Stolz und Vorurteil, Sturmhöhe, Jane Eyre. Verwundert fanden meine Augen die von Brandon. Er saß auf seinem Bett, abwartend, mit verschränkten Armen, lächelnd.
„Ich weiß gar nicht, äähhh…was ich sagen soll…“, stammelte ich verlegen.
„Damit dir nicht alles gänzlich fremd ist“, sagte er.
Er fuhr sich durch die Haare. Die Lederjacke musste er vorhin ausgezogen haben. Brandon krempelte die Ärmel von seinem Hemd ein Stück nach oben. Mein Blick fiel auf seine nun freigelegten sehnigen Arme, die er auf die Oberschenkel legte.
„Pack weiter aus“, forderte er mich auf.
Ich wandte mich nervös ab und kramte weiter in der Tasche herum. Mein MP3-Player! Verwirrt sah ich ihn wieder an.
„Hättest du nicht erwartet, was?“
Triumphierend schmunzelte er. Ich suchte weiter. Ha! Es durfte ja nicht so gut weitergehen! Mir sprang Unterwäsche ins Auge! Ein BH und drei Slips! Drei! Am liebsten wäre ich ganz sanft in Ohnmacht gefallen…oder nein! Wo war das berühmte Loch, in das man sich verbuddeln konnte? Und dann, ganz unverhofft, ging mir durch den Kopf, wie blöd ich eigentlich war. Er hatte es nur gut gemeint. Da war nichts Anzügliches daran, obwohl…das war meine Lieblingsunterwäsche, und überhaupt, waren das alles Klamotten, die ich am häufigsten trug. Die Bücher standen zwar auf meinem Nachttisch, da konnte man annehmen, dass ich sie sehr mochte, jedoch reichte mir das als Erklärung plötzlich gar nicht mehr. Mein Gesicht nahm einen Purpur-Ton an, nahe an einem Kollaps. Finster starrte ich ihn an, sein Lächeln verflog mit einem Stirnrunzeln.
„Muss schon viele Vorteile bringen, andauernd zu spannen, oder? So weiß man endlich mal als Mann, was Frauen mögen. Das kann man dann ganz frech und hintenrum für seine Absichten einsetzen.“
Brandons Augen verengten sich.
„Du musst wohl immer noch eins drauf setzen, Prinzessin. Bist wohl nie zufrieden? Aber eins lass dir gesagt sein: Ich hätte dich auch ohne dieses ganze überflüssige Zeug mitnehmen können, aber ich hab’s nicht getan.“
Eine Schärfe schwang in seiner Stimme mit, die mir den Atem nahm. Aber einschüchtern lassen? Mich doch nicht, nicht gerade heute, und nicht, nachdem ich 365 Tage null Privatsphäre hatte. Ich hatte es satt, dass ich keine Geheimnisse vor ihm hatte, dass er in mein Leben spaziert war, wann es ihm passte. Und am schlimmsten war, dass er seinen sexuellen Trieb befriedigt hatte – ohne mein Wissen.
Ich ließ die Wäsche in die Tasche fallen und stemmte die Hände in die Hüften.
„Wie oft warst du in meinem Schlafzimmer, verdammt?“
Glückwunsch, Virginia, so ein fester, durchdringender Tonfall! Alle Achtung! Lass dir bloß nichts von diesem Schönling gefallen! Chaka!
Brandon stand auf, schien seinen Atem aus den untersten Tiefen seiner Lungen zu ziehen. Von oben herab brachte er ein Lächeln zustande, das nicht im Mindesten warm war. Es war kalt, kalt wie Eis.
„Warum interessiert dich das so brennend, Prinzessin?“
Gefährlich langsam wie ein Gepard kam er um sein Bett herum, die Augen glühten.
Ich ließ mich nicht aus der Fassung bringen, schluckte, sodass ich glaubte, dass man es im ganzen Raum hören musste und sagte:
„Mich interessiert das so brennend, weil ich mir vorstelle, dass ich, egal, was ich gemacht oder gesagt habe, niemals richtig allein war. Es gab keinerlei Intimität in dem letzten Jahr. Weißt du, wie sich das anfühlt?“
„So aufregend war dein Leben nun auch nicht“, lachte er auf.
Es klang grauenvoll.
„Du bist so widerlich!“, rief ich erzürnt. Gleichzeitig ging ein heftiger Schmerz durch meine Brust. Es tat so weh. Warum tat er mir das an?
„Wenn du meinst“, meinte er schulterzuckend.
Brandon war vor mir stehen geblieben. Wie konnte man nur so abgestumpft sein?
Ich war kurz davor, zu heulen, riss mich aber zusammen. Wer wusste schon, wie oft er mir dabei zugesehen hatte, wie sich zu meinen Liebesschnulzen meine Augen in die Niagarafälle verwandelt hatten. Der Gedanke war so erniedrigend, dass es mir die Brust zuschnürte.
„Wie dem auch sei. Ich hatte nun mal meine Anweisungen…“
Er zuckte mit den Schultern.
„Anweisungen“, fiel ich ihm gereizt ins Wort, „das ist doch totaler Bockmist, was du da erzählst. Es gehörte bestimmt nicht dazu, mir in die Dusche zu folgen oder ins Bett. Wenn ich daran denke…“
Mit einem Aufschrei brach ich ab, taumelte zwei Schritte nach hinten. Oh nein! Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, während mir bewusst wurde, was ich im Schlafzimmer getan hatte…
Gegen meinen Willen hob ich den Kopf, schaute in Brandons Augen, die ein dunkleres Grau angenommen hatten, fast schwarz wirkten. Unergründlich und tief. Ich hatte Halluzinationen, ganz eindeutig! Ein schiefes Grinsen huschte über seine Züge.
„Ich habe…ich habe…“
Mehr bekam ich nicht heraus.
„Oh ja, du hast. Und es hat mich verdammt noch mal angetörnt.“
Siedende Hitze überkam meinen Körper. Ich war unfähig, mich noch länger mit ihm in diesem Zimmer aufzuhalten. Ich senkte schleunigst den Blick, sein bedrohlicher Ausdruck schien mich aufzufressen. Ohne ein weiteres Wort rannte ich ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu.
Langsam setzte ich mich auf den Toilettendeckel. Meine Knie zitterten, die Wangen brannten, mein Herz drohte zu zerspringen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich öffnete mein Gummiband, ließ meine Haare ins Gesicht fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie, während ich versuchte, Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen.
Atmen, Virginia, atmen!
So grotesk die ganze Szene eben auch gewesen war, musste ich mir eines eingestehen. Ich war erregt. Schlicht und einfach erregt. Aufgewühlt, bis in die letzten Spitzen meiner Haare. Er hatte mich dabei beobachtet! Es war so unsagbar peinlich! Und ihm hatte es gefallen, natürlich. Wie konnte ich ihm je wieder unter die Augen treten, ohne daran zu denken? Und ohne, dass er daran dachte? Das schien mir unmöglich, jenseits aller erdenklichen Vorstellungskraft. Unsicher stand ich auf und betrachtete mich in dem fast blinden Spiegel.
Ich sah scheiße aus, anders konnte man es nicht nennen. Dunkle Ringe betonten meine müden Augen, ich war weiß wie eine Kalkwand und meine Haare hatten so viel Volumen wie Sauerkraut.
Es klopfte leise.
„Virginia?“
„Lass mich in Ruhe!“
„Darf ich reinkommen?“
„Ja, komm nur, ich bin gerade nackt.“
Ich hörte ihn hinter der Tür stöhnen.
„Jetzt lass uns doch reden wie zwei vernünftige Leute.“
Schnaubend schloss ich die Augen. Zusammenreißen, Virginia!
Beklommen öffnete ich die Tür, schielte durch den Spalt hinaus, vermied es, ihn anzusehen.
„Es tut mir leid, wirklich. Und du hast recht, es war gemein, sogar richtig fies, es hat mir nicht zugestanden, dich in deiner Privatsphäre so zu verletzen. Ich kann es nicht wieder gut machen, das weiß ich. Aber bitte komm aus dem Bad raus.“
Seine Stimme klang verzweifelt, bedauernd, um Verzeihung bittend. Es war nicht gespielt, schien ihm ernst zu sein. Meine Augen fanden zögernd seine, die keine Spur von Sarkasmus aufwiesen. Er wirkte zerknirscht. Ich trat zaghaft aus dem Bad und spürte, wie sein Blick mir folgte.
„Ich möchte nur duschen und dann schlafen“, sagte ich tonlos, suchte mir das Nachthemd und einen Slip, sowie ein paar Badutensilien aus meiner Tasche, und verschwand wieder im Badezimmer.
Am liebsten wollte ich eine so starke Schlaftablette einwerfen, die mich bis 2050 durchschlafen ließ. In mir keimte der flüchtige Gedanke auf, dass Brandon nur ein Laufbursche war, der mich beschützt hatte, und den ich nach dem morgigen Tag vielleicht nie wieder sehen müsste. Ich meine, wenn man mal logisch darüber nachdachte: Personenschutz mag zwar heikel sein und derjenige musste schon eine gewisse körperliche Kraft aufweisen, aber eine besondere Bildung verlangte dieser Job nicht ab.
Entschuldigung an alle Bodyguards da draußen, die jeden Tag ihr Leben riskieren. Ich meine nicht Euch, ich bin nur wütend auf diesen Kerl hier!
Möglicherweise waren sogar meine Eltern auf dem Weg zu dem besagten Treffpunkt. Natürlich, so musste es sein. Dad hatte gesagt, dass er mir nichts sagen dürfte, und Brandon auch nicht, also gab es jemanden, der es morgen tun würde. Und gewiss waren Mom und Dad auch dort, wo auch immer das war. Ich könnte Brandon fragen, ob ich sie wieder sah, ob sie bei dem Gespräch dabei sein würden. Aber wie ich mich kannte, würde ich es nicht tun. Es war einfach zuviel gewesen, ich wollte nicht mehr mit ihm reden – heute nicht mehr.
Nachdem ich ausgiebig heiß geduscht und gründlich meine Zähne geputzt hatte, kam ich aus dem Bad und traf auf Blood, der vor der Tür gewartet hatte.
„Na, mein Junge“, sagte ich, was ihn veranlasste, mir die Hand zu lecken, mit der ich dann einen Angriff auf seinen Körper startete. Ich krabbelte und massierte ihn, er legte sich ergeben auf die Seite, schaute mich immer zwischendurch an und hob die Pfoten, damit ich ihn überall streicheln konnte.
Brandon hatte den Fernseher angeschaltet, saß im Schneidersitz auf seinem Bett, die Tagesdecke zurückgeschlagen und aß ein Stück Pizza.
Woher kam die denn auf einmal?
Er hatte wohl meinen überraschten Blick bemerkt.
„Ich habe die Pizza über den Manager bestellen lassen. Willst du?“
Er sprach leise, zeigte auf eine Schachtel, die auf meinem Bett lag. Mein Magen schlug Purzelbäume. Und ob ich wollte! Mir lief das Wasser im Mund zusammen, aber das würde ich ihm sicher nicht zeigen.
„Ich probiere mal“, erwiderte ich gleichmütig, zog mein Nachthemd zurecht, ging auf das Bett zu, schlug die Decke zurück und verkrümelte mich unter den flauschigen Stoff.
Ich öffnete den Pizzakarton, Dampf entwich, der köstlich nach Salami, Schinken und Käse roch.
„Champignons und extra Käse“, entschlüpfte es mir und ich verdrehte innerlich die Augen, weil er wusste, wie ich die Pizza mochte.
Dann bestand wirklich kein Zweifel mehr darin, dass er absolut alles über mich wusste.
Brandon sah zu mir herüber.
„Ich war mal bei Joey’s Pizza, während du dort mit deiner Freundin essen warst, dort habe ich gesehen, welche Pizza du dir ausgesucht hast.“
Hatte ich eine Erklärung verlangt? Ich glaubte ihm ohnehin nichts mehr, er musste sich also nicht die geringste Mühe geben. Fall abgeschlossen!
Blood setzte sich schwanzwedelnd vor mich hin, und ohne zu fragen, ob Brandon das recht wäre, zupfte ich ihm ein großzügiges Stück vom Käserand ab, pustete darauf herum und schmiss es ihm hin. Er fing es geschickt mit dem Maul, kaute fünf Sekunden, dann fixierten mich wieder seine Kirschenaugen. Ich lachte und verschluckte mich ein wenig an einem Stück Salami. Wie ein Tier einen aufmuntern konnte, wenn man mit so einem Arsch auf engstem Raum gefangen war, unglaublich!
Schweigend aßen wir auf, nebenbei liefen die Nachrichten. Ich schaffte alles, pickte sogar noch die Krümel aus dem angefetteten Karton auf, Blood hatte auch noch ein paar Stückchen bekommen. Durst überkam mich, und so stand ich auf, ging zum Tisch und nahm den Orangensaft aus der Tüte. Als ich mich trinkend umdrehte, traf ich auf Brandons Augen. Er setzte an, wollte etwas sagen, aber ich schüttelte vorsichtig den Kopf, damit ich den Saft nicht verschüttete und setzte die Flasche ab.
„Bitte, Brandon, heute nicht mehr. Es war ein verrückter Tag und es ist so viel auf mich eingestürzt, dass ich glaube, den Verstand zu verlieren. Kapierst du das eigentlich? Ich möchte meine Ruhe, ich bin müde und erschöpft, wütend, richtig geladen und ich schäme mich. Reicht das nicht für einen Tag?“
Meine Stimme brach. Er erwiderte nichts, nickte leicht. Ich ging zum Bett, legte mich hin und wollte nur noch schlafen.
Wäre es möglich, morgen früh aufzuwachen und alles nur geträumt zu haben? Wollte ich mein altes Leben wieder? Diese Sicherheit, die ich jahrelang mein Eigen genannt hatte? Oder war das nur der Fall gewesen, weil ich beschützt wurde, ohne es zu bemerken?
Die Ereignisse der letzten Stunden kreisten durch meinen Kopf, unaufhaltsam, veranstalteten ein Wirrwarr, unfähig, sich zusammenzufügen. Wer war ich, dass ich sicheres Geleit brauchte? Was hatten meine Eltern damit zu tun? Wohin sollte ich gebracht werden? Wer war hinter mir her?
Im Geflecht dieser immer wieder auftauchenden Fragen, fielen mir, trotzdem ich wach bleiben wollte, träge die Augen zu. Ich merkte noch, wie Brandon den Fernseher ausmachte, das Licht wurde gelöscht, dann war ich auch schon eingeschlafen.
Ich wurde durchgeschüttelt, immer wieder.
„Lass mich“, flüsterte ich rau.
„Steh auf! Virginia!“
Und wieder dieses Rütteln; feste Hände an meinen Armen. Benommen öffnete ich die Augen, als ich unsanft aus dem warmen Bett gezerrt wurde.
„Zieh dich an, sofort!“
Ich erkannte Brandon Stimme.
Der Raum war dunkel, ich konnte absolut nichts sehen. Brandon musste vor mir stehen. Er drückte mir meine Sachen in die Hand.
„Stell keine Fragen, sie sind hier. Zieh dich an, wir müssen weg.“
Er klang wie ein Telegramm. Und dann realisierte ich, was er gesagt hatte. Furcht durchflutete mich, panisch sah ich zu den Fenstern, die ich kaum erkannte.
„Hast du verstanden?“, flüsterte er, dann lief er weg.
Ich sah ihn schemenhaft am Fenster stehen. Er zog die Übergardine leicht zur Seite und blickte hinaus. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Halbdunkel.
„Ja“, sagte ich verängstigt und zog meine Jeans über.
Er kam zurück, legte mir meinen Mantel um. Ich schlüpfte in meine Turnschuhe.
„Das andere kannst du später anziehen. Ich nehme die Reisetasche, kümmere du dich um Blood.“
Was? Ich? Und wenn er nicht auf mich hörte?
„Wo sind die?“, wisperte ich.
„Im Moment noch bei dem Manager, aber sie werden sicher gleich hier sein. Warum dauert das wohl so lange?“
Es klopfte laut. Ich schlug meine Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Brandon setzte langsam die Reisetasche ab. Blood knurrte.
„Geh ins Bad, nimm Blood mit“, raunte er mir zu.
Es klopft wieder, mechanisch, stärker.
„Blood. Wo bist du?“
Ich hatte so unvernehmbar geflüstert, dass ich fürchtete, er hatte mich nicht gehört.
Die kalte Hundeschnauze aber stupste meine Hand an. Ich fasste ihn am Nacken und stolperte ins Bad, zog die Tür hinter uns beiden zu und fing an zu beten.
Schwer atmend drückte ich mein Ohr an die Tür, hörte gedämpfte Stimmen. Redete Brandon mit ihnen? Mir schoss es durch den Kopf, dass es Killer waren. Bezahlte Killer, die mich umbringen wollten. Und was war mit Brandon? Er hatte zwar eine ansehnliche Statur, aber war er so stark, sich gegen sie zur Wehr zu setzen? Er hatte vorhin gesagt, sie sind da. Also mussten es mindestens zwei sein. Ich lauschte wieder, Blood fing leise an zu knurren.
„Ist gut, alles in Ordnung“, versuchte ich ihn mit gedämpfter Stimme zu beschwichtigen.
Plötzlich hörte ich etwas krachen. Es klang, als würde der Schrank oder das Bett zertrümmert werden. Holz knackte, Schreie ertönten, etwas fiel gegen die Tür. Sie hielt stand. Blood fing an laut zu bellen, ich rutschte zur Dusche, weg von dem Tumult. Mein Herz drohte zu detonieren, das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich verschwendete einen Gedanken an Brandon. Ihm durfte einfach nichts zustoßen, nicht nur um Meinetwillen.
Wieder ein Scheppern, ganz kurz, dann Stille. Ich horchte angestrengt zur Tür. Schritte erklungen, ich wappnete mich innerlich. Warum hatte ich kein Messer, irgendetwas, womit ich mich verteidigen konnte?
Die Tür wurde aufgerissen, erschrocken schrie ich auf. Licht schien ins Bad, blendete mich. Dann sah ich ihn, Brandon, wie er mich mit wildem Blick maß.
„Komm, schnell“, forderte er mich auf.
Ich zog mich an der Toilette hoch, torkelte hinter ihm her und rannte in das Chaos, das sich mir darbot. Tatsächlich lag der Schrank in seinen Einzelteilen auf dem Boden. Ein Bett war umgedreht, die Kissen und Decken verstreut. Der Fernseher war nicht mehr an seinem Platz; ich sah ihn nirgendwo. Mein Blick fiel auf das Fenster. Die Scheibe war eingeschlagen, die Gardinen zum Teil abgerissen. Und dieser Geruch, beißend, wie verbranntes Fleisch…
Brandon nahm meine Hand und lief so schnell, dass ich mehrfach beim Mithalten ins Stolpern geriet. Draußen sah ich den vermissten Fernseher, jemand hatte ihn aus dem Fenster geschleudert.
Wir rannten um die Ecke, stiegen in den BMW, Blood hüpfte hinten hinein. Meine Reisetasche war auch schon da. Ich konnte nicht fassen, wie das Zimmer ausgesehen hatte. Was war passiert und wo waren diese Typen? Ich starrte Brandon an, der einen Kratzer im Gesicht hatte, seinem schwarzen Hemd fehlte ein Ärmel. Die Knöchel seiner linken Hand waren blutverschmiert, Hautfetzen hingen daran.
„Wo sind sie hin?“, fragte ich aufgewühlt.
„Weg“, sagte er nur.
Er bugsierte den Wagen rückwärts aus seinem Versteck hinter dem Haus. Der Manager und einige Gäste waren inzwischen aus ihren Apartments gekommen und fassungslos vor der Nummer eins stehen geblieben.
„Ach du scheiße!“, rief der Manager entgeistert und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Brandon hielt neben ihm an.
„Hier“, sagte er nur und warf ihm ein Bündel Scheine hin, trat das Gas durch, und weg waren wir.
Brandon schaute immer wieder in den Rückspiegel und fuhr wie eine gesenkte Sau. Naja, nicht ganz so schlimm, aber der Fahrstil konnte schon als rasant bezeichnet werden.
„Sie sind einfach weg?“, wiederholte ich. „Also hast du sie…besiegt?“
„Sieht wohl so aus“, grinste er.
Er war wieder ganz der alte Brandon. Selbstsicher, von sich überzeugt, stolz auf seinen Sieg. Aber das durfte er sein, hatte er mich doch vor ihnen gerade eben gerettet.
„Wie viele waren es?“
„Nur zwei.“
„Nur zwei?“
„Ich dachte, sie schicken mehr. Viel wichtiger ist die Frage, wie sie uns finden konnten.“
Er warf mir kurz einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.
„Was ist?“, fragte ich.
„Hast du jemanden angerufen?“
Ich schnappte nach Luft.
„Womit denn? Du hast doch mein Handy nicht eingepackt“, sagte ich vorwurfsvoll.
„Scheiße“, fluchte er plötzlich und hielt an.
Brandon zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, entfernte die SIM-Karte, zerknickte diese und warf sie aus dem Fenster. Sofort fuhr er wieder los.
„Du meinst, so haben sie uns geortet?“
„Fällt dir was Besseres ein?“
Sein Lächeln war verschwunden, er wirkte gereizt. Ich verstummte, weil er mir eh nichts erzählen würde, das wusste ich.
Der Blick, mit dem er mich bedachte, war roh, geradezu grimmig. So als wäre ihm eben eingefallen, dass ich Schuld daran war, dass er kein ruhiges Leben hatte.
Ich hatte ihn nie um Hilfe gebeten, verflucht noch mal!
„Wir müssen eine andere Strecke fahren, als die, die ich ausgesucht hatte. Es wird ein paar Stunden länger dauern, aber wir haben keine Wahl.“
Brandon bog auf eine kleine Landstraße ab, dann hielt er den BMW an.
„Warte mal“, stutzte ich, „man hätte doch schon die ganze Zeit dein Handy orten können, das ganze Jahr über, und so hätten sie gewusst, wo ich bin.“
„Nein“, widersprach er mir, „ich hatte bis vor kurzem kein Handy, hatte weit weg von Telefonzellen angerufen, nur kurz, sodass keine Ortung möglich war. Erst gestern habe ich die SIM-Karte gekauft und die Nummer durchgegeben.“
Dann schwieg er kurz, wischte sich das Blut von der Wange.
„Eines kann ich aber sagen. Wer immer meine Nummer herausgegeben hat, sitzt in unseren Reihen. Verstehst du? Diese Handnummer habe ich nur vertrauenswürdigen Personen gegeben…eigentlich…“
Mir wurde die Tragweite seiner Aussage bewusst. In den eigenen Reihen gab es einen miesen Verräter, der den Befehl gegeben hatte, mich zu beseitigen. Doch Brandon hatte es verhindert; offenbar hatten sie nicht geglaubt, dass er dazu fähig war, mich zu verteidigen.
„Können wir überhaupt noch dorthin fahren?“, fragte ich zögernd. „Bin ich dort sicher?“
„Wir müssen, eine andere Wahl haben wir nicht.“
Ich musterte ihn, wie er angespannt das Lenkrad umklammerte. Seine Knöchel traten hervor.
„Du bist verletzt“, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel und streckte meine Hand nach seiner verletzten aus.
Bevor ich sie berühren konnte, legte er sie in seinen Schoss. Seine grauen Augen, eine Spur dunkler als sonst, streiften mich. Ich zog meine Hand zurück. Brandon ließ wieder den Motor an.
Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als wir in der Finsternis weiterfuhren. Weiter, zu einem Ziel, das ich nicht kannte. Langsam gewöhnte ich mich daran, so früh auf den Beinen zu sein.