5. Irreal

„Du hast mit den Typen geredet. Was haben Sie zu dir gesagt?“

Brandon schnaubte verächtlich.

„Sie wollten mit mir verhandeln.“

„Verhandeln?“

Er nickte.

„Und was haben Sie dir geboten?“

Er stockte kurz. Ein gequältes Lächeln erschien auf seinen ebenmäßigen Zügen.

„Etwas, das es nicht wert war.“

Offenbar wollte er nicht darüber sprechen.

Also gut, nächste Frage…

„Wie hast du eigentlich gemerkt, dass sie im Motel nach uns gesucht haben?“

Es war mittlerweile hell, die Sonne schien warm vom Himmel und der Nebel, der sich über die Landschaft gelegt hatte, lichtete sich. Er gab der Natur, durch die wir fuhren, ein märchenhaftes Aussehen.

„Ich konnte sie riechen“, sagte er da zu mir.

Perplex warf ich ihm einen Blick von der Seite zu.

„Du konntest sie riechen? So wie erschnüffeln?“

„Ja.“

Unverhofft kicherte ich los.

„Was ist denn nun schon wieder?“

War der gnädige Herr etwa genervt? Schließlich wollte man mich sechs Fuß tief unter der Erde sehen, nicht ihn.

„Du könntest mit der Gabe als Trüffelschwein arbeiten.“

Ich hielt mir den Bauch vor lachen, krümmte mich so, dass ich mich kaum auf dem Sitz halten konnte.

Wie albern war ich eigentlich? Egal, es machte mir einfach schiere Freude, ihn aus der Reserve zu locken.

„Du hast wirklich nicht alle beisammen“, sagte er kopfschüttelnd, doch ich sah seine Mundwinkel zucken. „Ein schier unermesslicher Fantasiereichtum, Prinzessin, den Sie da haben.“

„Nenn mich nicht immer Prinzessin.“

„Dann nenn du mich nicht Trüffelschwein.“

Wir sahen uns an und lachten beide los, so unbefangen und herzlich, dass mir schlagartig warm wurde. Blood fiepste auf seiner Decke hinter uns auf, als wollte er mit einbezogen werden und hatte Angst, etwas verpasst zu haben. Ich beugte mich nach hinten und streichelte seinen Kopf.

So wie das Lachen gekommen war, war es auch schon wieder Vergangenheit. Ich wurde ernst.

„Danke, dass du das alles für mich getan hast“, sagte ich in die Stille, die entstanden war.

„Ist mein Job.“

Brandon hatte sich inzwischen ein anderes Hemd angezogen, von einem seidigen Silbergrau, es passte zu seiner Augenfarbe. Ich trug auch wieder meine normalen Klamotten, das Nachthemd lag hinten in der Reisetasche verstaut.

„In ungefähr vier Stunden sind wir am Ziel, und ich hoffe, keine bösen Überraschungen mehr zu erleben.“

Er stieß vernehmlich den Atem aus.

Ja, das hoffte ich auch.

Die restliche Fahrt über driftete ich in Überlegungen ab, die ich schon hundert Mal durchgekaut hatte. Zwischendurch nickte ich immer wieder ein, hörte Brandon einmal aussteigen, als er Blood sein Geschäft verrichten ließ. Meine Furcht vor dem, was auf mich zukam, verstärkte sich mit jedem Meter, den wir näher an unser Ziel kamen. Ich machte es allen zum Vorwurf, Brandon, meinen Eltern, dass ich so eine übermächtige Beklemmung in meiner Brust fühlte, die sich eiskalt mein Herz gekrallt hatte, sodass ich nur noch unregelmäßig atmen konnte. Das bildete ich mir sicher nur ein, denn rot angelaufen war ich noch nicht und bewusstlos lag ich auch noch nicht auf dem Sitz. Wenn sie alle mehr erzählt hätten, wäre ich vermutlich innerlich viel ruhiger. Aber stimmte das wirklich? Es könnte eine so schwerwiegende Geschichte sein, dass ich eventuell gar nicht mitgekommen wäre, und Brandon mich hätte fesseln müssen, damit ich es tat. Vielleicht war es besser gewesen, dass ich so gut wie nichts ahnte.

Nach ein paar Meilen erblickte ich die ersten Hochhäuser, die majestätisch und kerzengerade in den blauen Himmel ragten. Graue Stahlkonstruktionen, verteilt über mindestens dreißig Etagen. Hinter diesen Klötzern ragten noch höhere Wolkenkratzer auf, die Symbole für Macht und Geld – kalte Gebilde, Statussymbole für Einfluss und Kontrolle. Dazwischen kleinere Bauwerke, Cafès, Geschäfte, Parks und Kirchen. Wir waren da, am Ziel, gar keine Frage. Brandon reihte sich in den Verkehr ein.

„Wir sind da“, sagte er leise. „Ist alles okay bei dir?“

Ich fühlte, wie mein Magen rebellierte, meine Brust fühlte sich beengt an. Ich atmete tief durch. Mein Unbehagen war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass ich nun endlich Gewissheit haben würde, was hier gespielt wurde. Nein, ganz im Gegenteil: Das war der Ort, an dem ich etwas Eingreifendes, etwas Qualvolles erlebt hatte, was ich jeden Tag und jede beschissene Nacht wiederholt verdrängte.

„Was machen wir hier? Wieso hier?“, fragte ich mit hämmerndem Herzen, schloss die Augen und legte den Kopf zurück.

Ich spürte seinen besorgten Blick auf mir.

„Tief durchatmen, Virginia. Du kannst dich gleich ausruhen.“

Ich öffnete die Augen, schlang die Arme um mich und versuchte, das Gefühl der Kraftlosigkeit zu besiegen. Mein Leben war mir aus der Hand genommen worden, jemand anders zog die Strippen. Ich war eine Marionette, die an zerrissenen Fäden hing. Einerseits spielte man mit mir, auf der anderen Seite versuchte ich, mich zu bewegen. Doch ich kam immer weniger dagegen an, wurde herumgeschleudert, sprach nicht mehr mit meiner eigenen Stimme. Das taten von nun an die anderen.

Blood stupste meine Schläfe mit der Nase an; sie fühlte sich feucht und wie Leder an. Ich lehnte dankbar meinen Kopf gegen den seinen.

Am liebsten hätte ich im Stau die Autotür aufgedrückt und wäre weggelaufen. Doch wohin? Alle Antworten, die ich brauchte, lagen auf einem Silbertablett vor mir. Ich würde sicher in meinen nahenden Tod laufen – bei dem Glück, das ich hatte. Auch wenn es offenbar Verräter in den eigenen Reihen gab, die mir Killer auf den Hals gehetzt hatten; dies war der einzige Ort, an den ich im Moment hingehen konnte. Ich hatte keine Wahl, hatte ich niemals gehabt. Und das Schlimme daran war, dass ich es so oft gespürt hatte. Damals, als ich 18 gewesen war und diese Sache geschah, und meine Eltern mir die Buchhandlung in diesem Kaff kauften, hätte mir schon dämmern müssen, dass etwas faul war. Doch ich war eine junge Frau, ein Mädchen auf der Stufe zum Erwachsenwerden. Ich wollte einfach nur alles vergessen. All den Schmerz, den dieses Ereignis in mir ausgelöst hatte, all die Alpträume, die mit der Zeit immer weniger wurden, weil ich mich in meinem Vakuum immer sicherer gefühlt hatte, Tag für Tag.

Und nun war ich hier, nach geschlagenen zwei Jahren, und es war, als wäre es erst gestern passiert.

Wir fuhren unter und über Brücken, die gebaut worden waren, um wenigstens ein bisschen den Verkehr zu regeln und größere Staus zu vermeiden. Vorbei an Menschen, die einkaufen gingen, lachten, sich unterhielten, ein normales Leben führten. Ich beneidete sie in diesem Augenblick und wünschte, ich wäre wieder zu Hause, um in der Buchhandlung zu stehen oder mit Mary einen Latte zu trinken. Mary. Sie fehlte mir so sehr. Ihr Lachen, ihre Witze, die Aufmunterungen, einfach alles, was sie so liebenswert machte. Würde ich sie bald wiedersehen, oder womöglich gar nicht mehr? Ich schluckte hart.

Brandon hielt vor der Einfahrt zu einem hohen Bürogebäude, vor dem zwei Wachleute standen. Er holte einen Ausweis, wie ich vermutete, aus seinem Ledermantel und zeigte ihn einem der Männer. Die beiden sahen Furcht einflößend aus: Fast zwei Meter groß, trugen schwarze Uniformen, unter den sich ihre Muskeln abzeichneten, dazu dunkle Stiefel mit Stahlkappen und eine Baseballkappe, die sie tief ins Gesicht gezogen trugen. Sie besaßen hübsche Gesichter und jeder von ihnen trug seine Haare als Zopf gebunden, der unter der Mütze herauslugte.

Der Typ nahm mich in Augenschein, nickte Brandon zu, dann öffnete sich das schwere, schmiedeeiserne Tor, sodass wir passieren konnten.

Vorbei an den Parkdecks, die sich über eine breite Ebene zogen, auf denen Unmengen verschiedener Autos geparkt waren, lenkte Brandon den BMW fast bis zum Ende dieses Geschosses. Ich sah Rampen, die nach unten und oben führten, also gab es mehrere Stockwerke, auf denen man parken konnte. Wir stiegen aus, Brandon cool wie immer, ich mit zitternden Knien. Er nahm meine Tasche und ich Bloods Decke, der mir einen schnellen Blick zuwarf, der heißen sollte: Wo meine Decke hingeht, gehe ich auch hin.

Steinsäulen hielten den massiven Bau, die Wände wirkten, als wären sie aus Beton. Brandon ging zu einem Fahrstuhl, gab eine Kombination ein und ließ mich mit Blood zuerst einsteigen. Zu meiner Überraschung fuhren wir hinunter anstatt hinauf. Im Aufzug sah mich mein angespanntes und zugleich abgekämpftes Ich an. Wie gemein das doch war, Spiegel in Fahrstühlen anzubringen. Wenn man ein Date hatte, konnte das äußerst nützlich sein, aber nicht wenn man eine Reise zum Schafott gebucht hatte.

Es ging drei Etagen nach unten, dann ertönte ein Bling und die Tür öffnete sich. Vor uns lag ein langer Gang, der von Neonröhren stark beleuchtet wurde. Er war so breit, dass ein Panzer hindurch fahren hätte können. Stahlplatten waren in die Wände und die Decke eingelassen. Keine Tür zweigte an den Seiten ab, jedoch in der Ferne konnte ich eine ausmachen, die parallel zum Fahrstuhl lag. Brandon passte sich meinem Schritt an, nickte mir aufmunternd zu, während mein Mund trocken wurde und ich mir ausmalte, dass gleich der Teufel persönlich hinter der Tür auf uns lauerte. Blood lief schwanzwedelnd vor uns her und sah sich immer wieder um.

„Du musst keine Angst haben, Virginia“, versuchte mich Brandon zu beruhigen.

Ich räusperte mich, unfähig, etwas von mir zu geben.

Ich hätte am liebsten seine Hand genommen und sie fest mit meiner umschlossen. Es kam mir so vor, als wollte er einmal nach ihr greifen, überlegte es sich dann aber anders. Wir kamen an der Tür an, Brandon gab wieder einen Code ein, dann schwang sie auf und ich trat zögerlich hindurch. Ein weiterer Fahrstuhl, dessen Tür geöffnet war, lag dahinter. Wir stiegen ein, Brandon drückte den Knopf für das zwanzigste Stockwerk. Ich war durcheinander.

„Wir sind in einem anderen Gebäude und fahren in die Hauptzentrale“, klärte er mich wenigstens ein bisschen auf, damit ich nicht ganz so dumm sterben musste.

Hauptzentrale? Klang wie FBI, CIA oder sogar KGB…mir wurde übel.

Ich schaute auf die Anzeige…14…15

Jäh überkam mich Panik, ich trat zurück in eine Ecke des Lifts, hielt mich an der Wand fest, rutschte nach unten, Bloods Decke entglitt mir. Brandon warf die Tasche auf den Boden, stoppte den Fahrstuhl und kniete sich rasch zu mir herunter. Mir war, als würde eine Hand mein Herz zusammendrücken, ich bekam keine Luft.

„Atme, Virginia.“

Brandons leise Stimme drang durch den Nebel, der sich in und um mich gebildet hatte. Er klang besorgt, in seiner Stimme schwang Furcht mit.

Behutsam nahm er mein Gesicht in seine Hände, streichelte mit den Daumen meine kalten Wangen, zwang mich, ihn anzusehen. Fast unmerklich richtete ich meinen Blick auf sein Gesicht, das einen zärtlichen Ausdruck angenommen hatte. Seine Augen lächelten auf mich herab. Mein Atem kam stoßweise, Sauerstoff wurde wieder in meine Lungen gepumpt.

„So ist es gut“, lobte er mich.

Blood stand an der Seite und beobachtete das Schauspiel, schnüffelte aufgeregt an seiner Decke herum.

„Was ist da los?“, ertönte eine blecherne Stimme über uns.

Ich erschrak.

„Nichts, es geht ihr gut. Einen Moment noch“, sagte Brandon mit einer Spur Schärfe in der Stimme und sah mich weiterhin an.

Ich spürte, wie mein Kreislauf sich normalisierte, wie ich wieder zu mir kam.

„Es wird dir nichts passieren, ich passe auf dich auf. Das verspreche ich dir.“

Brandons Blick war so eindringlich, dass ich schwer schlucken musste.

„Danke“, brachte ich mühsam heraus, es klang wie eine völlig Fremde, die da sprach, doch das war ich. Ich wandte meine Augen von ihm ab, zog mich an der Wand hoch und versuchte zu stehen, was auch zu meiner Verblüffung ganz gut klappte.

„Schaffst du es?“

„Ich komme klar.“

Brandon nahm Bloods Decke an sich, schwang meine Tasche über die Schulter und drückte wieder auf den Knopf, der uns hinaufkatapultierte.

Nun hatte ich auch noch eine Panikattacke bekommen, wunderbar! Was folgte als Nächstes? Ein Blutsturz?

Mir verschlug es den Atem – wieder einmal – als wir auf dem besagten Stockwerk ankamen. Ich glaubte, in einen Antiquitätenladen geraten zu sein. Vor uns erstreckte sich ein langer Flur, der mit einem flauschigen Teppich ausgelegt war, der ein warmes Rotbraun ausstrahlte. Neben den Türen standen Kommoden mit gedrechselten Beinen, mahagonifarben, geschmückt mit üppigen Blumensträußen. An den schwarz getäfelten Wänden erblickte ich Gemälde, die schöne Frauen und Männer zeigten; die Frauen in weiten, seidigen Abendkleidern, die Männer in Kniehosen und Herrenröcken. Die Bilder mussten Szenen aus dem 18. Jahrhundert festhalten, jedenfalls schätzte ich das. Spitzenverzierungen an den Herrenhemden und die Reifröcke der Damen ließen darauf schließen. Mit dieser Mode kannte ich mich durch meine Vorliebe zu den Romanen, die in dieser Zeit spielten, bestens aus. In der Mitte des Ganges hang ein schwerer Lüster von der Decke, der champagnerfarben war.

Brandon pfiff einmal kurz. Ich dachte, dass er nach Blood gerufen hatte, doch der war schon bei ihm. Er meinte tatsächlich mich.

Raffte er’s noch? Sah ich aus wie ein Hund?

Ich ging zu ihm, warf ihm einen missbilligenden Blick zu, den er grinsend erwiderte. Und da beschlich mich wieder dieses ungute Gefühl. Auch wenn ich noch so tough tat, ich hatte eine Scheißangst, was als Nächstes kommen würde.

Das letzte Zimmer auf der rechten Seite öffnete sich auf Brandons Klopfen hin. Er hatte unsere Sachen abgestellt und Blood saß abwartend hinter ihm.

An der Tür erschien ein alter Mann in einer Livree. Die Uniform war in einem zarten Dunkelblau gehalten und die kurze Weste saß so akkurat wie sein weißes Haar, das nach hinten gekämmt war. Seine zusammengekniffenen Augen huschten von Brandon zu mir, dann lächelte er breit.

„Kommen Sie herein, man erwartet Sie bereits.“

Er trat zur Seite, sodass ich Brandon in den Raum folgen konnte. Meine Füße führten mich hinein, nicht mein Verstand. Ich lief wie ein Roboter, versuchte meine Scheu zu verstecken. Blood lief uns nach, blieb an der Tür sitzen. Hatte er etwa auch solch große Angst so wie ich? Das war kein gutes Zeichen, denn Tiere kannten sich besser damit aus, wem man vertrauen konnte und wem nicht. Das fing ja gut an.

Der Diener schloss leise die Tür. Der großzügige Raum überwältigte mich genauso wie ich gedacht hatte. Schon der Flur ließ darauf vermuten, dass hier niemand seines Amtes waltete, der arm zu nennen war.

Eine geschnitzte Vitrine, ein klobiges Regal, das mit Unmengen an alten Schriftrollen und Büchern voll gestopft war, ein breiter Schreibtisch, der vor dem bodentiefen Fenster stand, eine Standuhr, mehrere schwarze Ledersessel, die vor dem prasselnden Kamin aufgereiht waren, ein schwerer grauer Teppich, ein Tisch mit alkoholischen Getränken, Zigarrenkisten und Kerzen. Das alles nahm ich in mich auf, nebst den schönen weinroten Vorhängen, die fließend auf den Boden vor dem Fenster fielen, das verspiegelt war, damit niemand hinein, die Bewohner aber hinaus sehen konnten.

Alle Möbel waren mahagonibraun, sehr gut erhalten und strahlten eine Eleganz aus, die mich sprachlos machte. Meine Aufmerksamkeit wurde auf eine Gestalt gelenkt, die aus dem Fenster blickte und mit dem Rücken zu uns stand. Es war ein Mann, in einen schwarzen Anzug gekleidet, seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Gemächlich drehte er sich um, und ich blickte in ein verhärmtes Gesicht, das eine Geiernase zierte. Seine Augen waren von einem so intensiven kalten Hellblau, dass es mir eisig den Rücken hinunterlief. Die Haut schien wie Pergament, seine knöchrigen Finger zierten lange Fingernägel. Ich schaute wieder in seine Augen, die mich immer noch fixierten.

„Herr“, verbeugte sich Brandon, „ich habe sie wohlbehalten hierher gebracht.“

Oh Gott, waren wir in den Jahrhunderten zurückgereist? Herr?

Der Typ am Fenster jagte mir eine Heidenangst ein.

„Ich bin äußerst zufrieden, Cross, dass Sie das hinbekommen haben. Gab es Zwischenfälle?“, schnarrte die Stimme des anderen.

Konnte es sein, dass einem noch mehr Gänsehaut wuchs? Sogar meine Nasenhaare stellten sich bei der Klangfarbe seiner Stimme auf.

„Ja, Herr. Wir wurden in einem Motel überfallen. Ich glaube, man hat uns verraten.“

„Wie ich sehe, haben Sie die Kleine gut verteidigt.“

„Ich habe mein Bestes getan. Ich verstehe nur nicht, wie man uns finden konnte.“

Wachsam sah Brandon ihn an, der seinen Blick gleichmütig erwiderte.

„Eine unschöne Sache, der der Rat nachgehen muss.“

Dann kam er auf mich zu, Brandon machte im Hintergrund irgendwelche Zeichen. Was wollte er von mir? Was? Oh!

Ich bekam ebenfalls eine Verbeugung hin, die ein bisschen aussah, als hätte ich Rückenschmerzen. Der Mann blieb vor mir stehen, lachte laut auf, aber es klang freudlos. Bei näherer Betrachtung konnte ich seine Falten sehen, die sich an der Stirn und neben den Wangen eingegraben hatten. Er war so dünn, dass ihn ein bloßer Windstoss umpusten musste.

„Ich bin Darius. Es ist mir eine Freude, dich endlich kennenzulernen.“

Enthusiastischer ging es kaum. Warum glaubte ich ihm das nicht? Er nahm mich tatsächlich in die Arme und küsste mich auf beide Wangen. Brrrrr!

„Gleichfalls“, sagte ich lahm.

Er roch nach Zigarrenqualm und Pfefferminze.

Blood knurrte neben mir. Ja, gib’s ihm, Junge!

„Cross, nehmen Sie ihren Köter zur Seite, Sie wissen genau, dass er hier nichts zu suchen hat.“

„Blood, komm her!“

Sofort saß der Rottweiler neben seinem Herrchen.

„Sie können jetzt gehen, Cross. Der Rat wird gleich zusammenkommen.“

„Herr, kann sie sich nicht erst einmal ausruhen?“, fragte Brandon Darius.

Darius. Der Name kam mir wie aus einer anderen Epoche vor, er hatte etwas Ehrwürdiges, Altertümliches. Doch dieser Mann verströmte bei Weitem nicht diese Eleganz.

„Wenn sie das möchte…“, wandte sich Darius an mich.

Ich straffte die Schultern.

„Nein, danke. Es ist okay. Ich möchte nicht mehr länger warten“, sagte ich mit fester Stimme.

„Dann sei es so, mein Kind. Möchtest du etwas trinken oder essen?“

„Nein, vielen Dank.“

Ich würde sowieso nichts hinunter bekommen.

„Nun gut, Cross, Sie dürfen sich entfernen.“

„Ja, Herr.“

Panisch sah ich zu Brandon, fand seine Augen, doch er schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Blood folgte ihm.

„Er bleibt hier, Virginia“, sagte Darius zu mir, als er meinen Blick bemerkte, „aber nun sind andere Dinge viel wichtiger. Ach, und Cross. Da gibt es zwei Sachen, über die wir mit Ihnen reden müssen. Die eine sind die Anrufe und die andere wird diesmal nicht so glimpflich abgehandelt werden. Darüber sprechen wir noch.“

Woher wusste er von den Anrufen? Und welche andere Sache? Meinte er etwa, dass er mich heimlich beobachtet hatte? Oh Gott!

Brandon schaute auf den Boden.

„Ja, Herr“, sagte er ohne jede Emotion, dann zog er die Tür behutsam hinter sich ins Schloss.

„Du vertraust ihm.“

Ich sah Darius an.

„Er hat mir das Leben gerettet“, erwiderte ich leise.

„Nun, das rechtfertigt noch lange keine Vertrauensbasis“, meinte Darius und kratzte sich am Kinn.

Ach so? Ich hatte immer geglaubt, dass man jemanden mochte, wenn man ihm den Arsch rettete.

„Bitte setz dich auf diesen Sessel.“

Er zeigte auf einen, der freistehend vor vier anderen stand. Was war das hier? Das Tribunal?

Ich tat, wie mir geheißen, derweil sich Darius eine goldene Flüssigkeit aus einem Kelch in ein Glas goss und sich dann umdrehte.

„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Es muss alles sehr verwirrend sein, regelrecht unwirklich, was du in den letzten Tagen erlebt hast.“

Er setzte sich auf den Sessel rechts von mir, schlug die Beine übereinander.

„Das ist die Untertreibung des Jahres.“

Darius maß mich mit einem undefinierbaren Blick.

„Du wirst gleich Dinge erfahren, die dein gesamtes Weltbild durcheinander bringen. Danach wird nichts mehr so sein wie vorher, das kannst du mir glauben.“

Er machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen. Sie hallten in mir, verstärkten sich, ein Echo entstand, das im Zimmer auf- und abschwang.

„Wir haben Cross die Anweisung gegeben, dir nichts zu sagen, denn das darf nur der Rat. Verstehst du?“

Ich nickte benommen, aber ich hätte vermutlich auch genickt, wenn er mir mein Todesurteil zur Unterschrift gegeben hätte.

„Was ist der Rat?“, fragte ich.

„Wir sind das oberste Gremium unserer Gattung. Das Organ, das alle Entscheidungen trifft, Befehle gibt, Strafen verhängt, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir entscheiden über alles.“

Das musste ich erst einmal sacken lassen. Gattung war ein Begriff, der mich wissen ließ, dass ich es höchstwahrscheinlich nicht mit normalen Menschen zu tun hatte.

Dass Brandon sich dematerialisieren konnte, wenn auch nur auf kurzen Ebenen und er sich in Rauch aufzulösen vermochte, hatte zwar schon dafür gesprochen, aber wahrhaben wollte ich es trotzdem nicht.

Hier saß ich nun, in einem Wolkenkratzer aus Stahl, der fast den Himmel berührte, mir gegenüber ein Wesen, das kein Homosapien war und sinnierte über meine Zukunft, die vor zwei Tagen noch aus Bücher verkaufen, Musik hören, mit Mary tanzen gehen und romantischen Filmen bestanden hatte. Und nun war alles meilenweit fort. Doch wer sagte, dass ich nicht wieder in dieses Leben zurückkehren konnte? Wenn alles geklärt war, könnte das doch durchaus sein.

Die Tür schwang auf und nacheinander traten drei Männer in den Raum. Der erste schien noch älter als Darius zu sein, hatte graumelierte Haare und einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Ich mochte ihn sofort. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, der seine imposante Statur betonte und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Seine Augen lachten. Dahinter traten zwei jüngere Männer herein. Der eine war sehr modisch und adrett gekleidet. Ich hatte noch nie ein so prächtiges Sakko mit dazu passender Hose gesehen: Es war in einem zarten Fliederton gehalten, schimmerte wie Samt und eine violette Schleife zierte seinen Hals, darunter lugte ein helles Hemd hervor. Seine blonden Locken fielen ihm sanft auf die Schultern und sein Gesicht war von solcher Anmut, dass ich sofort an die Elben aus Herr der Ringe denken musste. Der andere junge Mann musterte mich aufmerksam beim Eintreten. Er war von der Sorte netter Kumpeltyp, sah durchschnittlich aus, hatte braune Augen und dunkelbraune kurze Haare. Er trug Jeans und Shirt, salopper ging es nicht. Obwohl es teure Klamotten waren, das bemerkte sogar ich.

„Ah, da seid ihr ja, dann kann es losgehen“, rief Darius und erhob sich.

Der Elbenverschnitt kam als Erster auf mich zu. Mittlerweile war ich aufgestanden, verbeugte mich schief und wollte ihm die Hand geben. Er nahm sie in seine manikürte, hob sie an die Lippen und streifte leicht meine Knöchel.

Enchanté! Sehr erfreut, dich kennenzulernen“, raunte er. „Ich bin Pierre.“

Verwirrt starrte ich zu ihm hinauf, als ich den französischen Akzent bemerkte.

„Hallo.“

Dann trat er grinsend zur Seite, sodass der ältere Mann zum Zuge kam.

„Du konntest es nicht erwarten, wie?“, lachte dieser Pierre an. „Ich bin ein bisschen älter als du und hätte es verdient gehabt, sie als Erster zu begrüßen.“

„Meine Liebe“, wandte er sich an mich, küsste mich herzlich auf beide Wangen – bei ihm machte es mir komischerweise nicht das Geringste aus – und drückte meine Hände.

Ich verstand nicht, warum alle so froh waren, mich zu sehen. Ich kannte niemanden hier und war innerlich so aufgeregt, dass ich dachte, ich müsste platzen.

„Ich bin Rafael“, sagte er und legte den Kopf schief. „Ja, du hast eine Menge von deinem Vater.“

Darius räusperte sich vernehmlich vom Kamin, von wo aus er die ganze Szene beobachtete.

Mir hatte noch niemand gesagt, dass ich wie Dad aussah; er hatte braune Augen und ganz andere Gesichtszüge. Eher hatte man mir bescheinigt, dass ich Mom sehr ähnlich sah.

Rafael sah Darius kurz an, dann drückte er noch mal meine Hände und ging sich einen Drink einschenken.

Der dritte im Bunde, der sich als Sebastian vorstellte, schüttelte mir kurz die Hand, strahlte mich an und setzte sich dann auf einen der Ledersessel.

„Bitte nimm Platz, Virginia“, forderte mich Rafael auf.

Er hatte eine schmeichelnde Stimme, die es sogar fertig brachte, dass ich innerlich ruhiger wurde. Ich setzte mich, während die Männer sich noch weitere Drinks einschenkten, bis auf Sebastian, der lässig auf dem Sessel saß.

Rafael reichte mir ein Glas Saft, dass ich an mich nahm, obwohl ich gar keinen Durst verspürte, aber es abzulehnen, erschien mir blöd. Ich nippte ganz kurz daran, dann stellte ich es auf einen kleinen Tisch in der Nähe.

Rafael räusperte sich, leerte in einem Zug sein Glas, stellte es weg und sah mich freundlich an.

Mein Herz fing an zu rasen, ich krallte meine Hände in die Schenkel und wartete.

„Ich kann mir denken, wie du dich fühlst, mein Kind“, begann er behutsam. „Seit einiger Zeit ist nichts mehr so wie es vorher war, und es muss sehr aufwühlend sein, hier zu sitzen und nicht zu wissen, was in deinem eigenen Leben vor sich geht.“

Ich nickte und war gleichzeitig überrascht, dass Rafael das Wort an mich richtete. Ich hatte geglaubt, dass Darius der Sprecher des Rates war, so einschüchternd wie er wirkte. Es konnte aber auch sein, dass dieses Recht von den Lebensjahren abhängig war – und ich musste zugeben, dass Rafael deutlich älter aussah, wenngleich er ein viel schönerer Mann war. In seinen Zügen lag Wärme und keinerlei Boshaftigkeit.

„Was du nun erfährst, wird wie ein Schlag ins Gesicht sein. Du wirst uns höchstwahrscheinlich zuerst nicht glauben, aber sei versichert, dass alles, was wir dir berichten, die Wahrheit sein wird. Für den Anfang werden wir dir noch nicht alles erörtern können und auch wollen, sonst sitzt der Schock zu stark.“

Wie aufmunternd war das denn? Ich spürte, wie sich eine neue Panikattacke den Weg hinauf in meinen Körper bahnte. Meine Füße kribbelten, die Hände waren schweißnass, und dabei hatte ich noch gar nicht gehört, worum es überhaupt ging.

Durchhalten, Virginia! Du bist deinem Ziel so nah. Wie schlimm kann es schon werden?

„Ist alles in Ordnung? Brauchst du Zeit?“

Rafael sah mich besorgt an.

„Ich muss das schaffen, bitte sprechen Sie weiter.“

„Du musst nicht Sie sagen, Virginia“, warf Darius ein. „Wir kennen dich schon lange und du sollst Vertrauen zu uns haben.“

„Vertrauen? Ich kenne Sie doch überhaupt nicht“, entschlüpfte es mir.

Und wieso kannten sie mich schon so lange?

„Da hat sie recht“, lächelte Rafael. „Aber halten wir uns nicht bei diesen Kleinigkeiten auf. Wir sind heute zusammengekommen, um endlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen, und das sollte uns auch gelingen.“

Mein Leben war licht genug, ich hatte eher Angst, dass es ab diesem Zeitpunkt finsterer werden würde – finsterer in mir, in meinem Leben.

Ich sagte nichts, harrte der Dinge, die kamen.

„Wo fange ich am besten an? So oft hatte ich mir diese Rede zurecht gelegt, aber wenn dann solch ein Zeitpunkt endlich gekommen ist, ist immer alles anders.“

Er räusperte sich.

„Dein Leben ist in den letzten Jahren unspektakulär verlaufen, dennoch glaube ich, weil ich dich für ein kluges Mädchen halte, dass du bemerkt haben wirst, dass es nicht immer so normal war wie du dachtest.“

Die vier Männer blickten mich gespannt an.

Er hatte recht, es gab Situationen, die mir immer wieder in den Sinn gekommen waren, die ich aber als Einbildungen abgetan hatte.

Meine Mutter, die damals so verwirrt erschien, als ich sie besuchte, mein Vater, der sehr oft am Telefon gestockt hatte, mir immer wieder einbläute, dass ich aufpassen sollte, und dann der grausame Vorfall, als ich 18 war, in dieser Stadt, in die ich ohne meines Wissens zurückgekehrt war. Und die ich niemals wieder hatte betreten wollen.

„Ja“, stimmte ich leise zu.

„Was ich dir jetzt sage, wird schwer begreifbar sein, mein Kind. Du darfst alles tun, was du willst, aber um eines bitte ich dich: Vertraue mir, auch wenn du mich nicht kennst, denn ich werde dich nicht belügen.“

Ich schluckte schwer.

„Samuel und Claire sind nicht deine richtigen Eltern. Du wurdest von ihnen mit ungefähr einem Jahr adoptiert.“

Egal, was er noch sagen würde, ich hörte es nicht mehr. Mein Gehirn verschloss sich, es war nicht mehr aufnahmefähig. Mein Verstand verlangsamte sich, bis ich fühlte, dass er ausgesetzt hatte. Ich blickte Rafael fest in die Augen.

„Was sagen Sie da?“

Vor mir stieg dieser gleißende Nebel auf, der mich schon im Fahrstuhl eingehüllt hatte. Ich fühlte, wie er versuchte, in meinen Mund zu schleichen, um mir die Luft abzusaugen. Mein Kopf schnellte vor, ich beugte ihn zwischen meine Beine, versuchte das Taubheitsgefühl loszuwerden, aber es ging nicht. Die Attacke hatte mich fest im Griff, ich konnte nicht weglaufen. Plötzlich war Rafaels Gesicht vor mir, als ich wieder den Kopf hob. Alles drehte sich. Er sagte etwas, dass ich nicht verstand, nur undurchdringliche Laute erreichten meine Ohren, die weiter in mein Gehirn drangen. Was hatte er eben gesagt? Das Schlimme war, dass ich Rafael glaubte. Es musste so sein, er würde mich nicht belügen. Oder doch?

Allmählich kehrte ich wieder in meinen Körper zurück, der Nebel war dabei, sich zu lichten, das Blut pumpte fast normal durch meine Venen, das Atmen fiel mir leichter.

„So ist es gut“, hörte ich Rafaels Stimme, die den Rauch durchdrungen hatte.

„Sollen wir es lieber gut sein lassen für heute?“, fragte er dann mit einem Blick in die Runde.

„Nein…bitte…“, flehte ich ihn krächzend an. „Mir geht es besser. Ich möchte alles wissen.“

Rafael streichelte mit seiner kühlen Hand über meine brennende Wange.

„Bist du dir sicher?“

„Ja, bitte“, drängte ich ihn.

„Das könnte etwas viel werden“, bemerkte Pierre und zog sich seine Schleife in Form. „Ob sie das alles verkraftet, ich weiß nicht.“

„Ich verkrafte es“, sagte ich bestimmt.

Alle Augen richteten sich auf mich. Rafael drückte meine Hand, dann ging er zu seinem Sessel und schob ihn zu mir hinüber, bis er neben mir stand. Er nahm wieder meine Hand und ich war ihm unendlich dankbar, dass er das für mich tat.

„Deine richtigen Eltern sind gestorben, als du ein Baby warst. Deine Eltern haben wir ausgesucht, da uns schon seit Generationen ein sehr enges Band verknüpft hat.“

„Wer waren meine Eltern? Wie hießen sie?“

„Deine Mutter hieß Lana und dein Vater John. Sie beide liebten sich sehr und als du geboren wurdest, warst du ihr großes Glück.“

„Wie sind sie gestorben?“

Ich gab mir große Mühe, dass meine Stimme nicht zitterte.

„Es war ein Unglück.“

Rafael schaute zum Fenster, so als würde er vermeiden wollen, mich anzusehen.

„Was ist geschehen?“

„Es wäre mir lieber, wenn ich nicht darüber sprechen müsste“, sagte Rafael leise. Er fand meine Augen, unglaublicher Schmerz stand in seinen.

„Sie fielen einem Gewaltverbrechen zum Opfer.“

Ich spürte, wie heiße Tränen meine Augen füllten, alles verschwamm vor mir. Ich ließ den Kopf sinken und fing an zu weinen.

Merde, die Kleine bricht noch zusammen“, rief Pierre von seinem Sessel aus.

Er kam zu mir, hob ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit an meine Lippen.

„Trink.“

Ich nahm einen großzügigen Schluck, der meinen Magen, einmal dort angekommen, zum Brennen brachte. Mir wurde wärmer, die Tränen legten sich. Rafael reichte mir ein Taschentuch, mit dem ich mir sehr undamenhaft die Nase putzte.

„Danke“, sagte ich.

Pierre war wieder auf seinen Sessel zurückgekehrt, Darius musterte mich neugierig und Sebastian lächelte mir zu.

Mit diesen Nachrichten hätte ich nie und nimmer gerechnet. Ich wusste nicht, was ich gedacht hatte, was mich erwartete. Aber nicht so etwas Gravierendes.

„Du kannst morgen mit Claire und Samuel sprechen“, informierte mich Rafael. „Sie sind zwar nicht deine leiblichen Eltern, dennoch werden sie immer für dich deine richtigen Eltern bleiben. Dessen bin ich mir sicher.“

„Ja“, wisperte ich, „ich liebe sie über alles.“

„Und sie dich. Sie haben aus dir eine bezaubernde junge Frau geformt, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Dafür sind wir ihnen dankbar.“

„Wie meinen Sie das?“

Ich sah Rafael an.

„Das wirst du später erfahren. Ich denke, dass diese Entwicklung erst einmal genug für dich ist. Du musst dich ausruhen.“

„Aber…ich habe…noch so viele Fragen“, stammelte ich. „Was hat das mit Ihnen zu tun und dem Rat? Bitte sagen Sie es mir.“

„Später, das verspreche ich. Es wartet ein Zimmer auf dich, in dem du dich ausruhen kannst. Wir reden morgen weiter. Das zu verkraften, wird dauern.“

Das war alles? Ich sollte einfach in dieses Zimmer gehen und so tun, als wäre eben nicht meine Welt zusammengestürzt? Meine Eltern waren gar nicht meine Eltern, Herrgott!

„Deine Eltern werden morgen erwartet, bis dahin kannst du mit ihnen telefonieren.“

Als hätte Darius meine Gedanken erraten, bremste er mich auch schon wieder aus.

Ich konnte nicht fassen, wie kaltherzig er war.

„Das ist alles? Ich soll das einfach so schlucken und wieder nur die Hälfte erfahren?“

In mir stieg eine ungekannte Wut auf, weil ich wie ein dummes Kind abgefertigt wurde.

Die Männer blickten mich an, Darius wollte ansetzen, etwas zu erwidern, da stand Rafael auf, nahm meinen Arm, den ich ihm widerstrebend überließ und führte mich aus dem Zimmer.

„Wenn du mit mir reden willst, jederzeit, das verspreche ich dir, mein Mädchen. Doch ich wünsche mir, dass du dich ausruhst und mit den beiden telefonierst, auch wenn es ziemlich unpersönlich ist. Aber es ist ein Anfang. Und wenn du möchtest, schicke ich dir Brandon, damit er nach dir sieht.“

Wir blieben vor einer Tür am Ende des Flures stehen, Rafael öffnete sie und bugsierte mich hinein. Ich nahm das Zimmer nicht in mich auf, sah nur das Fenster mit den schweren karmesinroten Vorhängen, dahinter die Hochhäuser.

„Ich muss aber noch so viel wissen“, fing ich verzweifelt an. „Wissen Sie, wie es mir geht?“

„In dir ist eine Leere, du fühlst dich betäubt und beraubt. Das geht mir auch sehr nahe, denn ich sehe die Qual in deinen Augen. Du musst denken, dass wir keine Gefühle haben, aber so ist es nicht. Wir haben uns so sehr auf dich gefreut, wollen dir zeigen, wie wichtig du bist. Also habe bitte keine Furcht, wir werden morgen darüber reden. Der Morgen ist klüger wie der Abend. Kennst du den Ausspruch?“

„Ich fand den schon immer blöd“, gab ich zu.

Rafael lachte herzlich auf.

„Da hast du sogar recht.“

Er wurde wieder ernst.

„Wirst du mir versprechen, wenn irgendetwas ist, dass du zu mir kommst? Mein Zimmer ist eine Etage tiefer, gleich rechts neben dem Fahrstuhl.“

Ich nickte.

„Gut. Ich schicke dir nachher Brandon mit etwas zu essen vorbei, in Ordnung?“

„Ich kriege nichts hinunter.“

„Das kann sich bis nachher ändern.“

Rafael entfernte sich mit geschmeidigen Schritten. An der Tür blieb er stehen.

„Es gibt Gründe, warum wir dir noch nicht alles sagen können.“

Die Tür wurde leise zugezogen.

Wie in Trance bewegte ich mich durch den Raum. Ich nahm nur die Silhouetten der Möbel in mich auf: Ein großes Bett, daneben ein dreitüriger Schrank, eine Kommode, Schreibtisch und Stuhl, daneben eine Tür, die sicher ins Bad führte. Mir war es egal.

Ich war nicht mit Mom und Dad verwandt, das hatte man mir eben mitgeteilt – und nun wurde ich allein gelassen. Allein mit der Leere in meinem Herzen, mit dem dröhnenden Klopfen in meinem Verstand, mit der Schwere meiner Beine, die es kaum vermochten, dass ich noch aufrecht stand. Ich sackte zusammen, setzte mich auf den Teppich und blickte ins Nichts.

Alle möglichen Erinnerungen kamen in mir hoch. Meine Geburtstage, der Einschulungstag, an dem ich weinte, als sollte ich zur Schlachtbank geführt werden, schlechte Noten in Mathematik, die mein Vater nicht schlimm fand. Er war immer der Ansicht, dass jemand, der in Sprachen und Literatur gut war, Mathe nie kapieren würde. Und darüber hatten wir immer herzhaft gelacht. Wie ich mir das Bein gebrochen hatte, weil ich auf einen Kirschbaum geklettert war. Mein erstes Verliebtsein…Es waren meine Erinnerungen und doch kam es mir vor, als wären sie nicht echt.

Ich rappelte mich hoch. Andere Momente schossen mir durch den Kopf, Augenblicke, die ich weit hinten in meinem Kopf versteckt hatte.

Wir sind niemals in den Urlaub gefahren. Immer, wenn wir was unternahmen, ob Kino oder zusammen essen gehen, waren meine Eltern in höchstem Maße nervös. Manchmal kam es mir vor, als würde ich beobachtet werden, aber es war nicht so oft, also machte ich mir keine Gedanken darüber. Als ich 18 war und dieses schreckliche Erlebnis stattfand, zogen wir sofort von hier fort. Vor zwei Jahren gingen Mom und Dad dann an die Küste, wollten nicht, dass ich ihnen folgte. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Ich wurde abgeschirmt, heimlich beschützt – doch warum?

Und wieder war ich so schlau wie vorher. Sie hatten mich belogen, die ganzen vielen Jahre. Sicherlich hatten sie ihre Gründe, doch das juckte mich augenblicklich gar nicht. In mir wallte Zorn auf, der sich mit der Fassungslosigkeit abwechselte, dass ich adoptiert worden war und jeder es wusste, nur ich nicht. Ich konnte die beiden nicht anrufen, noch nicht. Ich sah sie kurzzeitig als Fremde, die ein Baby in den Armen hielten, auf das kleine pausbäckige Gesicht herablächelten, doch es gehörte nicht ihnen.

Hinzu kam noch, dass meine leiblichen Eltern umgebracht worden waren.

Gewaltverbrechen…das konnte es nur bedeuten…

Unruhig tigerte ich im Zimmer auf und ab, rieb mir die Schläfen, um mehr Durchblick zu bekommen, Puzzleteile zusammenzusetzen, Herr der Lage zu werden. Doch je mehr ich fieberhaft nachdachte, desto weniger verstand ich. Mein Verstand war wie leergefegt, ein Notfallmechanismus hatte sich eingeschaltet, der mich taub werden ließ. Ich hatte keine Kraft mehr, um nachzudenken, mein Kopf war ein luftleerer Raum. Ich rannte fast schon zum Bett, schwang mich auf den bunten Quilt, der darauf lag, rollte meinen Körper zusammen und weinte leise vor mich hin.

Es dunkelte bereits draußen, als es kaum hörbar an der Tür klopfte. Ich hatte mich in einen Halbschlaf geschluchzt, immer wieder versucht, die Augen offen zu halten, um mich dem Schmerz zu stellen, der in mich eingedrungen war.

Ich wollte niemanden sehen und auch mit niemandem reden.

„Virginia?“

Brandons verhaltene Stimme.

„Ich stelle dir das Tablett vor die Tür“, rief er dann.

„Komm herein“, sagte ich schnell, wischte mir die Wangen ab und setzte mich im Bett auf.

Es war stockdunkel im Zimmer. Er trat ein, ein Lichtschein fiel durch die geöffnete Tür, dann schaltete er auf der Kommode zwei Lampen an, die aussahen wie von Tiffanys. Blood sprang zu mir schwanzwedelnd ins Bett. Ich streckte die Arme aus und kraulte ihn hinter den Ohren. Zum Dank leckte er schnell über meinen Arm, dann warf er sich auf die Decke neben mich. Über meine Züge glitt ein Lächeln.

Brandon stellte das Tablett auf den Schreibtisch, dann drehte er sich zu mir um. Er hatte sich umgezogen, trug eine hellblaue Jeans, ein weißes T-Shirt, das mich seine Muskeln nicht mehr nur erahnen, sondern sehen ließ, dazu Turnschuhe. Er konnte anziehen, was er wollte. Er würde einfach immer gut aussehen, selbst mit einem braunen Kartoffelsack über den Schultern. Seine lockigen Haare fielen ihm in die Stirn, und er machte wieder diese leichte Kopfbewegung, um sie zur Ordnung zu rufen.

„Darf ich?“, fragte er.

Als ich nickte, setzte er sich auf den Rand des Bettes. Er lächelte, doch ich sah die Anspannung in seinen Augen.

„Wie geht es dir?“

Wie sollte es mir gehen? Ich wusste selbst nicht, ob ganz gut, den Umständen entsprechend, total mies…also war ich ehrlich.

„Ich weiß es nicht“, sagte ich.

„In solchen Dingen bin ich nicht so gut. Ich kann nicht ausdrücken, was ich dir eigentlich sagen möchte. Es tut mir alles sehr leid, das sollst du wissen. Einfach alles.“

Ich ahnte, was er meinte. Nicht nur, dass er mich im Unklaren lassen musste, auch der Überfall im Motel, die heimlichen Beobachtungen, die nicht zu seinen Befehlen gehört hatten.

„Danke“, sagte ich leise.

„Möchtest du vielleicht etwas essen?“

Er zeigte auf das Tablett.

„Da sind leckere Sachen drauf. Blood würde töten, um an das Omelett zu kommen“, grinste er.

„Das glaube ich gern, aber vielleicht später. Auch wenn es dann kalt ist, macht mir das nichts.“

„Okay.“

Er blickte auf seine Hände. Um sein rechtes Handgelenk trug er ein Lederarmband, an dem er herumspielte.

„Ich werde dann mal…“

„Bitte bleib hier“, bat ich, woraufhin er mich überrascht und erleichtert ansah.

„Natürlich, das mache ich gern.“