9. Eine unvergessliche Nacht
Ich war froh, als wir in mein Zimmer kamen, auch wenn es sich zu drehen schien. Brandon holte Blood herüber, der schwanzwedelnd auf mich zugerannt kam. Hatte Brandon zwei Hunde? Ich blinzelte. Nein, es war doch nur einer, puh!
Ich streichelte Blood, küsste seinen warmen Kopf und ging ins Bad, um mich umzuziehen. Noch immer jagten verwirrende Geistesblitze durch meinen dröhnenden Schädel. Ich versuchte sie zu ignorieren, nahm die Maske ab und betrachtete mein gerötetes Gesicht.
Brandon wartete nebenan. In stiller Übereinkunft hatte ich zugestimmt, dass er bei mir sein sollte. Ich war froh, nicht allein sein zu müssen. Und im Grunde kannte er mich. Er kannte mich besser als irgendjemand sonst. 365 Tage unter permanenter Beobachtung zu stehen, verriet dem Gegenüber auch das letzte Quäntchen, das man vor allen anderen versteckte. Ich fühlte mich innerlich und äußerlich entblößt.
In einem bequemen Hausanzug, abgeschminkt und eingecremt kam ich ins Zimmer zurück. Brandon stand am Fenster, hob den Kopf und lächelte mich an.
„Wie geht’s dir?“
„Mir ist immer noch etwas schwindelig.“
„Willst du das da essen? Nicht, dass du dich übergeben musst.“
„Meinem Magen geht es gut, nur mein Kopf tut so weh“, sagte ich. „Ich habe mich nicht mal von den anderen verabschiedet.“
„Ich habe Maggie Bescheid gesagt, dass es dir nicht gut ging. Mach dir keine Sorgen.“
Ich nickte dankbar, nahm den Teller vom Schreibtisch und setzte mich aufs Bett. Brandon hatte einen tragbaren CD-Player mitgebracht, aus dem leise Musik dudelte. Er hielt mir eine offene Colaflasche hin, aus der ich gierig trank. Die Cola fühlte sich wie ein kalter Fluss an, der sich einen heißen Tunnel entlang schlängelte und dann in ein kochendes Meer traf, meinen Magen. Brandon nahm neben mir Platz und sah zu, wie ich aß.
„Willst du was?“, fragte ich, woraufhin er sich ein Stück Braten nahm.
„Maggie hätte dir nicht diese Scheißpille geben dürfen.“
Er klang wütend.
„Sie hat es nur gut gemeint. Was war das überhaupt für ein Zeug?“
„Auf keinen Fall eine Beruhigungstablette“, grinste er.
„Ich weiß nur noch, dass ich viel getanzt habe und großen Hunger hatte.“
„Und wie du getanzt hast.“
Brandon schüttelte den Kopf.
„Du bist um den Typen laufend herumstolziert. Wenn ich das gewesen wäre, hätte ich es amüsant gefunden, aber so…“
Ich stellte den Teller auf den Nachtisch.
„Was habe ich gemacht?“
„Du bist um ihn herumgetanzt, kleine Mieze“, lachte er, „obwohl ich es nicht witzig fand. Dafür müsstest du jetzt mal dein Gesicht sehen.“
Ich schlug die Hände vor die Augen.
Wie peinlich war das denn?
„Und alle haben’s gesehen?“
„Alle, die Augen hatten, ja. Sicher.“
Dieser Mistkerl lachte schon wieder.
„Auf der Schamskala von eins bis einhundert. Wie schlimm?“
„Ich würde sagen: 500?“
Brandon konnte sich vor Lachen nicht mehr halten.
Oh Gott! Für einen Moment hätte ich Maggie erwürgen können.
Ich lugte durch meine Finger hindurch, Brandon schmunzelte immer noch.
„Und sonst?“, fragte ich vorsichtig.
„Reicht das nicht?“
„Doch. Aber ich hätte gern gewusst, ob ich morgen noch mehr angestarrt werde als bisher.“
Brandon überlegte.
„Sonst ist alles gut, denke ich. Mach dir mal keinen Kopf.“
Da war ich mir nicht so sicher.
Ich legte mich auf die Seite, Blood streckte sich zu meinen Füßen aus. Von seinem Hundekörper strahlte eine beruhigende Wärme auf mich über. Ich schloss die Augen.
„Ich muss dir etwas sagen“, drang Brandons Stimme in mich ein.
Ich hörte es rascheln. Er hatte sich auf die andere Seite gelegt, den Arm angewinkelt unter den Kopf geschoben.
Abwartend sah ich in das unergründliche Grau seiner Augen.
Er räusperte sich. War er etwa verlegen?
„Ich habe dich gar nicht so oft beobachtet. Wenn du unterwegs warst, musste ich immer dabei sein, soviel ist klar. Aber in deiner Wohnung war ich erst in den letzten beiden Monaten etwas, sagen wir mal, präsenter.“
Ich sagte nichts, ließ mir das Gesagte durch den Kopf gehen.
Unvermittelt fuhr er fort.
„Ich habe dir deine Privatsphäre gelassen. Es gab zwei Situationen, in denen ich etwas getan habe, was ich nicht hätte tun dürfen. Einmal warst du unter der Dusche und zwar so lange, dass ich mir Sorgen gemacht hatte und ich ins Bad kam.“
„Als lüsterne Rauchschwade“, schlussfolgerte ich.
Er verzog die Lippen.
„Wenn du es so nennen willst. In dem Augenblick drehtest du das Wasser ab und naja, ich konnte dich eben ohne Kleidung sehen.“
Super!
„Und beim zweiten Mal?“
Ich kniff die Augen zusammen.
Brandon, sag es nicht!
„Halt!“, rief ich. „Ich weiß es noch, du musst es nicht ausführen.“
„Warte doch mal“, beschwichtigte er mich. „ich war nur kurz in deinem Schlafzimmer, und das ist wirklich wahr. Eigentlich wollte ich bleiben, bin dann aber sofort verschwunden, als ich sah, was da vor sich ging. Das musst du mir glauben.“
Was da vor sich ging…
In seiner Stimme lag so etwas Flehendes, Aufrichtiges, dass ich mich getraute, ihn anzusehen. Nervös lächelte er ganz kurz, um dann meine Reaktion abzuwarten.
„Aber warum hast du es so aussehen lassen, als wenn du mich laufend gestalkt hast?“
„Um dich zu ärgern. Ich mag es, dich aus der Reserve zu locken.“
Er lachte leise, war wieder ganz der Alte. Oder doch nicht? Eben hatte er mir gestanden, dass er doch nicht so ein Idiot war, wie ich immer dachte. Und dass er durchaus Feingefühl besaß.
„Und was hat sich in den letzten beiden Monaten geändert?“
Er wollte etwas erwidern, sein Mund schloss sich und er zuckte mit der Schulter.
„Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verstärkt, das ist alles.“
Obwohl ich ihn nicht sehr gut kannte, machte sich in mir das Gefühl breit, dass er jetzt gerade nicht die Wahrheit sagte.
Ich wechselte das Thema.
„Erzähl mir etwas von dir.“
„Was willst du denn wissen?“
„Was du erzählen möchtest“, schlug ich vor. „Etwas aus deiner Vergangenheit. Du weißt alles über mich, ich überhaupt nichts von dir. Findest du nicht, dass sich das mal ein bisschen ausgleichen sollte?“
Er lächelte schief, was ihn so ungemein anziehend machte.
„Ich rede nicht gern über früher. Viele Dinge sind einfach zu schmerzlich für mich.“
Was war ihm widerfahren? Ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren, lechzte nach Informationen, wollte ihn besser verstehen.
Mir kam eine Idee.
„Ich erzähle dir etwas von mir, und du mir dann von dir.“
„Aber ich weiß doch schon alles über dich.“
Herausfordernd sah er mich an, was mir ein gekonntes Augenverdrehen entlockte.
„Das glaube ich wohl kaum.“
„Also los, fang an.“
Energisch schüttelte ich den Kopf und schnaubte.
„Diesmal lasse ich dir den Vortritt.“
Er atmete tief durch.
„Also gut. Es war 1935, der erste Weltkrieg hatte uns verschont. Meine Eltern, mein jüngerer Bruder Elias und ich lebten damals in einer kleinen Siedlung, in der Armut und Hunger herrschte. Wir waren niemals reich gewesen, ich kannte kein anderes Leben. Dennoch gab es glückliche Momente. Wir hielten als Familie stets zusammen und unterstützten unsere Eltern, wo es nur ging. Mein Vater arbeitete in der nahen Fabrik, meine Mutter kümmerte sich um uns, versuchte aus der Bruchbude, in der wir lebten, ein annehmbares Heim zu machen, auch wenn es an allen Enden zog und der Wind hinein pfiff. Elias und ich verdienten etwas hinzu, indem wir für die Reichen Botengänge erledigten, Höfe säuberten und Schuhe putzten. Es reichte hinten und vorn nicht und zur Schule waren wir nie gegangen. Zu essen hatten wir kaum etwas, es mangelte an allem. Meine Eltern versagten sich noch viel mehr, gaben uns die letzten Reste, die sie erbettelt oder auf dem Müll gefunden hatten. Es wurde immer schlimmer. Aber das war noch nichts, bis zu dem Tag, an dem Elias krank wurde. Er bekam hohes Fieber, hustete, kriegte kaum noch Luft. Wir hatten kein Geld für einen Arzt, schleppten uns zu einem Veterinär, den mein Vater kannte und der meinen Bruder untersuchte. Er sollte in der Nacht bei ihm zur Beobachtung bleiben, mehr konnte er nicht tun. Am nächsten Morgen war er tot.“
Erschrocken sah ich Brandon an. Seine Stimme war immer leiser geworden, Schmerz stand in seinen Augen.
„Elias war an einer Lungenentzündung gestorben. Mein kleiner Bruder, der so gerne lachte und mit dem ich stundenlang im Schlamm gespielt hatte und später auf die Jagd ging. An diesem Tag wachte ich auf. So konnte es nicht weitergehen.“
Brandon klang verbittert, trotzig.
„Gerüchte waren mir zu Ohren gekommen. Man munkelte, dass sich leicht Geld verdienen ließ, indem man sein Blut verkaufte.“
Ich horchte auf. Mama und Papa, ging es mir durch den Kopf. Nein, damals lebten sie ja noch nicht, aber Großvater, der gar nicht mein Großvater war.
„Ein Junge in der Nachbarschaft, mit dem ich Freundschaft geschlossen hatte, nahm mich mit. Wir wurden mit einem Dutzend anderer aus der Stadt herausgebracht. Sie stülpten uns Säcke über den Kopf, fesselten unsere Hände. Mir war es egal. Was hatte ich noch zu verlieren?
Mein Bruder war in einer Wiese verscharrt, denn eine Beerdigung, wie du dir vielleicht denken kannst, konnten wir uns nicht leisten. Wir waren arm, krank und hatten keine Perspektive. Also ging ich das Risiko ein. Wenn ich heute darüber nachdenke, war es auch ein wenig Todessehnsucht. Wenn sie es übernahmen, mich aus meinem beschissenen Leben zu holen, wäre ich ihnen sogar dankbar gewesen.“
Brandon setzte sich auf, trank einen Schluck Cola, bevor er weiter sprach.
„Doch als wir dort ankamen, an einem weitläufigen Grundstück, wurden die Fesseln gelöst und wir in das Haus geführt, wo uns ein Arzt empfing.“
Brandon rieb sich mit der Hand über das Gesicht.
„Ein ausgebildeter Doktor stand vor mir, der Elias hätte helfen können, ihm Medikamente hätte geben können, ihn hätte retten können. Und ich war zu spät gekommen.“
Unwillig lachte er auf, so kalt, dass ich zusammenzuckte.
Ich wollte ihm sagen, wie leid es mir tat, wollte seine Hand nehmen, ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war.
„Man behandelte uns gut. Mir wurde Blut abgenommen, ich wurde eingehend untersucht. Der Arzt gab mir ein Mittel mit, dass mich stärken sollte. Ich war unterernährt und das würde sich auch auf mein Blut auswirken, sagte er. Ich sollte mich von nun an gesünder ernähren. Doch wovon? Und dann erhielt ich die Antwort. Man gab uns einen Vorschuss und wir konnten somit genügend Essen kaufen. Offenbar brauchten sie uns und waren bereit, uns entgegenzukommen.“
„Und wenn euer Blut unbrauchbar gewesen wäre?“
„Zu der damaligen Zeit gab es keine nennenswerten Blutkrankheiten. Was die Vampire bereits herausgefunden hatten, war, dass bei der Blutaufnahme keine Krankheiten übertragen wurden. Sie hatten es selbst ausprobiert und sich von solchen Probanden Blut abzapfen lassen, das sie zu sich nahmen.“
„Wie praktisch“, sagte ich.
„Wenn ich mich entschied, regelmäßig zu spenden, musste ich kräftiger werden und von nun an kämpfen. Wir wussten nicht, was sie mit unserem Blut machten, und es war uns auch völlig egal. Und nun wendete sich das Blatt. Ich kam mit einem vollen Korb Essen nach Hause, belog meine Eltern, dass ich eine Arbeit bei einer reichen Familie gefunden hätte. Sie glaubten alles. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich von Bedeutung. Mein Vater schaute zu mir auf, meine Mutter lächelte zum ersten Mal seit Elias’ Tod wieder. Es war ein Tag, an dem wieder die Sonne schien und an dem ich wieder an das Leben glaubte.“
Verständnisvoll strich ich Brandon über den Arm. Er zuckte nicht zurück, sondern nahm meine Hand in die seine. Ich staunte, wie warm sie war. Es war ein schönes Gefühl, ihm so nahe zu sein und zu hören, was er zu berichten hatte.
„Es war wie ein Sechser im Lotto. Uns ging es auf einmal gut. Wir nahmen uns eine bessere Wohnung, hungerten nicht mehr, lebten einfach, existierten nicht mehr. Aber ich wollte mehr, viel mehr. Schon seit einiger Zeit beobachtete ich das Grundstück. Als es einmal geregnet hatte, war ich den Wagenspuren zurückgefolgt. Mein Sinn hatte mich nicht betrogen und ich war an dem Haus des Arztes angekommen. Doch was sollte ich dort? Was war mein Plan? Das Einzige, was ich wissen wollte, was mir unter den Nägeln brannte, war, was sie mit dem Blut machten. Experimente?
Nun, ich würde es herausfinden. Dachte ich. Man schnappte mich, während ich noch hinter einem Baum hervorsah. Ich konnte nicht wissen, wie schnell sie waren, sonst wäre ich niemals dieses Wagnis eingegangen.
Man schleppte mich ins Haus, wo mich der Arzt erwartete. Er mochte mich, das wusste ich, aber auch so sehr, dass er mich verschonte? Da kam dein Großvater ins Spiel. Ich war ihm schon öfter begegnet, ein sehr couragierter Mann, der keine Widersprüche duldete. Das Ende vom Lied war, dass ich mit 25 zum Vampir wurde und ab da den Orden unterstützte.“
„Aber wie kam das? Ich meine, haben sie dir einfach so vertraut? Hattest du keine Angst?“
„Sie stellten mich vor die Wahl. Kurz zuvor hatte es einen Krieg gegeben und sie verloren viele ihrer Krieger und waren auf der Suche nach neuen Rekruten. Deswegen brauchten sie immer mehr Blut, viele waren so verletzt und kraftlos, dass man fürchtete, dass sie auch bald das Zeitliche segneten.“
Gebannt hatte ich Brandons Worte gelauscht.
„So, das nächste Mal erfährst du mehr.“
„Bitte sprich weiter“, bettelte ich.
Er drückte meine Hand und lächelte. Er war wieder im Heute angekommen, seine Züge wirkten entspannter.
„Nein, Prinzessin, jetzt bist du dran.“
„Ich habe ein bisschen geflunkert“, gab ich zu. „Du weißt so gut wie alles über mich. Ich wüsste nicht, was ich dir erzählen könnte.“
„Sag mir etwas über deine Albträume.“
Entsetzt suchte ich Brandons Blick, der warm auf mir ruhte. Ich setzte mich auf, entzog ihm meine Hand. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
Ich hatte Albträume, oh ja. Aber sie waren weniger geworden, auch wenn sie unterschwellig versuchten, in den Nächten von mir Besitz zu ergreifen.
„Soviel zu: Ich habe kaum in deiner Privatsphäre herumgeschnüffelt! Das ich nicht lache.“
„Es tut gut, mit jemandem darüber zu reden.“
„Ach ja? Du wolltest doch auch nicht über deine Vergangenheit sprechen“, hielt ich ihm vor.
„Aber ich habe es getan.“
Diese Stimme, so gefasst und ruhig! Mir war, als müsste ich gleich wie eine Bombe explodieren.
„Ich will es aber nicht! Und außerdem habe ich ein Jahr darüber geredet. Mit einer verdammten Psychologin. Das hat mich auch nicht weitergebracht“, schnauzte ich ihn an. „Und wenn ich es recht bedenke, weißt du sicher mehr als ich über den Vorfall.“
Meine Wut war flammendem Interesse gewichen.
„Wer wollte mich töten? Rafael sagte, dass es die Dunklen waren. Weißt du mehr?“
Unbehaglich ließ sich Brandon in die Kissen fallen.
„Du verstehst es wirklich, den Spieß umzudrehen.“
„Nun red schon.“
„Wir wissen nicht mehr. Aber wer sollte es sonst gewesen sein?“
Ich schloss die Augen und die Bilder stürmten so schnell auf mich ein, dass ich keine Chance hatte, sie zerplatzen zu lassen.
„Er wollte mich umbringen, mich erwürgen und dann hat er mich von der Brücke geschmissen.“
„Aber man hat dich gerettet, Virginia. So etwas hätte niemals passieren dürfen. Dein Beschützer wurde sofort suspendiert und ersetzt. Rafael und Darius waren außer sich vor Zorn. Darius wollte dich sogleich hierher bringen lassen. Als ich später den Job übernahm, gab es solche Vorfälle nicht mehr. Und soll ich dir etwas sagen? Ich habe es niemals bereut, dass sie mich dir zuteilten.“
Brandon beugte sich zu mir herüber und zog mich einfach in seine Arme. Ich konnte nicht beschreiben, was ich spürte. Seine Hand streichelte behutsam über meine Haare, mit der anderen hatte er meine Taille umschlungen. Ich barg den Kopf unter seinem Kinn, lag mit der Wange auf seiner Brust. Sein Geruch war unwiderstehlich, irgendwie herb und doch süßlich. Und dann kamen die Empfindungen wie gebündelt in mir an. Ich fühlte mich geborgen, in diesen Minuten einfach glücklich, so sehr befreit, dass mir mein Schicksal plötzlich vorkam, als sollte ich auf diese Reise nicht ohne Grund gegangen sein. Und dieser Grund lag unter mir. Ich weinte nicht, verspürte nicht einmal den Drang dazu, so benebelt waren meine Sinne. Ich wollte einfach nur fühlen, mehr nicht. Kein Denken, kein Zögern, keine Fragen. Ich nahm alles so hin, ohne Wenn und Aber. Diesen Augenblick wollte ich festhalten, in meinem Herzen einschließen. Egal, was danach kam, ich würde ihn nie vergessen.
„Welche Musik hörst du gern?“, fragte ich nach ewig langer Zeit.
„Alles durch die Bank weg, auch die Sachen, die du hörst, mag ich ganz gern. Besonders Radiohead.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam.“
„Nicht nur das“, sagte er, „ob du es glaubst oder nicht, früher habe ich gern gelesen. Shakespeare ist mein Lieblingsschriftsteller.“
Ich hob meinen Kopf und blickte ihn an, was ziemlich verwirrend war. Seine grauen Augen, die viel dunkler erschienen, lächelten auf mich herab. Ich musste nur den Kopf ein Stückchen vorstrecken, und schon würden sich unsere Lippen berühren.
„Das ist ja mal eine Neuigkeit. Und welches ist dein Lieblingsstück?“
„MacBeth. Seine Geschichte ist ebenso dramatisch wie tragisch.“
Langsam löste ich meine Augen von den seinen und bettete wieder meinen Kopf an seiner Brust.
Ich hörte seinen Herzschlag. Da war ein Herzschlag!
„Shakespeare verstand es, Figuren zu erschaffen, mit denen man hoffen und leiden konnte“, sagte ich.
Wir hatten richtig Spaß zusammen, sprachen über Filme, Bücher und Musik, über unsere Vorlieben und Abneigungen. Brandon war doch immer wieder für eine Überraschung gut, als er mir verkündete, dass er klassische Musik liebte. Von Bach bis Beethoven, bis hin zu Mozart. Er mochte nur wenige Vampirfilme. Blade fand er cool und die früheren Dracula-Verfilmungen. Über Twilight amüsierte er sich – soweit waren wir ja schon und Buffy fand er heiß, was mich veranlasste, ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen zu boxen, was ihm ein leises Lachen entlockte.
„Warum hast du nicht mal mit mir getanzt?“
„Du hast mich nicht aufgefordert“, erwiderte ich.
„Stimmt auch wieder. Aber wenn ich es getan hätte, sagen wir mal, zu einem etwas langsameren Song, hättest du ja gesagt?“
„Ich glaube nicht. Zuviel Körperkontakt.“
Ich hörte ihn schmunzeln.
„Und was tun wir gerade?“
Ich biss mir auf die Lippe. Er hatte ja recht, ich benahm mich wie ein liebeskranker Teenager. Es wäre doch möglich, dass man wieder zu so einem mutierte, wenn man sich zurückzog, seinen Träumen nachhing und der Traummann nur in der DVD-Hülle existierte.
Sanft schob er mich zur Seite, dann stand er auf und machte sich am CD-Player zu schaffen.
Oh nein, ich ahnte, was er vorhatte…
Die Musik setzte ein, ich erkannte Kavinsky’s ‚Nightcall’, eines meiner Lieblingslieder.
Er streckte mir seine Hand hin, die ich zögernd ergriff. Brandon zog mich in seine Arme und langsam bewegten wir uns zu dem Sound, der das Zimmer erfüllte. Ich hatte niemals geglaubt, dass Vampire eine solche Hitze ausstrahlten. Hatte gedacht, sie wären so kalt wie der Polarwind. Meine Vermutungen begründeten sich in den Büchern und Verfilmungen. Es schien, als sei Einiges wahr und anderes totaler Humbug.
Brandons Hände lagen auf meinen Hüften, ich hatte meine hinter seinem Nacken verschlungen. Es fühlte sich gut, es fühlte sich richtig an. Ich kannte ihn kaum und hatte nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Empfand ich sie wirklich oder war ich froh, dass ich jemanden hatte, damit ich nicht so allein war?
„Warum ich?“, wollte ich unvermittelt von ihm wissen.
Er bog seinen Kopf zurück, sah mir tief in die Augen.
„Was meinst du? Die Prophezeiung?“
„Nein, ich meine, warum du gerade mir Avancen machst. Oder spielst du nur mit mir?“
Toll, Virginia, wirklich toll! Zünde doch gleich das Bett an, damit er schreiend raus rennt!
„Ich verstehe nicht immer ganz, welche Komplexe viele Mädchen haben. Du bist hübsch, intelligent und schlagfertig. Ich finde es total süß, wenn du heulend vor dem Fernseher sitzt und schniefst, wenn einer deiner Romantikschinken vorbei ist und die beiden Hauptdarsteller sich in den Armen liegen und küssen.“
Süß? Was war denn daran süß?
„Ich kenne dich jetzt schon so lange und wollte am Anfang darum bitten, dass man mich ersetzte, aber dann…dann habe ich dich kennengelernt mit deinen Eigenheiten und konnte mir nicht mehr vorstellen, dich nicht mehr zu sehen.“
War das gerade eine Liebeserklärung? Vielleicht eine halbe, oder?
Brandon strich mit seinem Daumen fast schüchtern über mein Gesicht. Wir hatten aufgehört zu tanzen, ich rührte mich keinen Millimeter, war vertieft in seine Augen, die wie flüssiges Quecksilber schimmerten. Atemlos wartete ich auf seine Lippen, schloss die Augen, zog seinen Kopf näher zu mir.
„Virginia“, flüsterte er dicht vor meinem Mund, „ich kann nicht.“
„Was kannst du nicht?“, wisperte ich zurück, immer noch völlig gefangen.
Widerstrebend löste er sich von mir, atmete tief ein, dann aus.
„Es geht nicht, ich kann es nicht erklären“, erwiderte er tonlos.
Also meinte er es doch nicht ernst. Hatte ich es nicht geahnt?
„Es ist schwieriger als du denkst.“
„Dann erkläre es mir, Brandon. Ich komme mir gerade total verarscht vor.“
„Dein Status. Er erlaubt mir nicht, dir so nahe zu treten. Es ist verboten und ich habe einen Eid geschworen. Wenn ich versage, sehen wir uns niemals wieder. Wenn sie Wind davon bekommen, stecke ich in noch größeren Schwierigkeiten.“
Nun verstand ich. Ich würde eventuell die Retterin der Vampire sein. Ein Wesen, das sowohl Mensch und Vampir in sich vereinen sollte und stand in der Hierarchie ganz oben. Da war kein Platz für Brandon, doch mir war das gleichgültig, total egal. Ich war ein Mädchen, eine Frau, in deren Bauch Hunderte von knallbunten Schmetterlingen herumflogen, die ein Lied summten, das ich so noch nie vernommen hatte. Ich wollte nur einen Kuss, nur einen, nach dem ich mich schon so lange gesehnt hatte. Mir war einfach nicht mehr zu helfen.
„Was hast du denn sonst noch verbrochen? Welche Schwierigkeiten? Alle reden darüber, dass du etwas Schlimmes getan hast.“
Er wich meinem Blick aus.
„Darüber kann ich nicht reden.“
Er wurde wieder unnahbarer, verschloss sich in seinem selbstgewebten Kokon.
Plötzlich packte er meine Schultern.
„Versprich mir, auf dich aufzupassen. Auch wenn ich mal nicht da bin, und dann ganz besonders.“
„Natürlich, das mache ich doch immer“, sagte ich überrascht.
Was meinte er damit? Hatten sie es herausbekommen, dass ich mich in ihn verliebt hatte? Die Kameras auf dem Gang zeichneten jede Sekunde auf. Sie mussten also sehen, dass sich Brandon schon lange in meinem Zimmer befand.
Ungestüm drückte er plötzlich seinen weichen Mund auf meinen. Mit einer Hand hielt er meinen Kopf fest, sodass ich ihn nicht wegdrehen konnte. Und das wollte ich auch gar nicht. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und spürte, wie sein Atem in meine halb geöffneten Lippen drang. Bereitwillig ließ ich seine Zunge gewähren, die sich drängend in meinen Mund schob. Sie spielte mit meiner, zaghaft und verschüchtert. Innerlich stöhnte ich auf – vor Lust, vor Schmerz, vor Überraschung. Ich wollte diesen Kuss auskosten, in ihm verweilen, auch seinen Mund erforschen, als er sich schon von mir löste. Schwer atmend stand er vor mir, ließ seine Hände von meinem Körper ab.
„Ich muss leider gehen.“
Ich verstand gar nichts mehr, fühlte immer noch die Weichheit dieses Kusses. Und Brandon stand vor mir und wusste nicht was er sagen sollte.
„Okay“, sagte ich nur.
Er weckte Blood, der ihm zur Tür folgte, dann war ich allein.
Die Musik war verstummt. Ich machte den CD-Player aus, legte mich aufs Bett und hob die Finger an meine Lippen. Fast konnte ich den Kuss noch schmecken, Brandon riechen, seinen Körper fühlen. Ich lächelte.
‚Wild Horses’ von The Sundays ließen mich glücklich wie noch nie ins Land der Träume eintauchen, auch wenn die Angst vor der Zukunft allgegenwärtig war.