16. KAPITEL
Egal welche Stellung man im Leben bekleidet, es gibt immer Dinge, die einen überraschen. Es liegt an einem selbst, ob man darauf mit Empörung oder Entzücken reagiert.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
„Christian?“
Er seufzte tief auf. Beth konnte den Luftzug am Ohr spüren. Er legte die Wange an ihr Haar.
„Ja?“
„Großvater wacht sicher bald auf.“
Wieder seufzte er. „Ich weiß.“
Doch er löste die Umarmung nicht.
Sie schloss die Augen und sog seinen Geruch tief ein, genoss die Wärme und seine Nähe. Dieser Augenblick schien so kostbar, so wertvoll. Sie wünschte, sie könnten immer so bleiben, abgeschieden von der Außenwelt. Aber es sollte nicht sein.
Seufzend öffnete sie die Augen. Sie konnte den Umriss von Christians Kinn sehen, das an ihrer Wange ruhte. „Christian?“
Er öffnete die Augen und sah auf sie hinab. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er. „Ja?“
„Wir müssen reden.“
Sein Griff wurde fester.
„Über Großvater.“
„Ich weiß.“ Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und lockerte die Umarmung ein wenig.
Beth setzte sich auf. Ihr Körper summte immer noch, ein sanftes Glühen wärmte sie von Kopf bis Fuß. Es war traurig, ausgerechnet jetzt über etwas Schmerzvolles reden zu müssen, wo sie sich ihm so nahe fühlte. Aber es musste sein. Großvater konnte jeden Moment aufwachen und zu ihnen ins Zimmer kommen.
„Ich muss aufstehen.“ Sie wollte sich erheben, Christian dachte allerdings gar nicht daran, sie freizugeben.
„Nein.“ Er zog sie enger an sich und barg das Gesicht an ihrem Nacken. „Ich will, dass du hier bei mir bleibst. Zumindest jetzt noch.“
„Ich will ja auch bleiben. Aber Großvater könnte jeden Moment auftauchen und uns so finden.“
„Was soll er groß tun? Uns zur Hochzeit zwingen?“
Oh. Ja. Sie grinste. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ Glücklich seufzte sie auf und schmiegte sich wieder an ihn. „Vermutlich können wir auch so reden. Ich gebe es wirklich nicht gern zu, doch hier braut sich irgendetwas zusammen. Es gefällt mir nicht, aber ich glaube, ich verliere meine Wette.“
Ihm verging das Lachen, und er sah sie sehr ernst an. „Beth, vergiss die Wette. Dein Großvater ist der Mann, den ich suche.“
„Nein“, widersprach Beth gedankenvoll. „Alles, was du aufzuweisen hast, ist die Miniatur deiner Mutter in seinem Schreibtisch. Die beweist aber nur, dass er sie gekannt hat, nicht, dass er sie verleumdet hat und sie somit ins Gefängnis schickte. “
„Mir reicht es. Wenn man dazu noch die Aussage des Pfarrers nimmt, der meine Mutter im Gefängnis besucht hat, und ihre eigenen Briefe ... Das ist schon eine ganze Menge an belastender Information.“
„Die dennoch nicht auf irgendeine bestimmte Person hinweist. Christian, du ziehst deine Schlüsse aus sehr wenig Beweismaterial. Dafür schreibe ich mir einen Punkt für unsere Wette gut.“
Seine Kinnmuskeln verhärteten sich. „Du irrst dich. Und bald wirst du es auch einsehen müssen.“
Sie strich über seine Wange und küsste ihn auf das Kinn. „Darf ich die Miniatur noch einmal sehen? Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten.“
Mit grimmiger Miene fischte er sie aus der Brusttasche. Beths Finger schlossen sich um das kühle Elfenbein. Lange Zeit betrachtete sie das Bildnis. „Sie war wunderschön.“ „Und nicht nur das.“
„Es ist ein herrliches Porträt. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. “
„Danke.“
„Aber ich sehe immer noch nicht, wie diese Miniatur zweifelsfrei beweisen soll, dass es mein Großvater war, der deine Mutter ans Messer geliefert hat.“ Sie betrachtete sie aus der Nähe, drehte sie um und untersuchte die Rückseite. „Hier steht überhaupt nichts. Und selbst wenn Großvaters Name hier stünde, würde das immer noch nichts beweisen, ehe wir wüssten, wer es dort hingeschrieben hat und warum.“
Seine Hand schloss sich um die ihre und bog ihre Finger um die Miniatur. „Beth, sag mir einen guten Grund, warum dein Großvater eine Miniatur meiner Mutter besitzen sollte. Nur einen einzigen.“
Die Ränder des kleinen Porträts waren abgerundet und fühlten sich glatt an. Sie biss sich auf die Lippen, während sie fieberhaft nachdachte. „Womöglich kannte er sie von klein auf und hatte sie gem. Oder vielleicht fand er das Bildnis in einem Antiquitätenladen, und es hat ihm gefallen. Oder er hat es auf einer Auktion erstanden und ... “
Sein Griff wurde fester. „Das ist nichts als Spekulation, und das weißt du auch ganz genau!“
„Genau wie deine Theorie.“ Sie streckte die Hand aus und berührte Christian am Kinn. „Wir müssen ihn fragen. Das ist der einzige Weg herauszufinden, was geschehen ist, woher er deine Mutter kennt.“
„Ich habe es vor. Morgen.“
„Warum nicht heute?“
Seine Arme schlossen sich fester um sie. „Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich dazu bereit bin. Ich komme gleich morgen früh wieder, und dann fragen wir ihn.“ Sie lächelte und nickte, obwohl sie in Wirklichkeit alles andere als glücklich darüber war. Schließlich waren sie dabei, ihren Großvater eines schrecklichen Verbrechens anzuklagen. Doch es führte kein Weg daran vorbei. „Also schön. Wir setzen uns morgen früh mit ihm zusammen.“ „Hervorragend. Nachdem das geklärt ist, kann ich dich ja vielleicht verleiten, heute noch ein wenig Zeit mit mir zu verbringen.“
„Oh! Hast du noch eine Spur, der wir folgen müssen?“ „Nein. Das hat nichts mit meiner Mutter zu tun. Ich dachte, es wäre schön, wenn wir zusammen ausreiten könnten. Nur du und ich.“
Beth hob die Brauen. „Nur wir zwei? Aber ... warum?“
Zu ihrer Überraschung röteten sich seine Wangen ein wenig. „Kann ich meine Verlobte nicht fragen, ob sie mit mir ausreiten möchte, ohne aufgezogen zu werden? Als hätte ich um halb zwölf Uhr früh einen Grog bestellt?“
Beth lachte. „Natürlich kannst du das. Ich war nur ... mir war nicht ganz klar, wie du das meinst.“ Seltsam erfreut, sah sie auf ihr zerdrücktes Kleid. „Ich muss mich umziehen.“
Er küsste sie auf die Nase. „Natürlich. Ich auch. Soll ich um sechs Uhr wiederkommen?“
„Das wäre schön.“
Christian nickte und freute sich an ihrem Lächeln, trotz des Aufruhrs, in dem sich seine Gefühle befanden. Sein ganzes Leben lang hatte er auf diese Konfrontation hingearbeitet, hatte davon geträumt, dem Verleumder seiner Mutter entgegenzutreten. Aber nicht jetzt. Gegen seinen Willen überkam ihn Unsicherheit. Nicht was den Herzog anging. Christian war sich sicher, dass er den richtigen Mann verdächtigte. Aber verdammt, warum hatten sie das Saphircollier nicht finden können? Den einzigen unumstößlichen Beweis, den es gab.
Doch selbst das hätte ihn geschmerzt. Er zog Beth ein letztes Mal an sich und rieb die Wange an ihrem Haar. In einem Moment würde er sie freigeben. Er würde nach Hause zurückkehren und den Abend abwarten. Und morgen würde er ihren Großvater zwingen, sein Verbrechen zuzugeben. Danach ... Er biss die Zähne zusammen. Schließlich schob er Beth sanft zur Seite, was ihn jede Unze Kraft kostete, die er besaß, schloss die Hose und richtete seine Kleider.
Sie machte keinerlei Anstalten, es ihm gleichzutun, sondern sah ihm zu; ihr Blick folgte all seinen Bewegungen. Ihr Kleid und ihre Haare waren ganz reizend zerzaust.
„Ich muss gehen.“ Er rang sich ein kurzes Lächeln ab, obwohl ihm das Herz wehtat, als hätte ihm jemand ein Messer hineingerammt.
„Ich weiß.“ Sie nahm ein Kissen und drückte es an sich. „Ich sehe dich dann um sechs.“
Er zwinkerte ihr zu und war schon auf halbem Weg zur Tür, als ihre Stimme ihn noch einmal zurückhielt.
„Christian?“
Er hielt inne, die Hände nun zu Fäusten geballt.
„Was wirst du tun, wenn du entdeckst, dass es tatsächlich Großvater war?“
Christian konnte sie nicht ansehen. Stattdessen öffnete er die Hand und starrte auf die Miniatur. Sie war warm von Beths Händen, und an seinen Fingerspitzen spürte er immer noch ihr seidiges Haar. Doch so sehr er Beth liebte, er war seiner Mutter etwas schuldig. „Das kann ich dir nicht beantworten. “
„Verstehe.“ Ihre Stimme war rau. „Und ... was ist dann mit uns?“
Die Frage durchbohrte ihn förmlich. Er biss die Zähne zusammen.
Langsam ballte er die Hände wieder zu Fäusten und richtete sich auf. „Ich sehe dich dann heute Abend.“
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und ging davon. Beth blieb auf dem Sofa sitzen, umklammerte das Kissen fester und starrte blicklos auf die Tür. In ihren Augen standen Tränen.
Beth schnitt eine Rose und legte sie in den Korb, den sie über dem Arm trug. Im Lauf des Nachmittags hatte sich der Himmel zugezogen, und der Wind hatte aufgefrischt und zerrte nun heftig an ihren Röcken und dem Korb. Der Wind fuhr ihr ins Haar, und die Locken, die Annie so sorgsam aufgesteckt hatte, drohten sich zu lösen. Beth hob das Gesicht in den Wind.
Sie wünschte, Christian würde sich beeilen; sie wollte ein weiteres Mal mit ihm über die Miniatur reden, wollte noch ein paar andere Stellen im Haus vorschlagen, an denen sie nach Beweisen suchen konnten. Vielleicht fand sie doch noch irgendetwas, was die Begegnung zwischen Christian und ihrem Großvater abwenden würde. Obwohl sie wusste, dass das Gespräch stattfinden musste, hatte sie trotzdem das Gefühl, dass sie nur das eine fehlende Beweisstück finden müsste, das dieses ganze Durcheinander in Ordnung bringen würde, bis alles wieder wie früher wäre.
Das war es, was sie sich wünschte. Sie dachte daran, wie sie Christian gefragt hatte, was geschehen würde, wenn sein Verdacht sich als begründet herausstellte. In seiner Stimme hatte ein kalter, beinahe hoffnungsloser Ton gelegen. Und was dann aus ihr und Christian wurde ...
Sie schloss die Augen und ließ sich vom Wind gründlich durchpusten.
Was würde Großvater tun, wenn Christian ihn auf die Miniatur ansprach? Würde er gestehen? Hatte er überhaupt etwas zu gestehen? Oder würde er eine Szene ganz anderer Art machen?
Beth rieb sich die Augen. Jedes Mal kam sie zu demselben Schluss: Christian hatte recht, Großvater hatte tatsächlich etwas mit der Verhaftung seiner Mutter zu tun.
Und doch ... sie konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er dafür tatsächlich verantwortlich sein sollte. Ein dumpfer Schmerz presste gegen ihre Stirn, und ihre Gedanken waren ebenso schwarz wie die Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Dazu kam, dass Beth nicht nur ständig über ihren Großvater nachgrübelte, sie musste auch dauernd an ihre Begegnung mit Christian denken. Etwas war zwischen ihnen - eine Leidenschaft, die alles andere überstieg.
Sie liebte ihn. So sehr. Von Herzen. Komisch, aber sie hatte immer gedacht, dass sie eine solche Leidenschaft als schwindelerregend und erschütternd erleben würde. Stattdessen empfand sie dieses Gefühl als tief und beständig, als etwas Festes, eine Gewissheit, die einen trug. Sie liebte ihn, aber ... liebte er sie auch? Manchmal glaubte sie, in seinem Blick eine Wärme aufblitzen zu sehen, die über eine reine Freundschaft weit hinausging. Nur was hätte es sonst sein sollen?
Es war alles so verwirrend, so nervenaufreibend. Christian mit seiner Mission, ihr Großvater mit seinen Geheimnissen, und ...
„Beth?“
Beth wandte sich um und sah Charlotte auf der Terrasse stehen, die Arme verschränkt, um sich gegen den Wind zu schützen. „Was treibst du bei diesem Wetter hier draußen? Gleich bricht der Sturm los.“
„Ich weiß.“ Beth bückte sich, schnitt eine letzte Rose ab und legte Messer und Blume in ihren Korb. Sie hatte ungefähr zwei Dutzend, genug, um ein schönes Gesteck für den Mahagonitisch im Speisezimmer zu fertigen.
Donner grollte über ihnen, und der Wind zerrte rastlos an den Bäumen. Beth hob die Röcke an und lief zu Charlotte auf die Terrasse. Zusammen gingen sie ins Haus.
Charlotte beugte sich vor und schnupperte an einer Rose. „Die sind herrlich.“
„Ich dachte, wir könnten ein Blumenarrangement für den Tisch stecken.“ Beth stellte den Korb ab und zog die Gartenhandschuhe aus.
Sie legte sie in den Korb über das Messer und trat zum Spiegel über dem Kamin, um sich die Haare zu richten. „Ach herrje! Ich sehe ja aus wie Medusa! “
„Ach, so schlimm ist es gar nicht“, meinte Charlotte, legte den Kopf schief und lächelte nervös. „Hier und da eine Haarnadel, und alles ist wieder so gut wie neu.“
Draußen donnerte es so heftig, dass die Fensterscheiben erzitterten. Charlotte zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
„Das kam ein bisschen plötzlich“, erklärte Beth. Ihre Stiefmama schien noch nervöser als sonst. „Du hast Gewitter ja noch nie gemocht. Ich weiß noch, du hattest immer schreckliche Angst.“
Charlotte rieb sich abwesend die Arme und sah hinaus auf den Himmel, der sich rasch verdunkelte. „Ich habe Gewitter schon immer gehasst. Dein Vater wurde deswegen immer sehr ungeduldig mit mir. Er liebte Unwetter.“
„Ja, und manchmal stand er draußen auf der Terrasse und wurde klatschnass. Ich habe mich immer gefragt, warum er eigentlich nie vom Blitz getroffen wurde.“
Charlotte nickte abwesend.
Beth strich sich das Haar glatt, das der Wind so gezaust hatte, und dachte an das Gespräch zurück, das sie mit Christian unter dem Schreibtisch belauscht hatte. Charlotte kannte Großvaters Geheimnis. Aber warum hätte ihr Großvater sich ausgerechnet Charlotte anvertrauen sollen? Er hielt sie doch für einen Dummkopf und noch Schlimmeres.
Charlotte musste zufällig über die Information gestolpert sein. Das war die einzig sinnvolle Möglichkeit. Und das würde auch erklären, warum ihr Großvater sich immer Sorgen machte, ob sie auch ihre Medizin nahm - weil er befürchtete, sie könnte verraten, was sie entdeckt hatte.
Beth wurde übel. Es gab so viel, was sie nicht wusste. So viele Geheimnisse überall. Sie wünschte sich von Herzen, dass Christian sich irrte.
Wieder donnerte es, und der Blitz blendete Beth einen Augenblick. Charlotte schrie auf und bedeckte die Augen mit den Händen.
Beth trat zu Charlotte und legte ihr den Arm um die dünnen Schultern. Ihre Stiefmutter fühlte sich heiß an. Beth runzelte die Stirn. „Komm. Setz dich. Ich lasse Tee kommen, und ...“
„Nein“, erklärte Charlotte und reckte entschlossen das Kinn, obwohl sie von Kopf bis Fuß zitterte. „Es wird Zeit, dass ich mich nicht mehr fürchte. “
Beth lächelte. „Bravo! Du wirst sehen, hier gibt es nichts, was dir wehtun könnte. Soll ich dir ein Gläschen Ratafia holen? Vielleicht wäre das besser.“
„Ja. Da hätte ich gern eines.“
Beth goss ihrer Stiefmutter ein Glas von dem süßen Likör ein. Sie brachte es zu Charlotte und wartete, bis sie ein paar Schlückchen getrunken hatte und ruhiger wirkte. „Charlotte, darf ich dich etwas fragen?“
Die Augen immer noch in die Finsternis draußen gerichtet, nickte Charlotte.
„Kanntest du die Mutter meines Verlobten?“
Charlotte riss die Augen auf, gerade als draußen ein mächtiger Blitz niederging. Im grellen Licht sah Beth, dass Charlottes Gesicht kalkweiß und vor Panik verzerrt war.
Ohne nachzudenken ergriff sie den Arm ihrer Stiefmutter, doch Charlotte riss sich los und ließ das Glas fallen, während sie rückwärts zur Tür ging. „Lass mich in Ruhe!“
Beth blinzelte. „Aber Charlotte! Ich habe dich nur gefragt, ob du ... “
„Nein! Hör auf!“ Charlotte legte die Hand vor den Mund. „Du darfst den Namen dieser Frau nicht aussprechen. Bennington sagt ...“ Sie presste die Finger auf den Mund. „Ich mache es nicht!“
Bennington? An ihn hatte Beth nicht gedacht, aber er war ein sehr enger Freund ihres Vaters gewesen. Gut möglich, dass dieser düstere Lord die Kutsche der Massingales benutzt hatte. Schließlich verwendete er sie jetzt auch, zum Beispiel wenn er zu ihnen geritten kam und sich das Wetter abrupt verschlechterte, so wie jetzt. Beths Herz schlug schneller. War es das? War Bennington das fehlende Glied zwischen Christians Mutter und Massingale House?
Beth legte Charlotte beruhigend die Hand auf den Arm. „Was sagt Bennington dazu, Charlotte? Was hat er mit der ... Dame, die ich erwähnt habe, zu schaffen?“
„Nichts. Er und dein Großvater, sie wollen nichts von ihr hören. Jedes Mal, wenn ich ihren Namen erwähne, schreien sie mich an und zwingen mich, noch mehr Medizin zu nehmen.“ Charlotte schüttelte den Kopf, und in ihren Augen glänzten Tränen. „Ich will das nicht mehr tun, Beth. Die Medizin tut mir nicht gut. Ich werde davon furchtbar müde, und ich kann überhaupt nicht mehr richtig denken und so.“
„Charlotte! Das ist ja schrecklich! Warum nimmst du sie denn dann?“
„Dein Großvater sagt, wenn ich sie nicht nehme, kann ich nicht hier wohnen bleiben. Dass ich irgendwo anders hin muss, ganz allein. Beth, ich habe deinen Vater geliebt, auch wenn er meine Gefühle nicht erwidert hat. Hier kann ich ihm nahe sein, und ... und ich brauche das.“ Charlotte umklammerte Beths Arm. „Verstehst du? Bitte sag, dass du mich verstehst und deinem Großvater nichts von unserem Gespräch erzählst. Er würde mich fortschicken, und das könnte ich nicht ertragen.“
Beth war ganz übel. Ruhig fragte sie: „Hat dir Großvater das gesagt, Charlotte? Dass er dich wegschicken würde, wenn du ... ihren Namen erwähnst?“
Charlotte nickte mit weit aufgerissenen Augen. „Ich traue mich nicht, mich gegen ihn zu wehren. Egal was passiert, er wird sagen, es wäre meine Schuld. Deswegen will er auch, dass ich das Laudanum nehme.“ Ein verschlagener Blick trat in Charlottes Augen, der Beth ziemlich überraschte. „Manchmal nehme ich es, und manchmal...“, sie beugte sich vor und flüsterte, „... manchmal nehme ich es nicht.“
Beth betrachtete Charlotte unbehaglich. „Hast du es heute genommen?“
Charlotte lächelte; sie sah dabei absurd hübsch und jung aus. „Natürlich.“ Sie legte den Kopf schief, sodass ihr die blonden Löckchen über die Wange fielen. „Du weißt gar nicht alles, nicht? Ich dachte, du weißt alles, aber das stimmt nicht.“
„Ich weiß nur, dass Christians Mutter zu Unrecht ins Gefängnis geworfen wurde und dort starb. Charlotte, hat Großvater sie dorthin gebracht? Hat er sie ins Gefängnis geschickt?“
Charlotte starrte sie aus riesigen Augen an. Langsam nickte sie. „Ja.“
Der Raum drehte sich um Beth, und irgendwie gelang es ihr, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Das Blut rauschte hinter ihren Augen, und ihr Herz klopfte wie wild. Christian hatte recht! Er hatte die ganze Zeit recht gehabt. „I...ich kann mir nicht vorstellen, dass Großvater so etwas getan haben könnte.“
„Vielleicht kennst du ihn nicht so gut, wie du dachtest.“ „Ich kenne ihn besser als alle anderen.“
„Nein, du kennst seine freundliche Seite besser als alle anderen. Aber er hat noch andere Seiten ... Selbst dein Vater hat sich in seiner Gegenwart nicht ganz wohl gefühlt.“ Leises Donnergrollen lenkte Beths Blick zum Fenster. „Das Gewitter verzieht sich“, sagte sie abwesend. In ihrem Kopf wirbelte es von all den neuen Informationen.
Charlotte nickte. Ihr Blick ruhte fest auf Beth. „Schade, dass du es herausgefunden hast, aber früher oder später musste das wohl passieren. “
„Vermutlich. Christian kommt heute Abend her. Wir werden Großvater morgen nach der Wahrheit fragen. Wir haben nach einem Collier gesucht, das seine Mutter ..."
„Nein!“ Charlotte umklammerte Beths Arm. „Das könnt ihr nicht machen! Er wird euch beide wegsperren oder noch Schlimmeres!“
Beth schüttelte Charlottes Hände ab. „Unsinn. Selbst wenn Großvater schuldig ist, weiß ich doch, dass er mir nichts tun würde.“
„Du kennst ihn nicht!“ Charlotte runzelte die Stirn. Sie biss sich auf die Lippen, und ihr Blick huschte flackernd umher. Plötzlich nickte sie. „Ich weiß, was du brauchst.“ Charlotte sah sich um, wie um sicherzugehen, dass niemand sie hören konnte, und dann beugte sie sich vor und flüsterte: „Das Collier, das du erwähnt hast. Ich weiß, wo es ist.“
Beth atmete tief ein. „Ich muss es sehen.“
„Dann lass uns gehen. Es ist nicht weit von hier. Wir können zu Fuß hin. Lord Bennington hat es für deinen Großvater versteckt, außerhalb des Hauses, damit keiner es findet.“ „Was hat Bennington denn damit ...“
Charlotte nahm Beth am Ellbogen und zog sie zur Tür. „Ich erkläre es dir unterwegs.“
Beth widersetzte sich. „Charlotte, ich kann nicht. Bald kommt Christian, und ... “
„Du bist wieder da, ehe er kommt.“ Sie nahm Beths Hand und drückte sie. „Bitte?“
Beth sah, dass ihre Stiefmutter Tränen in den Augen hatte. Die arme Charlotte trug dieses Geheimnis schon so lange mit sich herum. Beth drückte Charlotte die Hand und sah auf die Uhr.
In einer halben Stunde wäre Christian da. Bis dahin könnte sie das Halsband haben. Sie würde ihn an der Tür erwarten und ihm das letzte Beweisstück übergeben, nach dem er gesucht hatte - das Beweisstück, das ihren Großvater in Christians Augen auf immer verdammen würde.
Beth war das Herz schwer. Was würde Christian dann tun? Was würden sie alle tun?
„Du willst Westerville heiraten, stimmt’s?“
Die schlichte Frage ließ Beth innehalten. „Ja“, sagte sie schließlich, und ihre Stimme war so leise, dass Charlotte sie kaum verstand.
„Dann musst du die Lösung des Rätsels finden, sonst könnte das Leben des Viscounts auch in Gefahr sein. Der einzige Grund, warum der Duke eine derartige Ehe dulden würde, ist, dass er Westerville dann genau unter Beobachtung halten könnte.“
„Nein! Charlotte, Großvater ist nicht ...“
Charlotte seufzte und ließ Beths Hand sinken. „Du glaubst mir nicht. Ich selbst gehe jetzt los und hole das Collier. Aber du musst versprechen, dass du mich vor deinem Großvater beschützt. Wenn er wirklich zornig wird ...“ Charlotte schauderte.
Beth biss sich auf die Lippe. Sie durfte ihre Stiefmutter nicht allein gehen lassen, Charlotte war nie allein unterwegs, es sei denn, Lord Bennington ... Beth stutzte. War das der Grund, warum Bennington Charlotte überallhin begleitete? Weil ihr Großvater ihn ins Vertrauen gezogen hatte und sie befürchteten, sie könnte reden, wenn man sie allein losziehen ließ?
Alles wirkte auf einmal so bedrohlich. Beth kam einfach nicht mit der Vorstellung zurecht, dass ihr Großvater in Wirklichkeit ein ganz anderer war als der Mensch, den sie immer gekannt hatte.
Charlotte ging zur Tür. „Ich lasse dich jetzt allein und ...“
„Nein.“ Beth trat zu ihr. „Ich komme mit. Aber wir sollten lieber durch die Terrassentür gehen, damit die Dienstboten nicht merken, dass wir weg sind.“
Charlotte rang sich ein zittriges Lächeln ab. „Ich hole unsere Pelissen.“
Beth ergriff ihre Hände. „Sei vorsichtig. I...ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl.“
Charlotte nickte. „Das habe ich schon seit über zwanzig Jahren.“ Sie drückte Beth die Hand und schlüpfte aus dem Zimmer.
Beth blickte zum verhangenen Himmel empor. Über dem Land ballten sich riesige Gewitterwolken und warfen dunkle Schatten auf ihren schönen Garten. Eine düstere Vorahnung beschlich sie. Vielleicht fanden sich beim Collier noch andere Beweisstücke. Etwas, was ihren Großvater entlasten würde. Beth straffte die Schultern. Sie würde die Sache durchstehen. Für Christian und für ihren Großvater. Jetzt half ihnen nur noch die Wahrheit.
Sie wappnete sich, trat zur Terrassentür und sah hinaus. Schließlich blieb sie neben dem Korb mit Blumen stehen.
Nachdenklich nahm sie eine Rose heraus. Wenn nur alles so einfach wäre wie die Blumen.
Kurz darauf kam Charlotte zurück. Eine Pelisse hatte sie angezogen, die andere trug sie über dem Arm. Beth stand am hintersten Fenster, kehrte jedoch um, als ihre Stiefmama den Raum betrat. „Es hat noch nicht angefangen zu regnen.“
„Gut!“ Charlotte hielt ihr die graue Pelisse hin. „Das ist eine alte von mir. Annie war in deinem Zimmer, und ich wollte nicht, dass sie mich sieht.“
Beth nahm die Pelisse und streifte sie über.
„Bist du so weit?“, fragte Charlotte und öffnete die Terrassentür.
Beth nickte. Kurz darauf hatten sie den Garten durchquert und verließen ihn durch die Hintertür. Charlotte hüpfte beinahe vor Aufregung, während Beth schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzte. Ihr Herz war ebenso schwer wie die Regenwolken am Himmel über ihnen.
Eine halbe Stunde später kam Christian auf Lucifer die lange, gewundene Auffahrt von Massingale House entlanggeritten. Der Himmel sah nach Regen aus.
Er blickte nach oben, als fernes Donnergrollen ertönte. „Noch nicht“, murmelte er. „Bitte warte noch bis zum Dinner.“
Auch wenn es albern sein mochte, die Wolken anzusprechen, sie hörten auf ihn und ließen keinen einzigen Tropfen fallen. Christian kam um zehn vor sechs in Massingale House an, übergab Lucifers Zügel einem Stallburschen und lief leichtfüßig die Vordertreppe hinauf. Er konnte es gar nicht erwarten, Beth wiederzusehen. Es war merkwürdig, wie sehr man ein Ereignis herbeisehnen und sich gleichzeitig davor fürchten konnte, wie schnell es vorüber wäre.
Jameson empfing ihn in der Eingangshalle und nahm Überrock, Hut und Handschuhe entgegen. „Mylord. Wir haben heute nicht mehr mit Ihnen gerechnet.“
„Lady Elizabeth wollte mit mir ausreiten. Ist sie schon so weit?“, wollte Christian wissen.
„Ich schicke einen Lakaien hinauf in ihr Zimmer.“ Der Butler sah den nächstbesten Livrierten auffordernd an, worauf dieser sich verbeugte und sofort davoneilte. Danach wandte sich der Butler wieder Christian zu. „Möchten Sie im Salon auf Lady Elizabeth warten?“
„Natürlich.“
Jameson drehte sich um und führte Christian zum Salon.
Hinter ihnen ertönte ein dumpfes Tappen. „Ah! Westerville!“, rief der Herzog aus der Bibliothek. Er stützte sich auf seinen Stock und betrachtete Christian scharfsichtig. „Dachte ich doch, dass ich Ihre Stimme gehört hab. Kommen Sie, trinken Sie einen Brandy mit mir.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Herzog um und humpelte in die Bibliothek zurück.
Christian unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich wollte er nichts anderes, als Beth sehen. Doch die Einladung - wenn man es denn so nennen wollte - des Dukes konnte er wohl schlecht ausschlagen. Er folgte dem alten Mann in die Bibliothek.
Massingale setzte sich in seinen Sessel am Kamin. „Jameson, zwei Gläser Brandy bitte.“
„Jawohl, Euer Gnaden.“ Der Butler goss ihnen ein.
„Nun, Westerville? Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns zu unterhalten, nicht? Vielleicht ist jetzt der Moment dazu gekommen.“
Christian tat der Kiefer weh, so fest biss er die Zähne aufeinander. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als zu nicken.
„Ihr Brandy, Euer Gnaden.“ Jameson reichte dem Herzog ein Glas und wandte sich dann zu Christian. „Und Ihrer, Mylord.“
Christian nahm das Glas entgegen. In diesem Moment ging die Tür auf, und der Lakai kehrte zurück.
„Ah!“.meinte Jameson. „Master Charles! Haben Sie Lady Elizabeth gesagt, dass sie Besuch hat?“
„Nein, Sir. Lady Elizabeth ist nicht auf ihrem Zimmer.“
Christian runzelte die Stirn. „Bei meiner Ankunft habe ich sie auch nicht im Garten gesehen.“
Der Herzog sah Christian an. „Wusste sie, dass Sie kommen?“
„Ja, Euer Gnaden. Wir haben es heute Morgen vereinbart.“ Jameson runzelte besorgt die Stirn. „Normalerweise kommt sie doch eher zu früh.“
Der Lakai öffnete den Mund, zögerte und sagte schließlich: „Ihre Zofe ist auch ein bisschen verstört. Sie hat erzählt, Lady Elizabeth hätte sie gebeten, ihr Reitkleid herauszulegen, doch sie wäre nicht gekommen, um es anzuziehen.“
Nun wirkte auch der Herzog besorgt. „Verdammt! Wo zum Teufel steckt sie bloß?“
Der Lakai zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß nicht, Euer Gnaden. Einer der Stallburschen sagte, Lord Benningtons Pferd steht im Stall. Er ist allerdings auch nirgendwo zu finden.“
„Bennington?“, wiederholte der Herzog. „Wo zum Teufel steckt der?“
Irgendetwas stimmte da nicht. Christians Instinkt, geschärft durch die vielen Jahre auf der Landstraße, schlug Alarm. „Finden Sie Lady Elizabeth“, befahl er und stellte sein Glas auf einem Beisteiltischchen ab. „Lassen Sie alle Räume durchsuchen. Wir müssen sie finden.“
Der Lakai drehte auf dem Absatz um und eilte aus der Bibliothek, Jameson hingegen warf dem Herzog einen fragenden Blick zu.
„Was soll das?“, fragte Massingale und richtete sich im Sessel auf. Sein Gesicht war rot angelaufen. „Westerville, was zum Teufel fällt Ihnen ein? Für wen halten Sie sich, dass Sie meine Dienstboten herumkommandieren, als wären Sie der König?“
Christian beugte sich vor. „Wissen Sie denn, wo sie ist? Ist sie in Sicherheit?“
Massingale runzelte die Stirn. „In Sicherheit? Warum sollte sie nicht in ... “ Er hielt inne, und sein Gesicht wurde ein wenig bleich. Er fuhr zu Jameson herum. „Was stehen Sie hier noch herum? Haben Sie den Viscount nicht gehört? Machen Sie sich sofort auf die Suche nach Lady Elizabeth. Und finden Sie mir auch Lady Charlotte, wenn Sie schon dabei sind. Ich will von beiden wissen, wo sie sind.“
„Jawohl, Euer Gnaden.“ Jameson verneigte sich. „Ich werde in wenigen Minuten berichten. “
„Tun Sie das.“
Sie werden sie schon finden. Sie müssen sie finden. Etwas anderes konnte Christian nicht erlauben. Ungeduldig fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Seine Brust schmerzte, als trüge er ein eisernes Band. Vermutlich war sie nur spazieren und ließ sich all die schwierigen Probleme durch den Kopf gehen, die vor ihnen lagen. Er zuckte zusammen, als er sich vorstellte, wie sie verstört durch die Gegend wanderte.
Er hatte Beth versprochen, abzuwarten und ihren Großvater nur in ihrem Beisein mit seinem Verdacht zu konfrontieren. Aber würde ihnen das nicht allen noch mehr Schmerz bereiten? Es wäre besser, jetzt mit dem alten Mann zu reden, während Beth nicht dabei war und die schreckliche Wahrheit nicht hören könnte.
Christian schob die Hand in die Tasche. Darin trug er die kleine Andenkenschachtel seiner Mutter, in der er die Briefe aufbewahrte. Er zog die Schachtel heraus und legte sie auf das Beistelltischchen, auf der schon der Brandy stand.
Einen Augenblick war nur das Ticken einer Uhr zu hören. Langsam streckte der Duke die Hand aus, hob die Schachtel hoch und öffnete sie. Sorgfältig sah er den Inhalt durch. Seine Finger zitterten, vor allem, als er die Briefe berührte. Er hob den Blick. „Woher haben Sie die?“
„Vom Gefängniswärter meiner Mutter.“
Massingale schloss die Schachtel und stellte sie auf den Tisch zurück. „Ich bin froh, dass Ihnen etwas von ihr geblieben ist.“
Christian griff in die andere Tasche und holte den Brief des Bischofs und die Miniatur heraus. Er legte die Sachen auf die Schachtel seiner Mutter.
Der Duke starrte ihn erbost an. „Sie waren an meinem Schreibtisch!“
„Ja. Warum haben Sie eine Miniatur meiner Mutter?“
Die Miene des Herzogs verfinsterte sich und wurde beinahe mürrisch. „Ich hatte sie nicht, sie gehörte meinem Sohn. Er hielt sie in der Hand, als er starb. Da hatte er hohes Fieber, und die letzten Tage erkannte er uns nicht mehr.“ Der Herzog nahm die Miniatur und betrachtete sie. Plötzlich wirkte er sehr schwach. „Aber an sie erinnerte er sich. Jedes Mal, wenn sein Blick auf das Bild fiel, rief er nach ihr.“ „Woher kannte er meine Mutter?“
Abrupt legte der Herzog die Miniatur wieder hin. „Das ist eine komplizierte Geschichte.“ Er schaute auf die Briefe und meinte gereizt: „Westerville, was genau wollen Sie mit den ganzen Sachen?“
Christian nahm den Brief des Bischofs. „Vielleicht sollten Sie den hier lesen.“
Der Herzog nahm das Stück Papier entgegen. Bis auf das Knistern des Feuers und hin und wieder ein fernes Donnergrollen war es totenstill, während er las.
Schließlich seufzte er und legte den Brief wieder auf den Tisch. Er warf Christian einen zutiefst unglücklichen Blick zu. „Ich wollte dieses Gespräch nicht, wusste aber, dass es irgendwann kommen würde.“
Christian sah, wie der alte Mann fröstelte. Um etwas zu tun und zu verhindern, dass er vor Sorge um Beth verrückt wurde, trat Christian an den Kamin und stocherte im Feuer herum, bis es hell aufloderte und das Zimmer rasch aufheizte.
„Danke“, sagte der Herzog unerwartet. „Das Altwerden ist eine Last, weil man so vieles nicht mehr selbst tun kann.“ Er seufzte. „Sie wollen vermutlich alles über Ihre Mutter erfahren.“
„Ja.“
Der Herzog warf Christian einen verstohlenen Blick zu. „Ihre Mutter war wunderschön, wissen Sie. Atemberaubend schön. Darüber hinaus war sie auch intelligent und hatte ein wunderbares Lachen. Ich bin ihr nur einmal begegnet, doch ihr Lachen werde ich nie vergessen. “
Christian nickte.
„Mein Sohn hat sie natürlich viel öfter getroffen. Ich hatte mit der Gutsverwaltung zu tun, er hat sich nie dafür interessiert. Er war ein Büchernarr. Ihre Mutter auch. Sie haben sich in der Leihbibliothek kennengelernt und wurden Freunde. “
„Freunde?“
„Mehr nicht, nur Freunde, sehr zum Kummer meines Sohns.“ Der Herzog schüttelte den Kopf. „Nach dem Tod seiner geliebten Frau hat mein Sohn viele Jahre keinerlei Interesse an Frauen gezeigt. Schließlich war er überzeugt, dass er nie wieder lieben könnte, und heiratete Charlotte. Ich glaube, der Dummkopf dachte, sie wäre eine gute Mutter für Beth. Jedenfalls waren sie nicht glücklich miteinander, auch wenn sie recht friedlich nebeneinanderher lebten, bis ...“
„Bis er meiner Mutter begegnete.“
„Sie wollte nichts weiter mit ihm zu tun haben, weil er verheiratet war. Er hat den Kontakt schließlich abgebrochen, aber danach war er nicht mehr der Alte. Er hat sich immer mehr in sich zurückgezogen. Charlotte hat sich verzweifelt nach ein bisschen Aufmerksamkeit gesehnt. Ich glaube wirklich ... “
„Euer Gnaden?“ Jameson stand in der Tür, das Gesicht grau vor Sorge. „Lady Elizabeth ist nicht im Haus.“
„Haben Sie im Garten nachgesehen?“
„Wir haben den Garten und den Keller durchsucht.“ Christian trat einen Schritt vor. „Wo kann sie sein?“ „Und“, fuhr Jameson mit bedeutungsschwangerer Stimme fort, „Lady Charlotte können wir auch nicht finden.“ Christian entspannte sich. „Dann ist Beth bei Charlotte.“ Beths Großvater kämpfte sich auf die Beine. „Ja“, meinte er harsch, „sie ist bei Charlotte. Wir müssen sie sofort finden!“
Christian runzelte die Stirn. „Aber warum ...“ Plötzlich setzte sich ein kalter Gedanke in ihm fest und ließ ihn einen Moment erstarrten. Schlagartig wurde ihm alles klar. „Es war Charlotte. Sie kannte meine Mutter auch.“
„Sie hat sich bei Ihrer Mutter eingeschmeichelt, nachdem sie entdeckte, wem die Leidenschaft meines Sohnes wirklich galt. Charlotte kann sehr reizend sein. Sie schrieb ihr Briefe und gab vor, die beste Freundin Ihrer Mutter zu sein.“
„Sie ist,Sinclair.“
„Der Name ihrer Großmutter, einer der alten Sinclairs.“ Der Herzog hinkte bereits zur Tür, den Stock in der Hand. „Wir müssen uns beeilen. Man kann ihr nicht trauen ... “ Er stolperte über den Teppich und fiel hin.
Christian fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufkam. Der Herzog klammerte sich an Christians Rock fest, und dann begegneten sich ihre Blicke. Dem Herzog standen Tränen in den Augen. „Sie müssen sie einholen. Charlotte ... geht es nicht gut.“
„Nicht gut?“
„Es geht ihr nicht gut. Fragen Sie Bennington. Er weiß alles über sie, was ihn nicht davon abgehalten hat, sich ihretwegen lächerlich zu machen. Er liebt sie eben, obwohl sie verrückt ist.“
Christians Herz tat einen Satz. „Verrückt?“
„Vollkommen.“
Christian wandte sich zu Jameson. „Fehlt irgendeine Kutsche?“
„Nein, Mylord. Und auch die Pferde stehen alle noch im Stall.“
„Dann schicken Sie Ihre Männer aus, alle! Sie sollen alles absuchen. Weit können sie noch nicht sein.“
Er geleitete den Herzog zu seinem Sessel und wandte sich zum Gehen.
Massingale packte ihn am Arm. „Sie müssen wissen, wie sie ist. Wozu sie fähig ist. Charlotte war diejenige, die mit den Franzosen korrespondierte. Sie tat es schon eine ganze Weile, einfach, um ein wenig Geld außer der Reihe zu verdienen. Sie nahm ihre eigenen Briefe und kopierte sie, wobei sie die Handschrift Ihrer Mutter fälschte. Dann brachte sie die Briefe dem König; sie tat so, als hätte sie sie gefunden, während sie Ihrer Mutter bei irgendwelchen Einladungen für eine Dinnergesellschaft half. Nachdem allseits bekannt war, dass Charlotte Ihrer Mutter sehr nahe stand, stellte niemand die Geschichte in Frage. “
„Sie wussten das?“
Die Augen des Herzogs füllten sich mit Tränen. „Einen Tag nach der Verhaftung Ihrer Mutter wurde mir klar, was passiert war.“
Christian verhärtete das Herz gegen den alten Mann. „Warum haben Sie niemandem die Wahrheit gesagt?“ „Verstehen Sie mich doch. Wenn ich Charlotte bloßgestellt hätte, wäre der Name unserer Familie beschmutzt gewesen. Stattdessen schrieb ich Ihrem Vater und berichtete ihm, was passiert war. Er besaß die entsprechende Stellung und den Reichtum, um sie zu retten.“ Ein gequälter Ausdruck huschte über das Gesicht des Herzogs. „Mir war nicht bewusst, dass er sich außer Landes aufhielt, und dann war es zu spät. Sie war bereits krank. I...ich ging sie besuchen, aber selbst ich konnte sehen ...“ Der Duke schüttelte den Kopf. „Es gab keinen Grund, den Namen meiner Familie in den Dreck zu ziehen, ihre Tage auf Erden waren gezählt.“
Christian schluckte die Bitterkeit hinunter, die bei diesem Bericht in ihm aufstieg. „Darüber reden wir später. Jetzt muss ich Beth suchen.“
Mühsam sammelte sich der Herzog. „Ja, ja! Wenn Charlotte meint, Beth könnte ihrer Stellung schaden, könnte sie irgendwie in Verlegenheit bringen, wozu ein paar Fragen nach Ihrer Mutter schon ausreichen würden ... “
„Wo könnten sie nur sein?“
„Ich weiß es nicht. Die Kutsche haben sie nicht genommen, also müssen sie noch in der Nähe sein. Charlotte wandert hier überall herum.“ Die Miene des Herzogs hellte sich auf. „Die Ruine! Am See steht eine alte Ruine! Dort treibt Charlotte sich häufig herum. Sie durchqueren den Garten und die hintere Auffahrt. Von dort aus sieht man es dann schon ...“
Der Herzog hielt inne, denn er war plötzlich allein im Raum. Christian lief schon durch das Haus. Soeben hatte er die rückwärtige Terrassentür entdeckt und rannte mit laut klappernden Stiefeln darauf zu.