14. KAPITEL
Wenn der Dienstherr schlechter Stimmung ist, ziehe man nicht voreilig den Schluss, das Hammelfleisch sei verbrannt gewesen oder das Krawattentuch zu steif gestärkt. Nur Narren entschuldigen sich ohne Grund.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
„Was machst du da?“
Beth blickte vom Fenster der Bibliothek zu ihrem Großvater, der, schwer auf seinen Stock gestützt, in der Tür stand. „Wie du siehst, schaue ich aus dem Fenster.“
„Du wartest auf diesen Fant, nicht wahr?“
Das war mal wieder typisch für ihren Großvater - den Mann einen Fant zu nennen, den er gezwungen hatte, um ihre Hand anzuhalten. Ironisch schüttelte Beth den Kopf. „Falls du damit meinen Verlobten meinst, ja.“
„Verlobter, pah!“ Er musterte sie finster unter buschigen Brauen hervor und ging zu seinem Lieblingssessel am Kamin. Schwerfällig ließ er sich darin nieder, zog die Decke von der Armlehne und breitete sie über seinen Schoß.
Beth ging zu ihm, um ihm zu helfen und darauf zu achten, dass er gut zugedeckt war.
Er sah zu ihr auf. „Und? Wie gefällt es dir, verlobt zu sein?“ „Spielt das denn eine Rolle?“ Sie setzte sich in den Sessel gegenüber. „Großvater, bitte vergiss nicht, dass du derjenige bist, der wollte, dass ich heirate.“
„Ja, aber du warst diejenige, die sich so zum Gespött der Leute machte, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als darauf zu bestehen“, entgegnete er säuerlich. „Du hast uns beiden keine große Wahl gelassen.“
„Ein Umstand, den du zu deinem Vorteil genutzt hast. Du wolltest doch schon lang vor dem Skandal, dass ich heirate.“ „Wir hatten Glück im Unglück, obwohl ich wünschte, du hättest besser auf unseren guten Namen geachtet.“ In seinem Blick flammte echter Zorn auf.
Beth verspürte einen Stich Reue. „Tut mir leid. Du hast recht.“
„Ja. Unser Name hat schon genug Schaden gelitten, als ... “ Er presste die Lippen aufeinander. „Ach, ist ja egal. Wie gesagt, am Ende hatten wir wohl noch Glück. “
„Westerville ist vermutlich ganz in Ordnung“, meinte Beth, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu verleihen. „Es ist ja nicht so, als würden mir Hunderte von Verehrern die Tür einrennen. “
Seine Brauen zogen sich noch weiter zusammen. „Das kann ich mir wirklich nicht erklären. Ein so hübsches Mädchen wie du, vernünftig, wie aus dem Ei gepellt, und dann noch diese enorme Mitgift - ich verstehe einfach nicht, was da schief gelaufen ist.“
Beth blickte auf ihre Schuhspitzen. „Wer weiß? Männer sind schwer zu verstehen.“
„Nein, sind wir nicht“, widersprach ihr Großvater und stieß den Stock auf den Boden. „Wir Männer sind ganz schlichte Kreaturen. Es gibt keinen Grund, warum du keinen Anklang gefunden hast.“
Beth biss sich auf die Lippen. „Nun ja ... eigentlich gibt es schon einen Grund. “
„Was?“
„Ich ... ah, nun ja, ich wollte nicht, dass die Männer, die ich kennenlerne, dich mit Anträgen und dergleichen bestürmen.“ Sie zupfte an den Fransen eines Kissens herum, das unter ihrem Ellbogen lag.
„Weiter“, sagte ihr Großvater grimmig und mit gesträubten Augenbrauen.
„Daher dachte ich, ich könnte dem doch abhelfen.“
„Was hast du gemacht?“
„Gestottert.“
„Du hast was gemacht?“
„Gestottert. S-s-so w-w-wie jetzt.“
Er warf eine Hand in die Höhe. „Nein! “
Sie senkte den Kopf, sah dann aber verstohlen zu ihm auf. Um ihre Lippen zitterte ein Lächeln. „Doch.“
Ihr Großvater ließ die Hand sinken. „Du hast gestottert. Und alle sind davongerannt wie ...“
„Wie die Narren, die sie waren? Ja.“
Er schüttelte den Kopf, doch in seinen Augen blitzte es amüsiert auf. „Du bist unverbesserlich. Ich hoffe, Westerville weiß, was er sich mit dir eingehandelt hat! “
Beth war so klug, darauf nicht zu antworten. Die Wahrheit war, von all den Männern, die ihr in London begegnet waren, hatte sie keiner auch nur im Entferntesten interessiert. Bis auf Westerville. Was hatte der Viscount nur an sich? Attraktiv war er, aber es war mehr als das. Es war die Art, wie er sie ansah, so als wäre er aufgebracht und fasziniert zugleich. Die Hartnäckigkeit, mit der er den Verräter seiner Mutter suchte.
Beth schob die Hand in die Tasche. Das Päckchen Briefe steckte immer noch darin. Sie hatte sie gestern im Garten gelesen und dann noch zwei Mal in ihrem Zimmer, bevor sie schlafen gegangen war. Stunden später hatte sie immer noch hellwach im Bett gelegen, über den Inhalt nachgegrübelt und sich die Notlage der Frau vorgestellt, die den Großteil der Briefe geschrieben hatte, hatte das tiefe Mitleid in dem Brief des Bischofs gehört. Die Briefe waren herzzerreißend und plausibel; sie verstand, warum Christian so überzeugt davon war, dass ihr Großvater die Hand im Spiel hatte.
Und doch gab es Details, die irgendwie nicht echt klangen. Warum sollte ihr Großvater Christians Mutter Böses wün-sehen? In den Briefen war nichts zu finden, was auf eine Verbindung zwischen den beiden hingedeutet hätte. Außerdem besaß ihr Großvater außerordentlich viel Geld und mochte Juwelen nicht besonders; er selbst trug nur einen Siegelring. Was sollte er mit einem Collier anfangen?
Irgendein Stück der Geschichte fehlte. Dennoch musste Beth einräumen, dass Christians Verdacht nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war. Die Beweise reichten zwar nicht für eine Überführung, aber sie erschienen selbst ihr bedeutsam. Auch wenn sie mit seinen voreiligen Schlussfolgerungen nicht einverstanden war, musste sie doch bewundern, wie unermüdlich er sein Ziel verfolgte.
Und dann kam noch dazu, welche Gefühle er in ihr weckte ... An diesem Morgen hatte sie eine gute halbe Stunde damit zugebracht, Annie über die beunruhigende Wirkung zu befragen, die Westervilles Gegenwart auf sie ausübte. Annie schien der Ansicht, dass Beth eine beneidenswerte Frau sei.
War sie das denn? War sie zu beneiden?
„Beth?“
Sie blickte auf und begegnete dem Blick ihres Großvaters. „Ja?“
„Warum willst du nicht heiraten?“
„Ich glaube nicht, dass ich je gesagt habe ..."
„Erzähl mir nichts! Ich weiß, was du denkst, und du willst nicht heiraten, nicht einmal Westerville.“ Er beugte sich vor. „Warum nicht?“
„Weil...“ Sie biss sich auf die Lippen. Um ehrlich zu sein, irgendwo tief in ihrem Herzen stellte sie sich dieselbe Frage. Wie es wohl wäre, mit Christian verheiratet zu sein? Neben ihm aufzuwachen? Mit ihm zu frühstücken? Die Zeitung und den Klatsch mit ihm zu teilen? Sie sah sich in der Bibliothek um und versuchte ihn sich dort vorzustellen.
Merkwürdigerweise gelang ihr das. Es würde ihm Spaß machen, mit ihrem Großvater über Politik zu reden, dessen war sie sich sicher. Und er hatte bereits zugegeben, dass ihn die Verwaltung der Ländereien interessieren würde - er hatte seinen Vater für dessen Fähigkeiten auf diesem Gebiet sogar bewundert. Sie seufzte. „Ich will nicht heiraten, weil ich keinen Fehler machen will.“ Sie fing den Blick ihres Großvaters auf. „Wie Vater und Charlotte. Ich kann mich an nicht viel erinnern, aber er war nie glücklich mit ihr.“
Ihr Großvater verzog das Gesicht. „Dein Vater bereute die Hochzeit vom ersten Tag an.“
„Warum hat er sie dann geheiratet?“
„Er war einsam. Und er dachte, es wäre gut für dich, obwohl man die Frau nur anzusehen braucht, um zu wissen, dass sie keinen Funken Mütterlichkeit im Leib hat.“
Beth seufzte. „Ich hätte gern einen liebevollen Ehemann, aber dann wiederum ... kann ich mir das gar nicht vorstellen.“
Zu ihrer Überraschung fing ihr Großvater an zu lachen. „Das ist normal, mein Mädchen. Völlig normal. Im Leben gibt es keine Garantie. Du musst nehmen, was du kriegen kannst, und es genießen, solange du es hast. Das hat dein Vater nicht getan. “ Das Gesicht des Dukes umwölkte sich. „Nach dem Tod deiner Mutter zog er sich zurück, übersetzte dies und das und vergaß dabei zu leben. Ich will auf keinen Fall, dass dir das auch passiert.“
„Er hat die Literatur geliebt.“
„Er hätte das Leben lieben sollen. Und dich. Du warst das Beste, was ihm je passiert ist, bloß war er die ganze Zeit viel zu beschäftigt damit, den Verlust deiner Mutter zu betrauern, um es zu merken. Und als ihn dann doch etwas wachgerüttelt hat und er sich wieder lebendig fühlte, war es zu spät. Er hatte sich bereits entschieden für ..." Er hielt inne und presste die Lippen zusammen.
Beth runzelte die Stirn. „Großvater, was willst du damit ...“
Die Tür ging auf, und Jameson trat ein. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber es ist elf Uhr.“
Der Herzog schob die Decke beiseite. „Zeit für mein Nickerchen.“ Er nahm den Stock und humpelte auf den Butler zu. „Beth, du solltest auch ein wenig schlafen. Du musst ausgeruht sein, falls dieser Verlobte jemals auftauchen sollte. In letzter Zeit wirkst du ein wenig erschöpft.“
„Ich werde Charlotte bitten, mir etwas von ihrer Medizin abzugeben. Ich werde schon so fahrig wie sie.“
„Kaum. Selbst nach zwei schlaflosen Wochen wärst du immer noch wacher als dieser Dummkopf.“
„Großvater! Du bist so unfreundlich zu Charlotte. Eigentlich zu jedem. Sogar zu Lord Bennington ...“
„Der ist ja noch dümmer. Er nutzt Charlotte aus, und sie lässt es zu.“
„Ich weiß nicht, wie du darauf kommst. Bennington war doch immer nur nett zu ihr. “
„Du kennst beide längst nicht so gut wie ich“, versetzte ihr Großvater scharf.
Beth seufzte. Es wäre nicht gut, ihren Großvater aufzuregen. Sie stand auf. „Ich sollte wohl auch nach oben gehen. Vielleicht wäre ein Schläfchen jetzt genau das Richtige. Übrigens, wenn Westerville heute kommt, würdest du dir bitte ein wenig Mühe geben, nett zu ihm zu sein?“
„Ich bin nett zu ihm! Ich hab ihm schließlich befohlen, dich zu heiraten, oder nicht?“
„Das würde ich kaum nett nennen. Wenn du möchtest, dass ich heirate, könntest du ein bisschen mehr Respekt zeigen, wenn ich von meinem Verlobten spreche.“
„Ich zeige durchaus Respekt.“
„Von wegen! Ich kann froh sein, dass du mir nicht vor die Füße gespuckt hast, als ich seinen Namen erwähnt habe.“
In den blauen Augen ihres Großvaters erschien ein widerstrebendes Zwinkern. „Na ja, letztlich habe ich dann ja doch nicht gespuckt, oder? Das ist immerhin etwas, oder nicht?“
Beth musste lächeln. „Du musst mir versprechen, höflich zu sein. Das ist mir sehr wichtig.“
Der Blick ihres Großvaters wurde scharf. „Ach, so ist das also,ja?“
Sie wurde rot. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Er lachte, höchst erfreut über irgendetwas. Dann humpelte er zur Tür, die Jameson immer noch höflich aufhielt. „Nein, meine Liebe. Vermutlich nicht. Aber du wirst es schon noch erfahren.“ Mit diesen geheimnisvollen Worten verschwand er im Flur.
Annie lehnte am Fenster, die Wange platt gedrückt, und versuchte, ums Eck zu linsen.
„Siehst du etwas?“, erkundigte sich Beth zum hundertsten Mal, während sie sich ein Band ins Haar flocht.
„Nein. Gar nichts.“ Annie seufzte und richtete sich auf. „Man möchte meinen, Ihr Kerl hätte längst mal bei Ihnen vorbeischauen können.“
„Er kam gestern, als ich im Garten war.“
„Hui, das haben Sie mir ja gar nicht erzählt!“
„Ich muss dir auch nicht alles erzählen. Heute kommt er auch.“
„Es wird allmählich spät, was?“
„Er ist wohl noch die Londoner Zeiten gewohnt.“ Außerdem hatte sie ihm an diesem Morgen eine Nachricht geschickt, er solle erst nach elf Uhr kommen. Um diese Zeit hielt ihr Großvater immer sein Schläfchen. Auf die Art hätten sie ein wenig Zeit für sich, ehe ihr Großvater sich zu ihnen gesellte.
„Londoner Stunden“, spöttelte Annie. „London hier und London da. Ich würd Ihnen für die Stadt nicht mal zehn Pennys geben!“
„Hat es dir dort denn nicht gefallen, Annie?“
„Überhaupt nicht, Mylady. Ich war noch nie so froh wie an dem Tag, wo ich in mein eigenes Zimmer und in mein eigenes Bett zurückkonnte.“ Annie schüttelte den Kopf. „Dort gibt es mehr Männer, das muss ich zugeben. Aber sie sind nicht von einer Qualität, wie ich sie empfehlen tät.“
Beth hantierte mit der versilberten Bürste auf der Frisierkommode. „Annie, du hast mir einmal gesagt, man könnte erkennen, ob man verliebt ist, wenn man sich fiebrig fühlt, aber kein Fieber hat. Also ... was wäre, wenn ich mich nicht direkt so fühle, als hätte ich Fieber, bloß eher so ... zittrig. “ „O ja, Mylady. Zittrig ist auch nicht schlecht. Man muss sich anders als sonst fühlen, und manchmal auch irgendwie ängstlich.“
„Ah.“
„Aye. Irgendwie prickelig. Und es juckt einen an Stellen, von denen ich jetzt lieber nicht sprechen möchte.“
Beth blinzelte. „Es juckt?“
„Manche würden vielleicht sagen, man spürt eine stille Sehnsucht. Aber ich, ich sag, es juckt.“
Das war sehr interessant - und informativer, als Beth sich gewünscht hatte. „Verstehe. Na gut. Ich werde es mir merken.“ Sie dachte ein paar Minuten nach. Christian würde bald da sein. Und er sorgte tatsächlich dafür, dass es sie ein wenig „juckte“, wenn sie Annie richtig verstand.
Sie sah zu ihrer Zofe auf. „Ich möchte dich bitten, etwas für mich zu tun.“
„Aye?“
„Wenn Seine Lordschaft kommt, könntest du die Lakaien aus der Halle locken?“
Annie strahlte. „Ein Stelldichein, was? Na, nachdem Sie mit dem Kerl ja verlobt sind, wüsst ich nicht, was dagegen spräche. Ein bisschen Vergnügen hat noch keinem geschadet.“
Beth wollte ihre Zofe schon korrigieren, überlegte es sich dann aber anders. „Also, ja. Danke, Annie.“
„Ach, gern geschehen.“ Annie presste erneut die Wange an die Scheibe. „Ich glaube ... aye, da kommt er ja!“ Breit grinsend richtete sie sich auf. „Ach, er schaut wirklich erstklassig aus, wie ’n Prinz.“
„Ich gehe gleich nach unten.“
„Warten Sie doch, Mylady! Sie woll’n ja nicht übereifrig wirken. “
„Aber ... “
„Glauben Sie mir. Es tut denen gut, wenn man sie ein bisschen zappeln lässt. Dann sind sie ganz verrückt drauf, einen zu sehen.“
„Verrückt wohl, aber das halte ich für keine gute Idee. Außerdem will ich hinuntergehen, bevor Großvater erfährt, dass er da ist.“
„Ihr Großvater hält sein Nickerchen. Bis der wieder auf ist, vergeht bestimmt eine halbe Stunde. “
„Genau das meine ich. Nur eine halbe Stunde. Vergiss nicht, die Lakaien rauszulocken. Zumindest für ein paar Minuten.“ Damit verließ sie das Zimmer. Sie kam nach unten, gerade als Jameson die Tür öffnete und Christian in die Halle bat.
Er sah sie im selben Augenblick, und eine verlegene Stille trat ein. Beth fragte sich, ob sein Anblick immer diese Wirkung auf sie haben würde, ob ihr immer die Knie weich würden und es ihr das Herz im Leibe umdrehte. Sie sammelte sich und brachte einen halbwegs anständigen Knicks zustande, ehe sie sich zum Butler wandte, der inzwischen Westervilles Hut und Handschuhe entgegengenommen hatte.
„Jameson, ich nehme Seine Lordschaft in den Vorderen Salon mit. Sie brauchen Großvater noch nicht davon in Kenntnis zu setzen, dass Lord Westerville hier ist.“
Christian hob die Brauen, und in seinen grünen Augen stand eine Frage.
Beth lächelte ihn an und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf.
Jameson verneigte sich. „Wünschen die Herrschaften Tee?“
„Nein, vielen Dank“, befand Beth, hängte sich bei Christian ein und führte ihn in den Salon.
Der Butler sprach kurz mit einem der Lakaien in der Eingangshalle und begab sich dann den Flur hinunter zu den Dienstbotenquartieren.
Sobald der Butler außer Hörweite war, sah Christian auf Beth hinunter. „Na, meine Liebste? Entführst du mich zu irgendwelchem gesetzlosen Treiben? Ich habe fast das Gefühl, als hätte ich mich in das Boudoir einer verheirateten Dame geschlichen, nur um festzustellen, dass ihr Gatte noch zu Hause ist.“
Beth hob die Brauen. „Das Boudoir einer verheirateten Dame?“
Sein Lächeln verlor ein wenig an Strahlkraft. „Vielleicht war das ein schlechtes Beispiel.“
„Ja, vielleicht“, stimmte sie steif zu und staunte über den Ansturm der Gefühle, den diese Andeutung in ihr auslöste.
Er verzog das Gesicht. „Ich habe nicht daran gedacht, wie das klingen würde. Ich wollte nur ..."
„Schon gut“, versetzte sie kurz angebunden. Sie griff in die Tasche und holte die Briefe heraus, die er ihr tags zuvor gegeben hatte. „Hier.“ Sie reichte sie ihm. „Die gehören dir.“
Er nahm sie entgegen, doch sein Blick ließ ihr Gesicht nicht los. „Und?“
Beth zögerte. Seine Miene war gespannt; man sah, dass er diesem Augenblick entgegengefiebert hatte. „Du hast recht, wenn du sagst, jemand in Massingale House ist für das Schicksal deiner Mutter verantwortlich. Ich kann nur nicht glauben, dass es Großvater war. “
„Wer hätte es sonst sein sollen?“
„Vater war schon tot, als deine Mutter verhaftet wurde.“
„Ich weiß. Glaubst du, Charlotte könnte zu so einer Intrige fähig sein?“
„Nein. Dazu ist sie nicht stark genug, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie so herzlos sein könnte. Ich weiß nicht, wer das Verbrechen auf dem Gewissen hat. Ich weiß nur, dass es eine Verbindung zwischen Massingale House und der ungerechten Kerkerhaft deiner Mutter gibt, und ich werde dir helfen, so gut ich kann.“ Ein Geräusch lenkte ihren Blick zur Tür.
„Beth, ich ...“
„Psst!“, zischte Beth. Auf Zehenspitzen schlich sie zur offenen Tür und sah hinaus. Die beiden Lakaien standen in stoischem Schweigen.
„Was ist denn?“, flüsterte Christian direkt hinter Beth, und sein Atem strich ihr warm und unerwartet über die Wange.
Sie musste ein Zittern unterdrücken, und sie konnte gerade noch flüstern: „Warte!“
Draußen war alles still, bis Beth hinter einer entfernten Tür Annies Stimme hörte. Sie wurde immer lauter, bis Beth erkannte, dass ihre Zofe mit Jane redete, einem Dienstmädchen, das ihr Großvater immer als „schrecklich kokett“ bezeichnete.
Sobald Annie und Jane in Hörweite der Eingangshalle waren, begannen sie, den Lakaien Grüße zuzurufen.
Christian und Beth sahen durch die Tür zu, wie die beiden Zofen mit den Lakaien flirteten und sie baten, ihnen beim Tragen der Wäschekörbe zu helfen.
„Das funktioniert nie“, flüsterte Christian. „Die werden ihren Posten nicht verlassen.“
„Da kennst du Annies Kräfte nicht.“ Kurz darauf verschwanden Annie und ein Lakai tatsächlich im Flur, gefolgt von Jane und ihrem Beau.
Beth packte Christian bei der Hand. „Wir haben nicht viel Zeit!“
„Zeit? Zeit wofür?“
Sie zog ihn hinter sich her, aus dem Salon und in die Bibliothek ihres Großvaters. Beth öffnete die Tür, schob Christian hinein und folgte ihm, nachdem sie sich noch einmal vorsichtig umgesehen hatte.
Sobald die Tür zu war, drehte Beth sich zu Christian um, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte ein wenig gezwungen. „Na?“
Er sah sich um, und ihm dämmerte eine Erkenntnis. „Das ist die Bibliothek deines Großvaters!“
„Ja. Wenn er irgendetwas versteckt hätte, dann sicher hier.“
Er entdeckte den Schreibtisch und trat darauf zu, hielt dann aber inne. Stattdessen ging er zu Beth und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. „Danke“, sagte er einfach.
Ihr ganzer Körper stand in Flammen, und ihr schwante, was Annie mit ihrem „Jucken“ gemeint haben könnte. „Beeil dich besser. Er hält sein Nickerchen. Normalerweise schläft er eine Stunde, aber man weiß ja nie.“
Er nickte knapp, sah aus, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. „Komm.“
Sie schaute sich um. „Soll ich anfangen, die Bücherregale nach einer Buchattrappe oder einem verborgenen Schränkchen zu durchsuchen?“
Amüsiert sah er sie an. „Beth, das hier ist kein Roman. Wenn dein Großvater etwas zu verbergen hat, wird es dort sein, wo er seine anderen Wertsachen aufbewahrt.“
„Oh“, meinte sie. Es wäre so nett gewesen, ein Geheimversteck zu finden, oder zumindest einen verborgenen Safe.
Christian lachte leise. „Schau nicht so enttäuscht. Das hier ist meine Sache. Nicht deine. Ich möchte nicht, dass du irgendetwas tust, was dich bei deinem Großvater in ein schlechtes Licht rücken könnte. “
„Zum Beispiel, mich in seine Bibliothek schleichen, während er ein Schläfchen hält?“
Christian hielt inne. „Du gehst für mich ein ganz schönes Risiko ein, nicht wahr?“
„Nein, ich gehe mit dir ein Risiko ein. Das ist viel gefährlicher.“
„Ich werde dich nicht enttäuschen, Beth.“ Er ging zum Schreibtisch, strich über die Oberfläche und setzte sich dann in den mächtigen Ledersessel. „Das Collier muss ja irgendwo sein.“
„Vielleicht hat derjenige, der es genommen hat, es einfach verkauft?“
„Das können wir ausschließen. Es war ein ganz auserlesenes Stück. Ich habe Erkundigungen eingezogen, und bisher ist es in keiner Privatsammlung aufgetaucht.“ Christian zog am Griff der obersten Schreibtischschublade. Sie glitt ein winziges Stück heraus und blockierte dann. Unter dem Druck ächzte das Schloss. „Verdammt.“
Beth hatte damit begonnen, die Bücherregale auf der Suche nach irgendetwas Außergewöhnlichem abzutasten. Sie sah zu ihm herüber. „Was ist denn?“
„Der Schreibtisch ist abgeschlossen.“
„Natürlich ist er das.“
„Was ist daran natürlich?“
Sie runzelte die Stirn. „Weil Großvater den Schreibtisch immer abschließt.“
Verflixt und zugenäht. Christian zog noch einmal an der Schublade. Sie rührte sich nicht. Er fluchte und warf Beth einen finsteren Blick zu. „Kommt dir das nicht seltsam vor? Dass er seinen Schreibtisch so sorgfältig absperrt?“
„Nein“, meinte sie knapp. „Schließt du deinen Schreibtisch denn nicht ab?“
Er besann sich. Natürlich schloss er ab. Im Haus hielten sich Dienstboten auf, von denen man manche nie zu Gesicht bekam, zum Beispiel den Kaminkehrer jungen oder den Teppichklopfer. Christian kannte sie nur deswegen, weil er ein, zwei Mal unangekündigt in die Bibliothek gegangen war und diese Individuen dort überrascht hatte. „Ja, ich schließe wohl ab“, gab er widerstrebend zu.
„Kein halbwegs vernünftiger Mann würde das anders handhaben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Schulter ans Bücherregal. „Deswegen solltest du deine Theorie auch nicht allein überprüfen. Du brauchst jemand Unparteiischen, der dir hilft.“
Er hob eine Braue.
„Dir, mein Lieber, ist die Fähigkeit abhandengekommen, Menschen und Sachverhalte unvoreingenommen zu beurteilen.“
„Ist sie nicht!“
„Doch“, erwiderte sie unverwandt gut gelaunt. „Du möchtest so gern glauben, dass mein Großvater diese schreckliche Tat begangen hat, dass du alles, was du herausfindest, so lange drehst und wendest, bis es deine Annahme bestätigt.“
Er versuchte es mit einer zweiten Schublade und musste feststellen, dass auch sie verschlossen war. Er rüttelte ein paar Mal daran und warf Beth einen düsteren Blick zu. „Noch habe ich deinen Großvater mit seiner vermeintlichen Tat nicht konfrontiert, oder?“
Sie presste die Lippen zusammen und sah ihn nachdenklich an. „Noch nicht. Doch sobald du etwas findest - egal was, egal wie windig es ist -, wirst du nicht einfach nur vorschnell, sondern mit Riesenschritten zu dem Schluss kommen, er sei schuldig. “
„Glaube mir, so vernebelt ist mein Verstand nicht.“
Sie hob die Brauen und schwieg, dieses verdammt verführerische überlegene Lächeln auf den Lippen. Christian lehnte sich zurück. Es gab mehr als eine Möglichkeit, einer Katze das Fell über die Ohren zu ziehen, und mehr als einen Weg, die fehlgeleitete Zuversicht einer attraktiven Frau zu zerstören. „Vermutlich glaubst du, du kannst besser räsonieren als ich.“
„In diesem Fall, ja.“
Er ließ den Blick über sie wandern, hielt erst bei ihren vollen Brüsten inne, dann bei ihren runden Hüften. „Westerville, hör sofort damit auf!“
„Womit?“, fragte er, so unschuldig er konnte.
„Aus allem eine Verführung zu machen. Ich bin hauptsächlich hier, um meinen Großvater zu schützen. Ein oder zwei schmachtende Blicke von dir werden daran nichts ändern.“
Christian gefiel die Art, wie sie sagte, sie sei hauptsächlich hier, um ihren Großvater zu schützen. Nun grinste er sie an. Ihm war seltsam eng in der Brust geworden. „Ich habe dir keine schmachtenden Blicke zugeworfen.“
„Wie würdest du es denn dann ausdrücken?“
„Ich habe nur deine ... ah, Pluspunkte gewürdigt.“
„Ja, schön, ich könnte bei dir dasselbe machen, nur dass ... “ „Nur dass?“
„Nur dass sie alle unter dem Schreibtisch sind.“
Einen Augenblick herrschte Stillschweigen, und dann lachte Beth. Es handelte sich dabei nicht um ein dezentes leises Lachen, sondern um eine schallende Lachsalve, die ihm köstlich und kühl über die Ohren perlte.
Er stand halb auf und winkte ihr, doch ruhig zu sein. Schockiert stellte er fest, dass seine Wangen heiß geworden waren. „Still! Sonst hört man dich noch!“
Sie schlug sich die Hand vor den Mund, doch in ihren Augen tanzte immer noch das Gelächter. Nachdem sie sich wieder im Griff hatte, sagte sie: „Sollen sie mich doch hören. Im Gegensatz zu dir darf ich die Bibliothek ja betreten. Mein Großvater würde nichts weiter dabei finden, wenn ich mich in der Bibliothek aufhalte.“
Er kehrte zum Schreibtisch zurück. „Du hast mich hier hereingeschmuggelt. Ich würde nicht wollen, dass all deine harte Arbeit und deine List am Ende umsonst gewesen sind.“
„Das wäre bedauerlich“, stimmte sie zu, und ihre herrlichen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Aber die Sache vielleicht auch wert.“
Er schüttelte den Kopf, unwillkürlich doch amüsiert. „So kenne ich dich noch gar nicht. Im einen Moment ganz wie eine strenge Gouvernante, und im nächsten ...“ Er musste selbst grinsen. „Ich glaube, das gefällt mir.“
„Hoffentlich nicht zu sehr. Derartig empörende Dinge spreche ich normalerweise nicht aus.“
„Nein, aber vermutlich denkst du sie.“
Ihr freches Grinsen war Antwort genug. „Siehst du, wie schrecklich ich als Gastgeberin irgendwelcher hochvornehmen Partys wäre? Ich bin in der Bibliothek, allein mit meinen amüsanten Gedanken, weitaus besser aufgehoben.“ Ihre Lippen zitterten. „Ich wünschte, du hättest dein Gesicht sehen können. Ob dich wohl je jemand schockieren kann?“
Natürlich nicht. Das war seine Rolle als Straßenräuber - zu schockieren und zu überraschen. Und doch schien es irgendwie richtig, dass ihn diese Frau mit ihrer Intelligenz, ihrer ungewöhnlichen Kühnheit, ihren ungekünstelten Manieren und der kompletten Missachtung ihrer eigenen Schönheit immer neue Rätsel aufgab.
Er musste schlucken, als er sie ansah. Sie war sein ... und dann doch nicht. Das Leben war zu den Llevanths noch nie besonders freundlich gewesen. Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, und das Herz wurde ihm noch schwerer.
Wieder rüttelte er an den Schubladen, doch nichts geschah.
„Irgendwo ist ein Schlüssel.“
Er blickte zu ihr hoch. „Irgendwo bestimmt.“
„Nein, ich meine, auf dem Schreibtisch.“ Sie lehnte immer noch am Bücherregal, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Gelächter von vorhin war verschwunden. Stattdessen betrachtete sie ihn nachdenklich, als wollte sie ihn einschätzen.
Ein letztes Mal rüttelte er an der Schublade, dann begann er nach einem Brieföffner zu suchen.
Anmutig stieß sie sich vom Bücherregal ab und trat zu ihm an den Schreibtisch. „Westerville, hättest du Lust auf eine Wette?“
Eine Wette. Mit Beth. Es war eine spielerische Geste, eine, die Elizabeth mehr als alles andere charakterisierte. Wie von selbst bewegten sich seine Mundwinkel nach oben. Diese Frau war die reinste Freude. Eine aufreizende, herausfordernde Frau, die weitaus mehr verdiente, als das Schicksal ihr zugeteilt hatte. Wenn die Schuld ihres Großvaters bewiesen und ihre Beziehung beendet war, wäre dies alles, was ihm bleiben würde ... die Erinnerung an Momente wie diese. „Meine Liebste, wie soll die Wette denn aussehen?“
Ihre Augen wurden schmal. „Ich bin nicht deine Liebste.“ „Im Augenblick schon.“
Sie atmete hörbar ein und sagte dann: „Wir wetten folgendermaßen: Jedes Mal, wenn du aus irgendwelchen neuen Anhaltspunkten vorschnelle Schlüsse ziehst, bekomme ich einen Punkt. Zum Beispiel, als du angedeutet hast, es sei ungewöhnlich, seinen Schreibtisch abzuschließen, während das in Wirklichkeit doch ganz normal ist.“
„Ich ziehe nicht immer so vorschnelle Schlüsse.“
„Bei meinem Großvater schon. Du warst von vornherein von seiner Schuld überzeugt, daher interpretierst du alle Fakten in diesem Sinne.“
„Das stimmt doch gar nicht“, knurrte er.
„Wenn es nicht stimmt, wirst du die Wette gewinnen. Bleiben wir dabei: Jedes Mal, wenn du ein vorschnelles Urteil fällst, bekomme ich einen Punkt. Und jedes Mal, wenn du einen Beweis findest, der wirklich gegen meinen Großvater spricht, bekommst du einen Punkt.“
Das schien gerecht. Er gab es ja nicht gern zu, aber was seine Reaktion auf den verschlossenen Schreibtisch anging, hatte sie recht. Er fragte sich, worin er sich beim Tod seiner Mutter sonst noch getäuscht haben mochte. Was, wenn er komplett falschlag? Wenn ihr Großvater tatsächlich unschuldig war?
Christian nickte. „Also schön. Die Wette gilt. Worum wetten wir? Oder darf ich das bestimmen? Wenn ja ...“, er ließ den Blick über sie gleiten, „... kannst du dir sicher denken, was ich als Preis fordere. “
Sie errötete, sah ihm jedoch mutig in die Augen. „Was denn?“
„Dich. In meinem Bett.“
Beth blieb der Mund offen stehen. Doch sie erholte sich rasch wieder und meinte mit einem zögerlichen Zwinkern: „Vermutlich wäre es weicher als der Billardtisch.“
Er lachte, und ihm wurde klar, dass es vermutlich das war, was er am meisten vermissen würde - all die Verheißung, die im Zusammensein mit Beth steckte. Momente wie diese, welche die Zukunft bereithalten würde, Momente voll Liebe, voll Lachen. Momente der Nähe, körperlich wie seelisch.
Doch das alles war nur ein Traum. Gott, wie ihm das alles verhasst war. Wenn sich herausstellte, dass ihr Großvater schuldig war, was sollte er dann tun? Die Ehre gebot ihm, Rache zu nehmen, den Mann, der seine Mutter getötet hatte, mit dem Leben bezahlen zu lassen. „Nein. Keine Wette. Vergiss es“, hörte er sich sagen. Dann wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu.
„Nein“, sagte sie atemlos. „Ich bin mit deinem Vorschlag einverstanden.“
Rasch sah er auf. „Das brauchst du nicht.“
Sie begegnete seinem Blick. „Ich will aber.“ Schweigen trat ein. Er sah das Begehren in ihrem Blick, und ihn überlief ein Schauer. Binnen Sekunden war sein Körper hart und bereit. „Beth. Du brauchst nichts zu tun ...“
„Ich bin kein Kind. Ich weiß, was ich will. Ich will diese Wette.“ Sie lächelte. „Außerdem, wieso bist du dir so sicher, dass du gewinnst?“
Sie musste wissen, was sie mit ihm machte. Sie musste es einfach wissen. Er atmete tief durch. „Also schön. Welchen Preis suchst du dir aus, nachdem du jetzt meinen kennst?“
„Wenn ich gewinne und du tatsächlich die Dinge so hinbiegst, dass sie deine Theorie stützen, wirst du mir ein schönes Rubincollier kaufen. Nennen wir es ein Hochzeitsgeschenk. “
„Wir heiraten aber nicht.“
Sie lächelte, ihre vollen Lippen teilten sich und enthüllten ihre weißen Zähne. „Das heißt noch lange nicht, dass du mir nicht ein schönes Geschenk kaufen kannst. Wenn du möchtest, sagen wir dazu eben Nichthochzeitsgeschenk.“
„Das wäre mir wesentlich angenehmer.“ Obwohl er sich da nicht mehr so sicher war ...
„Mir wäre es auch angenehmer“, erwiderte Beth so unbekümmert, dass Christian zusammenzuckte. „Machen wir es doch so: Sobald du mir das Collier gekauft hast, löse ich die Verlobung.“
Er hätte beinahe gelacht; sie war ungeheuer anziehend, wenn sie ihn so spitzbübisch ansah.
Beth ging zum Schreibtisch und nahm den Brieföffner in die Hand. Über den Tisch hinweg reichte sie ihn Christian. „Bitte, mach die Schubladen auf.“
Er strahlte sie an. „Die Wette gilt“, sagte er leise.
„Die Wette gilt“, bestätigte sie.
Sie blieben, wo sie waren, und sahen sich an. Eine Welle heißen Begehrens überlief sie, setzte sich in ihrem Bauch und tiefer fest.
Im selben Moment überkam Beth die Erinnerung. Wieder spürte sie Christian auf sich, den grünen Filz unter sich. Ein Prickeln durchzuckte sie, und sie musste sich zwingen, ruhig zu atmen, damit er nicht merkte, wie erregt sie plötzlich war.
Langsam wandte Christian sich wieder dem Schreibtisch zu. Er schob den Brieföffner in das Schloss und drehte um. Mit lautem Klicken sprang das Schloss auf. Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Vorsichtig zog er die Schublade auf. Drinnen lagen diverse Papiere und Lederbeutel.
Er durchwühlte die Sachen, untersuchte dabei jedes Stück, so schnell er konnte.
Beth stand mit geneigtem Kopf und lauschte Richtung Tür. Von draußen war nichts zu hören, obwohl anzunehmen war, dass die Lakaien zurückgekehrt waren.
Als Christian einen leisen Fluch ausstieß, drehte sie den Kopf. „Was?“
„Nichts.“
„Hervorragend!“, erwiderte sie.
Er ließ den Brieföffner in das nächste Schlüsselloch gleiten. Und ins nächste. Eines nach dem anderen brach er die Schlösser auf. Jedes Mal fand er in den Schubladen nichts.
Schließlich hatte er die letzte Schublade geknackt, die ganz unten. Beth blickte zum Schreibtisch, sah aber nur Christians Hinterkopf. Er begann im Inhalt der Schublade zu wühlen. Plötzlich ertönte ein erstickter Schrei.
Er stand auf. Seine Miene war wie betäubt. Er hielt etwas in den Händen, ein Objekt, über das er nun fast liebevoll mit dem Finger strich. Schließlich blickte er auf und sah Beth in die Augen. „Ich glaube, dieser Punkt geht an mich.“
Beths Herz setzte einen Schlag aus und begann dann umso heftiger zu klopfen. Er konnte nichts gefunden haben, was Großvater in die Sache verwickelte. Das war schlichtweg unmöglich. Sie würde es nicht glauben. Schließlich ging sie zu ihm hinüber.
Eine Miniatur lag in seiner Hand. Darauf war eine Frau mit dichtem schwarzen Haar zu sehen und herrlichen grünen Augen ... „Deine Mutter“, hauchte Beth und strich über das Bildnis. „Du siehst genauso aus wie sie. Aber wie ... warum sollte Großvater eine Miniatur deiner Mutter besitzen?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Christian grimmig. Er fing Beths Blick auf. „Glaubst du mir jetzt? Dein Großvater hat mit ihrem Tod zu tun. Dessen bin ich mir sicher.“
Sie wollte ihm antworten, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Wie konnte das sein? War es wirklich möglich? Beth konnte es einfach nicht glauben. „Großvater würde nie ...“
In der Eingangshalle erhob sich Lärm. Jameson erteilte Befehle, und im Hintergrund hörte man einen Stock auf den Boden klopfen, ein Geräusch, das beständig näher kam. Dann beschwerte sich eine verdrossene Stimme über die Kälte.
Beth packte Christian am Rock. „Großvater! Er ist aufgewacht!“