7. KAPITEL
Bevor man die Kleidung eines Gentlemans herauslegt, vergewissere man sich, zu welchem Anlass sie benötigt wird. Auf einer Jagd trägt man andere Dinge als auf einem Ball.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Das Problem beim Schlafen ist, dass man keinerlei Gewalt über seine Träume hat, dachte Beth, als sie am nächsten Morgen mit schweren Augen erwachte. An und für sich war das ja nicht schlimm, das Problem bestand nur darin, dass das Aufwachen so enttäuschend sein konnte. Fast so, als würde man entdecken, dass es statt Ente in Minzsauce nur dicken, kalten Porridge zum Essen gab.
Jetzt saß sie an ihrer Frisierkommode, bearbeitete ihr Haar mit einer schweren Silberbürste und starrte blicklos in den Spiegel. Sie sollte sich nicht heimlich mit Lord Westerville treffen, vor allem nicht ohne Anstandsdame. Dennoch ... es handelte sich schließlich um das Britische Museum, nicht um irgendeine Stätte der Ausschweifung wie eine Spielhölle oder ... oder ...
Nachdenklich spitzte sie die Lippen. Welche Stätten der Ausschweifung gab es denn noch? Da waren die gewissen öffentlichen Häuser, in denen Frauen von zweifelhaftem Ruf residierten. Und dann ... Ja, was gab es noch? Nun, es spielte keine Rolle. Westerville musste wissen, dass derartige Heimlichkeiten Konsequenzen haben konnten. Ernsthafte Konsequenzen. Zum Beispiel, zur Heirat gezwungen zu werden.
Beth kräuselte die Nase. Was für ein schrecklicher Weg in eine Ehe, vielleicht gar unter Androhung von Waffengewalt, wie in einem schlechten Stück. Andererseits, mit einem Mann wie Westerville verheiratet zu sein ... Ein leiser Schauder rieselte ihr den Rücken hinab. Das könnte durchaus ... interessant sein.
Sie wandte den Kopf und bürstete sich das Haar über die Schulter. Es war so lang, dass es ihr fast bis zum Schoß reichte, und lockte sich in den Spitzen. Sich mit Westerville zu treffen wäre sehr riskant, sehr waghalsig und sehr dumm.
Ihr Blick fiel auf die Uhr, die auf der Kommode stand. Nicht einmal neun Uhr. Noch jede Menge Zeit bis zum Treffen, wenn sie hingehen wollte, aber sie wollte ja nicht.
Oder doch? Obwohl sie die Gefahren kannte, brachte sie es nicht fertig, die Hoffnung ganz fahren zu lassen, dass sie ... nun ja, vielleicht doch hinging.
In Wahrheit wollte sie ihn einfach Wiedersehen. Und das nicht unbedingt dort, wo Tausende neugieriger Blicke jede ihrer Bewegungen verfolgten. Sie wollte ihn für sich, wollte sehen, ob er vielleicht dasselbe Flattern verspürte wie sie selbst. Vor allem aber wollte sie herausbekommen, warum er sich so für ihren Großvater interessierte. Irgendetwas war hier merkwürdig, sie konnte es beinahe mit Händen greifen. Schon um ihres Großvaters willen musste sie herausfinden, was es mit dem attraktiven Viscount auf sich hatte. Schließlich bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Mann schändliche Pläne verfolgte; bei seiner zwielichtigen Vergangenheit lag ein solcher Verdacht geradezu nahe.
Sie hielt inne, die silberne Bürste an der Schläfe, und dachte an ihre Träume von letzter Nacht. Beunruhigend waren sie gewesen. Vage. Sie hatten sich um Westerville gedreht und wie sich sein Mund auf den ihren presste. Was hatte dieser Mann nur an sich? Natürlich war er attraktiv, unglaublich attraktiv. Mit seinen hellgrünen Augen und dem schwarzen Haar war er sogar der Inbegriff eines verwegen schönen Mannes, bei dem jede Frau sich vorstellen konnte, sie sei ihm verfallen.
Aber sie selbst war nicht so. Ihre praktische Art verweigerte sich derartigen romantischen Exzessen. Was sie am Viscount anzog, war auch weniger sein gutes Aussehen, obwohl sie sich dessen natürlich bewusst war, sondern etwas ganz anderes: die Herausforderung. Die Aufregung. Der Ruch der verbotenen Frucht, seiner maskulinen ...
„Mylady?“
Beth fuhr zusammen und sah sich rasch um. Annie stand beinahe direkt hinter ihr. Beth presste die Hand an ihr wild klopfendes Herz. „Meine Güte! Hast du mich erschreckt!“ „Kann mir nicht vorstellen warum, ich red doch schon, seit ich das Ankleidezimmer betreten hab. Geht es Ihnen gut?“
„Gut?“
Annie sah auf Beths Hand, die noch immer bewegungslos an ihrer Schläfe verharrte.
Rasch legte Beth die Bürste auf die Kommode. „Es geht mir gut, vielen Dank. Ich habe nur gerade nachgedacht.“ „Und das ziemlich gründlich, wie es aussieht“, erklärte Annie mit zusammengezogenen Brauen. „Angezogen sind Sie auch schon.“
Beth lächelte, als sie den leisen Tadel in Annies Stimme hörte. „Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst anzuziehen, weißt du.“
„Die Frage ist nicht, ob Sie es können, sondern ob Sie es soll’n.“ Annie betrachtete sie von oben bis unten. „Ich hatte recht gestern: Es geht um einen Mann“, verkündete sie dann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Beth sah an ihrem blauen Tageskleid herab. „Wie kannst du das wissen? Ich meine“, verbesserte sie sich hastig, „natürlich geht es nicht um einen Mann, aber wie kommst du darauf?“
„Weil Sie noch letzte Woche gesagt haben, der Ausschnitt von dem Kleid wär zu tief. Und jetzt haben Sie es doch angezogen. Na also. Ein Mann.“
Beth machte ein ärgerliches Geräusch. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Annie nahm die Bürste in die Hand. „Soll ich Ihnen für Ihren Mann die Haare hochstecken, egal hinter wem Sie her sind?“
„Ich bin hinter keinem Mann her.“ Zumindest hatte sie kein Schäferstündchen im Sinn. Sie wollte die Motive des Viscounts ergründen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass der Viscount sich ihr nicht nur deswegen genähert hatte, um ihr ein paar Komplimente zu drechseln. Was eigentlich recht bedauerlich war. Wenn er sich ernsthaft für sie interessiert hätte, hätte sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegt. Aber das spielte jetzt keine Rolle - schließlich verfolgte er andere Motive, dessen war sie sich sicher.
Obwohl ihr seine Aufmerksamkeiten leider ziemlich schmeichelten, war sie nicht so naiv zu glauben, dass er ihr wegen ihrer schönen blonden Haare oder anderer Albernheiten zu Füßen lag.
Nein, der Mann hatte andere Gründe! Aber wenn er es nicht auf ihr Vermögen abgesehen hatte, worauf dann? Sie runzelte die Stirn. Sobald sie Annies nachdenklichem Blick begegnete, reckte sie die Nase in die Luft. „Ich bin hinter keinem Mann her. Wenn du es unbedingt wissen musst, ich bin der Wahrheit auf der Spur.“
Annie drehte Beths Haar zu einem sauberen Nackenknoten auf, steckte ihn fest und verzierte ihn mit einer blauen Seidenrose. „Wenn Sie nicht hinter einem Mann her sind, haben Ihre Pläne, egal wie sie aussehen, wenigstens mit einem Mann zu tun, das steht fest.“
Die Zofe trat einen Schritt zurück, um ihr Kunstwerk zu bewundern. „Ist ja nicht schlimm, hinter einem Mann her zu sein. Ich hab auch schon den einen oder anderen verfolgt. Mein zweiter, Clyde Darrow, das war ein fürchterlich schüchterner Kerl. Ich hab mich ihm praktisch an den Hals werfen müssen, sonst hätte der keinen Blick für mich übriggehabt.“ Annie tätschelte sich die roten Löckchen. „Aber als er mich dann endlich bemerkt hatte, konnte er gar nicht genug von mir kriegen.“
„Klingt wie die wahre Liebe.“
„Ach, Liebe war das überhaupt nicht. Eher Lust und ein bisschen Freundschaft. Aber ich war trotzdem mächtig traurig, nachdem er gestorben ist.“ Annie hielt inne und sah zur Decke, als versuchte sie sich an die Einzelheiten zu erinnern. „Vom Fieber dahingerafft, genau.“
„Ich dachte, er wäre vom Dach gefallen, während er einen losen Dachziegel festklopfen wollte.“
„Das war mein erster Mann, Peter Pool.“
„Ah. Tut mir leid.“
„Macht doch nichts. Ich bring sie selber andauernd durcheinander. Nein, Clyde hat sich das Fieber nach einem Hahnenkampf in Stafford-Upon-Wey eingefangen. Stellen Sie sich vor, der Dummkopf hat auf einen Hahn gesetzt, der Pechvogel hieß!“ Annie zog ein finsteres Gesicht. „Das ist ja, als würde man dem Schicksal ins Gesicht spucken!“ „Hast du ihn geliebt?“
„Nein, erst nicht. Nach einer Weile könnt’ ich ihn dann schon recht gut leiden, mehr aber auch nicht.“
„Warum wolltest du ihn dann heiraten?“
Annie wirkte überrascht. „Ich war schließlich eine Witwe. Und er war ledig, hatte gutes Geld, aber keinen, der ihm sein Essen gekocht oder das Bett gewärmt hat. Und wir haben uns wirklich recht gern gemocht.“
„Und das hat gereicht? Sich zu ... mögen?“
„Kommt darauf an, was man sonst noch so gemeinsam hat“, erklärte Annie mit schelmischem Zwinkern.
„Ich dachte immer, die Liebe wäre Grundvoraussetzung für eine gute Ehe. Zumindest hat das mein Großvater immer gesagt.“
„Und Ihr Vater? Was hat der gesagt?“
„Der starb, als ich noch jung war. Alles, woran ich mich bei ihm noch erinnere, ist, dass er anscheinend alle Bücher in Großvaters Bibliothek lesen wollte und ... nun ja, dass er die letzten Jahre nicht sehr gesund war.“ Glücklich war er auch nicht gewesen, obwohl er sich bemüht hatte, sich das nicht anmerken zu lassen. Und Charlotte ... Beth erinnerte sich, wie oft ihre Stiefmutter mit rot geweinten Augen zu Tisch gekommen war. Es hatte den Anschein, als wäre Charlotte immer wegen irgendetwas unglücklich, aber vielleicht herrschte zwischen ihrem Vater und ihrer Stiefmutter ja auch irgendeine grundlegende Missstimmung. Das hätte eine Menge erklärt, fand sie jetzt, wo sie darüber nachdachte.
Einmal hatte sie sogar ihren Großvater danach gefragt. Der hatte erklärt, ihr Vater habe ihre Mutter von ganzem Herzen geliebt und hätte kein zweites Mal heiraten sollen, vor allem nicht so einen Dummkopf wie Charlotte. Beth war bei diesen harten Worten zusammengezuckt, doch insgeheim dachte sie, ihr Großvater könnte vielleicht recht haben. Ihr Vater hatte sich von seiner Einsamkeit verleiten lassen und eine Frau geheiratet, die überhaupt nicht nach Massingale House passte.
„Ob mit oder ohne Liebe“, erklärte Annie gerade, „für die Ehe spricht so einiges.“
„Was zum Beispiel?“
„Die Kinder bekommen einen Namen.“
„Ich weiß, ich weiß, das ist mir klar. Aber aus welchem Grund sollte man sonst heiraten wollen?“
Energisch legte Annie die Bürste auf dem Tisch ab. „Sie wissen nicht, warum die Leute heiraten? Na, weil Gott es so vorgesehen hat, natürlich! “
„Ohne Liebe?“
„Die Liebe kommt, oder sie kommt eben nicht. Solange man einen guten Mann hat und man selber eine gute Frau ist, wird man schon recht glücklich dabei.“
Beth wollte diese Antwort nicht ganz gefallen. „Recht glücklich“ zu werden war nicht das, was sie für den Rest ihres Lebens anstrebte. Allerdings wusste sie gar nicht so genau, was sie sich für den Rest ihres Lebens wünschte ... nur dass „recht glücklich“ nicht ausreichte.
Annie schniefte. „Ich hab oft geheiratet, war aber nur einmal richtig verliebt. In meinen dritten Mann, Oliver Mac-Owen. Das war wahre Liebe.“
„Der, der beim Schweinehüten gestorben und dann von ihnen gefressen worden ist?“
„Nein, nein, es war genau anders herum. Nicht die Schweine haben ihn gefressen, er hat eine verdorbene Wurst gegessen, und daran ist er dann gestorben. So kann man doch nicht sterben, ehrlich!“
„Allerdings nicht.“ Beth fragte sich, wie es wohl wäre, mit Viscount Westerville verheiratet zu sein. Bestimmt wäre ihre Ehe voll Leidenschaft, denn das konnte sie spüren, sobald der Viscount in ihre Nähe kam. Der Viscount empfand es sicher auch. Aber was könnten sie sonst noch teilen? Vielleicht ihren Sinn für Humor, davon hatte sie gestern einige Kostproben serviert bekommen. Aber das wäre dann auch alles.
Ein weiterer Grund, noch ein Stündchen mit dem Mann zu verbringen, entschied sie. Nur um zu beweisen, dass er nicht zu den Männern gehörte, die man heiraten sollte. Diese verquere Logik brachte sie zum Lächeln, denn wenn sie etwas sicher wusste, dann dass der dunkle, gefährliche Lord Westerville kein Mann zum Heiraten war. Dafür war er übermäßig an ihrem Großvater interessiert.
Die Uhr schlug die Viertelstunde. Wenn sie zu dem Treffen ging, setzte sie ihren guten Ruf aufs Spiel. Wenn sie nicht ging, würde sie nie herausfinden, ob Westervilles Interesse an ihrem Großvater etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeutete.
Beth sah zu ihrer Zofe. „Annie, ich glaube, ich gehe heute ins Museum.“
„Ins Museum? Schon wieder? Sie sind doch erst vor einer Woche gegangen!“
„Es gibt einen neuen Schaukasten. “
Annie schüttelte den Kopf. „Mir ist wirklich schleierhaft, was Sie daran finden, sich Sachen anzuschauen, die mal einem Haufen toter Leute gehört haben. Aber Ihnen muss es ja gefallen.“
„Ich liebe das Museum.“
„Na, dann nix wie los“, erwiderte Annie und rückte die Fläschchen und Bürsten auf der Frisierkommode zurecht. „Und vergessen Sie nicht zu lächeln.“ Sie schob die Oberlippe vor und tippte sich an die Vorderzähne. „Männern gefällt es, wenn eine Frau schöne Beißerchen hat.“
„Wer sagt, dass ich mich mit einem Mann treffe? Ich gehe ins Museum, mehr nicht.“ Beth stand auf. „Aber wo wir schon darüber reden: Woher weiß man eigentlich, wenn man verliebt ist?“
Annie schnaubte, öffnete den Kleiderschrank und holte eine mintfarbene Pelisse heraus. „Puh, Mylady! Das ist kein Kunststück. Wenn man meint, man hätte sich vielleicht die Grippe eingefangen, hat aber kein Fieber, dann ist man verliebt.“
„Es fühlt sich wie Grippe an?“ Beth zog die Pelisse an und knöpfte sie zu. „Immer?“
„Meistens.“
Liebe Güte. Wie schrecklich. „Kein Wunder, dass die Leute davonlaufen.“ Beth öffnete die Tür. „Ich komme bald wieder. Bitte leg schon das blau-cremefarbene Tageskleid raus. Heute Nachmittag gehe ich zu Lady Chudrowe.“
„Jawohl, Mylady.“
Beth ging hinaus. Ihre Gedanken rasten. Sie würde den Viscount nur dieses eine Mal treffen, und dann - nie wieder. Wegen dieser einen Begegnung würde sie doch sicher nicht allzu große Gefahr laufen, seinen Verführungskünsten zu erliegen.
Rasch eilte sie die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße, wo die Kutsche schon bereitstand. Es war ein grauer, wolkenverhangener Tag; eine Windbö hob ihren Rock hoch und peitschte ihn ihr um die Knöchel. Beth zitterte und zog die Pelisse enger um sich.
„Mylady?“, fragte der Stallbursche, als er ihr den Wagenschlag öffnete.
„Zum Britischen Museum.“
„Jawohl, Madam. “ Gleich darauf ratterte die Kutsche durch die dicht befahrenen Straßen Londons. Eine ganze Weile vor zehn Uhr trafen sie am Museum ein. Der Kutscher wirkte unsicher, weil niemand dastand, um sie in Empfang zu nehmen. Beth musste ihn auf recht herablassende Weise davon in Kenntnis setzen, dass ihre Begleitung schon nach drinnen gegangen war, schließlich könne sie nicht erwarten, dass man draußen auf der Treppe auf sie wartete, wenn es nach Regen aussah.
Das stellte ihn zufrieden, und bald war die Kutsche davongefahren. Beth lief die breite Marmortreppe zum Museum empor und ging hinein.
Ein Lakai eilte herbei, um ihr die Pelisse abzunehmen, doch Beth schüttelte den Kopf. Es war kalt im Museum, und sie hatte nicht die Absicht, die nächste halbe Stunde zitternd durch die Räume zu wandern. Außerdem bot ihr der Mantel eine weitere Schutzschicht, und davon konnte sie im Augenblick nicht genug haben.
Beth bezahlte ihre Eintrittskarte, ließ sich eine Broschüre geben und ging dann auf eine Reihe von Schaukästen mit farbenprächtigen chinesischen Seidenfächern zu, die von mehreren Besuchern bewundert wurden.
Sie blieb stehen, heuchelte Interesse, das sie nicht empfand. Innerlich zitternd fragte sie sich, wann der Viscount wohl eintreffen und was er sagen würde. Ungebeten kamen ihr die Bilder ihrer Träume wieder in den Sinn, lebhaft und verstörend.
Ihr Körper reagierte sofort, ihre Haut prickelte, ihre Brüste spannten sich an, und von ihrem Magen ging ein unruhiges Gefühl aus, das sich bis in ihre Knie fortsetzte.
„Ach, Schluss damit!“, schalt sie sich, worauf sie eine Matrone verblüfft ansah.
Beth lief dunkelrot an. Wenn sie nicht aufpasste, würde man sie noch für verrückt erklären. „Ich habe den Verschluss da hinten bewundert“, erklärte sie.
Die Matrone blinzelte.
Beth deutete auf einen der Fächer. „Sehen Sie, der rote. Er hat einen raffinierten Verschluss.“
Die Frau seufzte erleichtert auf. „Und ich dachte, Sie hätten etwas von einem Schuss gesagt! Ich bin schon fürchterlich erschrocken!“ Die Frau grinste verlegen. „Ich bin doch so schreckhaft.“
Beth lachte. „Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Ach, keine Sorge. Ich habe nur ... “ Sie riss die Augen auf und fixierte etwas hinter Beths Schulter. Ihr Mund stand offen, und sie rührte sich nicht, bis ihr Begleiter, ein älterer Mann - der nicht allzu erfreut aussah, als er erkannte, worauf ihr starrer Blick gerichtet war sich laut räusperte, sie am Arm nahm und auf die andere Seite des Raums zerrte.
Es war Westerville. Wer sonst. Verdammt, warum musste sie sich zu einem Mann hingezogen fühlen, der aussah wie ein gefallener Engel? Den die Frauen einfach anstarren mussten? Wirklich ärgerlich. Die traurige Wahrheit war, dass sie verrückt war. Es war verrückt, hierher zu kommen, und verrückt zu glauben, sie könnte Informationen aus einem Mann herausholen, den sie kaum kannte.
Sie sollte einfach gehen. Jede normale Frau würde jetzt gehen. Sie würden gehen und sich nicht einmal umdrehen. Von ihrem sicheren Zuhause aus könnte sie einen netten Brief schreiben und die ganze Sache hinter sich bringen. Dann würde sie allerdings nie erfahren, was er von ihrem Großvater wollte. Und er würde ein derartig selbstherrliches Benehmen vermutlich nicht freundlich auf nehmen, und dann wäre sie für ihn hinfort Persona non grata.
Unverständlicherweise wurde ihr ganz merkwürdig bei der Vorstellung, ihn nie wiederzusehen. Nicht direkt verloren, so gut kannte sie den Mann schließlich nicht. Aber sehnsüchtig, so als hätte sie etwas ganz Besonderes gefunden und es dann wieder aufgeben müssen.
Ein Prickeln im Rücken verriet ihr, dass er näher kam. Rasch tat sie so, als wäre sie in ihre Broschüre vertieft. Hitze stieg in ihr auf und setzte sich zwischen ihren Schulterblättern fest.
Ihr ganzer Körper spannte sich an. Sie durfte sich nicht vergessen, und vor allem durfte sie nicht vergessen zu stottern. Unruhig leckte sie sich die Lippen, straffte die Schultern und versuchte, nicht auf das wilde Pochen ihres Herzens zu achten.
Es war lächerlich, so auf seine Gegenwart zu reagieren. Lächerlich und absolute Zeitverschwendung.
Eine Hand schloss sich um ihren Ellbogen. Hitze schoss ihr den Arm herauf, und in ihren Brüsten begann es zu prickeln.
„Da sind Sie ja.“ Die tiefe, melodische Stimme kam näher. „Ich habe nach Ihnen gesucht.“
Beth hielt den Atem an und rang verzweifelt nach Fassung. „W-wirklich?“ Sie versuchte, ihm den Arm zu entziehen.
Er gab ihren Ellbogen frei, aber nur zögernd, sodass die Berührung noch nachklang. „Ich wusste nicht, ob Sie kommen würden.“
Sie nahm sich zusammen und drehte sich um. Mit strahlendem Lächeln sah sie zu ihm auf, wobei sie sich allerdings bemühte, ihm nicht direkt in die Augen zu blicken. „N-n-natürlich b...bin ich gekommen. Einer Herausforderung k-k-konnte ich noch nie widerstehen, und das w-wissen Sie g-g-ganz g-g-genau.“
Er grinste. Dabei sah er fast genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte - mit einer Ausnahme. Er war etwas ungepflegt, seine Augen glänzten unnatürlich hell, das Haar war zerzaust, er hatte einen leichten Schatten im Gesicht, als ob ...
Er trug immer noch seine Abendgarderobe.
„Sie ... Sie sind letzte Nacht nicht nach Hause gegangen!“
Seine Zähne blitzten strahlend weiß auf. „Aufmerksames Kindchen, wie?“ Die durchzechte Nacht hatte tiefe Linien in sein Gesicht gegraben, sodass seine Augen aussahen, als lägen sie tief in den Höhlen.
Der freche Kerl besaß nicht einmal den Anstand, so zu tun, als schämte er sich. Beth stemmte die Arme in die Hüften. Ihre nervöse Unruhe wurde hinweggefegt von rechtschaffener Entrüstung. „Mylord!“
„Christian.“
„Mylord!“, wiederholte sie entschieden. „Ich weiß gar nicht, warum ich mich hier mit Ihnen treffe.“
„Ich weiß es.“
Sie hielt inne, als sie die Gewissheit in seiner Stimme hörte. „Warum?“
„Weil Sie neugierig sind.“
„Ja“, sagte sie. „Ja, das stimmt.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Warum interessieren Sie sich so für meinen Großvater?“
Betretenes Schweigen breitete sich aus, dann lehnte sich der Viscount mit einer Schulter an die Wand und schob die Hände tief in die Taschen.
Beth dachte, er würde es abstreiten oder sein Interesse zumindest herabspielen. Sie war gefasst auf Ausflüchte, Schwindeleien und Ausreden.
Womit sie nicht rechnete, das war, dass er direkt auf ihren Mund blicken und sagen würde: „Ihr Stottern ist ziemlich ungewöhnlich.“
Sie knirschte mit den Zähnen und ballte die Hand mit der unschuldigen Broschüre zur Faust. Verdammt, sie hatte diese dumme Stotterei schon wieder vergessen! „Ung-g-g-ge-wöhnlich? W-w-wie d-d-das?“
Amüsiert beobachtete Christian, wie seine Begleiterin rot anlief. „Nun ja, es kommt und geht, und das zu den merkwürdigsten Zeiten.“
Elizabeth ballte die Fäuste und presste die Lippen zusammen. Offenbar rang sie mit dem Zorn über ihre eigene Vergesslichkeit und dem Unbehagen ob seiner direkten Frage. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sie so geradeheraus zu beschuldigen, obwohl er am Tag zuvor zu dem Schluss gekommen war, dass ihr Stottern irgendeinem Zweck diente, vermutlich der Abschreckung jener Dummköpfe, die ihr im Park nachgestellt hatten.
An ihrer Stelle hätte er sogar noch weit Schlimmeres getan, um sie alle loszuwerden.
Doch als sie ihn so direkt angesehen und gefragt hatte, warum er sich für ihren Großvater interessiere, waren all seine guten Vorsätze vergessen. Eigentlich hatte er nicht gedacht, dass seine Fragen so leicht zu durchschauen waren. Aber vielleicht waren sie das ja auch gar nicht. Vielleicht hatte er es nur mit einer sehr, sehr scharfsinnigen jungen Frau zu tun.
Er trat vor, sein Arm streifte den ihren. „Bitte tun Sie sich keinen Zwang an, stottern Sie, so viel Sie wollen. Ich finde es ziemlich attraktiv.“
Ihr Zorn wich der Überraschung. „Attraktiv?“
„Sehr.“ Er ergriff ihre Hand, legte sie auf seine Ellenbeuge und geleitete sie hinaus auf den Flur. An der Tür zum nächsten Schauraum hielt er inne, doch dort drängten sich viel zu viele Leute. Er nahm ihr die zerdrückte Broschüre aus der Hand und blätterte sie durch. „Interessieren Sie sich für etruskische Kunst?“
„Wie? Ich ... nein. Ich glaube nicht.“
„Gut. Ich auch nicht. Ich glaube, dafür interessiert sich auch sonst niemand. “ Er steckte die Broschüre ein und zog sie den Flur hinunter zur letzten Tür.
„Wohin gehen wir?“
„Sie werden schon sehen.“ Als er die Tür erreicht hatte, blickte er in den Raum und nickte zufrieden. „Ah. Wie ich dachte. Das ist perfekt.“
Sie blieb in der Tür stehen und entzog ihm ihre Hand. „Hier ist ja niemand.“
„Wäre Ihnen denn lieber, wenn jemand da wäre?“ Christian lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Bewundernd sah er auf ihre Locken, die im weichen Tageslicht warm aufleuchteten. „Ich meine, außer mir?“
Sie biss sich auf die Lippen, sah zur Tür und im nächsten Moment wieder zu ihm. Er konnte den Kampf förmlich sehen, der hinter ihrer Stirn ausgefochten wurde. Er hatte ihre Neugier geweckt, so viel stand fest. Aber auch ihre Vorsicht.
Sie seufzte. „Ich hätte wissen müssen, dass es sich so entwickelt. Ich hätte nicht ohne Anstandsdame herkommen dürfen.“
„Warum?“, fragte er amüsiert. „Befürchten Sie, ich könnte versuchen, Sie zu verführen?“
Zu seiner Überraschung brachte sie dieser Kommentar keineswegs in Verlegenheit. Stattdessen warf sie ihm nur einen entnervten Blick zu und sagte kühl: „Bei Ihnen kann man nie sicher sein, was Sie tun würden. Sie machen dauernd ... Andeutungen.“
„Andeutungen?“
„Ja“, meinte sie streng. „Zweideutige Bemerkungen. Zum Beispiel über ... über uns. Tun Sie jetzt nicht so, als wäre Ihnen das völlig neu. Natürlich wissen Sie es.“
Darüber musste Christian lachen. Er hatte die ganze Nacht in einer Spielhölle hier in der Nähe verbracht. Er hatte gespielt und geflirtet und ausgiebig dem Wein zugesprochen und dabei die ganze Zeit versucht, nicht an dieses Treffen zu denken. Es war ihm nicht gelungen. Die blaue Farbe auf den Spielkarten hatte ihn an die blauen Bänder an Elizabeths Hut erinnert, das braune Bier hatte genau denselben Farbton gehabt wie ihre warmen Augen, die Witwe, die versucht hatte, ihn mit nach oben ins Bett zu nehmen, hatte trotz all ihrer offensichtlichen Reize und Verführungskünste hausbacken und langweilig gewirkt, wenn er sie mit Elizabeth verglich. Seine kleine Flucht hatte sich in einen endlosen Kreis der Erinnerung verwandelt.
Sie war so verdammt faszinierend, und er bedauerte es sehr, dass er sie benutzen musste. Seine Bewunderung für sie war echt. Viel zu echt. So echt, dass er, nachdem er letzte Nacht von einem späten Souper bei White’s endlich nach Hause gekommen war, nicht einschlafen konnte und sich im Bett herumgewälzt hatte. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich, mit diesem verdammt sicheren Lächeln und den warmen braunen Augen.
Es sah ihm gar nicht ähnlich, sich von etwas den Schlaf rauben zu lassen. Von irgendwelchen dummen Gefühlen war er zum letzten Mal als Kind die ganze Nacht wach gehalten worden. Aber dank Reeves und seinem ständigen Gerede von verführten Jungfrauen hatte ihn der Schlaf in der Tat geflohen. Nach einer Stunde unbequemer Grübelei war Christian wieder aufgestanden, hatte sich angezogen und das Haus verlassen. Endlich befreit vom Gewisper in seinem Schlafzimmer, hatte er sich in die nächstbeste Spielhölle begeben und dort bis zum Morgengrauen gespielt und gerade so viel getrunken, dass er nicht wieder ins Grübeln kam.
Nun war er zwar wach, doch immer noch erhitzt vom Brandykonsum der letzten Nacht. Christian stieß sich von der Wand ab und trat direkt vor Elizabeth hin. Auch jetzt wieder war er verblüfft, wie klein sie war; ihr Scheitel reichte ihm kaum bis zur Schulter. Aus irgendeinem Grund wirkte sie immer größer. Elizabeth hob die Brauen, zog sich aber nicht zurück.
Christian hob die Hand und fuhr mit dem Zeigefinger die Bourbonenlilie nach, die auf die Schulterpasse ihrer Pelisse gestickt war. „Ich habe über Ihr bezauberndes Gestotter nachgedacht. Inzwischen bin ich mir sicher, dass Sie damit nur die Promenadenmischungen davonscheuchen wollten, die im Park an Ihren Röcken geschnüffelt haben.“
Erstaunen malte sich auf ihrem Gesicht, bevor sie schließlich errötete. „Ich stottere nicht die ganze Zeit.“
„Ach, bitte erklären Sie es nicht weg. Mir gefällt Ihr Stottern.“
„Wie können Sie das sagen?“
Er grinste. „Weil ich es so reizend finde, wie sich dabei Ihre Lippen kräuseln. Ihr Stottern ist ein Akt der Verführung. Eine Einladung, Ihnen die Lippen mit einem Kuss zu versiegeln.“
„Wenn Sie glauben, Stottern sei eine Aufforderung zum Kuss, kann ich ja von Glück sagen, dass ich nicht rülpsen musste, sonst hätten Sie sich gleich in mein Bett eingeladen gefühlt.“
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. „Eigentlich glaube ich, dass Sie beides nicht können.“ Er hob ihr Kinn mit den Fingern an. „Ich würde sogar mein gesamtes Vermögen darauf wetten, dass Sie ebenso wenig stottern wie ich.“
„Was glauben Sie denn, wer Sie sind ...“ Abrupt schloss sie den Mund und runzelte die Stirn. Wütend funkelte sie ihn an, doch dann seufzte sie und winkte ab. „Ach, zum Kuckuck. Sie haben natürlich recht. Ich stottere nicht. Ich wollte nur verhindern, dass irgendein Dummkopf um meine Hand anhält. Großvater hätte sonst vielleicht ...“ Sie hielt inne und machte schmale Augen.
„Was hätte Ihr Großvater vielleicht?“
„Nichts.“
Bisher hatte Christian immer geglaubt, braune Augen wären weich und feminin, aber nicht weiter aufregend. Doch Elizabeth belehrte ihn eines Besseren: Ihre Augen waren wild entschlossen, warm, unerbittlich, zornfunkelnd und sehr, sehr aufregend.
Er lachte erfreut. „Da schreckt die schöne Lady Elizabeth also Ihre Verehrer mit einem St-st-stottern nach dem anderen ab.“
„Lord Westerville, was ich tue, geht Sie nicht das Geringste an.“
„Da bin ich anderer Ansicht“, versetzte er leise. Mit dem Handrücken strich er ihr sacht über die Wange. „Was Sie tun, geht mich sogar sehr viel an.“
Und so war es auch. Diese Frau hielt den Schlüssel in der Hand - zu seiner Vergangenheit natürlich, und vielleicht auch zu seiner Zukunft. Wegen dieser Verbindung stand Elizabeth ihm irgendwie näher als alle anderen Frauen, die er je gekannt hatte.
Etwas von diesen Überlegungen musste sich in seiner Miene gespiegelt haben, denn sie kniff die Augen zusammen und beugte sich ganz leicht vor. „Warum sehen Sie mich so an?“
Er streckte die Hand nach einer blonden Locke aus, die ihr ins Gesicht fiel. Seidenweich war ihr Haar und dicht, und es schrie förmlich danach, von den Nadeln erlöst zu werden. „Mir liegt an dem, was Sie tun, weil Sie sind, wer Sie sind. “
Sie zuckte zurück, sodass die Locke durch seine Finger schlüpfte, und sah ihn zornglühend an. „Weil ich bin, wer ich bin? Sie meinen, die Enkelin des Duke of Massingale? Westerville, es wird Zeit, dass Sie mir erklären, warum Sie sich so für meinen Großvater interessieren.“
Christian gelang ein lässiges Schulterzucken. „Ich wollte einfach höflich sein und mich nach Ihrem nächsten Verwandten erkundigen. “
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ Unbeirrt fixierte sie ihn, und das leichte Lächeln, das um ihren Mund spielte, drang nicht bis zu ihren Augen vor. „Gestern sind Sie jedes Mal hellwach geworden, wenn Großvaters Name gefallen ist.“ Verdammt. Sie besaß wirklich eine schnelle Auffassungsgabe. Fast zu schnell. Was konnte er jetzt sagen?
Sie presste die Lippen zusammen. „Ich weiß, dass Sie mir nicht deswegen nachstellen, weil Sie irgendeine dumme, leidenschaftliche Zuneigung zu mir gefasst haben. Für derartigen romantischen Unsinn sind Sie einfach nicht der Typ, und ich auch nicht.“
Sie hatte recht. Bei jeder anderen Frau hätte er einfach behauptet, er habe sich Hals über Kopf in sie verliebt; die meisten Frauen wollten derartiges Geschwätz hören und glaubten es auch, egal wie unwahrscheinlich es war.
Doch irgendwie war er der Ansicht, dass Elizabeth aus härterem Holz geschnitzt war. Eine romantische Erklärung würde bei ihr nicht verfangen. Eigentlich schade, denn er war gerade betrunken genug, um etwas Derartiges wünschenswert erscheinen zu lassen. Und ihre Nähe verstärkte die berauschende Wirkung der Getränke nur, mit denen er gestern Nacht gegen die Auswirkungen der Schlaflosigkeit angegangen war. Als Alternative blieb ihm nur die Wahrheit, er hatte allerdings keineswegs die Absicht, sie ihr zu erzählen.
Mit leisem Lächeln verbeugte er sich. „Was ich auch tue, ich werde uns nicht mit romantischem Unsinn langweilen, wie Sie so richtig gesagt haben.“
„Danke“, versetzte sie, wandte sich ab und ging zum nächsten Schaukasten. Darin befanden sich eine Reihe kleiner Steinfigurinen, die sie nun mit gespieltem Interesse betrachtete. Das Lächeln schien ihr ins Gesicht gemeißelt, ein Umstand, der ihn allmählich beunruhigte. Nach einem Augenblick drehte sie sich zu ihm um. „Ich werde herausfinden, warum Sie so an meinem Großvater interessiert sind.“
Der Ernst in ihren Worten war nicht zu verkennen. „Ach ja?“
„Ja“, gab sie entschieden zurück und widmete sich wieder dem Schaukasten.
Er trat neben sie, stützte sich mit einem Arm auf dem Schaukasten auf und bemerkte dabei, dass ihr Nacken bloß lag, als sie sich über die Artefakte beugte. „Wie wollen Sie meine Geheimnisse denn lüften - falls ich überhaupt welche habe?“
Sie sah zu ihm auf. „Mit Hilfe der Logik. Sie sind ein Mann von Welt mit den entsprechenden Vorlieben. Normalerweise würden Sie nicht mit einer Frau tändeln, die so offensichtlich verheiratet werden soll.“
Er hob die Brauen. „Sie?“
„Tun Sie doch nicht so, als wäre Ihnen das nicht bewusst. Mein Großvater zögerte nicht, die Welt wissen zu lassen, dass ich zu haben und außerdem seine Erbin bin.“ Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf den Schaukasten, sodass sie jetzt wie Spiegelbilder standen.
„Lassen Sie mich erklären, was mir bis jetzt merkwürdig vorkommt“, meinte sie sanft. „Erstens: Sie senden die unmissverständliche Botschaft aus, dass Sie an mir interessiert sind.“
Er rückte unwillkürlich näher. Was für üppige Lippen sie hatte! Voll und rosig und in den Mundwinkeln leicht gekräuselt, selbst wenn sie ganz entspannt waren. „Fahren Sie fort.“
„Zweitens: Ihr Interesse an mir ist nicht romantischer Natur. So etwas würde nicht zu Ihnen passen, Mylord. “
Auch ihr Haar war von so sinnlicher Farbe. Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie es sich anfühlte. „Lady Elizabeth, ich finde Sie attraktiv. Das will ich nicht abstreiten.“ „Ja, aber ich bin ledig und heiratsfähig. Unter anderen Umständen würden Sie um mich einen großen Bogen machen.“
Verdammt, sie hatte ihn ziemlich gut durchschaut. Aber es wäre nicht gut, sie auch noch zu ermutigen. „Vielleicht.“ Er musterte sie. „Vielleicht auch nicht.“
„Und drittens“, erwiderte sie energisch, „interessieren Sie sich auch nicht sonderlich für meine Mitgift.“
„Da haben Sie recht. Ich verfüge selbst über ziemlich viel Geld, meine Liebe. Ihres brauche ich da nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mein Vater tat mir den Gefallen, ohne legitimen Nachwuchs zu sterben. Mein Bruder und ich haben davon sehr profitiert.“
Sie zog die Brauen zusammen. „Ohne legitimen Nachwuchs? Aber Ihr Bruder hat doch den Titel geerbt, nicht?“ „Ja. Und ich habe den Viscount-Titel geerbt, aber nur, weil mein Vater das Kirchenregister fälschen ließ und dort jetzt steht, er hätte Mutter vor Jahren geheiratet.“
Elizabeth riss die Augen auf. „Das Kirchenregister gefälscht? Machen Sie Witze, Westerville?“
„Würde ich Witze darüber machen, ein uneheliches Kind zu sein?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Bastard, wenn auch ein reicher Bastard mit Titel. Mein Vater, der Earl of Rochester, hat versucht, mich zu legitimieren, ist dabei allerdings nicht sehr subtil vorgegangen. Die ganze Welt weiß Bescheid. Nicht, dass es etwas ausmachen würde.“
„Ich kann nicht glauben, dass Sie das alles so freimütig zugeben würden, wenn das, was Sie da sagen, tatsächlich der Wahrheit entspräche. Sicher haben Sie noch andere Verwandte, die in dem Fall vortreten würden. Die es auf den Titel und das Vermögen abgesehen hätten.“
„Sie würden sich durch ein Heer von Treuhändern kämpfen müssen, und viele von denen tragen außergewöhnlich große Knöpfe und übertrieben hohe Hemdkragen und nennen viel zu viele kläffende Köter ihr Eigen.“ Christian tat, als schauderte ihn. „Ich persönlich würde ja lieber rohe Schnecken essen.“
Ihre Lippen zitterten. „Ein Schwarm Zuckerpüppchen also?“
„Lauter Stutzer, alle von ihnen.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Ob er ein guter Vater war, war meinem Erzeuger nicht so wichtig, aber er war immer wild entschlossen, nach dem neuesten Schrei gekleidet zu sein. “
„Wie schade.“
Christian zuckte mit den Schultern. „Als er ein paar vertrauenswürdige Ratgeber brauchte, die seine Güter verwalten und seine verlorenen Söhne unterstützen sollten, wen hätte er da wohl nehmen sollen, wenn nicht jene Männer, die seit Jahren seine Krawattentücher kritisierten?“
Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn nachdenklich. „Sie klingen ein wenig bitter.“
„Ich? Bitter?“ Christian winkte ab. „Rochester war seine Modebesessenheit wichtiger als seine väterliche Verantwortung. Damit habe ich keine Schwierigkeiten; aus dem wenigen, was ich von ihm weiß, schließe ich, dass er darin ohnehin nicht besonders gut gewesen wäre. Aber dass er zugelassen hat, dass meine Mutter im Gefängnis starb, unter einer falschen Anklage ... “ Christian presste die Lippen zusammen. „Es fällt mir sehr schwer, das zu vergeben oder zu vergessen.“
„Da ginge es mir genauso.“
„Sie dürfen jedoch nicht glauben, dass mein Vater vollkommen nutzlos war - in der Verwaltung der Güter war er ohnegleichen. Unter seiner Aufsicht blühte der Besitz, und das hätte ihm kaum einer nachmachen können. “
„Mein Großvater ist da ähnlich.“
Christian lächelte freudlos. „Und da hört die Ähnlichkeit auch schon wieder auf: Sie sind beide gute Verwalter. Ich habe mir die Bücher ganz genau angesehen, die mein Vater hinterlassen hat; unglaublich, wie viel Zeit und Mühe er investiert hat, um das Familienvermögen zu dem zu machen, was es heute ist.“
„Das klingt fast, als bewunderten Sie ihn doch ein bisschen.“
„,Bewundern ist ein wenig zu positiv. Sagen wir lieber, dass ich seine Fähigkeiten respektiere, die Dinge zu erledigen. Aus den Erfolgen eines Menschen kann man viel lernen, gleichgültig wer er war. “
„Das ist ja alles sehr interessant, Westerville“, sagte Beth erstaunlich geduldig. „Aber darum geht es nicht. Was wollen Sie jetzt wirklich von mir? Warum interessieren Sie sich so für meinen Großvater?“
Christians Blick wanderte über Beths Wimpern, die stolze Linie ihrer Wangen, das kühne und doch zarte Kinn bis hinab zu ihren Brüsten, die sich unter dem Kleid rundeten. In all den Jahren als Straßenräuber, in denen er den Damen erst die Juwelen geraubt und dann mit ihnen getändelt hatte, war er noch keiner Frau wie dieser begegnet.
Sie war weder übersättigt noch verzogen, sondern einfach nur sie selbst. Diese Frau hatte etwas unglaublich Wohltuendes an sich. Sie ließ einen an ein frisch bezogenes Bett denken, bei dem die Laken noch warm vom Bügeln waren, sie vermittelte einem das Gefühl, nach Hause zu kommen und gleichzeitig auf große Abenteuer zu gehen.
Er streckte die Hand aus und umfasste ihre Wange, strich mit dem Daumen über warme Haut. „Eines will ich zugeben, aber nur das eine: dass Sie schön sind.“
Sie packte ihn am Handgelenk und hielt ihn fest, kurz bevor er die Finger nach ihrem Haar ausstrecken konnte. „Und Sie, Westerville, weichen meiner Frage aus.“
Beinahe hätte Christian sich seine Ernüchterung anmerken lassen. Er konnte ihre Frage nicht beantworten, ohne sich selbst zu verraten, doch mit seinen Ausweichmanövern machte er sie nur noch misstrauischer.
Also steckte er in der Zwickmühle, und ihm fiel kein Ausweg ein. Da er keine andere Möglichkeit sah, tat er das Einzige, was ihm übrig blieb: Er küsste sie.