8. KAPITEL

Kürzlich las ich in der Zeitung von einem Dienstboten, der seinen Dienstherrn in einem Anfall von Zorn vergiftete. Leider geschieht dergleichen nur allzu oft und ist der endgültige Beweis für eine schlechte Ausbildung. Sollte sich der geneigte Leser je dabei ertappen, wie er die Hand über dem Arsenfläschchen kreisen lässt, möge er den Hammelbraten stehen lassen, auf sein Zimmer gehen, seine Sachen packen und sich schleunigst einen neuen Posten suchen. Es gibt immer einen besseren Weg, um mit einer freudlosen Stellung fertig zu werden.

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Beth hatte keine Zeit zum Nachdenken. Der Kuss war so unerwartet, dass sie darauf reagierte, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Sie konnte gar nicht anders. Sofort umschlang er sie, zog sie an sich, schmiegte sich an sie, und sie bekam ihn zu spüren, als er ihre Lippen auseinanderdrängte. Sie zitterte am ganzen Körper.

Der Kuss wurde heftiger, während er ihr über den Rücken strich, sie noch enger an sich presste. Etwas in ihr regte sich, während sie sich an ihn schmiegte und ihm die Arme um den Hals schlang.

Leidenschaft wallte in Beth auf, sie war nur noch Gefühl.

Sie begehrte ihn, sehnte sich nach ihm, bettelte darum, ihm nahe zu sein.

Er drehte sich leicht, drängte sie gegen den Schaukasten, sodass sie das Gestell im Rücken spürte, sogar durch die Pelisse hindurch. Beth war sich dessen aber fast nicht bewusst, spürte kaum seine Hände, als er sie an ihrer Seite hinabgleiten ließ zu ihrer Hüfte. Stattdessen fühlte sie Hitze, Hitze an jeder Stelle, die er berührte, und ihre Knie wurden merkwürdig schwach.

Lieber Gott, er küsste sie. Er küsste sie.

Mit einem Schlag kehrte die Vernunft zurück. So hatte sie den Verlauf dieses Treffens nicht geplant. Sie legte Westerville die Hände auf die Brust und bereitete dem Kuss ein Ende, indem sie den Kopf abwandte. Ihr Atem ging stoßweise.

Sie konnte nicht fassen, dass sie sich von ihm hatte küssen lassen. Bebend legte sie die Hände vor die Augen. Es war schierer Wahnsinn. Ein köstlicher, rauer, wilder Wahnsinn, ein Wahnsinn, von dem Beth noch nie gekostet hatte. Wie sie da so in Christians Armen stand und nach Atem rang, die Lippen immer noch feucht, fühlte sie sich ... wunderbar. Unglaublich, unerklärlich wunderbar.

Christian sah auf Beths gesenkten Kopf. Es hatte ihn alle Kraft gekostet, den Kuss zu unterbrechen. Seine Hände ruhten immer noch auf ihr, weil er sie einfach nicht wegziehen konnte. Sie war süß und verführerisch wie eine reife Beere, die ungewöhnlichste Mischung aus Unschuld und Sinnlichkeit, der er je begegnet war. Trotz seiner Absichten musste er zugeben, dass er sich ehrlich von ihr angezogen fühlte. Und das nicht, weil sie ihm eine Gelegenheit bot, die Wahrheit über den Mann herauszubekommen, der für die widerrechtliche Verhaftung seiner Mutter verantwortlich war. Nein, es war mehr. Elizabeth war schön, ungekünstelt sinnlich, intelligent und so furchtbar erpicht darauf, nicht die Kontrolle abzugeben, was in ihm wiederum den Wunsch weckte, selbst die Oberhand zu behalten. Einer so verführerischen Kombination konnte er nicht einfach den Rücken kehren.

Jetzt, da er die Hände immer noch an ihren Hüften liegen hatte, war sie ihm schmerzlich nahe. Dennoch zog er sie nicht an sich. Sie stand mit gesenktem Kopf und hatte die Hände auf die Augen gepresst, wie um die letzten Minuten auszuradieren. Er spürte, wie sie zitterte, sah, wie rasch sich ihre Brust hob und senkte. Offenbar kämpfte sie mit ebenso vielen Gefühlen wie er.

Die Vorstellung gefiel ihm. Wenigstens war sie nicht immun gegen ihn. Im Gegenteil, ihrer leidenschaftlichen Reaktion auf seinen Kuss nach zu urteilen, fühlte sie sich ebenso zu ihm hingezogen wie er zu ihr. Er wartete darauf, dass sie sich bewegte, etwas sagte, aber sie stand nur da und hielt sich die Augen zu. Und ... das Lächeln entglitt ihm. Lieber Himmel, sie weinte doch nicht etwa?

Von all den Küssen, die er im Leben gegeben und empfangen hatte, hatte noch keiner in Tränen geendet. Allerdings hatte er auch noch nie mit einer Frau zu tun gehabt, die so offensichtlich noch unschuldig war. Er beugte sich ein wenig vor, um vielleicht hinter die Hände blicken zu können, doch er sah nichts.

Verdammt, er hatte sie nicht aufregen wollen. Er hatte sie wirklich nur davon abhalten wollen, Fragen zu stellen, die er nicht beantworten konnte.

So ging das nicht. Überhaupt nicht. Vom Flur war eine Stimme zu hören, ein Mann, der zu einem Vortrag über die Komplexität der etruskischen Kunst anhub.

Christian fluchte leise. Er wappnete sich, streckte die Hand zu Elizabeths Kinn aus und hob ihr Gesicht an. Sie ließ die Hände sinken und sah ihn an.

Sie weinte nicht. Im Gegenteil, sie lächelte. Ein weiches, zittriges Lächeln, das ihn nicht nur erleichtert aufatmen ließ, sondern ihn auch sofort veranlasste, sie enger an sich zu ziehen.

Doch davon wollte die schöne Lady Elizabeth nichts wissen. Ruckartig wand sie sich aus seiner Umarmung. „Nein“, sagte sie ziemlich atemlos. „Nicht!“

Er schob die Hände in die Taschen und unterdrückte den Wunsch, sie erneut in die Arme zu nehmen. „Keine Angst.

Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich einer Frau aufdrängen, so schön sie auch sein mag.“

„Das habe ich auch nicht angenommen. Mir geht es nicht darum, Ihren Charakter schlechtzumachen, ich bin mir meiner eigenen Charakterstärke nicht ganz sicher. Das alles hätte nicht passieren dürfen. Ich hätte gar nicht herkommen sollen. Ich dachte nur ..." Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe mich geirrt.“

„Haben Sie den Kuss nicht genossen?“

Sie warf ihm einen raschen Blick zu. „Doch. Schon. Aber das heißt nicht, dass es auch richtig war.“ Ihre Miene wurde resolut, ihr Lächeln eine Spur angespannt. „Wir dürfen nicht mehr allein miteinander sein. “

„Nie wieder?“

„Nie wieder“, bekräftigte sie und lächelte ihr verflixtes schiefes Lächeln. In ihren Augen leuchtete Entschlossenheit.

Christian wurde ein wenig unruhig. „Elizabeth, ich wollte Sie nicht aufregen. Ich finde Sie hinreißend, und ...“

Sie hob die Hand. „Für heute haben wir genug Spielchen gespielt, finden Sie nicht? Vielen Dank für Ihre Einladung ins Museum. Für mich wird etruskische Kunst nie mehr dasselbe wie früher sein.“

Darüber musste er lächeln, obwohl er gerade das merkwürdige Gefühl hatte, er habe etwas verloren. Etwas unglaublich Wertvolles. „Elizabeth, wir sollten miteinander reden ...“ „Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Er tat einen Schritt auf sie zu. „Zehn Minütchen können Sie bestimmt noch bleiben. Wir haben uns noch gar nicht am römischen Fries erfreut.“

Das leichte Lächeln auf ihren Lippen veränderte sich nicht, obwohl ihre Wangen rot anliefen. „Darum geht es nicht.“ Sie rückte das Retikül zurecht, das an ihrem Handgelenk baumelte. „Ich habe Sie gefragt, warum Sie sich so für meinen Großvater interessieren, und Sie haben mit einem Kuss geantwortet, was höchst unpassend war.“

„Das ist im Affekt passiert, ich wusste mir nicht zu helfen“, erwiderte er.

„Ich glaube Ihnen nicht. Dieser Kuss war nichts anderes als ein Versuch, meiner Frage auszuweichen. Und der Beweis dafür, dass ich mit meinen Verdächtigungen recht habe.“ Ihr klarer Blick traf den seinen. „Sie interessieren sich für meinen Großvater, und ich muss annehmen, dass es sich dabei nicht um freundliches Interesse handelt. Wenn Ihre Absichten lauter wären, hätten Sie längst alles erklärt.“

Christian ballte die Fäuste. Verdammt! So hatte er sich das Treffen nicht vorgestellt. „Ich suche nur nach der Wahrheit.“ „Worüber?“ Sie hob die Brauen und wartete.

Christian rang sich ein Lächeln ab und kämpfte gegen den Drang an, ihr alles zu erzählen. Doch er konnte nicht einfach damit herausplatzen, dass er ihren Großvater schlimmer Taten verdächtigte, die zum Tod seiner Mutter geführt hatten. Anscheinend war sie ihrem Großvater sehr zugetan. Und wenn dem so war, würde sie jedes Stückchen Information, das er fallen ließ, sofort nach Massingale House tragen, dort die Türen verriegeln und ihrem Großvater alles sagen.

Christian wollte das Überraschungsmoment nicht freiwillig aufgeben, es stellte eine seiner wenigen Waffen dar.

Ihr Blick wurde misstrauisch. „Ich will die Wahrheit, Westerville. Es ist nicht die Anziehungskraft allein, was Sie dazu bringt, mir nachzustellen, das weiß ich genau.“

„Sie haben den Kuss genossen.“

„Stimmt.“ Sie zog die Handschuhe an, strich dabei ordentlich jeden Finger glatt, bis sie perfekt saßen. „Deswegen werde ich auch sorgfältig darauf achten, dass ich Ihnen nicht mehr allein begegne. Nie wieder.“

„Elizabeth, es besteht keinerlei ...“

„Guten Tag, Lord Westerville. Es liegt auf der Hand, dass Sie nicht Vorhaben, Ihre Absichten offenzulegen. Ich hätte mir ein anderes Ende gewünscht, aber so ist es nun einmal. Auf eines jedoch können Sie sich verlassen: Ich werde herausbekommen, was Sie im Schilde führen, und ich werde tun, was ich kann, um Sie aufzuhalten.“

Christians Miene verfinsterte sich. Seine gute Laune war wie weggeblasen. „Drohen Sie mir etwa?“

„O nein, Mylord. Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.“ Mit diesen knappen Worten, das verdammte Lächeln immer noch auf den Lippen, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Christian wollte ihr schon nacheilen, laute Stimmen im Flur ließen ihn jedoch innehalten.

Zur Hölle mit allem, das Treffen war nicht so verlaufen, wie er sich gewünscht hatte. Ganz und gar nicht. Er kehrte in den Raum zurück, lehnte sich an die Wand und fuhr sich durchs Haar. Sie war der Schlüssel zu Massingale, und nun hatte sie ihn in einem kurzen Gespräch beinahe gezwungen, Farbe zu bekennen.

Was sollte er jetzt nur tun?

Die Tür zum Londoner Stadthaus der Rochesters wurde geöffnet, als Christian die Stufen erklomm.

„Da sind Sie ja, Mylord“, sagte Reeves, nahm Christians Überrock entgegen und reichte ihn an einen Lakaien weiter. „Als Sie letzte Nacht nicht zurückgekommen sind, haben wir uns gefragt, ob Sie sich vielleicht verlaufen haben könnten. Wir waren kurz davor, einen Suchtrupp loszuschicken.“ „Wenn Sie je einen aussenden, vergessen Sie nicht, ihm eine Flasche meines besten Brandys mitzugeben“, versetzte Christian, während er sich in die Bibliothek begab. „Das ist die einzige Methode, wie ich mich nach Hause locken ließe.“

„Ich werde daran denken“, erwiderte Reeves und folgte Christian in die Bibliothek. „Master William ist gekommen.“ Christian blieb stehen. „Wo ist er denn?“

„In der Küche. Er isst dort sein Gewicht in Kohlsuppe. Offenbar ist er die ganze Nacht durchgeritten, wollte sich jetzt aber nicht hinlegen. Ich riet ihm, dass es nicht verkehrt sei, die Kleider zu wechseln, doch ehe er mit Ihnen gesprochen hat, wollte er überhaupt nichts tun.“

„Schicken Sie ihn herein.“

„Die Freiheit habe ich mir bereits genommen, Mylord.“ Die Tür öffnete sich, und ein Lakai brachte ein Tablett. „Ah!“, meinte Reeves erfreut. „Ihr Tee.“

„Ich habe keinen Tee bestellt.“

Der Butler nahm das Tablett entgegen, scheuchte den Mann aus dem Zimmer und stellte das Tablett neben Christian ab. „Ich weiß, dass Sie keinen Tee bestellt haben, aber ich dachte, es könnte Sie nach dieser langen Nacht beleben. Unschuldige Jungfern zu verführen ist ein überaus ermüdendes Geschäft.“

Christian hob eine Braue. „Fangen Sie schon wieder damit an?“

„Täusche ich mich denn? Waren Sie nicht mit Lady Elizabeth verabredet?“

„Vielleicht.“

„Verstehe. Dann gehe ich einfach davon aus, dass Sie sich wie ein Gentleman verhalten haben. “

Christian funkelte den Butler wütend an. „Ich mag keinen Tee.“

Reeves, der im Begriff war, eine Tasse einzugießen, hielt inne. „Kein Tee, Mylord?“

„Nein!“

„Wie schade. Ich dachte, er könnte Sie ein wenig munter machen. Master William schien voller Neuigkeiten zu stecken, da werden Sie hellwach sein müssen.“

Widerstrebend nahm Christian den Tee entgegen, roch misstrauisch daran und nahm schließlich einen kleinen Schluck. Er verzog das Gesicht. „Haben Sie Zucker?“ „Natürlich, Mylord.“

Christian stellte die Tasse auf den Tisch zurück. „Drei Teelöffel.“

Reeves hielt inne.

Christian ließ den Butler gar nicht zu Wort kommen. „Ja, verdammt. Ich sagte, drei Löffel.“

„In eine Tasse?“

„Entweder geben Sie den Zucker jetzt in den Tee, oder ich trinke ihn nicht. “

Mit leisem Missfallen gab Reeves Zucker in die Tasse.

„Das waren bloß zwei Löffel. Tun Sie noch einen rein.“ Reeves seufzte, tat aber, wie ihm geheißen wurde. „Sie neigen zu Exzessen, nicht wahr, Mylord?“

„Wann immer es möglich ist, Reeves. Wann immer es möglich ist.“ Vorsichtig nahm Christian noch einen Schluck Tee. Diesmal schmeckte er ihm viel besser, er war kräftig, süß, beinahe gut.

Leises Klopfen ertönte, und dann kündigte ein Lakai Willies Ankunft an. Der Schotte erschien in der Tür, eine riesige Gestalt in langem schwarzem Mantel und dicken schwarzen Lederstiefeln. Sein rotes Haar war im Nacken zum Zopf geflochten, in seinem Gesicht wucherten Bartstoppeln. Er wirkte müde, aber auch freudig erregt.

Christians Hoffnungen stiegen.

Willie hob den Fuß und wollte den Teppich betreten. „Halt!“, kommandierte Reeves.

Der Schotte setzte den schlammverkrusteten Stiefel wieder ab und starrte den Butler wütend an. „Was wollen Sie denn jetzt schon wieder, Sie alte Nörgelsocke?“

Reeves nahm ein kleines Handtuch vom Tablett, ging zu Willie hinüber und legte es vor ihm auf den Teppich. „Bitte stellen Sie sich hier auf das Handtuch, Master William. Und bewegen Sie sich nicht von der Stelle.“

„Ich stell mich bestimmt auf kein Handtuch drauf!“ „Dann erklären Sie bitte der Haushälterin, warum alle Teppiche erneut gereinigt werden müssen. Die gute Frau wird der Schlag treffen. “

Der Schotte zog ein finsteres Gesicht, aber der Schlamm an seinen Schuhen war nicht zu übersehen. Also stieg er äußerst widerwillig auf das Handtuch.

Seine riesigen Füße bedeckten das winzige Tuch zur Gänze, und einen Augenblick hatte es den Anschein, als bereitete es ihm Mühe, auf einer so winzigen Grundfläche das Gleichgewicht zu halten. Doch mittels der vernünftigen Maßnahme, die Arme vor dem mächtigen Brustkorb zu verschränken und das Gewicht auf die Fersen zu verlagern, gelang es ihm, auf dem Küchenhandtuch stehen zu bleiben.

„Das ist ja so, wie wenn ich meine Großmutter besuchen tät“, knurrte der Schotte. „Die legt auch dauernd irgend-welche Decken auf die Sessel, damit keiner Flecken reinmacht, bis es ausschaut wie im Geisterhaus.“

Christian hob eine Braue. „Was hast du rausgefunden? Hast du den Bischof gefunden?“

Willies Miene hellte sich auf, und seine blauen Augen begannen zu glänzen. „Ich hab einen Brief von ihm.“ Christian beugte sich vor.

„Aye. Selber konnt ich nicht mit ihm reden, weil er sterbenskrank war. Wahrscheinlich macht er es nicht mal mehr diese Woche. Da hab ich die Fragen seiner Tochter gegeben, und die hat gesagt, er hätt hier auf alle geantwortet.“ Willie knöpfte die Lederweste auf und zog aus einer Innentasche ein schmales Päckchen heraus.

Reeves nahm den Brief und brachte ihn seinem Dienstherrn.

Christian betrachtete das sauber zusammengefaltete Stück Papier. Hier war sie, die Antwort auf seine Fragen. Mit bebenden Händen öffnete er den Brief.

Mein lieber Lord Westerville,

ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich mich schätze, Ihre Anfrage bezüglich Ihrer Mutter Mary Margaret zu erhalten. Ich kannte sie, als sie ein junges Mädchen war; ihre Familie gehörte zu der Gemeinde, in der ich damals Prälat war. Sie war einer der großzügigsten, großherzigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Als ich daher Jahre später erfuhr, dass sie im Gefängnis sitzt, ging ich sie besuchen. Ich wusste, dass es sich bei ihrer Inhaftierung um einen Fehler handeln musste. Und das glaube ich auch heute noch.

Leider konnte ich sie nur wenige Male sehen, ehe sie starb. Sie fragen, ob ich dabei irgendetwas Ungewöhnliches oder Merkwürdiges beobachtet habe, und das muss ich bejahen. Mir fallen dazu sogar mehrere Dinge ein. Als ich Ihre Mutter das letzte Mal besuchte, stand vor dem Gefängnis eine Kutsche mit einem purpurrot-goldenen Wappen ...

Christian wandte sich an Reeves. „Welche Farben hat Massingales Wappen?“

Reeves spitzte die Lippen. „Ich glaube, purpurrot und cremeweiß, obwohl Er runzelte die Stirn. „Es könnte auch ein wenig Gold dabei sein.“

„Aye“, stimmte Willie zu. „Der Kutsche bin ich schon oft gefolgt.“

Christian nickte und widmete sich wieder dem Brief.

... obwohl ich nicht sicher sein kann. Bedauerlicherweise habe ich die Person, die in dieser Kutsche gekommen war, nicht gesehen, da ich außer Ihrer Mutter noch andere Leute zu besuchen hatte. Als ich dann bei ihrer Zelle ankam, waren der Besucher und die Kutsche verschwunden. Ihre Mutter war da schon krank, und ihren Bewegungen haftete eine gewisse Fahrigkeit an, was mich damals sehr traurig gemacht hat.

Ich fragte Ihre Mutter, was los sei, doch weil sie bereits am Fieber litt und teilweise irr redete, antwortete sie nicht direkt. Ich tat, was ich konnte, um es ihr bequem zu machen, und breitete eine weitere Decke über sie, die ich extra mitgebracht hatte, doch sie warf sie immer wieder ab und meinte, sie müsse aufstehen. Dass sie ihrem Feind ihren letzten Wertgegenstand überlassen habe - ihr berühmtes Saphircollier. Dafür, so glaubte ihre Mutter, würde ihr Feind die Anschuldigung gegen sie zurückziehen.

Doch etwas an dem Plan war schiefgegangen, denn obwohl sie das Collier hergegeben hatte, wurden die Beschuldigungen nicht zurückgezogen. Ihre Mutter fragte, ob ich für sie einen letzten Brief übermitteln könnte. Sie reichte mir die Nachricht, und ich steckte sie ein. Danach blieb ich noch ein Weilchen bei ihr. Als ich die Zelle verließ, umklammerte sie meinen Arm und flehte mich an, dass ich Sie und Ihren Bruder besuchen sollte. Sie redete oft von Ihnen, Ihnen galt ihre Hauptsorge.

Christian merkte, dass er den Brief so fest umklammerte, dass er ihn beinahe zerknüllte. Er lockerte den Griff und glättete den Brief. In seinem Kopf wirbelte es. Seine Mutter hatte oft nach ihm und Tristan gefragt. Und gewollt, dass nach ihnen gesucht wurde.

Zu dieser Zeit waren er und Tristan natürlich schon gezwungen gewesen auszuziehen, wegen all der Gläubiger, das hatte seine Mutter aber nicht wissen können.

Christian setzte seine Lektüre fort.

Als ich das Gefängnis verließ, sah ich mir den Brief an. Zu meiner Überraschung ging er an die Adresse des Duke of Massingale, an jemanden namens Sinclair. Wie Ihre Mutter gewünscht hatte, gab ich den Brief ab und war ziemlich erstaunt, als der Butler diese merkwürdige Adresse widerspruchslos akzeptierte. Er nahm den Brief entgegen, dankte mir und führte mich hinaus. Am nächsten Tag starb Ihre Mutter.

Ich wünschte, ich hätte mehr Informationen für Sie. Sie fragen nach Beweisen. Alles, was ich dazu sagen kann, ist das - wenn Sie das Collier finden, wissen Sie, wer Ihrer Mutter Böses wollte. Ihre Mutter war eine gute, gottesfürchtige Frau, und ich bin sicher, dass sie am Ende Ihren Weg fand, und Sie werden das sicher auch.

Gott segne Sie, mein Sohn 

Vater Joshua Durham

Christian setzte den Brief ab. Sinclair. Wieder dieser Name. War es ein Deckname für den Herzog? Christian atmete tief ein.

„Mylord?“, durchbrach Reeves’ Stimme das Schweigen. Christian bemühte sich, aus seinen Gedanken aufzutauchen. Seine Mutter war am Ende also doch nicht ganz allein gewesen. Vater Durham hatte sie gefunden und für sie getan, was er konnte. Bis zu diesem Augenblick hatte Christian gar nicht gewusst, was für eine Belastung die Vorstellung von ihrem einsamen Tod für ihn gewesen war.

Reeves’ Stimme schnitt durch den Nebel in Christians Kopf. „Was Seine Lordschaft jetzt braucht, ist noch ein Tässchen Tee.“

„Pah“, meinte Willie. „Lieber einen Brandy.“

Christian faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn auf dem Tisch neben sich ab. „Keinen Tee mehr. Brandy auch nicht.“

Reeves verneigte sich. „Darf ich fragen, ob der Brief Ihren Erwartungen entspricht?“

„Ja“, versetzte Christian und blickte auf die gefaltete Nachricht. „Irgendwo im Haus des Dukes liegt ein Collier verborgen, das meiner Mutter gehört. Wenn ich es finde, habe ich den Beweis, dass er an der widerrechtlichen Einkerkerung meiner Mutter beteiligt war.“

Willie kratzte sich am Ohr. „Was für ein Halsband ist es denn?“

Christian sah auf den Brief und seufzte mutlos. „Ich weiß nicht. Der Bischof schreibt, es wäre berühmt gewesen.“

„Ah, das Saphircollier“, meinte Reeves.

Christian sah ihn an. „Sie kennen es?“

„Am Tag Ihrer Geburt hat Ihr Vater Ihrer Mutter ein Saphircollier geschenkt. Es war ziemlich auffällig, da es sehr kunstvoll in Silber gefasst war. Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen.“

„Glauben Sie, dass Sie eine Zeichnung anfertigen könnten? Ich muss wissen, wie es aussieht.“

„Ich weiß sogar noch etwas Besseres. Das Collier wurde nämlich bereits gemalt, auf dem Porträt Ihrer Mutter, das im Landhaus Ihres Vaters hängt. Von hier sind es nur zwei Stunden.“

Wie passend, dass das Gemälde, das sein Vater in Auftrag gegeben hatte, Christian dabei unterstützen sollte, den Verräter seiner Mutter zu finden. Irgendwie war das, als würde ihm sein Vater von jenseits des Grabes helfen. Christian schüttelte den Gedanken ab, er glaubte nur an das, was er sehen konnte.

Nun blickte er zu Reeves. „Hervorragend. In einer Stunde brechen wir auf; heute Abend können wir wieder zurück sein. Und dann ...“, Christian nickte, „... dann muss ich mich irgendwie ins Haus des Herzogs einschleichen. Jetzt mehr denn je.“

„Können Sie nicht einfach hinfahren und ihn besuchen?“, meinte Willie hilfreich.

„Er empfängt niemanden. Deswegen ist seine Enkelin für mein Vorhaben ja so wichtig. Nur sie und ihre Stiefmutter kommen an ihn heran, und die Stiefmutter lebt fast so zurückgezogen wie der alte Massingale selbst. Ohne Begleitung eines gewissen Lord Bennington geht sie nirgendwohin. “

„Na denn“, erklärte Willie gut gelaunt, „dann werden Sie es eben bei der Enkelin probieren müssen.“

„Genau das habe ich ja versucht, aber ... jetzt liegen die Dinge nicht mehr so einfach.“ Christian rieb sich das Kinn. Vermutlich könnte er auch ohne Elizabeths Hilfe zurechtkommen, aber mit ihr wäre es wirklich sehr viel einfacher.

Er runzelte die Stirn, fragte sich, ob er vielleicht nur nach Gründen suchte, mit ihr zusammen sein zu können. Ihre Begegnung am Morgen hatte ihm Appetit auf mehr gemacht, selbst wenn sie deutlich gemacht hatte, dass sie nie mehr mit ihm allein sein wollte. Unter vier Augen mit ihr zu reden würde sich ab sofort schwierig gestalten, aber es war möglich. Das Problem war nur, ob er nahe genug an sie herankommen und ihr Vertrauen so weit gewinnen könnte, dass er eine Einladung nach Massingale House ergatterte - vor allem, nachdem sie jetzt misstrauisch geworden war. Er dachte an ihr starres Lächeln, als sie ihn im Museum hatte stehen lassen, und seufzte. „Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, Lady Elizabeths Vertrauen zu gewinnen.“

„Wie das?“, fragte Reeves misstrauisch. „Was ist bei Ihrem Rendezvous mit Lady Elizabeth geschehen, Mylord?“ Christian zuckte mit den Schultern. „Im Augenblick will sie nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Sie hat gemerkt, dass ich nicht nur an ihr interessiert bin, sondern auch an ihrem Großvater, und dann Christian deutete eine schlitzende Bewegung an.

„Meine Güte! “, erklärte Reeves mit erfreuter Miene. „Was für eine scharfsinnige junge Dame!“

„Weiber“, erklärte Willie abfällig. „Machen einem nix wie Schwierigkeiten, alle miteinander.“

Christian stand auf, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Vielleicht wusste er doch einen Weg, um Elizabeths Mithilfe zu gewinnen. „Ich bin noch nicht fertig mit ihr. Lady Elizabeth wird mir helfen, auf die eine oder andere Art. “

„Und was ist die andere Art?“, erkundigte sich Reeves. „Die schöne Lady Elizabeth hat Grund, mich zu fürchten, denn ich weiß etwas über sie.“ Christian lächelte zum ersten Mal seit einer Stunde. „Wussten Sie, dass Ihre Stimme so rein, klar und lieblich ist wie ein murmelnder Bach?“ „Wenn das ihr Geheimnis ist, dann verstehe ich, dass sie Sie fürchtet“, erwiderte Reeves trocken.

„Ah, aber sie möchte nicht, dass diese Information bekannt wird. In der Öffentlichkeit tut sie so, als stottere sie. Es soll sie vor einem Ansturm lästiger Verehrer schützen.“ „Wenn Lady Elizabeth Sie schon zur Rede gestellt hat, was Ihre Motive angeht, wäre es vielleicht besser, ihr einfach die Wahrheit zu sagen und um Hilfe zu bitten.“

„Boah! “, rief Willie aus. „Ich dachte, Sie wär’n auf unserer Seite!“

„Bin ich auch“, erwiderte Reeves. „Doch manchmal ist die Wahrheit die beste Wahl.“

Christian schüttelte den Kopf. „Sie meinen, ich soll Lady Elizabeth erzählen, ich sei der Meinung, ihr geliebter Großvater habe meine Mutter auf dem Gewissen?“

„Ja, Mylord. Ich glaube, sie wird Ihnen helfen, nach Beweisen zu suchen, nur um Ihnen zu zeigen, dass Sie sich irren.“

„Wenn ich ganz verzweifelt bin, werde ich an Ihren Vorschlag denken.“ Christian nahm den Brief des Bischofs. „Bis es dazu kommt, habe ich aber noch ein paar andere Ideen. Willie, vom Teppich runter. Wasch dich und ruh dich aus.

Möglich, dass ich dich bald brauche. Reeves, lassen Sie heißes Wasser auf mein Zimmer bringen. Ich möchte baden, und dann brechen wir auf, um uns das Porträt anzusehen. Ich muss wissen, wie das Collier aussieht, damit keine Verwechslungsgefahr besteht.“

„Jawohl, Mylord“, erklärte Reeves, während er beobachtete, wie Willie vom Handtuch hüpfte wie eine sehr große und unbeholfene Kröte. Handtuch und Umgebung waren schlammverschmiert. „Wie ich sehe, haben wir alle einen ereignisreichen Nachmittag vor uns.“