»Wenn sich niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten; wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen; wenn niemand wahrnähme, was wir tun; wenn wir von allen geschnitten und als nicht existierend behandelt würden, dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste körperliche Qual eine Erlösung wäre.«
William James, US-amerikanischer Psychologe, 18901
1. Kultivierter Hass
Warum die Konsumgesellschaft ihren Bestand durch Ausgrenzung sichert und die Mittelschicht sich nach oben orientiert, während sie nach unten tritt
Der großzügige Flur der Chefetage sieht aus wie eines dieser kreativ eingerichteten Lofts, die man aus Lifestyle-Magazinen kennt. Auf einem schicken Sideboard steht eine Espressomaschine, vor einer Wand mit Mustertapete ein helles Sofa, dazu weiß glänzende Möbel. Eine Mischung aus Lounge und Design-Wohnzimmer. Die Fotografen bauen ihr Equipment auf, in Kürze beginnt mein Interview mit der deutschen Sprecherin eines multinationalen Konzerns mit Milliardenumsatz. Zuvor plaudern wir in entspannter Wohnzimmeratmosphäre. Ich erzähle von der Arbeit an diesem Buch und darüber, dass ich bei den Tafeln recherchiere, die sich zum Ziel gesetzt haben, überschüssige Lebensmittel aus Supermärkten an Bedürftige zu verteilen. »Interessant«, findet die Pressesprecherin, darüber mache sie sich auch Gedanken: »Ich überlege ja oft, was man machen könnte, damit die Leute lernen, Essen zu schätzen.« Ja, sage ich und denke an Supermarktrampen, auf denen kistenweise Lebensmittel stehen, die aussortiert wurden, weil sie nicht gut genug scheinen. 20 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr weggeworfen; ein Skandal in der Tat. Doch sie meint etwas anderes: »Ich finde, die Leute, die bei der Tafel Essen holen, sollte man dazu verpflichten, gemeinnützige Arbeit zu leisten.« Hoppla. Disziplinierungsmaßnahmen, die ansonsten für straffällig gewordene Jugendliche angewendet werden? Für Menschen, die so ausweglos arm sind, dass sie ohne Lebensmittelspenden nicht über die Runden kommen? Abgesehen davon, dass die meisten Tafelnutzer den Wert von Lebensmitteln schon deshalb kennen, weil sie diese im Supermarkt kaum bezahlen können: Warum sollen Alleinerziehende, Rentner und Niedrigstlöhner auch noch Straßen fegen und Hundescheiße aufsammeln, damit sie was in den Magen kriegen? »Weil die sonst das Essen bloß in den Müll schmeißen«, sagt die Pressesprecherin.
Ich habe bereits mit vielen Tafelnutzern gesprochen und sie nach Hause begleitet, habe Ehrenamtlichen beim Verteilen zugesehen und bin die Abholtouren zu den Supermärkten mitgefahren. Dabei hatte ich eine erschütternde Welt der Scham und des persönlichen Leids kennengelernt. Und Menschen, die trotz täglicher Demütigungen mit aller Kraft versuchen, ein Leben in Würde zu führen, obwohl sie von der Gesellschaft weder Anerkennung noch Respekt erfahren. Der Gedanke, dass jemand sich dazu überwindet, für übrig gebliebenes Essen Schlange zu stehen, nur um es anschließend wegzuschmeißen, ist nachgerade absurd. Wie kommt eine Frau, die der gehobenen Mittelschicht angehört und sich sicher nicht in der Tafelwelt bewegt, auf diese Idee? Sie habe, sagt sie, von einem Lehrer gehört, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien eine Pizza lieber in den Müll schmeißen würden, als ihren Mitschülern ein Stückchen davon abzugeben. Aha.
Ein Freundesbesuch am Stadtrand, auf dem neu gebauten Ökohaus glänzen Solarzellen. Es ist ein warmer Frühsommertag, wir sitzen auf der Terrasse, trinken Kaffee mit Biomilch. Die Frau ist Referendarin an der Hauptschule in der nächstgelegenen Stadt; es ist eine sogenannte »Problemschule«. Die angehende Lehrerin echauffiert sich über ihre Schüler. Sie könne das nicht verstehen, dass die jungen Leute keine Arbeit bekämen. In der Gastronomie, in den Hotels würden seit Jahren »händeringend« Auszubildende gesucht. »Die sind selber schuld, die wollen einfach nicht«, sagt sie. Ja, wirklich? Sowohl der viel zitierte Fachkräftemangel als auch das angebliche Überangebot an Lehrstellen sind schlicht Mythen: 2010 bekam jeder dritte Jugendliche, der eine Ausbildung beginnen wollte, keine Stelle. Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist auf den drittniedrigsten Stand seit zehn Jahren gesunken, klagt die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten.2 Darüber hinaus ist mittlerweile jeder zweite Arbeitsplatz in der Gastronomie ein Minijob.3
Die junge Hausbesitzerin reagiert trotzig: »Die sagen mir selber, dass sie lieber Hartz IV wollen und gar keinen Bock haben zu arbeiten.« Ja, was man als Schüler halt so zu seinen Lehrern sagt: Provokation, wie sie für Schüler üblich ist, zumal für solche, die vom System nichts mehr erwarten und nichts zu erwarten haben. Lehrer als Angehörige der Mittelschicht sind meistens denkbar weit entfernt vom Alltag der sogenannten Unterschicht: obwohl, vielleicht weil sie tagtäglich mit den Folgen einer diskriminierenden Sozialpolitik umgehen müssen, begegnen sie den Opfern nicht immer ohne Vorurteile. Einer Studie der Universität Oldenburg von 2009 zufolge glauben Lehrer sogar, dass sie verhaltensauffällige und leistungsschwache Kinder bereits an ihren Vornamen erkennen können: »Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose«, sagte eine Lehrerin in der Untersuchung, die Lehrer zu ihren Namensvorlieben und den zugehörigen Assoziationen befragte. 4
Am Stammtisch der Mittelschicht
Ein Abend im Restaurant, am Tisch eine Gruppe Journalisten und Akademiker. Die Mägen sind voll, der Rotwein fließt, man versteht sich so gut, wie man sich eben versteht, wenn man sich unter Gleichen fühlt, zumindest unter Gleichgesinnten. Einer von ihnen sagt recht unvermittelt: »Hartz-IV-Empfänger gehen doch bloß zur Tafel, damit sie sich das neueste iPhone kaufen können.« Schon klar, in solchen Runden geht es immer auch darum, sich zu profilieren. Doch als Provokation war das offenbar nicht gedacht. Jedenfalls stört sich niemand an dieser ungeheuerlichen Unterstellung, keiner widerspricht, einer nickt beiläufig. Wie kann das sein? Jeder am Tisch hat einen guten Job, aus dem er Befriedigung und Anerkennung zieht, manche verdienen sogar überdurchschnittlich. Alle haben studiert, sind politisch und kulturell interessiert und lesen mindestens eine überregionale Tageszeitung. Manche von ihnen waren früher vielleicht sogar mal links (und sagen heute, dass sie »realistisch« geworden sind). Man sollte annehmen, dass es einen Konsens gibt über wesentliche ethische Fragen. Hätte jemand einen ähnlich diskriminierenden Satz über eine andere Bevölkerungsgruppe gesagt – etwa: »Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg« oder »Schwarze sind doch alle Drogendealer« –, den Beteiligten wären die Garnelen im Hals stecken geblieben.
Doch in dieser Frage erfährt der Journalist volle Zustimmung. Ein anderer bestätigt: »Ja, die haben immer die neuesten Handys. Außerdem sind die immer super angezogen, wenn sie zur Tafel gehen. Die, die das wirklich brauchen, die erreicht man doch gar nicht.« Ein weiterer ergänzt: »Und seit die die Heizkosten bezahlt kriegen, heizen die wie verrückt, hab ich gehört.« Vermutlich von Thilo Sarrazin: »Hartz-IV-Empfänger sind erstens mehr zu Hause, zweitens haben sie es gerne warm, und drittens regulieren viele die Temperatur mit dem Fenster.«5 Man fragt sich, wer allen Ernstes seine Wohnung überheizen würde, bloß um es dem Staat reinzudrücken. Dabei wohnen Hartz-IV-Empfänger und andere Bedürftige überdurchschnittlich oft in schlecht isolierten Sozialwohnungen. In welcher Höhe aber die Heizkosten erstattet werden, obliegt den Kommunen: Wie beim Wohnraum legen diese fest, was »angemessen« ist. Was darüber hinausgeht, müssen die Bedürftigen selbst zahlen. Das heißt: frieren oder umziehen. Strom, Gas und Warmwasser sind im Regelsatz enthalten. Übersteigt der Verbrauch den vorgesehenen Betrag – etwa, wenn die Energiekosten steigen,6 müssen Hartz-IV-Empfänger die Kosten ebenfalls aus eigener Tasche bezahlen. Heißt: Licht aus, Herd aus, kalt duschen und Schulden. Und für manche sogar hungern, um die Stromrechnung bezahlen zu können.7 Während die Ökoelite ihre Solarzellen auf dem Eigenheim subventioniert bekommt, um damit Heizung und Strom zu sparen, ja, auch noch Geld zu verdienen, wenn sie Strom ins Netz einspeisen, leiden Bedürftige in Deutschland unter Energiearmut. Man kann das wissen. Wenn man es wissen will. Aha, frage ich schließlich, und woher habt ihr diese Informationen? Kennt ihr solche Leute? »Ja, natürlich«, sagen sie zwei prompt, »wir leben ja in Berlin.«
Merkwürdig. Ich musste jedenfalls richtig suchen, um mit Menschen, die der sogenannten »Unterschicht« angehören, ins Gespräch zu kommen. Gefunden habe ich sie in der Parallelwelt der Tafeln und Sozialkaufhäuser an den Rändern der Städte. Man kennt sich nicht mehr einfach so. Die Schichten in Deutschland haben sich mittlerweile so weit voneinander entfernt, dass es kaum noch Berührungspunkte gibt – und keine Orte mehr, an denen sich Menschen unterschiedlicher Schichten begegnen und austauschen. Sowieso nicht bei der Arbeit, denn aus der Arbeitswelt sind Langzeitarbeitslose ja ausgeschlossen. Ihr »Arbeitsplatz« ist das Jobcenter – ihre Aufgabe scheint es zu sein, ihr ganzes Leben dem Zugriff des Staates zu öffnen, sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu stellen, die x-te sinnlose Bewerbung zu schreiben und Repressalien auszuhalten. Man trifft sich kaum im Konsumalltag, denn die neuen Armen sind auf eine parallele Konsumwelt jenseits von kombinierten Buch- und Weinhandlungen, Schnick-Schnack-Boutiquen, Wochenmärkten, Bioläden und Designeinkaufstempeln angewiesen. Viele von ihnen versorgen sich in Sozialkaufhäusern, Kleiderkammern oder bei den Lebensmittelausgaben der Tafel. Man lebt nicht mal mehr im selben Stadtviertel, weil die städtische Politik der Aufwertung dafür sorgt, dass arme Menschen weg aus ihrer gewohnten Umgebung in weniger wertvolle Stadtteile ziehen müssen, an »soziale Brennpunkte«, in die sich niemand sonst verirrt. Spätestens dann, wenn selbst die günstigste Miete der Innenstadtwohnung vom Arbeitsamt nicht mehr übernommen wird, weil sie nicht »angemessen«8 erscheint. Falls sie überhaupt noch Freunde oder Bekannte haben, werden sie den Umstand, arm geworden zu sein, mit aller Macht verheimlichen: Armut ist heute kein bedauernswerter Zustand der Bedürftigkeit mehr. Damit geht keiner hausieren. Schon gar nicht trifft man sich in Fitnessstudios, im Theater, bei Konzerten, im Kino oder in Bars und Restaurants – die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben ist bei 364 Euro im Monat einfach nicht drin. Viele Menschen, die arm geworden sind, ziehen sich deshalb zurück.
Wenn man in einer Gesellschaft nicht mehr mithalten kann, weil Anerkennung an Konsum oder zumindest dessen Möglichkeit geknüpft ist, wenn man nicht mehr über neue Bücher oder Filme plaudern, wenn man nichts Unterhaltsames mehr zu geselligen Runden beitragen, ja, eigentlich gar nichts mehr aus seinem Leben erzählen kann, weil es mit jedem Tag eintöniger und sorgenvoller wird, wenn man merkt, dass sich die alten Freunde benehmen, als hätte man eine ansteckende Krankheit, wenn man spürt, dass sie glauben, man sei selbst schuld – dann verliert man schnell den Anschluss. Hartz IV macht nicht nur arm, sondern auch sprachlos. Vor allem, weil ausgerechnet diejenigen, die gehört werden, Meinungsführer wie die Pressesprecherin, die Journalisten, die Lehrerin, ihre Vorurteile laut aussprechen. Dass also ihre Empörung nicht der Tatsache gilt, dass in einem reichen Land Menschen auf Essensspenden angewiesen sind, sondern dem Umstand, dass diese Menschen ein Handy besitzen und im Winter heizen, ist bezeichnend für den Ausschluss der Bedürftigen und den Versuch der Mittelschicht, auf deren Kosten Überlegenheit zu demonstrieren.
Armut in der Konsumgesellschaft
Überhaupt, das Handy. Das ist ja nicht einfach nur ein Gebrauchsgegenstand wie ein Kochlöffel. Das Mobiltelefon ist symbolisch aufgeladen: Weil man damit überall und mit jedem kommunizieren, oft filmen und via Internet wahrgenommen werden kann, steht es, Stichwort arabische Revolution, auch für freie Rede, ja, für Meinungsfreiheit und Demokratie. Knapp 90 Prozent der Deutschen benutzen es,9 im Schnitt besitzt jeder Deutsche 1,3 Handyverträge. Aber nur 20 Prozent finden, dass ein Handy zum Existenzminimum für Hartz-IV-Empfänger gehört.10 Bedürftigen das Recht auf ein Handy abzuerkennen heißt nichts anderes als: Ihr dürft nicht mehr mitreden. Ihr gehört nicht mehr dazu. Ihr müsst leider draußen bleiben. »Im Informationszeitalter bedeutet Unsichtbarkeit mehr oder weniger den Tod«, sagt die australische Professorin für Literatur, Germaine Greer.11
In einer Gesellschaft mit versteckten Hierarchien wird Zugehörigkeit über Statussymbole demonstriert. Ein Handy ist immer noch Symbol der gesellschaftlichen Teilhabe, auch ein Fetisch des Distinktionsgewinns – sonst würden sich die Deutschen nicht alle zwei Jahre ein neues kaufen.12 Mobiltelefone in riesigen Koffern waren vormals Privileg der Geheimdienste, Politiker und der Polizei, sprich: der Autoritäten. Dann leisteten sich Reiche den Luxus von Autotelefonen, deren Technik den Kofferraum ihrer Sportwagen so ausfüllte, dass kaum mehr die Golftasche hineinpasste. Mit dem iPhone identifiziert sich die Gruppe der sogenannten »kulturell Kreativen«;13 Blackberrys sind die Attribute der Wirtschaftsbosse und Börsenmakler. Beziehungsweise: waren. Ausgerechnet mit Blackberrys verabredeten sich die Jugendlichen in England zu ihren Plünderungen. Ein Bild von symbolischer Strahlkraft: Die Nutzlosen bedienen sich der Technik der scheinbar Unentbehrlichen, um sich mit Gewalt das zu holen, von dem sie glauben, dass es ihnen zusteht. Genauso, das nahm zumindest das Feuilleton schnell wahr, wie sich die Wirtschaftsmächtigen auf legale Weise rücksichtslos an unserem Geld bedienen, bedienten sie sich bei Konsumgütern wie Flachbildfernsehern und Markenturnschuhen, den Insignien der Konsumgesellschaft. Dass Premierminister Cameron nicht nur damit drohte, Randalieren die Sozialbezüge zu kürzen und sie aus den Sozialwohnungen zu schmeißen, sondern außerdem erwog, sie von sozialen Medien und dem Blackberry-Dienst auszuschließen, ist dann nur logisch.14
»Die Armen werden in eine Lage hineingedrängt, in der sie entweder das wenige, was ihnen an Geld und Ressourcen zur Verfügung steht, für sinnlose Konsumobjekte statt für das Lebensnotwendige ausgeben müssen, um so die totale gesellschaftliche Erniedrigung abzuwenden, oder sie müssen damit rechnen, gehänselt oder ausgelacht zu werden«, beschreibt Nanda Shrestra die verzweifelten Versuche der Zugehörigkeit Bedürftiger in der globalen Konsumgesellschaft.15
In reichen Ländern wie Deutschland werden sie genau dafür verachtet. Die Strategie der Bedürftigen, Würde zu bewahren, indem sie wenigstens anständige Kleider tragen, wenn sie für weggeworfenes Essen anstehen – selbst die wird ihnen noch zum Vorwurf gemacht. Müssen in Deutschland die Bedürftigen erst aufgeblähte Hungerbäuche haben, bevor man ihnen glaubt, dass sie mittellos sind? Müssen ihnen erst die Lumpen vom Leib hängen, damit sie unser Mitgefühl bekommen? Oder haben wir ein falsches Bild von Armut?
Das Missverständnis der »relativen Armut«
»Unser Armutsbild ist durch die Massenmedien von absoluter Not und dem Elend in Entwicklungsländern geprägt«, schreibt der Armutsforscher Christoph Butterwegge in seinem Buch Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. »Man glaubt irrtümlich, Armut in Kamenz, Karlsruhe oder Kassel sei weniger problematisch als solche in Kalkutta, Kapstadt oder Karatschi, so dass es sich nicht lohne, darüber zu sprechen.«16 Mit anderen Worten: Man hält sie hierzulande für weniger schlimm. Eben »weil sich Armut hier weniger spektakulär manifestiert«, so Butterwegge.17
Tatsächlich ist der Begriff Armut nicht klar definiert. »Armut ist ein mehrdeutiger, missverständlicher sowie moralisch und emotional aufgeladener Terminus.« Es gibt nicht »die Armut«. Armut hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen sie herrscht. 18 Sie ist in Zahlen nur bedingt fassbar.
Von »absoluter Armut« spricht man, wenn den Menschen überlebensnotwendige Güter wie Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und medizinische Versorgung fehlen. Laut Weltbank ist absolut arm, wer weniger als 1,25 Dollar am Tag zur Verfügung hat;19 1,2 Milliarden Menschen weltweit leben in absoluter Armut. Laut WHO und OECD ist relativ arm, wer monatlich weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung des Landes, in dem man lebt, zur Verfügung hat. In Deutschland betrug das vom Statistischen Bundesamt 2009 errechnete monatliche Nettoäquivalenzeinkommen20 1549 Euro pro Person. Laut EU-Definition gilt als armutsgefährdet, wer von nur 60 Prozent dessen leben muss, relativ arm ist man bei 40 Prozent, also wenn man nur noch 619, 53 Euro im Monat zur Verfügung hat. Waren Anfang der 90er Jahre 11,3 Prozent der Deutschen arm, sind es heute bereits 14,5 Prozent. Schätzungsweise zwischen 200 000 und 800 000 Menschen in Deutschland sind sogar von absoluter Armut betroffen.21 11,5 Millionen Menschen in Deutschland – also jeder siebte Bürger – leben nahe oder unterhalb der Armutsgrenze.22 Die meisten Armen in Deutschland sind arbeitslos: mehr als die Hälfte, 6,7 Millionen Menschen, bezieht Hartz IV.
Relative Armut – das klingt harmlos. Als wären die deutschen Armen gar nicht wirklich arm, sondern nur weniger wohlhabend. Jedenfalls im Vergleich zu den Menschen, die in anderen Teilen der Welt auf der Straße verhungern. Nach dem Motto: Okay, ein Porsche ist vielleicht nicht drin – aber in Deutschland muss schließlich keiner hungern. Uns geht es doch relativ gut hier! Auch deshalb wird den Armen in reichen Ländern bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegnet – meist aber mit Zorn oder Verachtung. »Alle [in den materiell wohlhabenden Ländern] haben genug zu essen, keiner geht unbekleidet, und jeder hat ein Dach über dem Kopf. Ebenso haben alle Zugang zu schulischen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen. Not im eigentlichen Sinne dieses Wortes braucht niemand mehr zu leiden«, behauptet etwa der neokonservative Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel.23 Nichts davon ist richtig. Dennoch hält Miegel es für eine »zynische Missachtung des wirklichen Elends Hunderter von Millionen Mitmenschen, denen das Nötigste zum Leben und nicht nur der soziale Status fehlt«, wenn man Menschen in Deutschland als arm bezeichnet. Schließlich hätten die Hartz-IV-Empfänger »einen materiellen Lebensstandard, der höher, zum Teil sogar viel höher ist als der Lebensstandard von drei Vierteln der heutigen Weltbevölkerung oder als der Lebensstandard großer Bevölkerungsteile in Ländern wie Deutschland vor 50 Jahren.«24 Das wiederum ist eine zynische Missachtung der Lebensrealität von Armen in wohlhabenden Ländern: Natürlich kann man die Armut von Langzeitarbeitslosen in Deutschland nicht vergleichen mit dem Elend von Hungerflüchtlingen in Äthiopien, schließlich leben die einen in Deutschland, die anderen in Äthiopien. Relativ arm bedeutet nicht: im Vergleich zu Afrika – sondern in Relation zum sozialen Umfeld.25 Die Schwere der Armut in Deutschland rührt nicht allein von einem materiellen Mangel her, sondern von einem Mangel an Teilhabe und Anerkennung. Die Armut in der Konsumgesellschaft kann deshalb sogar noch deprimierender sein als die in armen Ländern.
Ganz sicher gab es im Nachkriegsdeutschland eine Menge Menschen, die bitterarm waren. Sehr viele hatten sehr viel verloren, schon deshalb war Armut kein Stigma. Niemand musste sich rechtfertigen. Auch die Armut in Bangladesch, die ich bei meiner Recherchereise zu diesem Buch gesehen habe, ist himmelschreiend und erschütternd. Doch den Menschen dort macht man ihre Armut nicht zum Vorwurf. Sie sind nicht vereinzelt und nicht stumm; viele von ihnen tragen ihren Unmut auf die Straße. In Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern Europas aber wird den Armen nicht einmal ihr persönliches Leid zugestanden. Man nimmt ihnen sogar noch die Armut weg.
Armut in Deutschland ist deshalb ein Gradmesser für die immer stärker werdende soziale Ungleichheit. Die Medaille hat zwei Seiten, denn Armut ist ohne Reichtum nicht denkbar. Je ärmer die Menschen in Deutschland insgesamt sind, desto mehr Reichtum konzentriert sich bei einigen wenigen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat herausgefunden, dass in den Jahren 2000 bis 2006 der Anteil der armutsgefährdeten Schichten an der deutschen Bevölkerung von 18,9 auf 25,4 Prozent gestiegen ist, während gleichzeitig der Anteil der einkommensstarken Schichten von 18,8 auf 20,5 Prozent anwuchs.26
Als wir uns verabschieden, sagt die Pressesprecherin, sie habe Hartz IV einmal selbst ausprobiert. Ich stutze, denn dass eine Hartz-IV-Empfängerin zur Konzernsprecherin aufsteigen könnte, kommt mir unwahrscheinlich vor. Laut einer Untersuchung der Bundesagentur für Arbeit von 2007 schaffen es nur 34 von 1000 Hartz-IV-Empfängern, einen sozialversicherten Arbeitsplatz zu bekommen.27 Wie also kann man Hartz IV »ausprobieren«? Sie habe, sagt die Pressesprecherin, während der Fastenzeit am sogenannten »Hartz-IV-Fasten« einer evangelischen Landeskirche28 teilgenommen.
»Hartz-IV-Fasten« bedeutet, dass die Teilnehmer für die Dauer der Fastenzeit (oder auch nur vier Wochen) freiwillig von dem für sie errechneten Hartz-IV-Satz leben. Gewiss gut gemeint und dazu gedacht, Sensibilität für die Lebenssituation Bedürftiger zu schaffen und Vorurteile abzubauen, indem die Teilnehmer Hartz IV am eigenen Leib erfahren. Die meisten, die sich der Aktion anschlossen, stellten wohl fest, dass von Hartz IV zu leben vor allem Verzicht bedeutet. Doch das tatsächliche Ausmaß des Elends dürfte keiner erlebt haben: die Ausweglosigkeit, die existenzielle Bedrohung, den Verlust der persönlichen Freiheit, weil man nicht einmal mehr über Nacht die Stadt verlassen darf, ohne sich beim Amt Erlaubnis dafür zu holen, die komplette Offenlegung des gesamten Lebens vor dem Arbeitsamt. Wer Hartz IV for fun betreibt, bleibt schließlich in seiner Wohnung, geht arbeiten, behält das Auto vor der Tür und freut sich auf den nächsten Urlaub. Von den Hartz-IV-Fastern war niemand gezwungen, Kleider aus zweiter Hand in Kleiderkammern zu kaufen, bei Tafeln Essen zu holen oder zu verzweifeln, weil die Waschmaschine kaputt ist. Niemand musste Depressionen bekommen oder die letzten Tage des Monats hungern, weil kein Geld mehr da war. Niemandem wurden kriminelle Absichten unterstellt, weil er einen Antrag falsch ausgefüllt hatte. Niemand musste mit Sanktionen oder Abzug rechnen, wenn er »zumutbare Arbeit« ablehnte. Kein Hobbyhartzer musste sich vor seinen Freunden schämen. Im Gegenteil: Er konnte ihnen auch noch eine gute Geschichte erzählen. Und vielen konsummüden Menschen diente der Verzicht womöglich zur seelischen Reinigung. Die Pressesprecherin sagt: »Es ist wenig Geld, klar. Aber man kann schon damit auskommen. Nur auf Bioorangen musste ich leider verzichten.« Na dann kann das alles ja nicht so schlimm sein!
Hartz-IV-Selbstversuche, so könnte man denken, erzeugen also weniger gegenseitiges Verständnis und Solidarität, sie geben nur Zeugnis davon, wie wenig Berührungspunkte, wie wenig Empathie es zwischen den Schichten noch gibt. Und davon, wie auch eine solche gut gemeinte Aktion Vorurteile schüren kann: Denn die Deutungshoheit über Hartz IV steht auch in diesem Fall nicht denen zu, die wirklich darunter leiden. Sie fragt ja keiner. Sondern denen, die saturiert genug sind, das mal »auszuprobieren« – und sei es auch nur, um den eigenen Verdacht zu bestätigen, die Armen jammerten auf »hohem Niveau«.
Der Mythos vom Sozialschmarotzer
»Ehrenamtlich gegen Armut – machen Suppenküchen satt und bequem?«29 lautete der Titel einer Anne-Will-Sendung im Mai 2010, der ebenfalls anklingen lässt, dass übrig gebliebenes Essen schon zu viel des Guten für Arme ist. (Ein anderer Titel lautete 2008: »Hungern muss hier keiner – ein Land redet sich arm«.) Der Volkszorn gilt offenbar nicht der Tatsache, dass in Deutschland, trotz aller Krisen eines der reichsten Länder der Welt, Armenspeisungen nötig sind. Der Zorn gilt den Bedürftigen selbst: »Die können ruhig was tun für ihr Geld und nicht nur rumsitzen und immer dicker werden«, sagt eine fein gemachte Bürgerin in einer Straßenumfrage der selben Sendung. »Ich leg ja auch nicht den ganzen Tag die Beine hoch und kriege Geld dafür«, findet ihr Mann im teuren Wintermantel. »Die sollte man mal bemühen, das hier wegzuschaffen«, sagt ein anderer, der versichert, er habe nicht FDP gewählt. »Die«, das sind die Hartz-IV-Empfänger. »Das hier« sind die Dreckhaufen, die der Winter auf den Straßen von Berlin zurückgelassen hat. Und der Unterschied zwischen Straßendreck und Langzeitarbeitslosen liegt für die Befragten allenfalls darin, dass der Straßendreck nicht auf die Befehle reagiert, die man ihm erteilt. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) regte im kalten Februar 2010 an, Hartz-IV-Empfänger zum Schneeschippen zu verdonnern. SPD-Politikerin Hannelore Kraft wollte sie Straßen fegen lassen. Berlins Grüne Claudia Hämmerling hatte die Idee, Hartz-IV-Empfänger auf die Jagd nach Hundebesitzern zu schicken, die Hundehaufen nicht von der Straße klauben.30 Die Forderungen, wenigstens »den Dreck« wegzumachen, ist nichts weniger als eine Disziplinierungsmaßnahme, die den Armen asoziales Verhalten unterstellt: nämlich sich in der »sozialen Hängematte« auf Kosten der Allgemeinheit gemütlich einzurichten.
»Es gibt kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft«, ließ Exbundeskanzler Gerhard Schröder 2001 über das Zentralmedium der Hetze gegen sozial Schwache, die Bild, verbreiten.31 Das Zerrbild des faulen Arbeitslosen diente der rot-grünen Regierung dazu, mit der Agenda 2010 die größten und weitreichendsten sozialen Einschnitte der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik umzusetzen: »Niemandem aber wird es künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutungskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«32 Mit diesen Worten stellte Schröder 2003 seine »Agenda 2010« vor. Damit ignorierte er nicht nur die strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit und das politische Versagen, eine gerechtere Verteilung von Arbeit und Vermögen zu organisieren. Er machte auch noch die Opfer zu Tätern, indem er die Idee der sozialen Gerechtigkeit durch den Begriff der Leistungsgerechtigkeit ersetzte. Berechtigt, Forderungen an die Gesellschaft zu stellen, ist nur, wer »leistet«. Oder, mit Franz Münteferings Worten: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«33 Wie vielen Bürgern sprachen die sogenannten Sozialdemokraten da aus der Seele?
Zwar ist der Faulheitsvorwurf längst wiederlegt: Eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt, dass Hartz-IV-Empfänger sogar eine höhere Arbeitsmotivation haben als der Rest der Bevölkerung. Ein Drittel von ihnen ist erwerbstätig – nur reicht das Geld nicht einmal für das Existenzminimum. Vier von fünf Leistungsempfängern sind bereit, eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen.34 Das selbe Institut fand 2010 heraus, dass die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger mindestens 20 Stunden pro Woche einer nützlichen Tätigkeit nachgeht. Allenfalls 350 000 zur Arbeitssuche verpflichtete Hartz-IV-Bezieher würden sich nicht um Arbeit bemühen. Dabei handele es sich aber zum größten Teil um ältere Hilfsbedürftige, die gesundheitlich stark eingeschränkt seien.35 Auch der viel zitierte »Missbrauch« ist verschwindend gering: Die Quote liegt bei etwa einem Prozent. 72 Millionen Euro mussten Hartz-IV-Empfänger 2009 zurückzahlen plus 3,7 Millionen Euro Bußgeld dafür, dass sie sich zu spät arbeitslos gemeldet hatten oder einen Termin beim Amt verstreichen ließen.36 Während Steuersünder den deutschen Staat straffrei um mindestens 3,4 Milliarden Euro betrogen haben. Mindestens 250 Milliarden Euro, das schätzen Experten, haben Deutsche noch immer auf Konten in Steueroasen wie Luxemburg. Liechtenstein und in der Schweiz gebunkert.37
Die Konstruktion der
Nutzlosen
und die Kriminalisierung der Armen
Warum hält sich die Legende des Sozialschmarotzers so hartnäckig? Warum wollen ihn so viele persönlich kennen, obwohl er praktisch nicht existiert? Wie kann es sein, dass Menschen unter dem Begriff »Sozialschmarotzer« subsumiert werden, völlig unabhängig davon, welches Schicksal hinter ihrer Bedürftigkeit steckt?
Die Entwertung der Armen und ihre Kriminalisierung hat eine lange Geschichte, an deren Anfang das aufstrebende Bürgertum steht. Im Mittelalter galten die Armen als »Kinder Gottes«, zur Rettung ihres Seelenheils versorgten die Reichen sie mit Almosen. In der Neuzeit änderte sich die Betrachtung der Armut: Man unterschied nun zwischen »würdigen Armen«, also solchen, die unverschuldet in eine Notsituation geraten sind und der Hilfe bedürfen, und »unwürdigen Armen«, die sich auf unsittliche Weise, als Diebe oder Schwindler Hilfe erschleichen. Letztere wurden öffentlich ausgepeitscht oder des Landes verwiesen. Als mit dem Kapitalismus die Bedeutung des Lohnarbeiters wuchs, lösten Zucht- und Arbeitshäuser den Pranger ab, »Besserungsanstalten« dienten der »Umerziehung« und Disziplinierung der Armen. Christian Marzahn, Professor für Sozialpädagogik, beschreibt die Einführung der Arbeitshäuser als erste Ökonomisierung der Armut: Diese »Besserungsanstalten« sollten die Armenkassen entlasten und halfen dem aufsteigenden Bürgertum, die eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen zu stärken: nämlich die, den disziplinierten Lohnarbeiter zu formen. Gleichzeitig dienten sie der sozialen Kontrolle, indem sie Armut moralisierten und abweichendes Verhalten bestraften.38
Die Eliten verstanden es also von jeher, sich die Armen durch Diffamierung dienstbar zu machen. Klar, dass vor allem Besserverdienende die Propaganda der Leistungsgerechtigkeit vorantrieben. Denn nur mir dem Begriffspaar »Leistungsgerechtigkeit« und »Sozialschmarotzertum« ließ sich die weltweit stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich rechtfertigen. Was Langzeitarbeitslose können, wie viel sie schon gearbeitet, was sie tatsächlich für die Gesellschaft geleistet haben – als Steuerzahler, bevor ihnen gekündigt wurde, oder als Pflegekraft, die bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung gearbeitet hat: All das ist irrelevant geworden vor dem Generalvorwurf des Schmarotzertums.
Nur der hat es möglich gemacht, unterschiedlichste Menschen unter dem erniedrigenden Begriff »Unterschicht« zusammenzufassen. Denn tatsächlich haben deren Angehörige, zu denen Langzeitarbeitslose gleichermaßen wie Migranten, Behinderte, Rentner, Alleinerziehende, psychisch Kranke, Suchtkranke und Obdachlose zählen, wenig gemeinsam – außer dass sie als Kaste der Nutzlosen und Überflüssigen gebrandmarkt werden. Nutzlos sind Arme aber nur vordergründig, denn die Wirtschaft profitiert an ganz anderer Stelle von ihnen: sie stellen die industrielle Reservearmee, die es möglich macht, Lohnkosten zu drücken. Nicht nur dass die Langzeitarbeitslosen durch miserabel bezahlte Leiharbeit oder andere »Maßnahmen« zu fast kostenloser Arbeit gezwungen werden: Sie geben die Drohkulisse ab, vor der Wirtschaftsmächtige Löhne drücken und arbeitspolitische Entscheidungen durchsetzen können, die ihren eigenen Reichtum mehren.
Die Verrohung des Bürgertums
In einem der monströsen Betontürme der Universtät Bielefeld befindet sich das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Seit 30 Jahren kann Wilhelm Heitmeyer aus dem Panoramafenster seines Büros auf den Teutoburger Wald schauen; es ist Herbst, die Blätter der Bäume färben sich rot und gelb. Vor wenigen Monaten ist die Langzeituntersuchung »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« zu Ende gegangen, die Heitmeyer zehn Jahre leitete. Darin erkundeten die Bielefelder Sozialforscher, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft mit ihren verschiedenen Lebensstilen in der Gesellschaft leben. Wie sie integriert sind und vor allem, in welchem Maße sie Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Zu den gesellschaftlichen Phänomenen, deren Entwicklung Heitmeyer und seine Mitarbeiter analysierten, gehören Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus sowie die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen, Behinderten und die Einforderung von Etabliertenvorrechten. Es ist das weltweit größte wissenschaftliche Projekt, das Vorurteile untersucht. Dazu wurden seit 2002 jedes Jahr 2000 repräsentativ ausgewählte Personen in Deutschland interviewt. Im Abstand von zwei Jahren wurden diese abermals befragt, um herauszufinden, wie sich ihre Ansichten verändert haben.39
»Wir untersuchen gesellschaftliche Diskurse. Und als die Debatten über Sozialschmarotzer und Hart-IV-Empfänger losgingen, haben wir genauer hingeschaut und entsprechende Fragen gestellt«, sagt Heitmeyer. 2007 stellten die Wissenschaftler schließlich fest, dass Langzeitarbeitslose eine neue eigene Gruppe von Diskriminierungsopfern ausmachen: Mehr als die Hälfte der Deutschen nimmt eine abwertende Haltung gegen Langzeitarbeitslose ein. »Die Abwertung Langzeitarbeitsloser ist wieder angestiegen. Das ist ein stabiles Feindbild«, sagt Heitmeyer zum Abschluss der Studie. So finden es 61,2 Prozent der Deutschen empörend, »wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.« 52,7 Prozent sind überzeugt, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden. Mehr als ein Viertel der Deutschen denken: wer nach längerer Arbeitslosigkeit keinen Job findet, ist selber schuld. Und mehr als die Hälfte der Deutschen glauben im Ernst, dass die Ursache der Finanzkrise diejenigen sind, die den Sozialstaat ausnutzen.40 Als wären es die Hartz-IV-Empfänger gewesen, die ihren Regelsatz für Schuhe an der Börse verzockt und damit den Finanzmarkt zum Kollabieren gebracht. Als hätten die Armen von einer schamlosen Klientelpolitik zugunsten von Konzernen und Wirtschaftselite profitiert. Als hätten die Bedürftigen Schuld am Abbau des Sozialstaats, weil sie ihren Notgroschen in die Schweiz geschafft haben.
Warum werden ausgerechnet die Verlierer zu Gewinnern stilisiert? Weshalb schlägt ausgerechnet den Schwächsten die größtmögliche Feindseligkeit entgegen? Heitmeyer und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren vor allem die Auswirkungen sozialer Einschnitte wie Hartz IV und der Finanzkrise auf die »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« untersucht. »Es hat auf der einen Seite einen Kontrollgewinn des Kapitals gegeben und auf der anderen Seite einen Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik. Während Letztere ihre Legitimation aus sozialer Integration zieht, hat das Kapital überhaupt kein Interesse daran«, sagt Heitmeyer. Er sieht die Ursache der Abwertung vor allem in der Ökonomisierung: »In einem kapitalistischen System fressen sich die Logiken von Effizienz und Verwertbarkeit immer weiter in Institutionen hinein, die eigentlich nicht nach ökonomischen Grundsätzen funktionieren, also Familie Schule und soziale Beziehungen. Wenn schwache Gruppen wie Behinderte, Migranten und Langzeitarbeitslose nach diesen Maßstäben beurteilt werden, geraten sie automatisch in den Fokus der Abwertung.«
Entsprechend finden 20 Prozent der Deutschen: »Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten.« Ebenfalls 20 Prozent sind der Meinung, dass man es sich in Zeiten der Wirtschaftskrise auch nicht mehr leisten könne, Minderheiten zu achten oder zu schützen. 33 Prozent der Deutschen finden: »In Zeiten der Wirtschaftskrise können wir es uns nicht mehr leisten, allen Menschen gleiche Rechte zu garantieren.« Das ist das beunruhigende Ergebnis der Langzeitstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus dem Jahr 2010.41 Nun ist Häme gegen sozial Schwache kein gänzlich neues Phänomen. Die Bild-Zeitung macht seit Jahren mit der Denunzierung von »Sozialschmarotzern« wie »Florida-Rolf«, »Karibik-Klaus« und Arno Dübel, dem »frechsten Arbeitslosen Deutschlands« Auflage. Neu ist aber, dass diese Ressentiments nicht mehr nur von derartigen Krachmedien, notorischen Provokateuren wie Guido Westerwelle, Rechtspopulisten wie Thilo Sarrazin und an Stammtischen formuliert und bedient werden, sondern von Besserverdienenden und der gebildeten Mittelschicht. Das Erstaunliche daran ist, dass sich die Mehrheit der Deutschen völlig im Klaren darüber ist, dass die soziale Spaltung wächst: 63 Prozent der Deutschen machen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst. 46 Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf. 59 Prozent fürchten, sich finanziell einschränken zu müssen, 49 Prozent, dass sie ihren Lebensstandard nicht halten können. 71 Prozent sagen, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. 61 Prozent finden, dass es keine Mitte mehr gibt, sondern nur noch oben und unten. 51 Prozent sagen, dass ihnen die Ellenbogenmentalität in der Gesellschaft schwer zu schaffen macht.42
Seit 2000 ist der Anteil der Deutschen an der Mittelschicht von 66 auf 60 Prozent gesunken; knapp ein Viertel der Bundesbürger gehört unteren Einkommensschichten an. Je kleiner die gesellschaftlichen Unterschiede und je größer die Wahrscheinlichkeit des Abstiegs, desto mehr grenzen sich Menschen nach unten ab. »Die Menschen nehmen diese Spaltung wahr – das schützt aber nicht davor, gleichzeitig andere abzuwerten. Das ist einer der ganz schwierigen Punkte: dass diese Sensibilität nicht mit Empathie gekoppelt ist. Die ökonomische Logik ist hammerhart. Wir haben auf der einen Seite die aktuelle Politik, die auf eine Umverteilung von unten nach oben ausgerichtet ist. Und auf der anderen Seite eine rohe Bürgerlichkeit, die auch keine Rücksicht mehr nimmt, weil vor dem Hintergrund der verschiedenen, völlig undurchschaubaren Krisen nur noch die Formel gilt: rette sich, wer kann«, sagt Heitmeyer.
Soziales Stockholmsyndrom und die Folgen
Das gilt offenbar vor allem für die Wohlhabenden. Das verstörende Ergebnis der Studie 2010: Ausgerechnet bei den Krisengewinnern steigt der Anteil derjenigen, die glauben, weniger als ihren gerechten Anteil zu bekommen. Besserverdienende werten Langzeitarbeitslose sogar noch stärker ab, als dies Angehörige unterer Einkommensschichten tun.43 Übersetzt bedeutet dieser Unmut allerdings nur, dass die Elite an ihren Etabliertenvorrechten festhält. Dass Reiche glauben, sie würden von den Armen übervorteilt, ist schon eine ganz erstaunliche Verdrehung der Tatsachen.
Nur um nochmals die Zahlen zu vergegenwärtigen: In Deutschland besaß 2007 das reichste Prozent der Bürger 23 Prozent des gesamten Vermögens, das reichste Zehntel 61 Prozent. Zwei Drittel der Bevölkerung besitzen fast nichts, die unteren 70 Prozent weniger als 9 Prozent. Knapp ein Viertel der Deutschen gehört den untersten Einkommensschichten an. Weltweit fällt die Verteilung noch drastischer aus: 2 Prozent der weltweiten Privathaushalte besitzen mehr als die Hälfte des Geld- und Privatvermögens der Welt; den reichsten 10 Prozent gehören 85 Prozent.44 »Ohne den Reichtum existiert keine Armut und ohne die Armut kein Reichtum. Armut und Reichtum gehören ebenso zusammen wie Schwarz und Weiß, wie Licht und Schatten, wie Tag und Nacht«, schreibt Christoph Butterwegge.45 Gewinnmaximierung der einen und Verarmung der anderen gehen Hand in Hand. Schon klar, dass die Wohlhabenden kein gesteigertes Interesse daran haben, dass die Politik sich zugunsten der Schwachen ändert. Sie haben ein Interesse daran, Armut zu erhalten. Völlig unbegreiflich allerdings ist, dass die Mittelschicht, die selbst vom Abstieg bedroht ist, sich mit der Elite identifiziert. In ihrem Buch Hurra, wir dürfen zahlen spricht Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin der taz, vom »Selbstbetrug der Mittelschicht«. Denn statt ein System zu hinterfragen, das die Reichen immer reicher macht, statt Abgaben von Wohlhabenden zu fordern, solidarisiert sich die Mittelschicht lieber mit der herrschenden Klasse der Geldelite. Damit arbeitet die Mittelschicht aber nicht an ihrer Rettung, sondern am eigenen Abstieg, denn das soziale Stockholmsyndrom und das Einverständnis darüber, dass Teilhabe nur an die ökonomische Verwertbarkeit des Einzelnen gekoppelt ist, legitimiert sämtliche politischen Entscheidungen zugunsten der Wirtschaftselite, während sie der Allgemeinheit nur schaden. Mit anderen Worten: Es wird weiter von unten nach oben verteilt.
Dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden: eine Binse, gewiss. In diesem Buch soll es aber nicht allein darum gehen, Ungerechtigkeiten anzuprangern. Es wäre zu einfach, schlicht politische Reformen zu fordern – denn in einem System, das darauf angelegt ist, den Reichen zu dienen, bedeuten Reformen allenfalls die Verhinderung von Rückschritten. Auch möchte ich nicht einfach mehr Solidarität fordern und an das soziale Gewissen appellieren – wir sind ja nicht auf dem Weltkirchentag. Ich möchte vielmehr zeigen, mit welchen menschenverachtenden Strategien die Elite ihren Bestand sichert und uns alle damit enteignet. Wer mit Armut reich wird und warum die Politik nicht die Armut, sondern die Armen bekämpft. Warum Reiche keine Wohltäter sind, wenn sie großzügig spenden und Konzerne mit »sozialem Unternehmertum« und »Social Business« die Strukturen der Armut nicht ändern, sondern zementieren. Hinter der scheinbar rationalen Ökonomisierung von Armut und Gesellschaft steckt nämlich nichts anderes als eine gefährliche Ideologie der Ungleichwertigkeit, die zunehmend Anerkennung findet. Eine immer größer werdende Zahl von Menschen abzuwerten, sofern sie keinen geldwerten Nutzen haben, bedeutet nichts anderes als: Es gibt zu viele von den Falschen. In Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab verdichtet sich diese vernichtende Idee zum ökonomischen Rassismus. Verstörend ist, dass die Ergebnisse der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« von 2010 bereits vorlagen, bevor Sarrazins krudes Hetzwerk über Nacht auf Platz eins der Bestsellerlisten landet, als es noch keine aufgeregte Debatte über »Denkverbote« und unnütze Menschen gab. Die Ergebnisse der Langzeitstudie 2011 belegen, dass selbst Rassismus und die Abwertung von Obdachlosen signifikant angestiegen sind. Ungleichheit ist eine schwerwiegende Gefahr für die Demokratie. Ungleichwertigkeit eine für Sicherheit, Freiheit und Wohlergehen.
»There is no alternative« – wir dürfen das ewige Mantra, mit dem die Wirtschaftsmächtigen all unsere Ängste und Sorgen, unsere Ansprüche auf unseren gerechten Anteil wegwischen, nicht länger glauben. Die Fragen, was Gerechtigkeit ist, in welcher Gesellschaft, in welcher Welt wir alle zusammen leben wollen: wir sind es, die darauf Antworten finden müssen. Denn die Elite wird diese Fragen niemals ernsthaft stellen.