»Die Menschen wollen unter sich sein und gehen dafür über Leichen.«

Blumfeld, »Die Diktatur der Angepassten«

3. Von der Gentrifizierung zur Gated Community

Wie in den Städten Arme durch Wohlhabende verdrängt werden und warum die Politik dies befördert

Der Hauseingang im Neubau Schwedter Straße 3740 in Berlin wirkt so steril wie ein Neubau nur wirken kann. Die Wände sind weiß getüncht, der Steinboden in hellem Beige gehalten. Ich stehe in einem bereits fertiggestellten Gebäude des Marthashofs, einem weiteren Luxuswohnkomplex, der gerade im Prenzlauer Berg auf dem ehemaligen Mauerstreifen entsteht. Über der Reihe Briefkästen ist eine lange rechteckige Vitrine in die Wand eingelassen, darin eine verträumte Bastelei, die angesichts der kühlen Aufgeräumtheit des Ortes reichlich kitschig wirkt: Über stilisierte Hügel aus geschichteter Wellpappe fliegen gefaltete weiße Papiervögel.

Anna-Maria Gebhardt lächelt beseelt beim Anblick dieser Lichtinstallation, die den Bewohnern des Marthashofs ein »Willkommensgefühl« vermitteln soll. Sie ist Pressesprecherin des Projekts und verrät: »Der Künstler hat sich von Hans Christian Andersens Märchen Die wilden Schwäne inspirieren lassen.« Sentimental und unschuldig: So klingen auch ihre Ausführungen darüber, wie familienfreundlich die Anlage samt Vorgärtchen und Gartenpark doch ist, wo Kinder »ein geschütztes Zuhause mit Freiraum zum Spielen« finden sollen.

»Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso gut auswendig, wie sie lasen; man konnte gleich hören, dass sie Prinzen waren. Die kleine Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, das das halbe Königreich gekostet hatte. Oh, die Kinder hatten es sehr gut.« 150 So beginnt Andersens Märchen. Und ungefähr solche Familien sind es, die der Investor, die Stofanel AG, in das »Urban Village« locken möchte. Oder, falls es mit den Royals doch nicht klappen sollte, jedenfalls welche, die mindestens 2 900 Euro pro Quadratmeter hinblättern können, um eine Gartenwohnung, ein Appartement oder ein Penthouse in einem der 17 Gebäude zu kaufen. 130 »Wohneinheiten« (wie es im Maklerdeutsch heißt) der gehobenen Klasse entstehen hier auf knapp 12 380 Quadratmetern, gut 70 Prozent sind im Dezember 2010 bereits verkauft. »80 Prozent der Käufer kommen aus der direkten Nachbarschaft«, sagt Gebhardt wie zur Entschuldigung, denn das Projekt sorgt bei den Anwohnern für Unmut: Es ist nicht das erste Luxusprojekt, das ihnen das Viertel streitig macht. Direkt neben dem Marthashof sind die 37 »Wohneinheiten« der Kastaniengärten bereits verkauft, gleichermaßen die 60 klinisch weißen Häuser im Townhouse-Quartier Prenzlauer Gärten am Volkspark Friedrichshain. Die Choriner Höfe südlich der Kastanienallee und das Palais Kolle Belle am Kollwitzplatz sind bereits etabliert.

Längst ist der Prenzlauer Berg zum Symbol für Gentrifizierung geworden, jenem soziokulturellen und ökonomischen Prozess also, der ehemalige innenstadtnahe Arbeiterviertel mit viel Altbau in Szeneviertel verwandelt. Zuerst kommen die Studenten und Künstler, die sich die damals noch billigen Wohnungen leisten konnten. Sie schaffen eine improvisierte kreative Struktur und locken weitere Nachzügler. Szene-Kneipen, Frühstückscafés, Friseurläden mit originellen Namen, individuell gestaltete Kleider- und Klimbim-Boutiquen und eine kreative, hoch individualisierte Bewohnerschaft werten ein Viertel erst kulturell auf, dann ökonomisch. Flair und urbanes Lebensgefühl einer solchen Infrastruktur werden attraktiv für eine besser verdienende Schicht, die Nachfrage lässt die Mieten in die Höhe schnellen, ehedem günstige unrenovierte Altbauwohnungen werden zu luxussanierten Eigentumswohnungen, ältere Menschen, weniger Wohlhabende und Migranten müssen in günstigere Quartiere fern der Innenstadt ausweichen.

Nur noch jeder fünfte Anwohner des Prenzlauer Bergs hat dort den Fall der Mauer erlebt – alle anderen sind später hingezogen: Die Einwohnerschaft hat sich zu 80 Prozent ausgetauscht.151 Nurmehr ein knappes Fünftel des sind Alteingesessene. Die Anzahl der Bewohner mit Abitur hat sich seit 1990 verdoppelt, in den teuersten Gegenden rund um den Helmholtz- und Kollwitzplatz leben nun zu drei Vierteln Akademiker. In manchen Straßen des Prenzlauer Bergs hat sich die Zahl der Akademiker sogar verfünffacht,152 während die Arbeitslosenquote im Prenzlauer Berg unter dem Berliner Durchschnitt liegt. Allerdings sind die Unterschiede innerhalb des Prenzlauer Bergs eklatant: Rund um den Kollwitzplatz sind nur 6,4 Prozent arbeitslos, in der Schmuddelecke des Prenzlauer Bergs, wo Plattenbauten den Volkspark säumen, sind es doppelt so viele. Der Migrantenanteil liegt mit elf Prozent nur knapp unter dem städtischen Durchschnitt, allerdings ist es nicht der typische Ausländer, der hier lebt: die größte Migrantengruppe stellen die Franzosen, gefolgt von Italienern, Amerikanern, Briten, Spaniern und Dänen. Edelausländer also, Hochgebildete, mit gut bezahlten Jobs. Der Anteil der Türken beläuft sich hingegen auf 0,3 Prozent.153 Auch die Alten sind aus dem Viertel verschwunden: der Großteil der Bewohner ist zwischen 25 und 45 Jahre alt – jung, fit, leistungsfähig. Das zeigt vor allem die Einkommensverteilung: Vor 20 Jahren lag das Durchschnittseinkommen im Prenzlauer Berg noch 20 Prozent unter dem Ostberliner Mittel, heute fünf Prozent über dem Durchschnitt Berlins. 1993 lagen die Einkommen im Sanierungsgebiet Prenzlauer Berg noch bei 75 Prozent des Berliner Durchschnitts, heute: fast 140 Prozent.154

Das spiegelt sich in den Mietpreisen: Am Kollwitzplatz liegen sie für neu vermietete Wohnungen bereits 20 Prozent höher als im Berliner Durchschnitt. Rund um das Wahrzeichen des Prenzlauer Bergs, den Wasserturm, kosten Eigentumswohnungen bis zu 5000 Euro pro Quadratmeter. In nur fünfzehn Jahren hat sich eines der ärmsten Quartiere der Stadt zu einem der reichsten verwandelt.

Aufstand der Spießerpunks

Noch immer ist Gentrifizierung das Schlagwort, wenn Veränderungen in den Szenevierteln der Städte, etwa im Prenzlauer Berg beschrieben werden. In den Medien wird beharrlich das Feindbild der »Pornobrillen-Träger«, der Bugaboo-schiebenden Supermütter und der Latte-Macchiato trinkenden »Öko-Schwaben« bemüht, um die »Yuppisierung« und das »Bionade-Biotop« des Prenzlauer Bergs zu monieren oder zu belächeln. Doch dass gerade diese Klischees sich im Mainstream-Diskurs so durchgesetzt haben, belegt nur, dass die Gentrifizierung im Prenzlauer Berg längst abgeschlossen ist. »Das hat viel mit dem Selbstbezug der Mittelschicht zu tun, die dort ja mittlerweile vor allem lebt. Wenn es die Mittelschicht betrifft, dann kommt es in die Medien – denn dort arbeiten ja ebenfalls Angehörige der Mittelschicht«, meint der Sozialwissenschaftler Andrej Holm. Oft gehören gerade die Pioniere der Gentrifizierung zu deren späteren Kritikern: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.155 »Und ihnen fallen vor allem die kulturellen Veränderungen auf«, sagt der 42-Jährige, der sich mit Stadterneuerung und Aufwertungsprozessen beschäftigt. Er unterrichtet Stadt- und Regionalsoziologie an der Berliner Humboldt-Universität und kennt die Entwicklung im Prenzlauer Berg gut. Die Sanierung hat Holm unter anderem im Forschungsprojekt »Veränderte Bedingungen der Stadterneuerung – Beispiel Ostberlin« mit untersucht, unter der Leitung seines Doktorvaters, des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann. Mittlerweile, so hat Holm beobachtet, kommt die Gentrifizierungs-Kritik aus den Reihen von saturierten Protestlern: »Nachbarschaftsinitiativen thematisieren heute eher die Lebensqualität als den Vertreibungseffekt durch zu hohe Mieten«, kritisiert er. Schließlich haben die Bewohner, die wegen eines bestimmten Images an den Prenzlauer Berg oder in ein anderes aufgewertetes Viertel wie Mitte, Kreuzberg oder Friedrichshain gezogen sind, hohe Ansprüche an ihr Wohnumfeld und die Infrastruktur im Viertel. Sie zahlen ja nicht nur für ihre Wohnung, sondern für ihr Lebensgefühl und ihren Lifestyle.

»Wir bleiben alle!« hieß Anfang der neunziger Jahre die Bewegung, die gegen Aufwertung und Vertreibung mobilisierte, und so mancher hatte bereits zu DDR-Zeiten erfolgreich dagegen gekämpft, dass die Gründerzeitbauten rund um die Oderberger Straße abgerissen wurden. Zwar leben nur noch ganz wenige der Kämpfer von früher in dieser Ecke. Doch daran, dass sie sich ihr Viertel zurückeroberten, erinnern noch heute damals gepflanzte Bäume, damals angelegte Hochbeete und damals aufgestellte Bänke. So wurde seinerzeit nicht nur ein kleines grünes Paradies mitten in der Stadt geschaffen, sondern unfreiwillig auch jenes wildromantische Flair, das das Viertel für die neuen Bewohner attraktiv machte. Als das Tiefbauamt Pankow 2007 ankündigte, die Straßen und Gehwege zu sanieren und im Zuge dessen die illegale Bepflanzung zu entfernen, sorgte das für großen Unmut in der Straße. Nicht nur, dass Mieter den Verlust des Idylls vor ihrer Haustür beklagten: manch neuer Wohnungseigentümer sah den Wert seiner Immobilie sinken – und die Betreiber der umliegenden Gastronomie fürchteten um ihre Geschäftsgrundlage, nämlich den besonderen Charme des Viertels, der die viel verspotteten Latte-Macchiato-Trinker anlockte. Es war diese Mischung aus weichen Lifestyle-Ansprüchen und hartem Geschäftsinteresse, die in die Bürgerinitiative Oderberger Straße (BIOS) mündete. Sie forderte vehement eine »behutsame Sanierung« – Protest mit Milchschaum vor dem Mund. »Hier geht es nicht mehr um Bewohner, sondern um Bäume und Sträucher«, kritisiert Holm.

»Das Hochbeet vor dem Café Entweder Oder und insbesondere der darin wachsende, malerische Zierapfel ist durch unautorisierte Zerstörung von Wurzelwerk durch eine Baggerschaufel der ausführenden Firma stark beschädigt worden. Das Grünflächenamt argumentiert nun, dass dieses Gehölz nicht mehr standsicher ist und entfernt werden müsste. Die BIOS fordert den Erhalt des Zierapfels.« So lautet eine Forderung der Bürgerinitiative Oderberger Straße. Das klingt in der Tat recht wehleidig und nach NIMBY-Mentalität. »Not in my Backyard«, das ist die britische Bezeichnung für das Sankt-Florians-Prinzip: Leute schreien nur dann laut auf, wenn es um Veränderungen vor der eigenen Haustür geht. Es gibt Dutzende solcher Anwohnerinitiativen in Berlin. Bei manchen scheint der Begriff Gentrifizierung nur noch leere Worthülse für den Kampf für Partikularinteressen zu sein. Denn nicht alle verfolgen so hehre Ziele wie den Erhalt von Bäumen und Spielplätzen oder die Verkehrsberuhigung ihrer Straße wie die BIOS. In Kreuzberg hat sich nach dem NIMBY-Prinzip eine Bürgerinitiative gebildet, deren wohlhabende Angehörige eine Einrichtung für Drogenabhängige verhindern möchten.

Andrej Holm bestellt im Café keinen Latte macchiato, sondern altmodischen Milchkaffee. Er sagt, dass die neuen, oft hochgebildeten Bewohner ein sehr viel stärkeres Mobilisierungspotenzial hätten. »Sie sind besser vernetzt und viel argumentationsstärker als Arme.« Besserverdienende schlagen Krach, Arme verschwinden lautlos. Und sind sie erst aus der Innenstadt verschwunden, nimmt sie keiner mehr wahr. Sie tauchen dann allenfalls noch in Statistiken auf. Der Spandauer Sozialstadtrat Martin Matz (SPD) hat die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ausgewertet und festgestellt: Innerhalb eines Jahres sind rund 2000 Hartz-IV-Empfänger mehr in günstige Großsiedlungen in Spandau, Marzahn-Hellersdorf und Reinickendorf gezogen, als von dort in die Jobcenter anderer Bezirke gewechselt sind. Die Jobcenter in begehrten Innenstadtlagen wie Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Pankow, wozu auch Prenzlauer Berg gehört, haben in einem vergleichbaren Umfang Arbeitslose an Jobcenter in innenstadtferne Viertel abgegeben. Das zeigt nicht nur, dass Arme gezwungen sind, die Innenstadt zu verlassen – sondern dass von dort kein Weg mehr zurückführt. Matz sagt »Es gibt einen Treck von Leuten in die Großsiedlungen, die nicht anders können.«156 Denn selbst in innerstädtischen Sozialwohnungen steigen die Mieten: Ein Zehntel des Berliner Wohnungsbestands, rund 190 000 Wohnungen sind offentlich geförderter sozialer Wohnungsbau. Die 28 000 Sozialwohnungen, die nach 1987 erbaut wurden, förderte die Stadt mit 3,9 Milliarden Euro. Doch weil der Schuldenberg nach dem Berliner Bankenskandal riesig war, stellte ausgerechnet der damalige Finanzminister Thilo Sarrazin die Anschlussförderung ein, die den Mietern zugesagt worden war. Seither dürfen Vermieter die volle Kostenmiete verlangen. Die liegt zwischen zwölf und 20 Euro pro Quadratmeter. Das kann – vor allem in begehrten Innenstadtlagen wie etwa im Fanny-Hensel-Kiez hinter dem Potsdamer Platz – sogar eine vollkommen legale Mieterhöhung von 90 Prozent bedeuten. Vermieter dürfen diese Summen sogar rückwirkend bis zu dreiundzwanzig Monaten einfordern.157 Eine Stadtpolitik der Vertreibung: Den Mietern bleibt nichts anderes übrig, als rasch auszuziehen. Margit Bayer****** ehrenamtliche Mitarbeiterin eines Notruftelefons für Menschen, die von solchen Zwangsauszügen betroffen sind, erzählt: »Die Menschen versuchen alles, damit sie in ihrem Viertel bleiben können. Wenn man die Arbeit verloren hat und die finanzielle Sicherheit, ist es ein untragbarer Verlust, auch noch das Letzte, was geblieben ist, die eigene Wohnung und das soziale Umfeld im Kiez, zu verlieren.« Die Ehrenamtlichen hätten eine interne Erhebung gemacht, nach der 20 Prozent der Anrufer am Monatsende hungerten, um die Mite bezahlen zu können. In Extremfällen hatten sich andere sogar den Strom abstellen lassen.

Wohlhabende hingegen können anders: sich einen Anwalt leisten zum Beispiel. Oft protestieren sie erst gar nicht mehr – sie prozessieren. Im Jahr 2009 lagen Jens-Holger Kirchner (Grüne), Stadtrat für öffentliche Ordnung im Bezirk Pankow, 933 Beschwerden wegen Lärmbelästigung vor, Tendenz steigend. Manche Anwohner, die sich von Hundegebell, Spielplatzgeschrei, Clublärm oder Baustellen gestört fühlten, zögen sofort vor Gericht, ohne vorher den Umweg über ein Gespräch zu wählen. Eine Lösung für das Allgemeinwohl haben sie dabei nicht im Sinn. Als die U-Bahnlinie 2 entlang der Schönhauser Allee zwischen Senefelder Platz und Pankow saniert wurde, wehrten sich prompt Anwohner gegen den unvermeidlichen Baulärm. Es waren ganze drei Kläger, die vor Gericht durchsetzten, dass wegen des Lärms nur bis zehn Uhr abends gebaut werden. Das verzögerte die Bauarbeiten um mehrere Wochen. Der ruhige Schlaf der »Ego-Terroristen« (Stern)158 hatte für viele tausend andere Berliner zur Folge, dass sie noch länger das Gedränge in den Bussen des Schienenersatzverkehrs aushalten und zudem nicht selten lange Wartezeiten hinnehmen mussten. »Contra Ruhestörungen durch die Open-Air-Spielstätte der Volksbühne« hieß eine weitere Initiative, die sich gegen Kulturlärm der Freiluftbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin – Mitte zur Wehr setzte. Seitdem müssen die Zuschauer nach zehn Uhr abends Kopfhörer benutzen. In Friedenau, einem Viertel, das an den gepflegten Stadtteil Schöneberg grenzt, klagte ein Anwohner gegen eine Kita und erreichte, dass diese umziehen musste. Am Falkplatz am Rande des Mauerplatzes gibt es ein Grillverbot, weil sich die Nachbarn an den Rauchschwaden störten. In Spandau setzte sich ein Ehepaar vor Gericht erfolgreich gegen das Klavierspiel der Nachbarstochter durch. Die Gewinnerin des Wettbewerbs »Jugend musiziert« darf nun nicht mehr am Wochenende Klavier spielen. Und so weiter und so weiter.

Gartenzaunkriege wie diese kennt man eigentlich aus der Provinz. Mit der Individualisierung und der Kampfbereitschaft für ihre Privatinteressen hält jedoch das Dorf Einzug in die Stadt. Dort geraten solche Auseinandersetzungen zu regelrechten langen Fehden. Die Beschwerden neu zugezogener und Ruhe liebender Prenzlauer-Berg-Bewohner etwa sorgten dafür, dass der legendäre Punk-Club Knaack in ihrer Nachbarschaft nach 58 Jahren schließen musste. So klagen Spießerpunks die letzten Reste alternativer Lebensstile weg, die sie einst ins Viertel lockten. Wer zahlt, schafft an – so einfach funktioniert das auch dort. Besonders befremdlich ist die Initiative »Besser leben im Kiez«, die gegen den samstäglichen Wochenmarkt am Kollwitzplatz kämpft, der 5000 Besucher ins Viertel zieht, eben weil er ihnen als Symbol des besseren Lebens dient. Trotz Runder Tische und Gesprächen mit den Betreibern wollten die Bewohner nur eins: Der Markt soll weg. Samstag für Samstag bestellten die Initiative das Ordnungsamt. »Man hat uns missbraucht wie eine Privatarmee«, ärgert sich Stadtrat Kirchner. Es hagelte Anzeigen gegen den Markt (Lärm) und auch gegen Kirchner selbst – wegen Körperverletzung (Lärm). Selbst Wolfgang Thierse (SPD), der am Kollwitzplatz wohnt, scheute sich nicht, einen Beschwerdebrief an das Pankower Ordnungsamt zu schreiben – auf Briefpapier des Bundestags. Ein Vertreter des Volkes, der versucht, sich in dessen Namen private Vorteile zu verschaffen: Das nennt man Amtsmissbrauch. Die Vorkämpferin der Initiative gehörte allerdings nicht zu den verhassten »Schwaben«, sie wohnte bereits vor der Wende dort. Und hatte selbst einmal mit Lärmbeschwerden zu kämpfen, als sie ein Café in der Straße betrieb. Man verliert allmählich den Überblick, wer eigentlich warum gegen wen kämpft.

Krieg der Lebensstile

Berlin scheint die Hauptstadt der »Dagegen-Politik« zu sein. So nannte der Spiegel im August 2010 Bürgerprostete, die eher Privatinteressen in den Blick nehmen als das Allgemeinwohl.159 »Wutbürger«, nannte Dirk Kurbjuweit solche Leute. Man kann dies kaum als einen Erfolg für die Demokratie feiern. Im Gegenteil: Das Politische ist privat geworden in der neoliberalen Konsumgesellschaft, deren Mitglieder selbst für die Ausgestaltung ihres Lebens zuständig sind. Menschen finden sich nur dann zu losen, flexiblen Gemeinschaften, zu Zielgruppen zusammen, wenn sie zufällig dasselbe Lifestylekonzept teilen. Was richtig ist und allen nützt – das ist für den Einzelnen eher eine Belastung, denn es könnte bedeuten, dass sich das Individuum zugunsten einer größeren Idee einschränken müsste. Solche Revolution im Vorgarten dient eher der Willkürfreiheit des Einzelnen. Ausgerechnet die große Stadt Berlin, die als toleranter Ort für das friedliche Nebeneinander unterschiedlichster Lebensentwürfe und Exzentriker gilt, ist zum Schauplatz eines neuen Denunzianten- und Querulantentums geworden.

»Wir sind ein Volk. Und ihr seid ein anderes. Ostberlin, 9. November 2009.« Am Tag der deutschen Einheit kleben die schwarzen Plakate mit der aggressiven Botschaft in weißen und gelben Lettern an Wänden, Litfasssäulen und Stromkästen in der Kollwitzstraße, der Winsstraße, am Helmholtzplatz und im Bötzowviertel. Wer die »Hassplakate« (B.Z.)160 aufgehängt hat, die so viel professioneller wirken als die an die Hauswände gesprühten »Schwaben – verpisst – euch!«-Parolen, ist unbekannt. Wer »wir« und »ihr« sind, auch. Ossis und Wessis? Alteingesessene und Zugereiste?

Andrej Holm hält solche Pöbeleien nicht nur für überflüssig, sondern auch für gefährlich: »Solche Plakate lösen in den Medien regelmäßig viel mehr Wirbel aus als neue Zahlen über Sozialstrukturveränderungen oder Mieterhöhungen.« Statt über die ökonomischen und politischen Hintergründe der Stadtentwicklung zu berichten, konzentrierten sich die Medien auf die Beschreibung des »Kulturkampfes in den Kiezen«.161 Aus der Intoleranz gegenüber anderen Lebensstilen – insbesondere denen der Reichen – konstruieren Politiker schnell eine entpolitisierte »Neiddebatte«. Darunter lassen sich dann auch Brandstiftungen an Luxusfahrzeugen in der Berliner Innenstadt bequem subsumieren; der Krieg der Lebensstile dient den politisch Verantwortlichen auf diese Weise zudem als Vorwand für noch mehr polizeiliche Repression. Niemand weiß das besser als Holm: 2007 wurde er wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Dem Wissenschaftler wurde vorgeworfen, Mitglied der Militanten Gruppe (MG) zu sein, einer Untergrundorganisation, der diverse Brandanschläge zur Last gelegt werden.162 Das BKA war nach einer Internetrecherche auf Holm aufmerksam geworden und hatte festgestellt, dass er in seinen wissenschaftlichen Arbeiten Worte verwendete, wie sie auch die Militante Gruppe benutzte. Nämlich die sozialwissenschaftlichen Begriffe Gentrifizierung und Prekarisierung. Dafür wurde er ein Jahr lang observiert – und saß vier Wochen in Einzelhaft. Statt sich einer Debatte über Ausgrenzung durch Aufwertungsprozesse zu stellen, kriminalisiert die Politik lieber deren Kernbegriffe und nimmt die Wissenschaft in Sippenhaft.

Letzte Stufe der Verdrängung: Supergentrifizierung

Es ist ein scheußlich kalter Tag im Winter 2010. Scharfer Wind treibt Schneeflocken waagerecht durch Berliner Häuserfluchten. Auf einer Brache nahe der Bernauer Straße, wo das Dreieck Schwedter und Oderberger Straße zusammenläuft, leuchten die grelllila und grün gestrichene Wände eines Flachbaus gegen das Grau des Tages an. Auf eine Wand sind weiße stilisierte Blumen gemalt; der Zugang zum kleinen Innenhof des Marthashof-Showrooms ist mit dunkelbraunem Lochblech gerahmt, das auch als düsterer Sichtschutz die Häuserfronten des Marthashofs verkleidet. Im Hof stehen bauchige giftgrüne Plastiksessel, daneben kümmern an einem Rankgerüst im Hof die hölzernen Reste einer Glyzinie. »Im Zeichen der Glyzinie«, so die blumige Tagline des Investors, der Stofanel GmbH, wächst der Marthashof in nur wenigen hundert Metern Entfernung heran. Im Sommer sollen die lilafarbenen Blütengirlanden der Glyzinie den 3 000 Quadratmeter großen Garten des Marthashofs schmücken.

»Die Glyzinie ist eine Kletterpflanze, die in sonniger Lage sehr schnell wächst und dazu neigt, mit ihren Haupttrieben jedes Rankgerüst zu überwachsen. (…) Der Blauregen ist infolge seiner Wuchskraft in der Lage, die Bausubstanz eines Hauses zu schädigen, indem seine Triebe beispielsweise Dachziegel verschieben, Regenfallrohre einschnüren, Stäbe von Geländern verbiegen und Rankseile durch Umschlingung aus der Verankerung reißen.«163 Stofanel hätte kaum ein besseres Symbol als die Glyzinie wählen können. Denn was dem einen, nämlich Stofanel, als romantisch verklärtes Verkaufsargument für »naturnahes Wohnen mitten in der Stadt« dient, ist für die anderen, die umliegenden Bewohner, nichts weiter als ein Symbol für ihre Heimsuchung durch Besserverdienende: So wie die hartnäckig wachsende Pflanze breiten sich derartige Luxusanlagen schon seit geraumer Zeit im Viertel aus. Doch es ist vor allem der Marthashof, der für Unmut unter den Anwohnern sorgt.

Als »Tsunami der Gentrifizierung« beschreibt die Anwohnerinitiative Marthashof solche Wohnprojekte an einem der letzten Orte im Prenzlauer Berg, der lange Zeit vor dem Einfall reicher Bewohner verschont blieb. Die Anwohnerinitiative fürchtet, dass dieser Tsunami das ganze Viertel überschwemmen und zerstören könnte, indem noch teurere Läden, Feinkostgeschäfte, Edelrestaurants, Luxusboutiquen nachziehen. »Das war bis vor wenigen Jahren ein wirklich verschlafendes Eckchen, ein Studentenviertel«, erinnert sich Claudia Hering, die seit 1998 in der Oderberger Straße wohnt, die an die Rückseite des Marthashof grenzt. Jetzt könne man schon an den Autos sehen, wie sich das Viertel verändert habe: Statt studentischer Schrottlauben parken dunkle Luxuskarossen in den Straßen. »Normale« Geschäfte wie etwa eine Bäckerei gebe es fast nicht mehr. »Stattdessen wird alles aufgehübscht für die, die hierherziehen.« Design- und Klamottenläden prägen das Bild. Auch in den Second-Hand-Läden finde man nur noch teure Markenkleidung, selbst für Kinder. Es wohnten gerade noch vier alte Leute von früher hier, »die kennt man, sie fallen ja auch auf«, sagt Hering. Dafür sehe man zunehmend »neue Alte« in den Cafés herumsitzen, solche mit gepflegten Frisuren und modisch teuerer Kleidung. Die 47-jährige alleinerziehende Mutter sagt, sie müsse immer weitere Wege auf sich nehmen, um sich mit günstigen Produkten versorgen zu können. Bis vor Kurzem war die Kunsthistorikerin noch Hartz-IV-Empfängerin, jetzt hat sie einen nicht eben üppig bezahlten Job bei einer politischen Stiftung. Es waren einmal Menschen wie sie, die für das linksalternative Flair des Viertels sorgten, für eine improvisierte Struktur, die nach und nach immer mehr Besserverdienende lockte. Denn mit dem subkulturellen Bohème-Charme lässt sich viel Geld verdienen.

Im Erdgeschoss der Oderberger Straße 44 befindet sich der Laden »Kauf dich glücklich«. Der Schriftzug im Schaufenster besteht aus ausgeschnittenen, bunt zusammengewürfelten Buchstaben, Möbel der 50er- und 60er Jahre, wie zufällig hingestellt, ergänzen die rumpelige Szenerie vor und innerhalb der kombinierten Eisdiele und Kleiderboutique. Dank der Touristen, die sich zunehmend im Viertel tummeln, und der Wohlhabenden, die dort skandinavische Designerklamotten kaufen, eine Goldgrube: die Betreiber haben ihr Ladenkonzept, das »Kauf-dich-glücklich-Lebensgefühl«164 (darunter geht es ja nicht mehr) bereits in acht deutschen Städten verwirklicht. Das Lebensgefühl, im selben Haus eine Wohnung zu mieten, sagt Claudia Hering, kostet mittlerweile bis zu 18 Euro pro Quadratmeter. Kalt. Der Bio-Markt in der Oderberger Straße, der eine ähnliche Klientel bediente und dem Marthashof-Investoren als eines der vielen Verkaufsargumente diente, habe hingegen schließen müssen. Er konnte die Mieterhöhung um 100 Prozent nicht mehr bezahlen.

Es ist die letzte Stufe der ökonomischen Vertreibung, wenn selbst die Profiteure der Gentrifizierung aus dem Viertel weichen müssen. Aufwertungsprozesse, die in bereits aufgewerteten Quartieren stattfinden, nennt man Supergentrifizierung. Das bedeutet, dass selbst die gut verdienende Mittelschicht verdrängt wird – durch wirklich Reiche. Es folgt über kurz oder lang ein vollständiger Austausch Statusniederer durch eine ranghöhere Bevölkerung. Es ist das Gegenteil einer sozialverträglichen Mischung, wie sie die Stadtpolitik eigentlich garantieren müsste.

Lange hatte Claudia Hering Glück: Weil das Haus in der Oderberger Straße mit öffentlichem Geld saniert wurde und der Vermieter im Rahmen dieses städtischen Sanierungsprogramms 15 Jahre lang die Miete nicht erhöhen durfte, konnte sie sich die Altbauwohnung leisten. Doch auch der Vermieter möchte sein Stück vom Kuchen abhaben. Immer wieder, so Hering, mache er den Mietern das Leben schwer. Sie zahlt jetzt 20 Prozent mehr Miete, um so viel kann der Vermieter jedes Jahr erhöhen, seit in Berlin die Mietbindung gefallen ist. Wie lange sie sich das noch leisten kann, weiß sie nicht. Sie kenne einige, die bereits weggezogen seien.

Ein Großteil der Modernisierung wurde bis Mitte der neunziger Jahre aus öffentlicher Hand bezahlt. Eine festgelegte Mietpreisentwicklung sowie Sozialpläne sollten eine sozialverträgliche Erneuerung nach der Wende sicherstellen. Ein Drittel aller Hauseigentümer in den Sanierungsgebieten des Prenzlauer Bergs begannen, ihre Häuser mit Hilfe staatlicher Zuschüsse und vergünstigter Kredite zu sanieren. Dafür verpflichteten sie sich, die Mieten über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren nicht über eine bestimmte Grenze zu erhöhen. So fanden 60 Prozent der Bewohner auch nach der Sanierung eine bezahlbare Wohnung. Selbst als die Grundstücke und Gebäude nach und nach an private Investoren verkauft wurden, ermöglichten Mietobergrenzen und Steuerbegünstigungen (für die Investoren), dass zumindest 40 Prozent der Bewohner nach der Modernisierung in ihre Wohnung zurückkehren oder im Kiez eine vergleichbare Wohnung finden konnten. 2008 wurden die Mietobergrenzen gerichtlich aufgehoben, auch die Steuerbegünstigungen für die Sanierer liefen aus. Seither konzentrieren sich die Investoren darauf, Geld mit luxuriösem Eigentum zu machen. Der Erhalt günstiger Mietwohnungen dagegen liegt nicht im Interesse von Immobilienkonzernen, er ist nicht profitabel. Bereits 30 Prozent des Wohnraums im Prenzlauer Berg sind Eigentumswohnungen, die für die allermeisten ehemaligen Bewohner unerschwinglich sind.

Von solchen Problemen spürt man nichts, wenn man den Showroom des Marthashof besucht. Hier stehen alle Zeichen auf Harmonie und Behaglichkeit. So wie hier mit Ruhe und Sicherheit geworben wird, mit der »grünen Oase«, könnte man fast glauben, hier entstehe ein Sanatorium und kein Wohnkomplex inmitten des für seine Lebendigkeit geschätzten Prenzlauer Bergs. Aus den Lautsprechern plätschert leise Loungemusik, auf großen Plakatwänden sind Computersimulationen der künftigen Anlage zu sehen. »Edles erfreut das Auge, Harmonie erfreut das Herz« steht auf einer Stellwand; daneben Bilder von Dachterrassen mit Holzböden und weißen Sonnensegeln; Glyzinien umranken Pergolen mit Sitzbänken, Licht durchflutetet Wohnungen mit Fenstern bis zum Boden und hellen Designermöbeln. Dazwischen hängen »Impressionen« vom Prenzlauer Berg, Detailfotos von Cafés, umliegenden Läden, Spielplätzen, von der Kulturbrauerei, dem Markt am Kollwitzplatz und dem LPG-Biomarkt am Senefelder Platz, nach Selbstauskunft größter Biosupermarkt Europas. Sogar der Showroom bietet eigene Spielzimmer für Kinder. Selbst das ungeliebte Symbol des Prenzlauer Bergs, ein Glas mit Latte Macchiato, findet sich auf einem Foto. Man kann warme Milch mit einem Schuss Kaffee auch im Showroom bekommen; dort steht eine weiß glänzende Bulthaup-Küche, Modell B1 wird serienmäßig in die Wohnungen eingebaut. Im Raum sind ebenfalls weiße Plastikmöbel im kühlen Apple-Schick verteilt, dazwischen quietschgrüne Plastikhunde, die an Objekte von Philippe Starck erinnern. Es sind die Statussymbole der gehobenen urbanen Mittelschicht, Bausteine des exklusiven Geschmack, der kulturell Kreativen, die man nicht mit goldenen Wasserhähnen locken kann, sondern mit solchem Design. Starck, der französische Star-Designer, konzentriert sich mittlerweile darauf, Superreichen komplett eingerichtete Wohnungen an ersten Adressen zu verkaufen – genauer: »individuelle Oasen in urbanen Zentren«. Sein »Haute Couture Service« ist für 5000 bis 7000 Euro pro Quadratmeter zu haben. Ihn verkauft er an den »Smart Tribe«, das sind Menschen, die »wach sind, die bewusst leben, das Leben schöner machen wollen« – und vor allem: können.165 Für sie gestaltet er derzeit 87 Wohnungen in Berlin Mitte nahe dem Regierungsviertel, mit Spreeblick und Wellnessanlage. Mit Individualität im Sinne von Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit haben solche Wohnungen überhaupt nichts zu tun, gibt es doch nur vier verschiedene Einrichtungsmodelle, zwischen denen der Käufer wählen kann. Für die Bäder gibt es fünf unterschiedliche Modelle. Diese Ästhetik ist weniger individuell denn uniform, aber der wichtigste Aspekt von Individualität bleibt durchaus erhalten: die Abgrenzung von den meisten anderen. Es geht in Wahrheit um Distinktion, um das Sich-Abheben vom Massengeschmack: Bulthaup und Philippe Starck markieren die Zugehörigkeit zu einem exklusiven Club. In der Konsumgesellschaft entscheidet schließlich der Geschmack darüber, wer dazugehört und wer nicht. »Harmonie von Freiraum und Geborgenheit, Sicherheit und gute Nachbarschaft« wirbt Marthashof; mit der guten Nachbarschaft sind aber nicht die Bewohner des Viertels gemeint, sondern jene, die man sich in dieser Enklave qua Geldbeutel ausgesucht hat. Solche abgeschlossenen »Wohneinheiten« markieren aber nicht mehr nur eine kulturelle, sondern auch eine soziale Abgrenzung. Lebensstile markieren soziale Unterschiede. Innerhalb des selben sozialen Milieus zu leben, verspricht Sicherheit. Den Wohn- und Lebensraum nur mit seinesgleichen teilen zu müssen, ist deshalb das wichtigste Verkaufsargument. Den hohen Preis, den Menschen dafür bezahlen, um unter ihresgleichen zu bleiben, nannte der französische Soziologe Pierre Bourdieu »Extrakosten für räumliche Distinktionsprofite«.

Gute Adressen gegen den sozialen Abstieg

Hartmut Häußermann166 steht vor dem Fernseher in seiner Wohnung. »Können wir das gerade noch schnell anschauen?« Es läuft eine Bundestagsdebatte zum Bund-Länder-Programm Soziale Stadt. Das Programm, das in 570 »sozialen Brennpunkten« deutscher Städte umgesetzt wird, ist gerade von 107 auf 28 Millionen Euro gekürzt worden. Häußermann leitete 1995 dessen Evaluierung. »Okay, da passiert gerade nichts, aber ich muss da ab und an reinschauen, können wir das im Hintergrund laufen lassen?« Er gilt als Vorkämpfer gegen die Spaltung der Stadt, gegen wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung, gegen Chancenungleichheit bei der Bildung.

Häußermann setzt sich an den großen Küchentisch in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg. Kollwitzstraße, das Zentrum der Gentrifizierung. Als Student zog er damals in das fast leer stehende Haus; mit einer Gruppe von Leuten, die noch heute größtenteils dort wohnt, hat er das Haus renoviert. Er habe niemanden verdrängt, sagt er und lacht, »ich bin sicher kein Gentrifizierer«. Er sagt das mit einem leicht ironischen Unterton, den Begriff der Gentrifizierung benutzt er nicht gern. Wie Andrej Holm, dessen Doktorvater er war, fürchtet er, dass man das Problem der Ausgrenzung mit diesem Begriff verharmlost.

»Es gab immer schon Segregation zwischen Arm und Reich, ganz gemischtes Wohnen, das gab es nie.« Wer sozial aufsteigt, der zieht um, das war schon immer so. »Bislang zogen die Reichen aus der Stadt raus an den Stadtrand und ließen sich dort in sozial extrem homogenen Vierteln nieder. Jetzt haben wir eine umgekehrte Entwicklung: heute gehört es zum Prestige, in der Stadtmitte zu wohnen.«

Lange galt die Stadt – im Gegensatz zum Land – als Ort der politischen und sozialen Emanzipation, und damit auch als ein Ort der Integration von Fremden. Der Aufbau der städtischen Infrastruktur zur Jahrhundertwende fand gegen Partikularinteressen der Grundbesitzer statt. Standesunterschiede waren in der offenen Gesellschaft der Stadt weniger auffällig als auf dem damals noch traditionell feudal strukturierten Land, Teilhabe an Privilegien, soziale Bindungen jenseits der Standeszugehörigkeit waren für alle möglich: Die Stadt stand für Heterogenität und Toleranz, das Land für Homogenität und Intoleranz.167 Schließlich muss man in der Stadt mit Fremden auf engem Raum zusammenleben. »Diese Kultur der Differenz, die keine verbindlichen Normen für alle setzt, sorgt für Integrationseffekte.« Die Anonymität der Großstadt schafft einen Schutzraum für Exzentrik und ist Quell der kulturellen Produktivkraft: »Die urbane Qualität liegt in der Vielfalt«, sagt Häußermann. Die soziale Mischung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür.

Seit dem Ende der Ständegesellschaft fand soziale Entmischung vor allem deshalb statt, weil die Wohlhabenderen aus den Stadtzentren an den Stadtrand zogen und die Konzentration von Armen in den Innenstädten wuchs. Man nennt diese Stadtflucht Suburbanisierung, sie führte zur Entstehung der »Speckgürtel« und sorgte dafür, dass »Problemviertel« vor allem nahe des Stadtzentrums zu finden waren. Heute hat sich die Entwicklung fast umgekehrt: die Wohlhabenden ziehen in die Städte und schotten sich in Projekten wie dem Marthashof von ihren direkten Nachbarn ab. Sie suchen die Stadt – aber auch die Distanz zu ihren Nachbarn. Andrej Holm beschreibt diese Suburbanisierung in urbanen Zentren, als »Simulation von Stadtrand« in der Innenstadt.

Zwanzig Fußminuten von Häußermanns schöner Altbauwohnung befindet sich eines der ersten Projekte für geschlossenes gehobenes Wohnen in der Stadt: die Prenzlauer Gärten am Volkspark Friedrichshain, eine Townhouse-Siedlung nach englischem Vorbild. Ein Reihenhausidyll inmitten der Großstadt: 60 weiße Häuser flankieren die Privatstraße, Treppen führen zur Haustür, zu jedem Haus gehört eine Terrasse mit Tropenholzmöbeln, ein Parkplatz und ein Baum, nach hinten raus liegen handtuchgroße Gärtchen. Alles ist einheitlich hier. In der Mitte gibt es einen Spielplatz und einen Garten mit Wasserspielen, er ist gewissermaßen der Dorfbrunnen in diesem Dorf mitten in der Stadt, das umschlossen ist von einem anthrazitfarbenen Eisenzaun. Das Rolltor neben dem leeren Pförtnerhäuschen steht offen. Hier finden sich fast alle Merkmale einer Gated Community, jener abgeschlossenen und bewachten Wohnviertel für Reiche, wie man sie vor allem in den USA und zunehmend in armen Ländern Asiens und Afrikas oder in Indien, China und Russland findet. Solche Anlagen entstehen immer da, wo die sozialen Unterschiede besonders groß sind. Weil auch in den wohlhabenden Ländern Europas die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, kann man auch in Frankreich, England und Spanien Gated Communities finden. Zwar wacht in den Prenzlauer Gärten kein Doorman, auch das Rolltor steht immer offen, die Privatstraße ist öffentlich. Noch. Doch man fühlt sich schon jetzt wie ein Eindringling, wenn man die Anlage betritt. Die strenge Gleichförmigkeit der Häuser, die Enge, die Sauberkeit, die künstliche Idylle, die Totenstille wirken beklemmend. Ständig hat man das Gefühl, beobachtet zu werden. Es ist tatsächlich dörflich hier – nur dass die Bewohner die soziale Kontrolle durch ihre Nachbarn selbst gewählt haben.

Häußermann sieht in dieser Abschottung nicht eine reale Angst der Bewohner vor Verbrechen. Wohnprojekte wie dieses betrachtet er als Ausdruck der Furcht der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. »Die Leute sichern sich in der Homogenität des Luxus’ ab. Sie suchen die Gemeinschaft gemeinsamer Interessen und wollen, dass auch ihre Kinder unter ihresgleichen aufwachsen«, sagt der Stadtsoziologe. Wenn man sich nur an den Griffen seiner Bulthaup-Küche festhalten kann, wird man schon nicht in den sozialen Abgrund rutschen.

Vor den Häusern stehen Neuwagen der gehobenen Mittelklasse: neue Golfs, Minis, aber auch Oberklassewagen wie Mercedes und Porsche. Die Menschen, die man hier sieht, sind entweder Männer in Anzügen, die aus dem Auto steigen und die Treppen zur Haustür hinauf eilen. Oder Mütter in den Dreißigern mit Kinderwagen, die mit den Augen rollen, wenn man sie mit dem Wort »Gated Community« anspricht. Man merkt, dass sie keine Lust haben, sich rechtfertigen zu müssen dafür, dass sie genauso empfinden, wie es der Werbeslogan des Investors verheißt: »Paradiesisch wohnen, mitten in Berlin.«

In den Prenzlauer Gärten leben Familien der gehobenen Mittelklasse im Alter zwischen 35 und 55, Medienschaffende, Juristen, Designer und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, vor allem Zugezogene aus Westdeutschland. »Berlin bekommt langsam wieder ein neues Bürgertum«, freut sich Willo Göpel, Projektentwickler der Prenzlauer Gärten. An dieses »zart wachsende Pflänzchen« richtet sich auch das Townhouse-Projekt: »Wir haben auf die bestehende Entwicklung gesetzt.« Es sei nicht die Elite, sondern die gehobene Mittelklasse, die sich für diese Wohnform interessiere. »Die kommen aus dem Reihenhaus und hätten gern wieder ein Reihenhaus.« Nur eben nicht spießig am Stadtrand, sondern in der Innenstadt. »Die Kunden wollen alles, und zwar sofort«, sagt Göpel, »sie wollen einen Eigenheimbau mit einem real geteilten Grundstück, einen eigenen Garten, eine eigene abschließbare Garage, ein Wohngeschoss mit 3,70 Metern Raumhöhe und eine Dachterasse.« All das hat ihnen der Investor, die Asset-Gruppe, mit den Prenzlauer Gärten so hingebaut. Deswegen war die Anlage binnen zehn Monaten komplett ausverkauft, ein weiteres Gebäude musste dazugebaut werden. Kundenwünsche sind die neue städtische Bürgerbeteiligung, und wenn die Stadt zur Privatveranstaltung wird, dann erfolgt ihre Gestaltung auch nach Privatgeschmack. Auch in den Prenzlauer Gärten gibt es drei Gestaltungsmodelle: Beim Modell »Liberty State« übernimmt der Kunde den Rohbau und lässt einen selbst ausgesuchten Innenarchitekten ran. Die wenigsten haben sich dafür entschieden. Sie wählten »Classic« oder »Modern«. Letzteres fand besonders viele Käufer: es ist »zeitgemäß junge Ästhetik«168 mit reduziertem Design, Philippe-Starck-Style mit Industrieparkett und schwarzem Schiefer im Bad.

Göpel, Historiker, Architekt und PR-Experte, hat bereits die Paul-Lincke-Höfe in Kreuzberg betreut, ein ähnliches Luxusobjekt für Wohnen und Gewerbe, das für heftigen Protest im Kiez sorgte. Wie alle anderen, die von solchen Anlagen profitieren, lehnt auch er den Begriff der Gated Community ab. »Das ist wie ein stinknormales Mietshaus«, sagt er, da sei ja auch nicht den ganzen Tag die Türe auf. Dass in den Prenzlauer Gärten einmal der Zaun geschlossen sein könnte, schließt er nicht aus: Jahrelang stand das Tor zu den Paul-Lincke-Höfen offen. Dann mehrten sich die Einbrüche. Seither ist das Tor nachts zu.

Arkadien hinter Mauern

Ein fester dunkler Metallzaun bildet eine neue Grenze dort, wo Deutschland einmal durch eine Mauer geteilt war. Entlang des Zauns hängen Bewegungsmelder an Masten, und Überwachungskameras folgen einem leise summend, wenn man am Zaun vorbei spaziert und einen Blick auf die dahinter befindlichen, gefälligen Villen wirft, die in hellen Farben irgendwas zwischen Toskana und Berliner Stadtschloss nachzuahmen scheinen. Dazwischen wachsen Rosen, Hibiskus und, jawohl, Glyzinien. Zumindest soweit man das von draußen erkennen kann, denn dieser 23 000 Quadratmeter große Teil des Unesco-Weltkulturerbes Glienicker Horn, von dem aus der Blick über die Havel aufs Babelsberger Schloss besonders schön ist, ist einer geschlossenen Gesellschaft vorbehalten. Hier steht seit 1999 die erste deutsche Gated Community nach US-amerikanischem Vorbild: Arcadia Potsdam. »Arkadien« steht neben dem Hauptportal.

Arkadien, der mythische Ort, wo Menschen ohne irdische Mühen und gesellschaftlichen Anpassungsdruck frei und glücklich wie die Hirten in der Natur leben: Als sich in der Frühen Neuzeit die Territorialstaaten entwickelten und der Hochadel unter Legitimationsdruck geriet, entstand aus dem Schäferidyll die Sehnsucht, ein Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge zu führen. Aus diesem Eskapismus heraus entwickelte die Aristokratie die Idee der individuellen Freiheit – die selbstverständlich die des Großadels meinte. Es sind wohl ähnliche Reichenträume zwischen Größenwahn und Verlustangst, die dazu führten, dass die knapp 50 Appartments zum Quadratmeterpreis von 5 500 Euro ausverkauft sind.

Ein Klingelschild ohne Namen sagt: unbekannte Besucher unerwünscht. Einlass wird nur dem gewährt, der angemeldet ist, dafür sorgt der 24-Stunden-Wachdienst. Journalisten jedenfalls sind nicht mehr willkommen; die Anwohner lassen ausrichten, sie wünschten, in Ruhe gelassen zu werden. Schon klar, dafür bezahlen sie ja schließlich. Zum Beispiel 1 300 Euro pro Monat und Haushalt allein für den Sicherheitsdienst. Als vor ein paar Jahren die ersten Eigentümer nach Arcadia Potsdam zogen, gab es großen Medienrummel. Dabei ist ein abgeschlossenes Reichenghetto vor den Toren des wilden Berlins, mitten in einer gepflegt verschlafenen Gegend, wo sich auch sonst nur die Oberklasse wohnt, ziemlich lächerlich. Man fragt sich, wovor diese Leute Angst haben. Vor Günther Jauch oder Wolfgang Joop, deren Villen auf der anderen Seite der Glienicker Brücke stehen?

Uwe-Peter Braun fungierte lange Zeit als eine Art Pressesprecher von Arcadia. Bereitwillig zeigte der Unternehmer sein 270 Quadratmeter großes Penthouse, angefüllt mit protzigem Reichen-Trash, mit barock bemalten Wänden und gesichert mit einer zusätzlichen Alarmanlage. Dass er und seine Frau echte Dali- und Picasso-Zeichnungen besitzen, einen schwarzen Flügel und einen Sekretär, der einmal Napoleon gehörte – das war bereits bei Spiegel Online, im Manager Magazin und in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Seine Frau Andrea, eine Meranerin mit langen schwarzen Haaren, sagt, dass sie froh sei, wegfahren und sicher sein zu können, dass alles noch da ist, wenn sie wiederkommt. Sie sagt, sie fühle sich frei, weil sie in der Tiefgarage keine Angst haben müsse. Auch Uwe-Peter Braun betont vor allem den Sicherheitsaspekt: »Bei uns nimmt auch die Verarmung zu, die Sicherheitslage verschärft sich, da ist es wichtig, dass man sich abschottet.«169

Laut Bundeskriminalamt ging die Anzahl der Wohnungseinbrüche in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel zurück.170 Die Bedrohung durch Arme ist allenfalls eine gefühlte, jedenfalls in der Villengegend von Potsdam, wo einem Armut ganz sicher nicht im Alltag begegnet. Schon gar nicht, wenn man sich zusammen mit anderen Reichen freiwillig wegsperren lässt. Die Sicherheit, die die Bewohner so gerne betonen, ist hier vor allem ein Statussymbol, ein Ausweis von Exklusivität. Der Zaun ist in Potsdam lediglich ein besonders vulgäres Symbol demonstrativen Reichtums. Man setzt sich hier nicht gegen Arme ab, sondern gegen andere Reiche. Wer hat den längeren Zaun, die höheren Masten – eine comparatio genitalis sozusagen: Schwanzvergleich unter Reichen und Gebildeten.

Schöner wohnen im Krisengebiet

»Damit Sie sorglos in Ihren wohlverdienten Urlaub reisen können, bietet Ihnen unser Sicherheitssystem einen Rundumschutz Ihrer Residence. Moderne Sicherheitskonzepte machen dies möglich. Service, Luxus und Sicherheit sind für uns oberstes Gebot, um das Wohnen in unserer Central-Park-Residence für Sie so angenehm wie möglich zu machen.«171 Das liest man auf der Homepage der Central Park Residence. Die zweite Gated Communty Deutschlands entsteht nicht am Stadtrand, sondern mitten im Zentrum von Leipzig am Clara-Zetkin-Park. Quadratmeterpreis: bis zu 4500 Euro. Die Appartements in den beiden Häusern, die sich geschmacklich ebenfalls zwischen Mittelmeer und Gründerzeit bewegen, sind beinahe ausverkauft. Um die Anlage läuft ein schmiedeeiserner Zaun, eine Standleitung zur Polizei ist immer geschaltet für den Fall, dass jemand versucht, über den Zaun zu klettern; geplant war außerdem ein Wachmann. Warum nicht gleich eine Selbstschussanlage? Schließlich hält man auch sonst sämtliche Mühen des Alltags aus diesem neuen Arkadien heraus: Man kann sich per Handy eine Badewanne einlaufen lassen, der Kühlschrank verwaltet die Vorräte selbst.

Dass diese Anlage ausgerechnet mitten in Leipzig steht, bestätigt die These von Stadtsoziologen wie Häußermann: »Gated Communities geben Zeugnis von der Fragmentierung der Gesellschaft.« Gerade in Leipzig sind die sozialen Unterschiede besonders groß: Leipzig ist laut Statistik die ärmste Großstadt Deutschlands. In der »Armutshauptstadt« leben 19 Prozent der Bewohner unter der Armutsgrenze, 27 Prozent sind von Armut bedroht. Der bundesdeutsche Schnitt liegt bei knapp der Hälfte: 14 Prozent. Mit 12,5 Prozent hat Leipzig mit die höchste Arbeitslosenquote in Deutschland.172

Mit der Statusangst der gehobenen Mittelschicht lässt sich gutes Geld verdienen. Alle Investoren privater Wohnanlagen bieten ihren Kunden ein Sicherheitskonzept an. Manchmal gerät das zur Groteske und fordert genau jene Bedrohung heraus, vor der man sich eigentlich Schutz versprach. »Parkplatzsuche? Angst, dass Ihr Auto beschädigt wird? Unsicherheit in dunklen Nebengassen und Tiefgaragen? Das sind Sorgen aus der Vergangenheit. Willkommen in der Welt von CarLoft.« So bewirbt der Investor Johannes Kauka Luxus-Appartements, in die man sein Auto mitnehmen kann. Mit einem speziellen Lift gelangt man, ohne vorher auszusteigen, in seine Wohnung, das Auto parkt auf der Terrasse, man kann sich dann vom Wohnzimmerfenster aus beruhigt davon überzeugen, dass das eigene Schätzchen nicht auf der Straße angezündet wird. An der Ecke Reichenberger Straße in Kreuzberg, dort also, wo es etliche Brandstiftungen gab, steht Deutschlands erstes Carloft. Selbst brennende Autos dienen manchen noch als Geschäftsgrundlage – die Bilder von Luxuskarossen in Flammen waren für Kauka gewissermaßen ein kostenloser Werbespot. Kauka, der wie alle Investoren seinen Kunden »alle Vorzüge der Großstadt und keinen ihrer Nachteile« verkaufen will, hat mit seinem Carloft erst recht Öl ins Feuer gegossen: Das Viertel antwortete mit Gewalt. Ein Carloft symbolisiert den Sieg des Privateigentums über Gemeinwohlinteressen, Kreuzberg ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Stadt – hier sind die sozialen Unterschiede besonders groß. Der Ausländeranteil ist mit 23 Prozent der zweithöchste Berlins. Die Arbeitslosenquote liegt bei 19 Prozent, das Nettoeinkommen pro Erwerbstätigem bei im Schnitt 800 Euro. An manchen Orten Kreuzbergs leben mehr als 70 Prozent der Kinder von Hartz IV, es gibt große Probleme mit Drogen, nirgends in der Stadt ist die Lebenserwartung niedriger.173 Gleichzeitig liegen die Mieten hier teilweise bis zu 120 Prozent über dem Mietspiegel; in Kreuzberg-Friedrichshain sind die Mieten um durchschnittlich 7,2 Prozent gestiegen.

Carloft, das weiße Gebäude, das so einladend aussieht wie ein Parkhaus, steht am Paul-Lincke-Ufer, es gehört zu den Höfen gleichen Namens. Für die weniger wohlhabenden Anwohner ist es nichts als Provokation. »Piss off« – diese beiden Worte haben die Bewohner des Altbaus gegenüber des Carloft an die Fenster geklebt. »Carlofts zur Ruine machen!« lautete das aggressive Motto einer Demonstration. Es klatschten Farbbeutel an die Fassade, Steine flogen in die Fenster des Carloft, insgesamt 20 Anschläge gab es. Während des Richtfests patrouillierten Polizisten und Wachleute mit Hunden um das Gebäude, eine Zeitlang stand ein weißer Container vor dem Haus, rund um die Uhr von Polizisten besetzt.

Seither schreckt die demonstrative Trutzburg vor allem die ab, die es vor derartigen Gewaltausbrüchen schützen soll: Nur sieben der Luxuslofts wurden verkauft. Jetzt macht Kauka lieber Geschäfte dort, wo sich an der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich keiner stört und ein bewohnbares Parkhaus ein nettes Reichengimmick ist: in Frankfurt, München und Düsseldorf, in Warschau, Brüssel, Kapstadt, St. Petersburg, Mexico City und Abu Dhabi.

Der Mann, dem so viel Hass entgegenschlägt, geht selbst ans Telefon, seine Handynummer steht auf der Carloft-Homepage. Johannes Kauka zügelt seinen ausgeprägten Berliner Dialekt und sagt sehr förmlich: »Bitte haben Sie Verständnis, dass ich lieber nicht mehr mit der Presse sprechen möchte.« Dann lässt er seinem Frust freien Lauf. Er schimpft eine halbe Stunde auf die »Terroristen«, die seine Käufer vertrieben haben, auf die Intoleranz der Kreuzberger, auf die Presse, die ihn in manchen Artikeln erscheinen lässt wie einen eiskalten Profitgeier. Auf die Linken, die keine Veränderung wünschen, sondern »Monokultur«, deshalb würden die Viertel ja so verkommen. Schöner wohnen im Krisengebiet: Erst locken die Investoren mit der Kulisse der rauen Stadt, in der sie eine Oase errichten wollen. Dann erschrecken sie darüber, dass diese Kulisse lebendig wird und Menschen, die sich in der großen Verkaufsshow nur noch als Statisten fühlen, dagegen rebellieren, dass ihre Lebenswelt mit blumigen Worten zu Markte getragen wird.

Wenn die Kulisse lebendig wird

»Die Ecke zwischen Mitte und Prenzlauer Berg ist etwas Besonderes. Hier ist pulsierendes Leben, es ist wie Paris Saint Germain, wie Manhattan vor 50 Jahren, wie Schwabing in München«,174 schwärmt Bauherr Ludwig Stoffel, der die eine Hälfte der Stofanel AG bildet. Der Baunternehmer aus dem niederbayrischen Straubing hat sie Anfang 2008 mit seiner Frau Giovanna Stefanel gegründet, Designerin und Erbin des gleichnamigen italienischen Bekleidungskonzerns. Die beiden Millionäre hatten sich 2005 bei einem Seminar über emotionale Intelligenz kennengelernt und beschlossen, Namen, Talente und Vermögen zusammenzulegen, um daraus noch mehr Geld zu machen. Insgesamt 300 Millionen Euro investieren sie derzeit in Berlin. Sie bauen nicht nur den Marthashof, sondern auch das »Tilia Living Ressort«, ein Villenviertel für Superreiche am Griebnitzsee, und ein weiteres Luxusviertel in Zehlendorf, die Truman Show … Entschuldigung: Truman Plaza.

In den Medien erscheinen die beiden jedoch nicht als ausgebuffte Geschäftemacher, sondern als »Power-Paar« (Bild-Zeitung) mit Herz: Die Eheleute haben in Nepal ein Waisenhaus für dreißig Kinder gestiftet, die alle »Mama« und »Papa« zu ihnen sagen.175 In Interviews mit ihnen geht es nicht um Quadratmeter, Euro und Stadtteilkonflikte, sondern um Liebe, Schönheit und »Werte«, die sie schaffen. »Wenn sich Yin und Yang perfekt ergänzen«176 lautet die Überschrift eines Porträts über den »den Bayer« und »die Italienerin«, die »Wohnungen mit Seele« bauen wollen, wo die Menschen »Ruhe und Geborgenheit« finden sollen. Wenn man ein Lebensgefühl verkaufen will, muss man entsprechend gefühlsduselig daherkommen.

»Ich wäre gerne Künstler, habe diese Talente jedoch nicht. Aber ich habe das einmalige Glück, dass ich Dinge bauen lassen kann. Ich kann an ausgesuchten Plätzen, die ich für gut empfinde, wie ein Künstler etwas platzieren. Die Skulptur eines Bildhauers kann man wegtragen. Wenn ich eine Stadt oder einen Ort mitprägen kann, dann ist das ein unglaubliches Glück«, sagt Ludwig Stoffel über seine Gestaltungsmöglichkeiten in Berlin. Etwas weniger blumig ausgedrückt: Nirgends in Deutschland bekommt man so einfach und so günstig große Grundstücke in Innenstadtlage, mit deren Bebauung man derart viel Geld verdienen kann, wie in Berlin. Die Stofanel AG selbst residiert am Pariser Platz, direkt neben dem Brandenburger Tor, ihr gehört das ganze Gebäude. »Bayerischer Glanz für die Hauptstadt« überschrieb die Welt einen Artikel über das Bauunternehmen. Davon kann aber nun wirklich keine Rede sein. Denn Ludwig Stoffel hat seine Millionen bislang nicht mit schönen Häusern, sondern mit Einkaufszentren und Gewerbebauten gemacht.

»Wohnen ohne Kompromisse« ist das Motto des 65 Millionen Euro teuren Marthashof, der den Anwohnern ungefragt vor die Nase gesetzt wird. Was für die Kunden der Eigentumswohnungen im Marthashof als »kompromisslos« verkauft wird, ist für die umliegenden Bewohner schlicht rücksichtslos. Die bis zu sechs Stockwerke – geplant waren anfangs acht – des Ensembles, das mit einem Abstand von teilweise nur fünf Metern zu den umliegenden Altbauten in den Berliner Himmel wächst, versperrt ihnen den Ausblick und verschattet ihnen die Wohnungen. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb das Bauprojekt für heftige Diskussionen und Proteste sorgt. »Antisoziale Plastik« nennt die Anwohnerinitiative Marthashof den Wohnkomplex. Auf dem Baugrundstück befand sich bis zum Zweiten Weltkrieg eine Herberge und Bildungsstätte für junge Mädchen, die vom Land in die Stadt kamen, um dort als Dienstmädchen ihr Glück zu machen. Das Anwesen wurde im Krieg zerstört, nach der Wende gab es unterschiedliche Pläne für die Brache: Es wurde über eine Grundschule nachgedacht und über einen öffentlichen Park. Doch die Stadt hat kein Geld für solche Dinge – und so verkaufte die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) das Grundstück an die Stofanel AG, die versprach, familiengerechten, ökologischen Wohnraum mit hohem Grünanteil zu bauen. Klingt fast wie ein Kompromiss: irgendwie grün, irgendwie öko, irgendwas für Familien mit Kindern. Nur die Öffentlichkeit hat nichts von der naturnahen Wohnanlage. Das Viertel wird sich weiter räumlich verdichten, der wilde Park, der auf der Brache wuchs und in dem die Kinder des Viertels spielen konnten, wird zur Spielwiese der Investoren. Dort wird ein durchdesignter »halböffentlicher« Garten wachsen, der für »naturnahes Wohnen« sorgt. Er ist nur von der Schwedter Straße aus begehbar und wird abends möglicherweise geschlossen werden. Der Initiative scheint es naheliegend, dass die neuen Mieter eher ihr Eigentum vor äußeren Einflüssen schützen wollen, als Kontakt zu den alten Anwohnern zu suchen: »Wer soll sich denn in diesem Garten aufhalten? Da traut sich doch gar niemand rein. Und ich kann mir gut vorstellen, dass bei einer der ersten Eigentümerversammlungen beschlossen wird, dass das Tor zu bleibt«, sagt Claudia Hering von der Initiative. Zum Sicherheitskonzept gehören auch Bewegungsmelder in den Gärten und Video-Gegensprechanlagen. Hering nennt den Marthashof »Gated Community light«.

An der Hauswand hinter dem lila Verkaufspavillon prangt ein riesiges Grafitto mit Fußballspielern, aus einem Fenster hängt ein Banner mit der Internetadresse der Anwohnerinitiative. Es ist diese alternative Aura, die sich auch Marthashof zu eigen macht. Giovanna Stefanel-Stoffel sagt, es habe sie immer gestört, »wie wenig mit Gefühl gebaut wird«. Doch gerade an der Schwedter Straße agiert Stofanel besonders unsensibel. Ausgerechnet auf den Vorabend des 1. Mai, an dem sich im Mauerpark auf der anderen Straßenseite die Autonomen für die Krawalle sammeln, legte Stofanel die Eröffnung des Pavillons. Als die Anwohnerinitiative den Investor darauf aufmerksam machte, wurde dem wohl ein wenig mulmig. Ein bisschen Punk fürs Image ist ja ganz schön – aber Aufstände gegen das Projekt, das kann man sich nicht leisten, schon gar nicht, wenn man mit guter Nachbarschaft wirbt. Claudia Hering erinnert sich, dass die Angehörigen der Initiative jeweils persönlich von den Bauleuten zur Eröffnungsfeier abgeholt wurden. Die Investoren gaben sich bürgernah. Trotzdem flogen Steine und Farbbeutel von Autonomen gegen den lila Showroom. Einen Tag nach der Eröffnung schützten gepanzerte Polizisten den lila Bungalow, die Baustelle ist noch immer bewacht. Zum Richtfest des Marthashofs hatten die Investoren die Elite geladen: Zu den Gästen gehörten Julius Eduard Prinz von Anhalt Herzog zu Sachsen und Corinna Prinzessin von Anhalt. Auch Stadtpolitiker waren gekommen, Klaus Wowereit schickte ein Grußwort. Zur Eröffnung der benachbarten Kastaniengärten war der Regierende Bürgermeister noch persönlich erschienen. Damals sagte er, dass man Menschen verstehen müsse, die sich bedroht fühlten durch neue Entwicklungen. »Auf der anderen Seite muss man auch immer wieder deutlich machen, es gibt keine Alternative zu einer Veränderung, es sei denn, dass man schlechte Zustände zementieren will. Das wollen wir nicht. Wir glauben an die Zukunftsfähigkeit dieser internationalen Metropole. Und deshalb muss sich etwas verändern. Und etwas Neues ist eine Bereicherung und keine Gefährdung des Alten.«177 Und damit Schluss. In seinem Grußwort zum Marthashof-Richtfest erwähnte der Basta-Bürgermeister die Ängste der Anwohner mit keinem Wort: »Mit dem erreichten Stand nähert sich ein anspruchsvolles Projekt seiner Realisierung. Ich begrüße die familienfreundliche Gestaltung und das großzügige Freiraumkonzept ebenso wie die Verknüpfung stilvoller Architektur mit einer dem Klimaschutz verpflichteten Energieversorgung.«178

Die Stadt als Unternehmen

»Gentrifizierung ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld regelt. An den Schalthebeln: Politik, Wirtschaft, Investoren. Die Vertreibung ist kein Zufall, sie ist gewollt«, schreibt der Autor Christoph Twickel in seinem Buch Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für alle.179 Die Stadt der 50er und 60er Jahre folgte einem wohlfahrtsstaatlichen Modell. Zwischen 1949 und 1973 wurden in Deutschland 12,5 Millionen neue Wohnungen gebaut, die Hälfte davon waren Sozialwohnungen. Im Vordergrund stand der soziale Ausgleich, das Ziel: eine Stadt für alle. Mit dem Abbau der industriellen Arbeitsplätze, der Mitte der achtziger Jahre begann, wandelte sich die soziale zur unternehmerischen Stadt. Die alten Industrien wanderten in die Entwicklungsländer ab, wo die Produktionskosten niedrig waren. In den westlichen Metropolen ließen sich die Dienstleistungsindustrien nieder, Werbe- und PR-Agenturen, Unternehmensberatungen, Immobilienfirmen, Medienkonzerne, die Unterhaltungsindustrie. Neue Menschen für die neue Wirtschaft – gebraucht wurde jetzt eine höher gebildete, besser verdienende und konsumfreudige Schicht: die globale Elite der kulturell Kreativen. Um diese »neue Intelligenz« anzulocken, startete etwa Hamburg bereits 1985 eine 4,5 Million D-Mark teure Kampagne: »Hamburg – das Hoch im Norden« hieß der Lockruf des damaligen SPD-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der sich an »Unternehmensinhaber, leitende Angestellte, freie Berufe und Selbstständige« richtete. Hamburg dürfe sich nicht in eine Stadt verwandeln, »in der die sozial Schwächeren zwar eine Chance haben, aber die sozial Starken, als die Besserverdienden, das heißt, die kräftigeren Steuerzahler, sich abgewertet fühlen«, sagte Dohnanyi.180

Man nennt das heute Standortmarketing – denn die Städte sind längst nicht mehr Orte des Sozialen, sondern gerieren sich als Unternehmen und treten im Wettbewerb um Standortvorteile gegeneinander an. Je mehr Wohlhabende in der Stadt, desto besser. Sie haben Geld für Eigentum, Konsum und Investitionen. An ihnen verdienen Projektentwickler, Architekten, Baufirmen, PR-Agenturen und Konsumgüterkonzerne.

Die Stadt muss deshalb versuchen, sich als Marke zu etablieren. Dazu gehören etwa Landmarks, unverwechselbare Kennzeichen mit globalem Wiedererkennungswert. In Hamburg sollte das die Elbphilharmonie werden, ein monströser Aufbau auf dem Kaiserspeicher A in der Speicherstadt, gestaltet vom Schweizer Star-Architekten-Duo Herzog & de Meuron. Eine eigene »Freiheitsstatute«, wie der Spiegel schrieb.181 Das Gebäude nahe der Hafencity, ein weiteres Vorzeigeprojekt der Hansestadt, sollte, so das damalige Versprechen, mit Spenden Hamburger Großbürger mitfinanziert werden sowie mit dem Verkauf von Luxuswohnanlagen. »Die Elbphilharmonie sorgte als Bekenntnis der Stadt zur Entwicklung der Hafencity für das nötige Zutrauen der Investoren«, sagte Ole von Beust.182

Heute ist die Elbphilharmonie der größte Bauskandal der Republik; wegen Nachforderungen des Bauunternehmens Hochtief wird er den Hamburger Haushalt mit mindestens 476 Millionen Euro belasten.183 Mehr als 40 Prozent der städtischen Ausgaben für Kultur gehen laut Twickel an die Elbphilharmonie, die allenfalls ein äußerst betuchtes Publikum anlocken wird: eine Bühne für die Megastars und dazu noch ein Fünf-Sterne-Hotel, das darin eröffnet werden soll. Diese sowie die Luxus-Appartments sind für die, die das Bauwerk nun finanzieren müssen, die Hamburger Bürger, kaum zugänglich. Doch zeitgleich verkündete Bürgermeister Ole von Beust, wegen des jährlichen Haushaltsdefizits dürfe es beim Sparen »keine Tabus« geben.184

Frankfurt: die Vertreibung aus dem Einkaufsparadies

Für die kaufkräftigen Städter werden auch neue innenstädtischen Shopping-Welten geschaffen: Nicht mehr nur Kaufhäuser und Kettenläden reihen sich dort aneinander, sondern auch die Flagshipstores (zum Teil teurer) Marken wie Fred Perry, Puma, Adidas, American Apparel und Apple. Seit 1990 haben sich die Verkaufsflächen in den Innenstädten fast verdoppelt. In Großbritannien nennt man diese bereits »Malls without Walls«. In Liverpool, der europäischen Kulturhauptstadt 2008, ist diese Entwicklung besonders drastisch. Fast das komplette Zentrum der ehemaligen Arbeiterstadt wird dominiert vom gigantischen Einkaufszentrum »Number One«, dessen Gebäudeteile sich fast krakenartig in alle Richtungen ausbreiten. Doch es gibt auch eine Renaissance der Einkaufszentren: Sie sind von der grünen Wiese und den Rändern der Städte zurück in die Zentren gezogen. Entworfen von Stararchitekten, sind sie die neuen Attraktionen und Sehenswürdigkeiten. So zum Beispiel »My Zeil«, der gigantische Glaspalast des Architekten Massimiliano Fuksas mit 100 Geschäften auf einer Verkaufsfläche von 47 000 Quadratmetern, der den wunderbaren Superlativ für sich beanspruchen kann, über die längste Rolltreppe Deutschlands zu verfügen. Auf dem Gelände standen einst das Hauptpostamt und der Fernmeldeturm, eines der ersten Hochhäuser Frankfurts. Mit dem alten Redaktionsgebäude der Frankfurter Rundschau und dem Verwaltungsgebäude der Hoechst AG nebenan ergab das ein einzigartiges Ensemble der Nachkriegsarchitektur. Im Hoechst-Gebäude befindet sich jetzt ein Luxushotel, die anderen Gebäude wurden zugunsten des Konsumtempels abgerissen. Im Osten der Stadt steht das Skelett der ehemaligen Großmarkthalle, ein bedeutendes Denkmal der Industriearchitektur der 20er Jahre, erbaut von Martin Elsässer. Vor zehn Jahren noch herrschte hier ein bunter Betrieb, vorne die Lkws, die be- und entluden, hinten ein Güterbahnhof und der Osthafen mit seinen Industriekränen. Das Gelände und die Halle waren zugänglich für jedermann, in den Imbissbuden gesellten sich in den frühen Morgenstunden Nachtschwärmer zu Lkw-Fahrern, Tagelöhnern, Gemüsehändlern und Obdachlosen, die sich hier wärmten. Das Ostend, damals noch geprägt von Resten solcher alten Industriebauten, ein ehemaliger Arbeiterstadtteil, bot lange Zeit günstigen Wohnraum für Migranten, Studenten und Alte. Heute ist er gekennzeichnet von Galerien, edlen Clubs und Restaurants in aufwändig renovierten Brauereien und Fabrikhallen. Direkt am Main ist, wie am ehemaligen Westhafen, ein luxuriöses Wohnviertel mit kastenförmigen bunten Häusern entstanden. Wenn es dunkel ist und die riesigen Fenster hell erleuchtet sind, wirken sie wie große Adventskalender des Luxus-Lifestyles.

Allein die Ankündigung, dass die europäische Zentralbank in die Großmarkthalle ziehen werde, hat eine Aufwertung des Viertels ausgelöst. Die Großmarkthalle, Baudenkmal und Identifikationsgebäude der Frankfurter, wird für sie nicht nur nicht mehr zugänglich, sondern auch kaum mehr zu sehen sein: zwei gigantische Hochhäuser und ein Umbau werden das Gebäude für immer verstecken, obwohl aufgrund des Hochhausrahmenplans eigentlich keine mehr hätten gebaut werden sollen. Hinter der Großmarkthalle am Main, an einem der schönsten Plätze der Stadt mit Blick auf Fluss, Skyline und Elsässers monumentales Werk, stand bis vor kurzem ein selbst organisiertes Café: Bierbänke unter Industriekränen, Holzloren am Ufer. Es musste schließen, es passt nicht mehr ins Gefüge, ein teures Etablissement aus Glas und Stahl soll jetzt für die Banker dort hingebaut werden.

In einem anderen Fall beschloss die Frankfurter Börse, die im Stadtteil Hausen in einem gigantischen Komplex aus acht Gebäuden residierte, den Finanzplatz Frankfurt zu verlassen. Sie zog in die Nachbargemeinde Eschborn, weil dort die Gewerbesteuern niedriger sind. Auch das auf Kosten der Allgemeinheit, die Stadt Frankfurt verliert damit einen wichtigen Steuerzahler. Die Börse will mit dem Umzug jährlich bis zu 100 Millionen Euro Gewerbeabgaben sparen.185

Als »My Zeil« im Februar 2009 eröffnete, kamen 120 000 Menschen. Zugegeben, es sieht spektakulär aus: In der Mitte der Fassade erkennt man ein riesiges tunnelartiges Loch, das sich nach innen verjüngt und wie ein Strudel wirkt. Im Einkaufszentrum mit dem besitzanzeigenden Fürwort im Titel befindet sich auch eine von zwei europäischen Filialen des kalifornischen In-Labels Hollister, das zu Abercrombie & Fitch gehört. Es ist der einzige Laden ohne Schaufenster, durch die verdunkelten, teils mit Fensterläden verschlossenen Scheiben kann man nichts erkennen. Vor dem Eingang hängt eine Absperrkette, wie man sie von Clubs kennt, eine lange Warteschlange steht dahinter und wartet, vom Türsteher eingelassen zu werden. Es ist nicht so, dass das Geschäft überfüllt oder gar zu klein wäre; es ist ja der zweitgrößte Laden im Erdgeschoss. Also wohl dem, der sich exklusiv die langweiligen Baumwoll-T-Shirts anschauen oder gar kaufen darf, die auch nicht anders aussehen, als bei H&M. Doch deren Filiale befindet sich im veralteten 90er-Jahre Einkaufszentrum Zeil-Galerie nebenan.

»Die erstaunliche Leistung [der Konsumgesellschaft] beruht auf der Besetzung des Raums, der sich zwischen menschlichen Individuen erstreckt, durch Konsumgütermärkte; jenes Raums, in dem die Fäden gesponnen werden, die Menschen miteinander verbinden, und in dem die Zäune gebaut werden, die sie trennen«, schreibt Zygmunt Baumann in Leben als Konsum. Im Obergeschoss von »My Zeil« verbringen mittellose Jugendliche ihren Nachmittag zwischen den Schaufenstern von Deutschland größtem Saturn (»Geiz ist geil!«) und der Aussicht auf die Zeil, die umsatzstärkste Einkaufsmeile Deutschlands.

Herumlungern, Skateboard fahren, Alkohol trinken und Betteln ist hier nicht mehr erwünscht, so wie in allen großen Städten, deren öffentlicher Raum der ungestörten Konsumstimmung geopfert wird. Viele Fußgängerzonen sind deshalb so genannte Business Improvement Districts, teilprivatisierte Räume, in denen eine saubere Konsumatmosphäre geschaffen werden soll, von der alle ansässigen Geschäfte profitieren. Dazu gehört auch, dass alles, was im Verdacht der Armut steht, verschwinden muss: Billigläden, Resterampen und Eckkneipen. In solchen teilprivatisierten Räumen gibt es etwa ein zentrales Management für die Einkaufsstraße, eigene Putzkolonnen und Wachdienste. Die ansässigen Läden können ihr Hausrecht dann auch vor der Ladentür wahrnehmen und konsumschädliche Subjekte wie Bettler, Punks und Alkoholiker vertreiben lassen. Manchmal ganz offensiv durch Sicherheitskräfte und Polizei. Manchmal eher subtil durch die Architektur: es werden eben keine Sitzgelegenheiten mehr aufgestellt – oder nur noch solche, auf denen man nicht lange sitzen und schon gar nicht liegen kann. Es ist bezeichnend für diese Entwicklung, dass Wilhelm Heitmeyer und seine Kollegen in ihrer Untersuchung Deutsche Zustände von 2011 eine gestiegene Ablehnung von Obdachlosen feststellten: 38 Prozent der Befragten empfanden Obdachlose in den Städten als unangenehm. 35,4 Prozent sprachen sich dafür aus, dass bettelnde Obdachlose aus den Fußgängerzonen entfernt werden sollen

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