»Mögen alle deine Gläubiger stets deine Adresse haben!«
Jüdischer Fluch
8. Mikrokredite: Wahnsinn mit Methode
Eine Reportage aus Bangladesch
Es ist Mittag in Joymonirhat, dem kleinen Dorf in Kurigram inmitten von Reisfeldern und Palmen. Hier beginnt meine Reise mit Badrul Alam, Abdul Mannan Azad und Shipra Rani von der Kleinbauerorganisation Bangladesch Krishok Federation und Kishani Shaba (BKFS). Die Menschen in diesem Dorf leben sehr einfach: Ein Brunnen versorgt sie mit sauberem Wasser, hinter einem Bambusverschlag befindet sich eine Latrine, die Küche besteht aus zwei offenen Feuerstellen auf dem Boden. In den Wellblechhütten steht eine Holzvitrine mit Geschirr, daneben ein riesiges Bett, das gleichzeitig als Sitzecke und Essplatz dient. Im Hof laufen Hühner, eine Entenmama wackelt mit ihren winzigen Küken über den Lehmboden, ein Junge trägt ein Zicklein auf dem Arm. Mädchen in blau-weißer Schuluniform, die Bücher lose in der Hand, rennen kichernd in die Hütten. Im Hof sammeln sich Frauen in ihren bunten Saris und setzen sich auf den Boden. Ein Bild von pittoresker Schönheit, genau wie aus einem Werbeprospekt für Mikrokredite. Tatsächlich sind die gut 20 Frauen, die auf den Hof gekommen sind, allesamt Mikrokreditnehmerinnen.
Die Geschichte der Mikrokredite in Bangladesch beginnt mit einer Legende: Anfang der siebziger Jahre war Muhammad Yunus Professor für ländliche Wirtschaftsentwicklung an der Universität von Chittagong. Zu dieser Zeit, zwischen 1974 und 1975, herrschte in Bangladesch eine große Hungersnot, und Yunus verschrieb, sich der Armutsbekämpfung. Im Dorf Jobra, so berichtet Yunus, sei ihm eine junge Frau begegnet. Sufiya Begum war damals 21 und hatte drei Kinder, sie lebte mit ihrer Familie in einer schäbigen Lehmhütte mit undichtem Strohdach und fertigte von Hand Stühle aus Bambus an. Trotz harter Arbeit war es ihr nicht gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Yunus fand heraus, dass sich Sufiya Begum bei einem örtlichen Geldverleiher das Geld für den Bambus beschaffen musste: fünf Taka kostete das Material für einen Stuhl. Doch die Kreditzinsen waren so hoch, dass sie von dem Verkauf der Stühle nicht leben konnte. »Mein Gott, wegen fünf Taka ist sie zur Sklavin geworden«, habe sich Yunus damals gedacht.452 Mit einer Studentin stellte er daraufhin eine Liste der verschuldeten Familien zusammen – sie kamen auf 42 Opfer, die zusammen umgerechnet 20 Euro Schulden hatten. »Ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Ich legte diese Summe auf den Tisch und sagte ihnen, sie sollten sich mit diesem Geld selbst befreien«, sagt er heute. Peu à peu, wann immer es ihnen möglich war, sollten sie das Geld zurückzahlen. Sufiya konnte sich ein Haus bauen, und nach einem Jahr seien alle Frauen schuldenfrei gewesen. Für ihn sei dies ein »Heureka-Moment« gewesen – er gilt noch heute als die Geburtsstunde der Mikrokredite in Bangladesch.453 1976 begann Yunus damit, erste Strukturen für die formelle Vergabe von Mikrokrediten aufzubauen, 1983 wurde die Grameen Bank gegründet.
Die Idee ist einfach: Das System der Mikrokredite soll Armen Kleinstkredite gewähren; Leuten, die sonst keinen Zugang zu Finanzkapital hätten, weil ihnen – ohne Sicherheiten – keine Bank Geld gäbe. Mit Kleinstkrediten sollen sie ihr Unternehmen erweitern oder eines gründen, sich so einen Lebensunterhalt verschaffen und die Kredite samt Zinsen zurückbezahlen. So soll den privaten Geldeintreibern mit ihren Wucherzinsen das Wasser abgegraben werden. Verliehen wird das Geld fast ausschließlich an Frauen; es soll ihrer Selbstermächtigung dienen. Frauen gelten als besonders zuverlässig. Deshalb, schwärmt Yunus, liege die Rückzahlungsquote bei annähernd 99 Prozent.454
Nirgendwo auf der Welt leben so viele Mikrokreditnehmerinnen wie in Bangladesch: 30 Millionen – ein Fünftel der Bevölkerung – haben im Schnitt je 60 Euro Schulden bei einem Institut. Mehr als zwei Milliarden Euro sind in Bangladesch als Mikrokredite in Umlauf, die Zinsen betragen je nach Institut 20 (Grameen) bis 40 Prozent. So viel deshalb, weil angeblich der Verwaltungsaufwand für derart kleine Beträge besonders hoch ist. Mit acht Millionen Kreditnehmerinnen ist die Grameen Bank der größte Mikrokreditgeber der Welt. Laut Muhammad Yunus hätten 64 Prozent der Frauen, die von seiner Bank fünf Jahre oder länger betreut worden seien, die Armut hinter sich gelassen.455
Sozialer Ausschluss statt Frauenpower
Doch was die Frauen von Joymonirhat mir erzählen, sind leider ganz und gar keine Erfolgsgeschichten. »Früher war unser Leben hart und arm. Aber es war ein besseres Leben als heute. Jetzt ist hier jeder nur noch damit beschäftigt, die Schulden zurückzuzahlen. Sie bestimmen unser ganzes Leben«, sagt Dulali Begum. In ihrer Version der Geschichte kam 1988 die Grameen Bank ins Dorf, lud die Frauen zu einem Meeting auf dem Schulhof ein und machte ihnen die Kleinkredite schmackhaft. Seit mehr als 20 Jahren seien die Frauen von Joymonirhat nun verschuldet, manche sogar bei bis zu fünf verschiedenen Mikrokreditorganisationen. Dulali Begum sagt: »Es ist kein Frieden mehr in unseren Herzen.« Freundschaften seien zerbrochen, in den Familien gebe es ständig Streit. Das Sozialleben aufrechtzuerhalten, werde immer schwerer.
Dulali Begum leitet eine Einheit von Kreditnehmerinnen der Grameen Bank, in der sechs Gruppen à fünf Frauen organisiert sind.
»Wenn eine der fünf Freundinnen einen Kredit aufnehmen möchte, braucht sie dazu die Zustimmung der anderen vier. Obwohl jede Kreditnehmerin selbst für ihr Darlehen verantwortlich ist, funktioniert die Gruppe wie ein kleines soziales Netzwerk, dessen Mitglieder einander aufmuntern, psychologisch unterstützen und gelegentlich in praktischen Fragen unter die Arme greifen«, schreibt Muhammad Yunus in seinem Buch Die Armut besiegen.456
Früher unterstützten sich die Frauen gegenseitig, wenn die Familien in Not gerieten, etwa wenn jemand krank wurde. Ein engmaschiges soziales Netz ist lebenswichtig für die Armen auf dem Land, gerade für Frauen, die kaum mobil sind. Heute ist die gegenseitige »Unterstützung«, wie sie Yunus beschreibt, zur Sippenhaft geworden: Als Kreditnehmerinnen bürgen sie füreinander. Das ist die wesentliche Sicherheit der Kreditgeber: Wer nicht zurückzahlen kann, der ist nicht nur den Pressionen der Bank ausgeliefert, sondern auch dem sozialen Druck der Mitglieder. »Es steht außer Zweifel«, schreibt Yunus weiter, »dass die Ausrichtung der Grameen Bank auf die Gemeinschaft wesentlich zum Erfolg des Systems beigetragen hat. Der (…) positive soziale Druck trägt dazu bei, die Kreditnehmerinnen dazu zu bewegen, ihren Verpflichtungen nachzukommen.«457
Diese »Motivation« sieht dann nicht selten so aus: »Einmal«, sagt Dulali und schaut beschämt zu Boden, »haben mich die Mitarbeiter der Bank dazu gezwungen, einer Frau, die nicht zahlen konnte, die einzige Kuh wegzunehmen.«
Ökonomie der Beschämung
Bereits Mitte der neunziger Jahre untersuchte der bangladeschische Anthropologe Aminur Rahman die Auswirkung der Mikrokredite auf das Leben der Frauen. Im Dorf Pas Elahin sprach er ein Jahr lang mit Kreditnehmerinnen und Bankangestellten. Sein Befund: Das geliehene Geld führt ganz und gar nicht zur Selbstermächtigung. Im Gegenteil nutzten die Mikrofinanzorganisationen die schwache Position der Frauen aus und zementieren diese: Die armen Frauen sind passiver, fügsamer, weniger mobil als Männer. Weil sie sich für das Wohlergehen der Familie verantwortlich fühlen, sind sie außerdem zuverlässiger. Die Bankmitarbeiter wiederum, die bei den Frauen die Kreditraten und Zinsen eintreiben, seien zu 91 Prozent Männer. Das hat einen ganz ordinären Grund: »Frauen können nicht so rigide sein wie Männer, wenn sie das Geld einkassieren«, verriet Rahman einem Filialleiter.458
Mit den Geldeintreibern kommen die Unanständigkeiten privater Geldverleiher, vor denen die Frauen laut Yunus eigentlich geschützt werden sollten: Die Schergen der Banken nehmen den Frauen ihren goldenen Nasenring weg, der die selbe Bedeutung hat wie ein Ehering und den sozialen Status einer Frau markiert. Sie zwingen die Frauen dazu, Hausrat oder gar Land zu verkaufen, nehmen ihnen Kühe oder Ziegen weg, fällen Bäume, decken das Dach ab oder zerlegen ganze Häuser. Sie beschimpfen die Schuldnerinnen vor ihren Männern und dem ganzen Dorf. Sie tun all das entweder selbst oder »überreden« Gruppenleiterinnen, diese Demütigungen zu übernehmen. Oft sitzen mehrere Geldeintreiber stundenlang im Haus der Verschuldeten, manchmal sogar über Nacht, und ziehen auf diese Weise das Ansehen der Familie in den Schmutz. Ich selbst habe in Bangladesch dreizehn Dörfer besucht, und in jedem dieser dreizehn Dörfer mindestens eine dieser Geschichten gehört. In manchen Fällen kamen sogar alle genannten Repressalien zusammen.
Seit den achtziger Jahren kämpft die Organisation Krishok Federation, mit der ich zu den Armen des Landes gefahren bin, gegen Mikrokredite. Badrul Alam, der Leiter der Initiative, erinnert sich, wie sie misstrauisch geworden seien, dass die Mikrokredite verheerende Folgen haben könnten. Nämlich als sie aus glaubwürdiger Quelle hören mussten, dass eine Frau von den Eintreibern so lange verprügelt wurde, bis ihre Beine gebrochen waren.
Die hohen Rückzahlungsquoten werden gerne als besondere Moral der Armen verbrämt – eine ökonomische Version der Theorie des »edlen Wilden«. Tatsächlich aber werden die Zahlungen durch barbarische Methoden erzwungen. Die bangladeschische Anthropologin Lamia Karim, die an der Universität von Orgeon unterrichtet, hat Ende der neunziger Jahre über eineinhalb Jahre mehrere Dörfer im Südwesten Bangladeschs untersucht. »In Bangladesch gibt es eine lange Tradition, Arme – vor allem Frauen – zu beschämen und dies als Instrument der sozialen Kontrolle anzuwenden«, sagt sie.459 Dass die Mikrokreditorganisationen gezielt solche Instrumente einsetzen, bezeichnet sie als »Wirtschaftssystem der Beschämung«.
Enteignung im Namen der Armutsbekämpfung
Nasma, die Schwiegertochter des Dorfoberen von Joymonirhat, Abdul Karim, eine sanfte junge Frau, verteilt Päckchen aus Blättern an die Frauen. Darin sind Späne der Betelnuss und Gewürze gewickelt. Man kaut sie, um Hungergefühle zu unterdrücken. Der Name des Distriktes, in dem Joymonirhat liegt, heißt Kurigam – das bedeutet übersetzt: zwanzig Dörfer. Kurigam befindet sich im Nordosten von Bangladesch an der Grenze zu Indien in einer der ärmsten Regionen dieses ohnehin bettelarmen Landes. Regelmäßig bricht hier eine Hungernot aus, die die Bangladescher mit dem düster klingenden Namen Monga bezeichnen. Meist kommt Monga zwischen September und November; die Menschen in Kurigram nennen diese Zeit auch »mora kartik«460, die »Monate des Todes und Schreckens«. Diese suchen die Menschen dann heim, wenn die alte Ernte bereits verbraucht ist, es aber noch lange hin ist bis zur nächsten. Monga trifft die Ärmsten in den abgeschiedenen ländlichen Gegenden besonders hart: Hier sind die meisten Menschen Selbstversorger, sie haben nicht genug Geld für Nahrungsmittel. Dazu kommt, dass die ohnehin schon raren Jobs rasch vergeben sind. Zwischen September und November fliehen daher viele Menschen in die Städte und versuchen, dort Arbeit zu finden. Die das nicht können, weil sie alt oder krank sind, leiden lebensbedrohlichen Hunger, essen Ungenießbares, werden krank oder sterben.
»Monga ist jetzt noch schlimmer zu ertragen als früher«, stellt Dulali Begum fest. Für die Mikrokreditgeber allerdings sei Monga ein gutes Geschäft. »Wenn die Hungersnot ausbricht, sind auch die meisten Banker und Geldverleiher hier.« Denn dann nehmen die Armen Kredite auf, um sich Essen kaufen zu können, und rutschen noch tiefer in die Schuldenfalle.
In ihrer Not beleihen die Familien ihre Felder; früher oder später sind sie gezwungen, diese zu verkaufen. Dulali, die Reisbäuerin, hat ihr Land bereits verkauft. Jetzt arbeitet sie auf den Feldern anderer Bauern, um Geld für den Kredit zu verdienen. »Ich vermisse meine Erde«, sagt Dulali und weint. »Manchmal«, sagt sie leise, »sitzen wir zusammen und überlegen, wie wir da jemals wieder rauskommen sollen. Aber wir finden keinen Weg. Erlösen kann uns nur der Tod.«
Dem Bangladesch Institute of Developement Studies zufolge leben 40 Prozent der Bevölkerung Bangladeschs in extremer Armut und leiden Hunger, 30 Prozent leben in chronischer Armut. 70 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Bangladeschi, leben unterhalb der Armutsgrenze.461 Für den bangladeschischen Wirtschaftswissenschaftler Anu Muhammad sind diese Zahlen und die jedes Jahr zuverlässig wiederkehrende Hungersnot Monga der Beleg dafür, dass das Programm der Mikrokredite zur Armutsbekämpfung nicht funktioniert. Er und seine Studenten haben seit den neunziger Jahren Untersuchungen in 15 Dörfern in verschiedenen Teilen des Landes gemacht. Ihr erschütterndes Ergebnis: Nur fünf Prozent der Mikrokreditnehmer profitieren von dem Kredit. Und auch die nur deshalb, weil sie bereits eine zuverlässige Einkommensquellen hatten, als sie den Kredit aufnahmen. 50 Prozent konnten ihren Lebensstandard nicht verbessern, allenfalls halten, indem sie zusätzliche Kredite bei anderen Organisationen aufnahmen. Die Lage der restlichen 45 Prozent hatte sich sogar erheblich verschlechtert.462 Die meisten kritischen Studien, sagt Anu Muhammad, kämen zu vergleichbaren Ergebnissen: Nur fünf bis zehn Prozent – und das seien gerade nicht die Ärmsten der Armen – profitieren wirklich von den Mikrokrediten. Selbst eine Studie der Weltbank und des Bangladesch Institute of Developement Studies gelangte 1997 zu dem Ergebnis, dass sich nur fünf Prozent der Kreditnehmerinnen aus der Armut befreien konnten – das ist gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung. »Es wird vorausgesetzt, dass alle Bedingungen, also Natur, Gesundheit, die Familiensituation, die Geschäftsgrundlage, konstant günstig bleiben«, sagt Muhammad.463 Leider ausgesprochen unwahrscheinlich in einem Land wie Bangladesch, in dem die Menschen jeden Tag Hunger, Krankheit und der Gefahr von Naturkatastrophen ausgesetzt sind, die Löhne nicht existenzsichernd sind und die Lebensmittelpreise sich über Nacht verdoppeln können.
Jobra und »Hillary Village«: die Märchendörfer
Tom Heinemann, ein dänischer Dokumentarfilmer, hat für seinen kritischen Film The Micro Debt464 zwei Dörfer besucht, die in der Grameen-Legende eine besondere Rolle spielen: Jobra, der Ort, an dem Muhammad Yunus den ersten Kredit aus eigener Tasche vergab, und Maishahati, das seit einem gemeinsamen Besuch von Hillary Clinton und Muhammad Yunus offiziell Hillary Village heißt. Der Film sorgte 2010 weltweit für Aufsehen, weil er schlüssig darlegte, dass die Grameen Bank Entwicklungshilfegeld der norwegischen Regierung auf sehr usmtrittene Weise einsetzt. In Jobra machte sich Heinemann auf die Suche nach der legendären Sufiya Begum, der Yunus 1976 begegnet sein will. Der dänische Dokumentarfilmer traf ihre Tochter, und sie erzählte, dass ihre Mutter 1998 in tiefer Armut gestorben sei. Ein Dorfbewohner berichtet im Film außerdem, dass das Haus, das sich die Frau angeblich leisten konnte, tatsächlich gar nicht Sufiyas’ gewesen sei. Er zeigt auf ein rosa getünchtes, doppelstöckiges Haus mit Säulen davor, im Vergleich zu den Wellblechhütten schon fast ein Palast, und sagt in die Kamera: »Die Grameen Bank hat immer dieses Haus gezeigt. Aber das gehört einem Nachbarn.« Mit so einem Schwindel, sagt der Mann im Film, habe die Bank Millionen verdient.
Hillary Clinton besuchte 1995 Maishahati und ließ sich die schönen Geschichten vom wirtschaftlichen Erfolg erzählen. Unter anderem dass viele neue Häuser gebaut worden seien – das gehört zur Selbstverpflichtung der Kreditnehmerinnen der Grameen Bank.465 Heinemann – und nicht nur er466 – fand bei seinem Besuch allerdings vor allem Familien, die durch die Kredite noch tiefer in die Armut gerutscht waren. Ein Mann aus dem Dorf behauptet im Film sogar, dass der medienwirksame Besuch von Hillary Clinton reine Inszenierung gewesen sei: Man habe Frauen aus anderen Dörfern herbeigekarrt – Jubel-Bangladeschi sozusagen.
Anu Muhammad erklärt die Entstehung der Grameen-Mythen so: »Sie führen den Leuten die Dorfbewohner in dem Moment vor, in dem sie von dem geliehenen Geld ihr Haus bezahlt haben. Klar sieht das dann nach Erfolg aus. Aber kämen sie nur ein oder zwei Jahre später wieder, würden sie die wirklichen Folgen sehen: Dann sind die Häuser nämlich verkauft.«467
NGOs als Handlanger des Kapitals
Wir fahren zum nächsten Schuldendorf. Unser Weg nach Ghogadaho führt vorbei an sattgrünen Reisfeldern, auf denen Wasserbüffel Pflüge ziehen. In jedem Dorf fallen mir mehrere Hütten auf, an denen die Namen von Mikrofinanzorganisationen stehen. Längst ist es nicht nur Muhammad Yunus’ Grameen Bank, die Kleinkredite vergibt. Die beiden anderen großen Institute sind das Bangladesch Rural Advancement Comittee, kurz BRAC, und die Association for Social Advancement, ASA. Darüber hinaus gibt es zahlreiche NGOs, die Geld verleihen. Die Zahl der NGOs in Bangladesch hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren versechsfacht. Gab es 1990 noch 382 NGOs, zählte man 2007 bereits 2 156,469 heute sind es über 3 000. Seit den siebziger Jahren sind Nichtregierungsorganisationen in Bangladesch tätig. Wie die Krishok Federation und Nijera Kori beschäftigten auch sie sich lange Zeit mit Mobilisierung, Bewusstseinsbildung, Gesundheitsprogrammen, mit dem Kampf gegen Ungleichheit, Ausbeutung, Großgrundbesitzer und Machtstrukturen auf den Dörfern, sie kämpften für Frauenermächtigung und für die Rechte von Landlosen. Doch in den neunziger Jahren wandelte sich das solidarischen Kerngeschäft: Die NGOs stiegen ins Mikrokreditgeschäft ein. Zunächst, weil sie auf diese Weise unabhängig von Spenden wirtschaftlich nachhaltig arbeiten konnten. Ihr Fokus liegt auf der eigenen finanziellen Unabhängigkeit, nicht auf der ihrer Zielgruppe. Und nicht wenige solcher MFI-NGOs haben sich zum Selbstzwecke gegründet – einige sind damit reich geworden.
Die Wandlung der NGOs zu Geldverleihern ist eine Folge der so genannten »Strukturanpassung« für Entwicklungsländer. Es ist das, was man gemeinhin unter Globalisierung versteht. »Wirtschaftswachstum« lautete bereits in den siebziger Jahre die Devise der Entwicklungshilfe. Die Geberländer förderten in Entwicklungsländern etwa Großprojekte wie Staudämme oder Kraftwerke, an denen vor allem die Konzerne aus dem Westen verdienten. Das investierte Geld floss auf diesem Weg zurück in die Länder, aus denen es gekommen war, während die Länder der Dritten Welt auf den Rechnungen sitzenblieben. Als sie die Schulden nicht zurückzahlen konnten, kam es in den achtziger Jahren zur Schuldenkrise. Doch anstatt Schulden zu erlassen, um überhaupt die Voraussetzung für Armutsbekämpfung und den Aufbau einer Infrastruktur zu schaffen, die für alle, auch die Ärmsten, zugänglich gewesen wäre, legten Weltbank und Internationaler Währungsfonds sogenannte Strukturanpassungsprogramme auf. Diese knüpften die Vergabe weiterer Kredite an die Privatisierung öffentlicher Strukturen wie etwa der Energie- und Wasserversorgung und des Bildungs- sowie Gesundheitswesens. Auch wurden die Entwicklungsländer gezwungen, Importbeschränkungen aufzuheben und die Märkte zu deregulieren.469 Auf Druck der westlichen Welt hob man außerdem fast alle Zinsobergrenzen der armen Länder auf. Die als »Armutsbekämpfungs- und Wachstumsprogramme« verbrämten Maßnahmen haben die sogenannte Dritte Welt in der Folge in eine noch größere Abhängigkeit vom Westen und die Armen in eine noch aussichtslosere Lage versetzt: Sie müssen nun für jede Dienstleistung bezahlen. Sie leiden darunter, dass der Staat ihnen keine überlebensnotwendige Infrastruktur wie etwa medizinische Betreuung und Wasserversorgung kostenlos zur Verfügung stellen kann. Doch der reiche Westen hat nicht das geringste Interesse daran: Als die Vereinten Nationen im Juli 2010 mit einer Resolution den Anspruch auf sauberes Wasser zum Menschenrecht erklärte, stimmten die USA – Hauptsitz von 500 multinationalen Konzernen – und 40 weitere reiche Länder dagegen, während die Staaten der Dritten Welt durchgängig dafür stimmten.470
Auch Bangladesch ist hoch verschuldet. Die Staatsverschuldung beträgt 35 Milliarden US-Dollar, das sind fast 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Gesunken sind dagegen die Mittel klassischer Entwicklungshilfe: Zwischen 1996 und 2005 von 230 auf nur noch 1,39 Milliarden Dollar. Davon werden 80 Prozent als verzinste Kredite vergeben. Natürlich ist die klassische Entwicklungshilfe durchaus zu kritisieren. Korrupte Regierungen, grassierende Privatisierung, immense Staatsschulden, Steuerflucht, Hungerlöhne – alles, was dem reichen Westen dient, kommt in Konflikt mit Hilfe, wie sie nötig wäre. Aber ist die Privatverschuldung, wie sie Mikrokredite verursachen, eine ernsthafte Alternative?
Der Wandel von den Nicht-Regierungsorganisationen zu Mikrofinanzinstituten (MFI) – Anu Muhammad bezeichnet solche MFI-NGOs auch als »Corporate NGOs« – fiel genau in die Zeit der Strukturanpassungsprogramme, gefördert von der Weltbank. Diese gründete 1995 die sogenannte Consultative Group to assist the Poor (CGAP), also eine Beratungsgruppe für die Unterstützung der Armen. Sie wollte 200 Millionen US-Dollar für die Vergabe von Mikrokrediten auf den Weg bringen. 1996 gab sie folgende Strategie aus, um NGOs in den kommerziellen Finanzmarkt zu integrieren: »a) ein passendes Rahmenwerk für Finanzoperationen des NGO-Sektors entwickeln, b) große NGOs dabei unterstützen, sich als Banken zu etablieren, c) einen Großhandel von Krediten bei etablierten NGOs unterstützen, und d) kleinere NGOs als Zwischenhändler einsetzen, um Kredit-Selbsthilfe-Gruppen zu mobilisieren.«471
Das zeigt, dass das Mikrokreditwesen nicht etwa deshalb so schnell gewachsen ist, weil es sich als probates Mittel zur Armutsbekämpfung erwiesen hatte, sondern weil die mächtige Weltbank die Verbreitung der Mikrokredite durchsetzte.
Privatschulden als Entwicklungshilfe
1997 wurde das erste Mikrokredit-Gipfeltreffen in Washington abgehalten. Auf der Konferenz kündigten unter anderem die Weltbank, die amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID, die Inter American Developement Bank, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP und die Citibank an, einen Mikrokreditfonds aufzulegen. EU und USA sind zentrale Förderer der Mikrofinanz geworden. Die deutsche Bundesregierung fördert Mikrokreditprogramme bereits seit den achtziger Jahren: mit 37 Millionen Euro unterstützte sie bis 1998 die Grameen Bank. Bis heute hat die Bundesregierung ein Drittel der Entwicklungshilfe, 2,7 Milliarden Euro, in Mikrofinanzsysteme in 63 Ländern gesteckt. Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau gilt als weltweit größter öffentlicher Investor in Mikrofinanzen.472 Ingesamt sind weltweit rund 60 Milliarden Dollar als Mikrokredite in Umlauf, die von geschätzten 70 000 Mikrokreditorganisationen verteilt werden.473
Seinen ersten öffentlichen Aufritt als deutscher Entwicklungshilfeminister absolvierte Dirk Niebel passenderweise gemeinsam mit Bangladeschs Ein-Mann-FDP Muhammad Yunus. In seiner Rede kündigte Niebel an, stark auf Mikrofinanzierung zu setzen. Er halte diese für eine der kostengünstigsten und zugleich effizientesten Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit und der Armutsbekämpfung. Dass auch arme Menschen Zugang zu Krediten erhalten, sei eine wichtige Voraussetzung für diese Bevölkerungsschichten, um sich aus eigener Kraft Wohlstand zu erarbeiten und frei leben zu können.474 Zusammen mit Sozialmaskottchen Yunus lächelte Niebel ins Blitzlichtgewitter und sagte: »Mikrokredite sind also ein urliberales Instrument der Hilfe zur Selbsthilfe.«
Wie immer, wenn Politiker Eigenverantwortung anmahnen, geht es in Wirklichkeit darum, alle Risiken auf den Einzelnen abzuwälzen. Mikrokredite sind kein Akt der Menschlichkeit und Fürsorge. Sie sind auch kein Alternativprogramm zur klassischen Entwicklungshilfe: Stattdessen wurde die hohe Staatsverschuldung der armen Länder auch noch auf das Individuum ausgeweitet. Denn während die Geber kein Risiko eingehen, weil die Rückzahlungsquote und die Zinsen – im weltweiten Durchschnitt 38 Prozent! – so hoch sind, haften die bitterarmen Männer und Frauen dafür mit ihren Existenzgrundlagen. Diejenigen, die unter der Staatsverschuldung der Entwicklungsländer also am meisten leiden, haben nunmehr durch Privatschulden eine noch größere Bürde zu tragen. In Heinemanns Film stellt der US-amerikanische Entwicklungsexperte und Mikrokreditkritiker Thomas Dichter eine ganz einfache Frage: »Niemand von uns möchte Schulden haben. Warum also denken wir, ausgerechnet Arme hätten lieber Schulden als wir?«
Die Entwicklungsorganisation Kindernothilfe vergibt selbst an Kinder Mikrokredite, damit die sich ein Geschäft aufbauen können.475 Nun ist es gewiss so, dass der westliche Blick auf Kinderarbeit sentimental ist. Aber indem man Kinder einfach von den Feldern und aus den Fabriken holt –, das belegen viele Studien –, bereitet man der Kinderarbeit noch lange kein Ende, sondern verschlimmert oft sogar die Situation der Familien. Kinder müssen deshalb arbeiten, weil die Eltern arm sind. Es ist ein strukturelles Problem. Kindern Kredite zu geben, um sie zu kleinen Unternehmern zu machen: Dieser Pragmatismus blendet die Strukturen nicht nur aus, er ist eine Bankrotterklärung. Sie bedeutet, dass sich die westliche Welt mit Armut längst abgefunden hat.
Hunger und Kinderarbeit durch Mikrokredite
Es ist später Nachmittag, als wir in Ghogadaho ankommen. Die tief stehende Sonne spinnt das Stroh der Hütten zu Gold, ein Vogel zwitschert ungehalten in der Krone einer Palme. Auch hier haben sich die Frauen auf dem Dorfplatz versammelt. Sie sind abgemagert, ihre Saris schmutzig und zerschlissen. Auch Ghogadaho gehört zu den Regionen, die von Monga betroffen sind. Schlimmer noch: Das Dorf liegt unweit des Flusses Teesta, der durchs indische Westbengalen fließt und in Bangladesch in den Brahmaputra mündet. Der Fluss führt nur wenig Wasser. 1995 wurde deshalb mit Unterstützung der Weltbank in Indien, 18 Kilometer von der Grenze zu Bangladesch entfernt, der gigantische Farakka-Staudamm errichtet. Zur Trockenzeit, wenn das Wasser niedrig steht, wird der Fluss gestaut und das Wasser Richtung Kalkutta geleitet. Dann aber fehlt dieses Wasser den Armen in Bangladesch, die damit ihre Reisfelder bewässern. Es folgen Dürren, die Böden versalzen, die Fischbestände schwinden, der Fluss ist nicht mehr mit Booten befahrbar. Wenn der Monsunregen den Fluss aber anschwellen lässt, öffnet Indien den Staudamm. Dieses künstliche Hochwasser trifft die Menschen in Bangladesch meist zur Erntezeit. Dann werden Häuser und Ernten zerstört, die Menschen fliehen in höher gelegene Regionen und leben dort unter freiem Himmel. Die Flut sorgt außerdem für Erosionen: eine solche machte im Juli 2011 300 Menschen der Gegend obdachlos.476
Für die Frauen von Ghogadaho ist Muhammad Yunus, der Friedensnobelpreisträger, alles andere als ein Heilsbringer. »Er hat den Frieden hier für immer zerstört«, sagt Shahida Begum. Wenn man einmal in die Runde fragt, wie die Frauen das finden, dass Yunus von seinem Posten als Bankdirektor entfernt wurde, jubeln und klatschen sie.
Shahida Begum sagt, sie habe vor 15 Jahren einen Kredit bei der Grameen Bank aufgenommen. Als sie alles bis auf 500 Taka – fünf Euro – zurückbezahlt habe, habe der Grameen-Mitarbeiter gesagt: »Lass nur, das verrechnen wir mit dem Gesparten.« Mit einem Kredit nämlich verpflichten sich die Frauen nicht nur, jede Woche eine Rate plus Zinsen zu zahlen, sondern auch einen kleinen Betrag zu sparen. Offiziell heißt es, die Frauen hätten zu dieser Spareinlage jederzeit Zugang. Doch meist gelten diese den Mikrofinanzinstituten als Sicherheit. Ab einem Betrag von 8 000 Taka müssen die Frauen außerdem in den Grameen-Pensionsfonds zahlen. Der wird über zehn Jahr angelegt und verzinst. Rechnet man also alle Kosten zusammen, müssen die Schuldner viel mehr für den Kredit bezahlen als nur die Zinsen. Anu Muhammad schätzt die effektiven Kosten auf 30,5 Prozent bei der Grameen Bank und knapp 45 Prozent bei ASA und BRAC.
Nach 15 Jahren sei aber ein anderer Mitarbeiter der Grameen Bank gekommen, er habe 6 000 Taka von Shahida verlangt. Sie konnte nicht beweisen, dass sie schuldenfrei war, hatte keine Belege. Der Mann habe sie beschimpft und als Lügnerin bezeichnet. »Fast jeden Tag kamen die Männer in mein Haus, sie blieben bis in die Nacht. Sie drohten, mein Haus abzureißen.«
»Die Kunden müssen nicht zur Bank kommen, die Bank kommt zum Kunden.« Ein klassischer Yunus-Satz, der nur den begeistern kann, der keine Ahnung hat, welch brutale Wahrheit sich hinter diesen Worten verbergen kann. Shahida sagt, sie hätte schließlich eingewilligt, die 6 000 Taka als neuen Kredit zu nehmen; drei Jahre habe sie jetzt Zeit, ihn zurückzuzahlen. »Ich fühle mich betrogen«, sagt Shahida.
»Wir sind noch ärmer als zuvor«, klagt eine andere Frau, Roshida. Sie hat bei der MFI-NGO TMSS einen Kredit über 8 000 Taka aufgenommen, wollte auf dem Markt Reis verkaufen. Doch weil dort dutzende Bauern und Händler mit ihren Reissäcken sitzen und sich gegenseitig unterbieten, konnte Roshida den Reis nur unter Preis verkaufen. Es ist einer der grundsätzlichen Denkfehler des Modells, Arme zu Unternehmern zu machen: Die Möglichkeiten unternehmerischer Aktivitäten, zumal auf dem Land, sind mehr als begrenzt. Hier kann man keinen »Senfsalon« eröffnen. Allenfalls einen Kiosk, eine Teestube, einen kleinen Handwerksbetrieb oder einen winzigen Marktstand. Doch der Bedarf ist nicht sehr groß: Wie viele Teestuben braucht wohl ein Dorf? Und woher sollen all die Kunden kommen, wenn die Menschen arm sind?
Unternehmertum heißt auch, sämtliche Risiken allein tragen zu müssen. Selbst in reichen Ländern scheitern daran viele. In Tom Heinemanns Film sagt der Entwicklungsexperte Thomas Dichter: »Die wenigsten von uns können und wollen Unternehmer sein. Warum glauben wir, dass das ausgerechnet die Ärmsten können sollen?«
Weil sie nicht jede Woche Arbeit finde, sagt Roshida, hungere sie, um die Raten zahlen zu können. »Aber auch das reicht nicht aus, alles ist schlimmer als vorher«, Roshida schreit, dass sich ihre Stimme überschlägt. »Wir haben keine Zeit mehr für unsere Kinder, wir schlagen sie sogar, das haben wir früher nie getan.« Zur Schule gingen die Kinder längst nicht mehr, sie müssten jetzt auf den Feldern arbeiten, »erst muss der Magen gefüllt werden, dann der Kopf.«
Anu Muhammad hat in seinen Studien bestätigt: »Die Kinderarbeit nimmt zu. Mikrokredite erhöhen den Druck, in einer begrenzten Zeit eine bestimmte Summe Geld zu verdienen. Dieses Zeitlimit wird zum bestimmenden Faktor, um überhaupt am Markt teilnehmen zu können. (…) Dann müssen auch die Kinder ran.«477 Die Kinder, sagt Roshida, bekommen aber nur die Hälfte des Lohns. Manche Familien steckten wegen der Kredite so aussichtslos tief im Elend, dass sie ihre Kinder in die Restaurants der nächstgelegenen Stadt schickten. Dort arbeiten sie in der Küche; dafür bekommen sie kein Geld, aber Essen, und können auf den harten Tischen schlafen. Es sind wohl solche Kinder, die uns noch am gleichen Abend in unserem schäbigen Hotel in Kurigram, der gleichnamigen Hauptstadt des Distrikts, begegnen werden. Sie tragen Wasserkrüge und Bettwäsche durch die Flure und schleppen Gepäck, das fast größer ist als sie selbst. Sie sind klein, vielleicht sechs, höchstens acht Jahre alt, ihr Blick ist ernst. Sie lachen nicht. Und wirken völlig verloren.
In ihrem Furor schiebt Roshida eine weitere Frau nach vorne. Sie wirkt blutjung; 20 Jahre sei sie alt, sagen die Frauen, sie selbst kennt ihr Alter nicht, sie könnte auch jünger sein. Shomusta hat zwei Töchter, sie ist verheiratet, doch ihr Mann hat sich aus dem Staub gemacht. Für ihn hatte sie bei der NGO TMSS einen Kredit über 10 000 Taka aufgenommen. Er kaufte sich dafür einen Rikscha-Van und wollte damit Transporte anbieten. Doch kaum einer hier konnte diese Dienstleistung bezahlen, also verkaufte er das Gefährt wieder – weit unter Preis. So geht das nicht selten, denn offiziell bekommen zwar nur Frauen die Kredite. Doch ausgegeben wird das Geld meist von Männern. Dass die Männer den Kredit verbrauchen, belegen zahlreiche Studien, unter anderem die bereits zitieren Feldforschungen von Aminur Rahman und Lamia Karim. Karim hat dies in 95 Prozent der von ihr untersuchten Fälle festgestellt. Auch Anu Muhammad sagt: Nur zehn Prozent der Frauen haben Kontrolle über ihren Kredit.478 Das weiß die Grameen Bank ganz genau: Sie erlaubt Darlehen für die Ehemänner – und zwar ausschließlich über die Ehefrauen. So kann die Bank den Mythos der »Frauenermächtigung« aufrechterhalten.
Eines Morgens, erzählt uns aber jetzt Shomusta, war ihr Mann weg, abgehauen nach Dhaka. Später kam ihr zu Ohren, er habe dort wieder geheiratet. Die junge Frau zeigt auf eine baufällige Hütte; sie wohnt jetzt bei ihrem Bruder, der genauso arm ist wie sie selbst. Jetzt bedrängen auch ihn die Geldeintreiber. So viel Shomusta auch auf dem Feld arbeitet, sie wird die Schulden nicht los. Die Wut der Frauen ist spürbar, und als wir gehen, schreit Shahida selbst Badrul an: »Was kommt ihr hierher, was wollt ihr hier? Ihr gebt uns auch kein Geld!« Badrul ist ehrlich erschrocken. Er sagt: »Ich bin dein Bruder! Ich kann dir kein Geld geben, ich kann nur für dich kämpfen!«
Wie dominant die Männer im System der Mikrokredite sind, erleben wir tags darauf in dem Dorf Rajbari. Dort haben sich nur Männer versammelt, die Frauen stehen schüchtern in einiger Entfernung oder arbeiten auf dem Feld. Selbst Badrul gelingt es erst nach einer Weile, die Männer zu überreden, auch die Frauen zu Wort kommen zu lassen. »Da kannst du mal sehen«, raunt Badrul, »Frauenpower, dass ich nicht lache!« Dabei sind auch die Geschichten, die die Männer erzählen, nicht ohne. Shabeb Ali kommt abgehetzt auf den Dorfplatz, er hält uns einen abgegriffenen rosa Zettel unter die Nase. Er redet schnell und aufgebracht, seine Verzweiflung ist nicht zu übersehen. BRAC hat ihn vor Gericht bestellt, so viel weiß er, doch er kann den Zettel nicht lesen, er ist Analphabet. Die Bank wolle 5 500 Taka von ihm haben, dabei hätten er und seine Frau doch alles längst zurückbezahlt. Aber er hat keine Belege darüber, und prompt seien die Geldeintreiber ein Jahr später wieder vor der Tür gestanden. Sie hätten ihm sein Landbesitzzertifikat weggenommen. Manche Männer und Frauen, sagt er, würden hier für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt, wenn sie nicht zahlten. Die Banken und NGOs arbeiteten mit der Polizei zusammen. Die Geldeintreiber würden, sagt Shabeb Ali, bei den Polizisten Erkundigungen über die Leute einziehen, um sie unter Druck setzen zu können.
Schließlich traut sich Rekha, eine junge Frau vor, sie ist vielleicht Mitte zwanzig. Sie hat zwei Kredite, 12 000 Taka bei der Grameen Bank, 7 000 bei ASA. Als ihr Vater in Rangpur im Sterben lag, bat sie die Bankmitarbeiter, den Termin für die wöchentliche Rückzahlung zu verschieben, sie hätte das Geld zahlen können. Doch die weigerten sich. Als sie in Rangpur eintraf, war ihr Vater schon begraben. Sie hatte weder von ihm Abschied nehmen noch den Leichnam sehen können, ja nicht einmal an der Beerdigung konnte sie teilnehmen. Auch das habe ich in fast jedem Dorf gehört: »Selbst wenn du einen Toten im Haus hast, lassen sie dich trotzdem nicht in Ruhe.« Manchmal, erzählt Badrul, wittern die Geldeintreiber gerade dann ihre Chance: Sie verbieten den Familien, den Leichnam zu begraben, bevor sie die Raten bezahlt haben. Weil sie dann das Geld, das für das Begräbnis vorgesehen ist, den Banken und NGOs geben, bleibe ihnen oft nichts anderes übrig, als die Toten in den Fluss zu werfen.
Mit leerem Magen in die Schuldenfalle
Mehr als die Hälfte der Kreditnehmer kann nicht pünktlich zahlen, das hat Qazi Kholiquzzman Ahmed, der Leiter der staatlich finanzierten Kreditanstalt PKFS, in einer Untersuchung 2007 beschrieben. Er gehört zu den Kritikern der Mikrofinanz, obwohl die PKFS selbst Geld für Mikrokredite an kleine MFI-NGOs vergibt. Die 2 500 Befragten hatten 3 500 Kredite laufen. Ein Viertel davon aus zwei unterschiedlichen Quellen, sechs Prozent sogar aus drei Quellen. Fast drei Viertel würden sich zusätzliches Geld bei Verwandten oder gar lokalen Geldverleihern zu exorbitant hohen Zinsen von bis zu 100 Prozent borgen.479 Die Mikrokredite haben die Menschen also nicht aus den Fängen der privaten Kredithaie befreit, im Gegenteil: In ihren Untersuchungen fanden die beiden britischen Wissenschaftler David Hulme und Paul Mosley heraus, dass die Zahl der privaten Geldverleiher in Orten mit hoher Mikrokredit-Dichte sogar gestiegen sei.480 Lila Rashid hat die 2006 gegründete staatliche Aufsichtsbehörde für Mikrokredite in Dhaka mit aufgebaut. Sie sagt: »Während vor ein paar Jahren 40 Prozent bei mehreren Kreditorganisationen verschuldet waren, sind es heute 70 Prozent.« Die Aufsichtsbehörde vergibt Lizenzen an NGOs. 521 Anträgen sei stattgegeben worden, 2 910 wurden abgelehnt.481
M. M. Akash, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Dhaka, sagt, dass die Menschen 20 Prozent mehr verdienen müssten, um die Kredite bedienen zu können. Dabei muss die arme Bevölkerung zwischen 40 und 60 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, sofern sie sich nicht selbst versorgen kann. Doch in vielen Fällen scheitern die Menschen nicht nur mit ihrem Business; sie nehmen Kredite auf, um sich Essen oder medizinische Versorgung zu kaufen. Aminur Rahman wiederum hat festgestellt, dass 29 Prozent der Kredite für solche Zwecke aufgewendet werden. Als Rahman 2001 in das Dorf Pas Elashin zurückkehrte, wo er bereits in den neunziger Jahren geforscht hatte, sah er, dass nur sechs von 120 Frauen Einkommen aus Unternehmen bezogen, die sie selbst gegründet hatten.482 So rigide die Geldgeber die geliehenen Beträge wieder eintreiben, so wenig überprüfen sie offenbar, wofür die Kredite tatsächlich verwendet werden. Ein weiteres Indiz dafür, dass es womöglich gar nicht um Hilfestellung für die Armen geht.
Im kleinen Dorf Boldia im Kurigram District treffen wir eine Frau der sogenannten Vulnerable Group. Diese Menschen sind nicht nur land-, sondern auch obdachlos. Für diese Ultra-Armen gibt es Programme der Regierung, sie haben außerdem eine Lebensmittelkarte. Marjina, eine junge Frau, die zu diesen gehört, trägt ein Mädchen mit verkrüppelten Füßen im Arm. Sie sagt, sie habe bei der Organisation TMSS einen Kredit zur Behandlung ihres Kindes aufgenommen. Laut Badrul dürften diese Menschen gar keine Kredite bekommen. Doch die Mitarbeiter der Mikrofinanzorganisationen sind dazu angehalten, möglichst viel zu verkaufen. Ihr Erfolg wird daran gemessen, wie viele Kredite sie verteilen und wie viele Raten sie eintreiben.
Die hohe Rückzahlungsquote kommt auch deshalb zustande, weil die Kredite umgeschuldet werden: Wer nicht zurückzahlen kann, bekommt einfach einen weiteren Kredit – wie etwa Roshida Begum. Anu Muhammad geht davon aus, dass allenfalls 65 Prozent der Kredite tatsächlich komplett zurückgezahlt werden.483
Blinde Wirtschaftswissenschaft
Das Scheitern der Mikrokredite als Armutsbekämpfung ist evident. Warum also hält sich die Legende, dass Mikrokredite Millionen von Menschen aus der Armut befreit haben? Warum befürworten Ökonomen, Kirchen, NGOs, Globalisierungsgegner und die Deutsche Bank gleichermaßen Mikrokredite? Warum reichen ein paar Fotos von lächelnden Frauen in aufwändig produzierten Bildbänden und eine Handvoll herzerfrischender Anekdoten, diese Legende aufrechtzuerhalten, obwohl es mittlerweile zahlreiche Untersuchungen über die Realität der Mikrokredite gibt? Warum treibt das sentimentale Geschwätz von Muhammad Yunus weltweit den Menschen Tränen der Rührung in die Augen, während sie blind bleiben für das Leid von Millionen Menschen? Weshalb wiederholt fast jeder Artikel die Behauptung, es sei »unbestritten«, dass Mikrokredite Millionen von Menschen aus der Armut befreit hätten, obwohl es keinerlei handfeste Belege dafür gibt?483
Der Journalist Gerhard Klas, der in seinem kritischen Buch Die Mikrofinanzindustrie. Die Große Illusion oder Das Geschäft mit der Armut das Thema ausführlich in Bangladesch und Indien recherchiert hat, analysiert diese Blindheit folgendermaßen: »Wirtschaftswissenschaftler selbst greifen – um die Effektivität der Mikrokredite in der Armutsbekämpfung zu belegen – auf eine sehr eng gefasste Definition von Armut zurück, die in der Fachwelt bestimmend ist. Sie orientiert sich ausschließlich daran, ob Geld vorhanden ist oder nicht. Aber Armut ist ein komplexer Zusammenhang, der sich nicht allein am Geldeinkommen messen lässt. Subsistenzwirtschaft – beispielsweise der Anbau von Feldfrüchten zum Eigenverbrauch – spielt in den Kalkulationen der Mikrofinanz-Ökonomie keine Rolle, sondern nur solche Produkte, die auf dem Markt in bare Münze verwandelt werden.«485 Die zu diesem Thema publizierten Arbeiten fußten fast immer auf ausschließlich finanztheoretischen Konzepten, bei denen der Tauschwert alles sei, der Gebrauchswert hingegen ignoriert werde. Darunter etwa das Standarwerk der Mikrokredit-Apologeten Portfolios of the Poor – How the World’s Poor Live on $ 2 a Day. Darin heißt es: »Wir betrachteten die Haushalte wie Kleinunternehmen, erstellten Bilanzen und Finanzberichte und achteten mit größter Aufmerksamkeit auf das finanzielle Gebaren: auf das Geld, das geliehen und zurückgezahlt, ausgeliehen und einkassiert, gespart und abgehoben wird.« Feldstudien, die sich mit den sozialen Effekten der Mikrokredite beschäftigten, etwa von Anthropologen und Ethnologen, würden von solchen Wirtschaftswissenschaftlern ignoriert oder gar belächelt. Klas nennt einen weiteren Ökonomen, Shahidur Khandker, der im Auftrag der Weltbank Studien durchgeführt habe. Khandker behaupte, dass Mikrokreditnehmerinnen ihre Töchter häufiger in die Schule schickten, dass sich der Gesundheitszustand der Kinder verbessert habe und dass sich die relative Armut in Bangladesch seit Einführung der Mikrokredite um 40 Prozent verringert habe. Die Studie gelte als Grundlage der Mikrokredit-Apologeten. Zwar stellten andere Ökonomen, Jonathan Murdoch und David Roodman, die empirische Beweiskraft dieser Studie in Frage und kritisierten, dass die Untersuchung keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten könnte. Doch ihre Argumente seien von der Fachwelt ignoriert worden.486
Im August 2011 erschien ein Report der britischen Wissenschaftler um Maren Duvendack und Richard Palmer Jones, u. a. Ihre Untersuchung mit dem Titel »What is the evidence of the impact of microfinance on the well being of poor people?487 wurde unter anderem von der britischen Regierung finanziert. Die Wissenschaftler haben Daten aus Indien und Bangladesch analysiert und fast sämtliche Studien zum Erfolg der Mikrokredite untersucht. Ihr Ergebnis ist eindeutig: Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass Mikrokredite den Armen in irgendeiner Weise nützen. Die positiven Studien seien unzuverlässig, weil sie auf zu weichen Untersuchungsmethoden und unzureichendem Datenmaterial gründeten. Der Mythos vom Erfolg der Mikrokredite werde allenfalls durch Anekdoten und begeisterte Geschichten aufrechterhalten, die die Mikrokredit-Industrie in Umlauf brächten.488 Auf große Resonanz stieß auch diese fast 200 Seiten starke Untersuchung leider nicht.
Nicht nur, dass solche Berichte fast schon ignoriert werden: Die Grameen Bank behindert Kritiker ganz offensiv. Als Aminur Rahman einen Verlag suchte, um seine Studien zu veröffentlichen, und beim englischsprachigen Verlag University Press Limited anfragte, lehnte dieser die Publikation mit der Begründung ab, ein »prominenter Wirtschaftswissenschaftler« habe sein Veto eingelegt.489 Gerhard Klas hat in Dhaka die Wirtschaftswissenschaftlerin Maha Mirza getroffen. Sie absolvierte 2004 ein Praxissemester in der Zentrale der Grameen Bank. Damals sei sie noch eine glühende Anhängerin von Muhammad Yunus gewesen. Ihre Feldarbeit habe sie im Tangail-Distrikt machen wollen. Dort gibt es die meisten Mikrokreditorganisationen auf einem Fleck. Doch das wurde ihr verwehrt. Im Interview mit Klas sagt sie: »Sie bringen dich nur dorthin, wo sie viele Erfolgsgeschichten vorzuweisen haben und die Gesprächspartner sehr loyal zur Grameen Bank eingestellt sind. Du besuchst ein Haus nach dem anderen, arme Leute, denen es jetzt gut geht. Diese Leute können einen wirklich glauben machen, dass tatsächlich alles funktioniert. Aber wehe, man sucht sich selbst eine Region aus, die man besuchen will, zum Beispiel Tangail. Dort gibt es viele Leute, die alles verloren haben und total verschuldet sind. Das lehnt die Grameen Bank ab, dort bringen sie einen nicht hin.« Ausländische Besucher würden von Grameen-Mitarbeitern begleitet, die dann auch übersetzten. Wenn nur der kleinste negative Eindruck entstehen könnte, übersetzten die Mitarbeiter so, dass alles in einem guten Licht erscheine.490
Der Fall des Superstars
Wie besorgt die Grameen-Bank um ihr Image ist, musste auch Tom Heinemann erfahren. Für seinen Film »The Micro-Debt« hatte er all die Propaganda-Dörfer besucht und eine traurige Realität vorgefunden. Alex Counts, der Leiter der Grameen Foundation in Washington, versuchte daraufhin, die Ausstrahlung von Heinemanns Films im norwegische Fernsehen zu verhindern. Er forderte den Dokumentarfilmer dazu auf, »sämtliche Aspekte des Films zu überprüfen, bevor Sie ihre journalistische Reputation dafür aufs Spiel setzen«.491 Grameen hatte außerdem eine angeblich unabhängige Filmemacherin, Gayle Ferraro, mit einer Art Gegendarstellung beauftragt. Heinemann hatte in seinem Film belegt, dass die erste Kreditnehmerin von Yunus, Sufiya Begum, in bitterer Armut starb und dass das Haus, das sie angeblich von den Krediten gebaut hatte, nicht ihres, sondern das eines Nachbarn war. In ihrem Film wiederum behauptete Ferraro schließlich, dass nicht Suiya Begum diese erste Kreditnehmerin gewesen sei – sondern eine Frau namens Chaba Katun, die noch am Leben sei. Man fragt sich dann aber, weshalb Yunus immer wieder die Geschichte der Sufiya Begum erzählt – wo doch selbst bangladeschische Zeitungen von ihrem Tod in Armut berichtet hatten. Ferraro hatte schon mehrere Jubel-Filme über Mikrokredite gedreht. Als Heinemann den Film sah, erkannte er in der Übersetzerin ausgerechnet Nurjahan Begum – die Hauptgeschäftsführerin der Grameen Bank.492 Und um seine Reputation als Journalist muss sich Heinemann nun wirklich keine Sorgen machen: Für seinen Mikrokredit-Film erhielt er im Dezember 2011 den renommierten Lorenzo Natali-Preis.493
Auch Gerhard Klas sah sich Vorwürfen »einseitiger Berichterstattung« ausgesetzt, als sein kritisches Radio-Feature »Ein Märchen aus Bangladesch. Mikrokredite gegen Armut« im Deutschlandfunk gesendet wurde. Oikokredit, eine kirchliche Genossenschaft, die Mikrokredite vergibt und diese als »ethische Geldanlage« verkauft, Motto: »In Menschen investieren«, stellte eine »Gegendarstellung« auf ihre Homepage.494 Der Bericht sei »einseitig negativ«. Es sei »unangemessen«, dass keine positiven Aspekte erwähnt worden seien. Das mag wohl daran liegen, dass Klas während seiner langen und intensiven Recherche keine gefunden hatte. Das Feature wurde von BR, WDR und NDR wiederholt. Schließlich schaltete sich auch Hans Reitz ein, der deutsche Vertreter von Muhammad Yunus. Er schrieb dem WDR, er wolle »einige Punkte des Beitrags in die richtige Perspektive rücken«, und warf Klas vor, er habe unter anderem die Kredite für Bettler nicht erwähnt, auf die gar keine Zinsen erhoben würden. Die allerdings machen nur einen winzigen Bruchteil des Grameen-Bank-Geschäfts aus. Es ist gewissermaßen ein CSR-Projekt, das die soziale Ausrichtung der Bank belegen soll. Doch 95 Prozent ihrer Geschäfte macht sie mit gewerblichen Mikrokrediten. Reitz habe den WDR sogar dazu aufgefordert, den Beitrag nicht zu wiederholen. Klas’ Fragen, die er im Vorfeld an die Grameen Bank und das Grameen Creative Lab schickte, wurden von ihm hingegen nicht beantwortet.495
Dementi und Schweigen – das sind die Reaktionen auf kritische Nachfrage. Auch Heinemanns Fragen wurden nicht beantwortet. Schließlich versuchte er, dabei kann man ihm im Film zuschauen, Yunus bei einem Kongress in Spanien zu einer Antwort zu bewegen. Doch der ließ ihn von Hans Reitz einfach abweisen.
Trotzdem sorgte Heinemanns Film für Wirbel, legte er doch nahe, dass die Grameen Bank Ende der neunziger Jahre Entwicklungshilfe der norwegischen Regierung veruntreut hatte. 100 Millionen US-Dollar seien in andere Grameen-Unternehmen umgeleitet worden; über Umwege sei das Geld auch an den kommerziellen Telefonanbieter Grameen Phone geflossen. Die Grameen-Bank bezeichnet den Bericht als »frei erfunden«, obwohl Heinemann entsprechende Beweispapiere gezeigt hatte.496
Die Vorwürfe gegen das System der Mikrokredite waren Wasser auf die Mühlen der Premierministerin Sheik Hasina, die die Mikrokredite als »Blutsauger der Armen« bezeichnete. Die regierende liberale Partei Awami League, der auch Hasina angehört, zählt zu den Kritikern von Yunus. Unter anderem, weil er einmal sämtliche Politiker als »korrupt« bezeichnet hatte. Dafür musste er sich wegen Verleumdung vor Gericht verantworten. Durch die Zentralbank Bangladeschs wurde Yunus als Direktor der Grameen Bank abgesetzt. Angeblich aus gesetzlichen Gründen: Demzufolge müssen Bankdirektoren mit 60 in den Ruhestand gehen; Yunus war damals 70 Jahre alt. Er focht die Entscheidung juristisch an, unterlag aber in zwei Instanzen. Die Entscheidung war tatsächlich wohl eher das Ergebnis eines Machtkampfes zwischen Yunus und Hasina. 2007 gründete Yunus eine eigene Partei, die Nagorik Shakti (»Macht der Bürger«), und kandidierte für das Amt des Premierministers, zog seine Kandidatur aber wieder zurück. Unter anderem, weil die Unterstützung der Landbevölkerung längst nicht so groß war, wie er angenommen hatte.497
Im Frühjahr 2011 erhielt Muhammad Yunus internationale Unterstützung: 26 Mitglieder des US-Kongresses, angeführt von dem Demokraten Joseph Crowley, forderten Sheikh Hasina auf, einen Kompromiss zu finden. Die französische Tageszeitung Le Monde veröffentlichte einen Aufruf für Yunus – unterzeichnet von Ex-Premier Michel Rocard und Ex-IWF-Direktor Michael Camdessus. UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson und Ex-Weltbank-Präsident James Wolfensohn führten die Initiative Friends of Grameen an, die von 50 NGOs unterstützt wurde.498 Als Kontaktadresse für diese Unterstützungsbewegung findet man ausgerechnet die PR-Agentur Burson-Marsteller.499 Sie wurde von der Grameen-Bank und ihren Anhängern damit beauftragt, den Ruf von Yunus zu retten. Burson-Marsteller ist spezialisiert auf Krisenkommunikation: sie unterstützte die Öffentlichkeitsarbeit von Union Carbide, der Tochtergesellschaft von Dow Chemical, die das Giftgasunglück im indischen Bhopal verursachten, bei dem 16 000 Menschen starben und 500 000 verletzt wurde. Burson-Marsteller beriet auch die amerikanische Söldnerfirma Blackwater nach dem Mord an irakischen Zivilisten und Regimes wie die argentinische Militärjunta, die saudische Königsfamilie und den rumänischen Diktator Nicolae Ceauçescu.500 Feine Gesellschaft also für Yunus und seine Anhänger.
Das System der »Bank für die Armen«
Doch in den westlichen Medien erschienen Muhammad Yunus und seine »große Idee« fast durchgängig als Opfer einer politischen Verschwörung. »In der Stimme von Muhammad Yunus, 70, liegen Traurigkeit und Anspannung. Er sitzt in seiner Bank in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Lange ist Yunus nicht gereist, der Nobelpreisträger von 2006, der die Wirtschaftswelt und Entwicklungshilfe mit seiner Idee der Mikrokredite revolutionierte. Gerichtsprozesse hielten ihn in seinem Heimatland. Yunus streitet sich mit der Regierung um seine Grameen Bank – der Wirtschaftsprofessor fürchtet, alles zu verlieren, was er aufgebaut hat. Er wurde wegen Verleumdung angeklagt und aus seinen Ämtern gejagt.« Mit diesen sentimentalen Worten beginnt in der Süddeutschen Zeitung ein Interview der Autorin Alina Fichter mit Yunus, etwas weinerlich überschrieben mit »Ich habe Angst«.501 In einem anderen Artikel über die Absetzung Yunus greift Fichter zu ähnlich pathetischen Worten, wie sie der Friedensnobelpreisträger gern benutzt. Nachgerade eine »Feuersbrunst« habe Yunus’ Lebenswerk erfasst: »Es scheint, als sei ein Feuerfunke auf sein Erbe gefallen, dann noch einer; jetzt droht es, in den Flammen unterzugehen. Die Zentralbank ist die vorerst letzte Stimme in einem schrillen, immer lauter werdenden Chor, der ein ehrverletzendes Lied auf Yunus angestimmt hat.«502 In dem Interview verleiht Yunus unter anderem seiner Sorge Ausdruck, die Politiker könnten die Gunst der Kreditnehmer gewinnen, indem sie Zinsen senkten oder Schulden erließen. Das sei zwar mehr als dringend nötig. Doch die Folge davon wäre, so Yunus: »Meine Idee ginge verloren, alles fiele auseinander. Heute gehören 97 Prozent der Anteile den armen Kreditnehmern, für die ich die Bank gründete. Wenn Politiker die Macht an sich reißen, würde die Bank zu einer Regierungsinstitution verkommen, in die Misswirtschaft und Ineffizienz Einzug hielten. Es wäre nicht mehr die Bank, die den Friedensnobelpreis bekam.«
Dass die Bank den Frauen gehört, das stehe nur auf dem Papier. Faktisch habe keine der Mikrokreditnehmerinnen auch nur den geringsten Einfluss. Das meint zumindest Sardar Amin, ehemaliger Topmanager bei Grameen, der in Bangladesch ein Buch über seine Erfahrungen mit der Vorzeigebank veröffentlicht hat. Ihm zufolge haben die Mikrokreditnehmerinnen keine Ahnung, wie undemokratisch die Grameen Bank funktioniere.
»Wenn die Bank den Frauen gehört, wieso arbeiten dann so wenig Frauen in der Bank?«, fragt Muzzamel Huq.503 Huq war einst enger Mitarbeiter von Muhammad Yunus, er hat die Grameen Bank mitbegründet. Im Mai 2011 ist er von der Regierung vorübergehend als Direktor eingesetzt worden. In Dhaka treffe ich ihn in seinem Büro. Er lacht und sagt: »Ich wollte eigentlich nie wieder etwas mit der Grameen Bank zu tun haben.« Er und Muhammad Yunus trennten sich Ende der neunziger Jahre im Streit. Muzzamel Huq legt den Untersuchungsbericht der Regierung zur Grameen Bank auf den Tisch. »Paragraph eins der Registrierung ist die Grundlage für alle Diskussion«, sagt er und schlägt die entsprechende Seite des Berichts auf. »Hier steht es: die Grameen Bank gehört mehrheitlich dem Staat.« Darauf berief sich die Regierung im Rechtsstreit.504
Als 1983 die Grameen Bank gegründet wurde, herrschte in Bangladesch das Militärregime unter General Ershad, das auch das Grameen-Sondergesetz verabschiedete, welches der Bank zahlreiche Privilegien bescherte. Die Grameen Bank firmiert dort nicht als Bank, sondern als eine Art NGO, NGOs aber genießen das Privileg der Steuerbefreiung. Bei der Gründung der Bank hielt der bangladeschische Staat 60 Prozent der Anteile, 40 Prozent die Kreditnehmerinnen. Bis heute wird über die Besitzverhältnisse gestritten: Hasina warf Yunus vor, er benehme sich, als sei die Bank sein Privatbesitz. Yunus und seine Anhänger hingegen sagen, der Staat halte nur noch sechs Prozent Anteile. Die Zahl kommt nicht etwa zustande, weil staatliche Anteile verkauft worden wären, sondern weil sich der Anteil der Kreditnehmerinnen so vermehrt hat. Der Staat habe seine Anteile nicht erhöht, heißt es. Hasina entgegnete, die Regierung habe die Bank immer wieder mit Geld unterstützt.
Huq hatte Yunus bereits vor 15 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass einiges in der Bank schieflaufe. Monatelang habe er um ein Gespräch gebeten, das ihm aber stets verweigert wurde. 1997 schrieb Huq Yunus in einem Brief, dass 40 Prozent der Schuldnerinnen in Verzug mit der Rückzahlung und die Beamten in den Dörfern frustriert und verzweifelt seien. Darüber hinaus warf er Yunus mangelnde Transparenz vor, was die Schwesterkonzerne der Grameen Bank angeht. Laut Huq sitzt Yunus in 20 dieser Unternehmen im Vorstand, 30 davon werden von Managern der Grameen Bank geleitet.505
Offiziell sind die Bank und die Unternehmen strikt voneinander getrennt. Kritiker vermuten aber, dass Gelder der Grameen Bank auch in andere Unternehmen fließen. Wenn das stimmt, würde das bedeuten, dass die Kreditnehmerinnen auch für den Aufbau des Konzernimperiums von Muhammad Yunus schuften.506
Huq beschreibt Yunus als machtbesessenen Einzelgänger, als Sonnenkönig, der alle Entscheidungen allein trifft. »Das merkt man schon daran, dass er mit 71 Jahren immer noch keinen Nachfolger aufgebaut hat.« In Dhaka sagte Huq öffentlich: »Ich denke, er ist ein guter Mann mit einem kleinen Herzen. Er kann niemand anderem Anerkennung zollen als sich selbst.«507
Mikrokredite und Klimawandel
Meine zweite Reise mit der Krishok Federation führt in den Südwesten Bangladeschs. Dort leiden die Menschen ebenfalls bereits jetzt unter dem Klimawandel: Das Wetter ist nicht mehr vorhersehbar, der Sommer kommt früher, die Regenzeit später, Dürren, Überschwemmungen und Flusserosionen sind die Folgen. 2007 erlebte das Land eine der schlimmsten Naturkatastrophen in seiner an Desastern weiß Gott nicht armen Geschichte: wie aus dem Nichts fegte der Zyklon Sidr mit bis zu 250 Stundenkilometern über das Land, schob eine fünf Meter hohe Flutwelle vor sich her, die die Küstengebiete verwüstete. Fast 800 000 Häuser wurden zerstört, dreieinhalbtausend Menschen fanden ebenso den Tod wie eine Viertelmillion Tiere. Noch heute leiden die Menschen unter den Folgen dieser Zerstörungen.
»Jetzt wirst du etwas Neues kennenlernen, wir fahren nämlich mit dem Schiff!«, sagt Badrul. In einem älteren Lonely Planet hatte ich zwar gelesen, dass eine Flussreise zum Schönsten gehört, was man in Bangladesch unternehmen kann, allerdings auch zum Gefährlichsten: Die Schiffe sind oft in einem maroden Zustand, Sicherheitsvorkehrungen: Fehlanzeige. Regelmäßig gehen Schiffe unter, die meist völlig überladen sind. Es ist die kürzeste und günstigste Verbindung zwischen Norden und Süden und die Hauptroute der Landflüchtlinge in die Stadt. Noch dazu treiben auf dem Fluss, der stellenweise so breit ist, dass man kein Ufer sieht, Piraten ihr Unwesen.
Im stinkenden Wasser des Hafen Saddarghat in Dhaka liegt unser Schiff, die beiden Decks sind zum Bersten voll. Wir haben zum Glück noch zwei der wenigen Kabinen reservieren können: das Schiff fährt die ganze Nacht. Bei Sonnenaufgang empfängt uns die schwüle Hitze von Barisal, der Hafenstadt unweit der Küste des Golfs von Bengalen. Der Bauernführer von Barisal, Harun Bhandari, holt uns ab und führt uns stolz in sein Haus. Während wir auf unseren Fahrer warten, der uns in die Dörfer bringt, zeigt der Harun Bhandari Badrul ein dickes, gebundenes Buch voller Artikel über die Krishok Federation, die er sammelt, aber selbst nicht lesen kann. Knapp die Hälfte der Bangladeschi sind Analphabeten, bei den Frauen sind es sogar drei Viertel. Trotzdem sind viele von ihnen politisch aktiv. Im Haus hat der Aktivist eine Ecke mit Bildern von Demonstrationen der Krishok Federation tapeziert, an der blaugrünlichen Wand daneben hängen Fotos von Marx und Che Guevara. Sie verraten, dass die Menschen hier sich etwas ganz anderes wünschen als Schulden und Unternehmertum. Nämlich Solidarität, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Menschen.
Am Nachmittag schließlich sitzen wir im Dorf Betmore-Satkar mit Sobita und anderen Frauen auf der Veranda eines hellblau getünchten Holzhauses. Als sie von einem riesigen Krach aus dem Schlaf gerissen wurden, erzählt Sobita, blickten sie erschrocken in den nachtschwarzen Himmel. Der Zyklon Sidr hatte das Dach der Hütte weggerissen; sie gingen nach draußen, da stand ihnen das Wasser bereits bis zur Hüfte. Panisch schwammen sie durch die Stockfinsternis zu den Hügeln. Am Tag darauf ging das Wasser so schnell zurück, wie es gekommen war, und die Menschen kehrten in ihr Dorf zurück. Aber da war nichts mehr. Ihre Häuser waren komplett zerstört, ihr Besitz weggeschwemmt, die Felder verwüstet; sechs Tote hatte es in ihrem Dorf gegeben, manche fand man erst nach Tagen. »Wir haben drei Tage geweint und acht Tage gehungert, bis endlich Hilfe eintraf«, erinnert sich Sobita, und ihre Nachbarn schauen still zu Boden. Der Albtraum hat ihr Leben von Grund auf verändert, und er ist längst noch nicht zu Ende. Denn nach Reis und Nothilfe von der Regierung kamen abermals die Banken zu den Menschen, sprich: die Geldeintreiber der NGOs und der Grameen Bank zu den Armen in den Trümmern. Als wäre nichts gewesen, forderten sie fällige Raten plus Zinsen. So sei die Nothilfe der Regierung schon verbraucht gewesen, bevor die Menschen ihre Häuser wieder aufbauen konnten. Vor dem Sturm, der hier im Süden die Zeit in ein davor und danach teilte, hatten die meisten hier einen Kleinkredit aufgenommen. Sobita etwa hatte sich 10 000 Taka bei der Grameen Bank geliehen. Sie bat um Stundung, doch die wurde ihr nicht gewährt. Auch die Dorfoberen versuchten, auf NGOs und Banken einzuwirken, damit sie ihnen die Schulden erließen. Sie hofften, dass die Regierung dem Geldeintreiben wenigstens jetzt ein Ende setze. Statt dessen stellte sich Muhammad Yunus vor die Welt und warb für Verständnis dafür, dass man auf keinen Fall auf die Rückzahlung der Kredite verzichten könne: »Die Grameen Bank hat in den 31 Jahren ihre Existenz schon mehrere Naturkatastrophen miterlebt. Aber wenn wir jetzt die Schulden streichen, dann wollen die Leute jedes Mal die Schulden erlassen bekommen, wenn ein Haus gebrannt hat oder sonst etwas passiert ist.«508 Und es passiert eine Menge in Bangladesh. Stattdessen versprach Yunus großzügig, die Kredite drei Monate zu stunden und neue Kredite zu günstigen Konditionen zu vergeben.
Sobita hat dann auch weitere Kredite bei Asa und der Grameen Bank aufgenommen. Sie sagt, sie hätte keine andere Wahl gehabt. Viele Menschen hier seien landlos geworden, entweder, weil die Welle Müll und giftigen Schlamm auf die Felder trug, oder weil sie, um die Schulden bezahlen zu können, ihr Land verkaufen mussten. Manche Familien hätten sich tagelang vor den Geldeintreibern im Wald versteckt, bis sie schließlich nicht mehr konnten. Balu, der Hausherr, sagt: »Es dreht sich hier alles nur noch darum, genug zu essen und Geld für die Kredite zu haben.« Seinen beiden Kindern könne er keine Schule und kein Schulmaterial mehr bezahlen.
Zwischen den Bäumen leuchtet ein grün angemaltes Schild, darauf ist das Zeichen von BRAC und der Europäischen Union zu sehen. Als »Aufbauhilfe« verbrämt habe man den Bauern, die mit ihren Häusern auch das Saatgut verloren hatten, Samen geschenkt, erzählt Balu – aber nicht irgend welche, sondern gentechnisch veränderte, die nur eine Saison lang tragen. Denn im Namen der Armutsbekämpfung drängen auch Saatgutkonzerne wie Syngenta und Cargill in das Land: Mikrokredite werden auch vergeben, um sich Saatgut zu kaufen. »Aber die Ernte war nicht zu gebrauchen, ein totaler Ausfall«, schimpft Balu. Als er sich bei BRAC beschwerte, erntete er nur Ausreden: Der Lieferant sei schuld gewesen. Jetzt aber müsse er das Saatgut jedes Jahr wieder kaufen, dazu Dünger und Herbizide; BRAC, sagt Balu, mache das zur Bedingung für weitere Kredite. Hier zeigt die ökonomische Weltrettung ihre wahres Gesicht: die ganze Brutalität der Globalisierung auf nicht einmal einem Hektar Welt. Man möchte schreien.
Über eine endlose, schlaglochübersäte Lehmpiste fahren wir nach Kalipur, in das Dorf, in dem Shipra geboren ist. Ihr Mutter und ihr Bruder leben noch immer hier. Als sie in Dhaka von den Verwüstungen durch den Zyklon erfahren habe, sei Shipra sofort aufgebrochen. Drei Tage reiste sie mit dem Schiff und dem Bus und legte die letzten Kilometer zu Fuß zurück, ohne zu wissen, ob ihre Familie noch am Leben ist. Als sie endlich das Dorf erreichte, war ihre Mutter Shoibalini Devi derart traumatisiert, dass sie ihre eigene Tochter nicht wiedererkannte. Sie hatte den Sturm und die Überschwemmung nur überlebt, indem sie sich stundenlang an einen Baum geklammert hatte. Shipras Mutter verlor in diesem Sturm alles, jetzt wohnt sie in einer provisorischen Bambushütte. An der Stelle, wo einst das Haus stand, ist jetzt nur noch ein Lehmhügel. Bis heute hätten sie es sich nicht leisten können, ein neues Haus zu bauen.
Unter einem Segel aus Palmblättern gibt es Mittagessen, Enteneier in scharfer Soße. Währenddessen sammeln sich unter dem schattigen Dach die Nachbarn. Auch sie haben damals alles durch Sturm und Schulden verloren. Eine Frau, sie heißt Rubala, erzählt, sie habe einen Kredit bei der Grameen Bank; sie könne nachts nicht mehr schlafen, denn fast jeden Tag stünden Geldeintreiber vor ihrer Tür. Sie hatte gehofft, ihr Sohn fände Arbeit, doch er sei herzkrank geworden, so dass er nicht mehr arbeiten könne. Nun muss sie auf dem Feld schuften, und das Geld, das sie erwirtschaftet, reicht nur für das Allernötigste.
Viele Familien seien nach Dhaka oder nach Chittagong geflohen, letztere ist die zweitgrößte Stadt des Landes, um Arbeit zu finden; manche, vermutet Rubala, hätten dort allenfalls als Bettler eine Chance.
Eine andere Frau, Kolpona Rani, berichtet, sie hätten es vorher ja recht gut gehabt. Auf ihrem Stück Land hätten sie Betelnussbäume angebaut. Doch dann seien erst BRAC, dann ASA und die Grameen Bank gekommen und hätten ihnen Kredite angeboten. Kolpona Rani sagt, sie bereue es bitter, sich darauf eingelassen zu haben. Heute belaufen sich ihre Schulden auf 200 000 Taka, das sind umgerechnet 2 000 Euro, eine astronomische Summe in Bangladesch. Über Nacht ist ihr Mann abgehauen, vier Monate blieb er verschwunden und versteckte sich vor den Geldeintreibern. Nach seiner Rückkehr verkaufte er das letzte Stückchen Grundbesitz, jetzt müssen sie sich als Tagelöhner bei den neuen Besitzern verdingen. Kolpana Rani sagt, sie wollten nach Indien fliehen. Als Hindus hätten sie dort vielleicht eine Chance. Ein gefährlicher, ja todesmutiger Plan: Die Grenze zwischen Indien und Bangladesch ist streng bewacht, ein zwei Meter hoher Zaun, teils unter Strom und mit Stacheldraht bewehrt, trennt die beiden Staatsgebiete voneinander. 50 000 indische Soldaten bewachen den Todesstreifen. Laut der bangladeschischen Menschenrechtsorganisation Odhikar sind von Januar 2000 bis Juni 2011 allein 976 Bangladescher an der Grenze getötet worden. 990 weitere Menschen wurden verletzt, 226 Flüchtlinge wurden festgenommen, 14 Frauen vergewaltigt. 184 Menschen werden bis heute vermisst.509
Abdul Karim Muhamad Siliu erzählt, auch er sei mit seiner Frau nach Chittagong geflohen. Sie stünden bei sechs Kreditorganisationen in der Kreide, darunter Grameen Bank, ASA und BRAC. In der Stadt habe er auf dem Bau geschuftet, bis die Geldeintreiber ihn schließlich aufgespürt hätten. Die Beamten hätten seine Brüder so lange terrorisiert, bis diese sein Versteck preisgaben. Jetzt sei die Familie zerstritten. »Es gibt überall in den Familien Krach«, sagt Abdul und fügt wütend an: »Wir haben denen doch schon so viel Geld gegeben, es ist genug jetzt!« Ein wütendes Murmeln pflichtet ihm bei.
Kurz darauf taucht ein jüngerer Mann auf, der in dieser Gegend befremdlich westlich wirkt, und setzt sich zu uns. Augenblicklich verstummen die Dorfbewohner und schauen zu Boden. Der Mann stellt sich als John vor und möchte gern wissen, was hier vor sich geht. Badrul und Shipra sehen sich fragend an, sie geben dem Fremden nur knapp Antwort. Schließlich verzieht sich John wieder, hasserfüllte Blicke folgen ihm. Wer war das? frage ich. John, so erklärt Shipra, habe einmal anders geheißen. Doch es gebe eine katholische Mission unweit von hier, sagen sie. Die würde die Menschen mit dem Versprechen locken, dass sie ihnen aus der Armut helfen, wenn sie sich taufen ließen. Das habe der Mann, der jetzt John heißt, gemacht. Seither, sagen sie, würde er mit Geld unterstützt. Mit diesem Geld kauft John vielen Bauern, die durch Kredite in Not geraten waren, ihr Land ab. Es ist schwer, diese Geschichte zu überprüfen. Selbst wenn die Dorfbewohner in ihrem unübersehbaren Unmut vielleicht übertrieben haben – schließlich arbeiten sie jetzt für ihn auf den Feldern, die einmal ihnen gehörten – so zeugt sie dennoch davon, wie sehr die Kredite die dörfliche Gemeinschaft zerstören.
Nothilfe als Kreditrate
Zurück in Barisal, begegne ich zum ersten Mal zwei Frauen, die von Mikrokrediten profitiert haben. Wir laufen durch ein Handwerkerviertel der Stadt, Holz liegt in riesigen Haufen hinter den Hütten. Hier werden Möbel von Hand hergestellt. Über eine Brücke kommen wir in ein Hüttenviertel. Kinder springen von der Brücke ins Wasser, sie halten sich an den Schiffen fest und lassen sich lachend mitziehen. In der Hütte, die wir besuchen, stehen ein Fernseher und ein Kühlschrank, die Vitrine ist voll von hübschem Geschirr. Das gehört Niru Begum; sie ist sichtlich stolz. Ihr Mann arbeitet als Konstrukteur auf Baustellen und verdient nicht schlecht. Niru Begum hat Geld von der Grameen Bank geliehen, doch in ihrer Gruppe hätten es bis jetzt nur fünf Frauen geschafft, das Geld zurückzuzahlen. Ich frage sie, woran das liegen könnte. Sie antwortet: »Keine Ahnung, die haben sich eben Zeug davon gekauft und nicht investiert. Die sind selber schuld. Aber solche Leute werden das eben nie schaffen.« Und was würde sie ihnen raten? Niru Begum: »Wenn sie nicht zahlen können, dann müssen sie eben verkaufen.« So hetzt das System der Mikrokredite die Menschen aufeinander. »Selber schuld«, das ist die Rhetorik der Gewinner eines Systems, mit der das Scheitern anderer erklärt wird, statt Ungerechtigkeit zu hinterfragen. Als wir gehen, sagt Nilu stolz: »Bald bau ich ein neues Haus. Das kann eben nicht jeder.« Tatsächlich habe ich niemanden mehr getroffen, dem das gelang.
Sabojbag, ein Slum am Rande von Patuakhali, einer Stadt an den Ufern des Golf von Bengalen. Die notdürftig zusammengebauten Hütten stehen direkt im Mangrovenwald. Hier gibt es keinen Damm, der die Menschen schützen könnte, obwohl sie seit vielen Jahren einen fordern. So sind sie jeder Überschwemmung ausgeliefert; in der Regenzeit ist das Land immer überflutet. Mehr als 100 Menschen starben hier im Zuge der Verwüstungen durch den Zyklon Sidr. Lali Begum sitzt neben ihrer Hütte. Man kann ihr Alter kaum schätzen, ihr Körper ist ausgemergelt, ihre Zähne, ihr ganzer Mund sah blutig rot aus. Das kommt vom Betelnusskauen; die Nuss färbt Schleimhaut und Zähne. Lali muss sehr hungrig sein. Ihr rechter Arm hängt schlaff an ihr herunter, die Hand ist steif und verkrümmt. Als die Flut sie mitriss, hat sie sich die Hand an einem Blechdach aufgerissen, das Metall hat Nerven und Sehnen durchtrennt. Jetzt kann Lali ihre Rechte nicht mehr bewegen, an Arbeit ist kaum zu denken. Bei vier Kreditinstituten hat Lali Schulden, bei der Grameen Bank, bei BRAC, bei den NGOs Shanapur und Udipon. Dabei fing es gut an; vor der Sidr-Katastrophe nahm sie die Kredite auf, baute damit einen Kiosk, der gut lief. Dann kam der Zyklon, und nun ist der Kiosk weg, ebenso die Fischerei ihres Mannes Abdul Malik. Sidr hat die Boote zerstört und die Fische vertrieben, Lali und ihr Mann stehen, wie ihre Nachbarn, seither vor dem Nichts. Und doch kommen die Geldeintreiber Tag für Tag. »Sollen sie uns doch endlich ins Gefängnis stecken!« sagt Abdul Malik voller Verzweiflung. »Dort ginge es uns sicher besser als hier.«
Ein alter Mann, Habibur Rahman, der wie viele Muslime hier sein graues Haar und den Bart mit Henna rot gefärbt hat, sagt aufgebracht: »Als nach Sidr die NGOs zu uns kamen, waren wir erleichtert. Wir dachten, endlich kommt Hilfe! Aber anstatt uns zu helfen, wollten sie nur unser Geld!« Habibur Rahman zeigt auf seine Hütte, einen Holzverschlag, verhängt mit leeren Reissäcken, die kaum vor Wind und Wetter schützen. Auf dem Hügel, auf dem einst die Hütten standen, befinden sich auch vier Jahren nach Sidr solche Notunterkünfte aus Planen, Blechresten und Pappe. Die meisten Leute hier, erklärt er, haben ihre Häuser nicht mehr aufgebaut, weil sie das Geld, das sie dafür von der Regierung erhalten hatten, zum Abbau von Schulden verwendet hätten.
Action Aid bestätigt das. Sie ist eine der wenigen internationalen NGOs in Bangladesch, die konsequent keine Mikrokredite vergeben und sich dagegen aussprechen. Ein Jahr nach der Katastrophe hat Action Aid zwölf Regionen im Süden und Südwesten untersucht, die von Sidr besonders betroffen waren. Dort lebten damals 1,5 Millionen Kreditnehmerinnen mit einem Schuldenberg von umgerechnet insgesamt 116, 8 Millionen Euro bei 42 Mikrokreditorgansiationen. »Sidr-Opfer, die fast alles verloren hatten, wurden von NGOs schikaniert, damit sie ihre Mikrokreditraten zurückzahlen. Der immense Druck brachte manche der Schuldner dazu, das Hilfsmaterial zu verkaufen, das aus unterschiedlichen Quellen stammte. Der Rückzahlungsdruck kam von großen Organisationen wie BRAC, ASA und sogar vom Friedensnobelpreisträger, der Grameen Bank. Selbst von den am schlimmsten Betroffenen wurde erwartet, dass sie wöchentlich zurückzahlen – mit den vereinbarten Zinsen«, heißt es in dem Bericht.510 Darüber hinaus fand Action Aid heraus, dass viele dazu gezwungen waren, die Entschädigungssumme von 5 000 Taka, die die Regierung zum Aufbau der Häuser gewährte, dazu zu verwenden, die Kredite zurückzuzahlen. Viele hätten dafür abermals neue Kredite von den NGOs bekommen, um andere Kredite zu bezahlen. Die Frauen seien systematisch von den Geldeintreibern drangsaliert worden, so dass sie alles, was ihnen noch geblieben war, verkauften, um den Kredit zurückzuzahlen.
Von der Wall Street zur Blechhütte
Vor meiner Reise in den Süden hatte ich Anu Muhammad besucht. Er lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Jahangirnagar Universtät in Savar, eine Stunde nordwestlich von Dhaka, wo auch die Textilfabrik von Muhammad Yunus steht. Der Campus ist traumschön, zwischen Palmen und exotischen Bäumen leuchten pinkfarbene Seerosen auf den vielen kleinen und großen Seen. An manchen Stellen befinden sich Revolutionsdenkmäler. Die Universität wurde 1971 aus roten Backsteinen erbaut, kurz nach dem Befreiungskrieg. Grün und Rot sind die Farben der bangladeschischen Flagge, sie stehen für fruchtbares Land und die aufgehende Sonne, den Neubeginn. Anu Muhammad ist ein freundlicher Mann mit Brille und ein großer Kritiker der neoliberalen Globalisierung, dementsprechend auch von Muhammad Yunus und Mikrokrediten. Dieser Säulenheilige der Wirtschaftswelt sei ein ganz normaler Geschäftsmann. »Was er kann, ist, schön über Armut zu reden. Er hat die Gabe, mit oft unhaltbaren Behauptungen Vertrauen zu gewinnen.«
Anu setzt sich außerdem gegen den offenen Kohleabbau in Phulbari in der »Bewegung gegen den Ausverkauf der Bodenschätze« ein. Durch den Abbau der Kohle, die nicht im Land bleibt, sondern exportiert wird, würden 100 000 Menschen ihre Bleibe verlieren. Bei einer großen Demonstration in Dhaka wurde Anu von Polizisten krankenhausreif geprügelt.511 Einen Monat lang saß er im Rollstuhl, 2008 wurde er sogar mit dem Tod bedroht, sollte er weiter öffentlich auftreten und unterrichten.
Auch Anu hat Erfahrungen mit Zensurversuchen durch die Grameen Bank gemacht. Als er in der bangladeschischen Tageszeitung Meghbarta einen kritischen Artikel über Mikrokredite schrieb, schaltete sich die Grameen Bank ein und forderte eine Diskussion: sie würden eine Gegendarstellung schreiben, darauf dürfe Anu antworten. Doch nach deren Abdruck nötigte die Grameen Bank den Chefredakteur, sich zu entschuldigen, andernfalls verlöre er seinen Job.512 Anu selbst durfte auf den Text der Grameen Bank nicht reagieren. »Das Grameen-Imperium hat großen Einfluss auf die Medien des Landes«, sagt Anu. Wenn man ihn fragt, wieso die Menschen trotz aller Fakten, die gegen Mikrokredite sprechen, von der Idee begeistert seien, dann lacht er und sagt: »Die Menschen leiden an Wunschvorstellungen. Sie wollen es unbedingt glauben. Sie ärgern sich über Kritik, das macht sie unsicher.«
Am meisten, sagt Anu, profitiere das globale Finanzkapital: »Mikrokredite erschienen in der Finanzkrise als Gottesgeschenk, als ein Ausweg für das Kapital.« Seit langer Zeit fällt die Profitrate, das Kapital sucht neue, lukrativere Märkte. Mikrokredite sind ein vielversprechender Markt: Mit geringer Beteiligung, aber sicheren Gewinnen. Denn während in der westlichen Welt Kreditnehmer durch Gesetze geschützt sind, sind die Armen völlig ungeschützt und rechtlos den Geldeintreibern ausgesetzt. Sie haben keine andere Wahl, als zu zahlen. Mikrokredite sind keineswegs nur ein kleiner Nebenschauplatz, »sie sind Teil des Weltkapitals«. Anu nennt drei Hauptziele der Mikrofinanz: »Sie haben dem Finanzmärkten gezeigt, dass die riesige Menge von Armen für das Kapital interessant ist. Regierungen und Instituten wie der Weltbank dienen sie als Beleg einer für sie funktionierenden Alternative zur Entwicklungshilfe. Und drittens haben Mikrokredite die Marktwirtschaft in die entlegensten Orte der Welt gebracht: Die Armen können konsumieren. Kurz: Mikrokredite belegen, dass Kapitalismus auch für die Armen funktioniert.« Obendrauf verleihe es den reichen Armutsbekämpfern einen gewissen Glamour: »Die Mittel- und Oberklassen sind stolz darauf – aber die haben keine Ahnung von der Realität in Entwicklungsländern, sie leben zufrieden in ihrer abgeschlossenen Welt.«
Von der Wall Street führt ein direkter Weg in die Blechhütten der Armen: sie sind es jetzt, die quasi den Finanzmarkt retten sollen. Auch die Deutsche Bank, ABN Amro, Morgan Stanley, Citibank und Credit Suisse sind in das große Geschäft eingestiegen.
Dass der Mikrokredit ein bedeutender Teil des kommerziellen Finanzmarktes ist, wird auch durch die Tatsache belegt, dass es für Mikrofinanzorganisationen Ratingagenturen gibt: die wichtigste ist Microfinance Information Exchange (MIX) in Washington, wo auch die Grameen Foundation sitzt, die viele große MFI unterstützt und damit beauftragt ist, die Idee der Mikrokredite in alle Winkel der Welt zu tragen. MIX wird unter anderem finanziert von der Deutschen Bank und ist vor allem an hohen Gewinnmargen interessiert. Sie bewertet die MFI am Volumen der Kredite und an den Rückzahlungsquoten. In den Rankings schafft es die Grameen Bank regelmäßig unter die ersten zehn. Das ist wichtig, um Investoren zu finden, die Geld für Kredite bereitstellt, deren Zinsgewinne sie selbst und auch die Grameen Bank abschöpfen. Die Frage nach der »sozialen Leistung« wird von den MFI im Fragebogen selbst beantwortet, Folgen wie Mehrfachverschuldung und Verarmung tauchen dort natürlich nicht auf. Für die Ratingagentur MIX gehören MFI, die mehr als 30 Prozent Zinsen erheben und hohe Eigenkapitalrenditen erzielen, zu den profitabelsten Kreditinstituten. 513
In Deutschland können Privatanleger seit 2007 in kommerzielle Mikrokreditfonds investieren. Die Deutsche Bank hat gleich mehrere Fonds auf dem Markt: Zwischen sechs und 9,5 Prozent Rendite verspricht sie Anlegern des »DB Microfinance-Invest Nr.1«. Verkauft wird das als »soziale Geldanlage« – dabei geraten die Ärmsten in die größte Not, damit westliche Anleger Gewinne mit gutem Gewissen einfahren können. Die Deutsche Bank kooperiert auch mit der bangladeschischen Mikrokreditorganisation ASA, die mehr als sieben Millionen Kreditnehmerinnen und jährliche Gewinne zwischen zehn und zwölf Millionen US-Dollar verzeichnet.514 Auch Börsengänge von Mikrokreditorganisationen sind keine Seltenheit mehr. Mit katastrophalen Auswirkungen.
Selbstmorde in Indien und Bangladesch
Die Deutsche Bank, KfW und die Weltbank sind auch in Indien, dem zweitgrößten Mikrokreditland nach Bangladesch, eingestiegen. Der öffentlich bekannte Anteil kommerzieller Investoren im indischen Geschäft mit der Mikrofinanz ist von 6,3 Millionen US-Dollar im Jahr 2006 auf 391 Millionen Dollar 2010 gewachsen, innerhalb weniger Jahre also um mehr als das Fünfzigfache. Im Juli 2010 schließlich ging die Mikrofinanzorganisation SKS unter der Leitung des ehemaligen McKinsey-Beraters Vikram Akula an die Börse. Sie warb mit einer Eigenkapitalrendite von 24 Prozent. So hohe Renditen versprechen sonst nur Investmentbanken. Der Verkauf der SKS-Aktie brachte auf einen Schlag 350 Millionen Dollar, Investoren in aller Welt wie Sequoia Capital und der Milliardär George Soros griffen zu.515 Mit anderen Worten: Milliardäre bedienten sich am Geld der Armen. Unterstützt wurde der Börsengang auch von der Grameen Foundation in Washington: »Wir sind davon überzeugt, dass Börsengänge (…) den Kapitalbedarf von MFIs befriedigen können«, sagte Camilla Nestor, Sprecherin der Stiftung.516
Nur drei Monate nach dem Börsengang geriet der Mikrofinanzmarkt in eine schwere Krise, in deren Folge sich 54 hoch und mehrfach verschuldete Kreditnehmerinnen das Leben nahmen: sie tranken Pestizide, hängten sich auf, verbrannten sich oder ertränkten sich in Brunnen. 17 davon hatten einen Kredit bei SKS. Gerhard Klas, der für sein Buch Die Mikrofinanz-Industrie auch in Indien recherchiert hat, beschreibt, wie Mitarbeiter der MFI das Geld auf fast noch abscheulichere Weise als in Bangladesch von den Frauen eingetrieben haben: sie zwangen sie nicht nur, ihr gesamtes Hab und Gut zu verkaufen, sie »rieten« ihnen auch zu Prostitution und Diebstahl. Den Verzweifelten legten sie sogar den Selbstmord nahe – denn mit dem Tod erlischt auch der Kredit.517
Die ZEIT interviewte im November 2010 Muhammad Yunus zu den Selbstmorden in Indien.518 Er sagte: »Viele missbrauchen die Idee. Sie nehmen sie, um damit möglichst viel Geld zu verdienen. Sie ziehen Investoren an und wollen an die Börse. Das ist verkehrt! Verurteilt das! In Indien geschieht so etwas gerade mit SKS Microfinance. Die sind an die Börse gegangen und wollen Millionen machen. Das hat rein gar nichts mit meiner Idee zu tun.« Tatsächlich hat die Grameen Foundation in Washington auch die SKS unterstützt. Yunus zog gar in Zweifel, dass sich die Frauen wegen der Schulden das Leben genommen hatten: »Können Sie wirklich nachweisen, dass sich die Menschen aus Verzweiflung über Kreditschulden umbringen? Frauen verbrennen sich in Indien seit Langem aus vielerlei Gründen, tragischerweise«, sagte er. Und: »Wenn ein Mikrokredit Menschen in den Tod treibt, dann ist er falsch konzipiert. Dann hat er nichts mit meiner Ursprungsidee zu tun. Die bringt keine Menschen um.«
Da täuscht sich der Herr Professor. Denn auch in Bangladesch nehmen sich manche Menschen deswegen das Leben. Buchautor Gerhard Klas hat in Bangladesch eine Familie besucht, deren Vater sich wegen der hohen Schulden bei der Grameen Bank erhängt hatte.519 Auch ich habe in Bogra eine Familie getroffen, deren Mutter sich mit Gift das Leben genommen hatte. Menuda Begum war 56, als sie starb. Sie hatte einen Kredit bei der MFI-NGO TMSS aufgenommen. Diese Bank ist in Bogra ansässig: deren Geschäftsführerin Hosne-Ara Begum hat es, so heißt es, auf ein beträchtliches Vermögen und eine Menge Landbesitz gebracht. Kritiker wie Kushi Kabir bezeichnen sie als korrupt und geldgierig. Menuda Begum hatte den Kredit unter anderem deshalb aufgenommen, weil ihre beiden Söhne arbeitslos waren. Als sie den Druck nicht mehr aushielt und ihre Söhne entlasten wollte, trank sie das Gift. TMSS hat versucht, den Journalisten daran zu hindern, einen Bericht darüber zu veröffentlichen. Als der Artikel erschien, habe TMSS eine Pressekonferenz einberufen und stellte die Vorwürfe als erfunden dar.
Sklaven für den Arbeitsmarkt
An der Universität Dhaka treffe ich den Wirtschaftswissenschaftler M. M. Akash. »Die Armen brauchen Hilfe, keine Kredite«, meint er und bezeichnet Mikrokredite als neoliberale Strategie, »die das Niedriglohnlevel aufrecht hält und eine riesige Reservearmee von billigen Arbeitern hervorbringt.« Wenn man sich anschaue, wie die Menschen die Rückzahlung leisteten, dann merke man, sie könnten die Kredite nur bedienen, indem sie noch weniger konsumierten und noch mehr arbeiteten. Bangladesch habe, unter anderem durch die schnell wachsende Textilindustrie, eine enorme Wachstumsrate von 40 Prozent. »Dafür braucht man viele Arbeiter. Das ist die ganz alte Geschichte der kapitalistischen Transformation: Alle Industrierevolutionen haben diese Strategie benutzt.« Die Industrie habe es auf die Landbevölkerung abgesehen, vor allem auf Frauen, die seien billiger.
Tatsächlich ist, eine Folge der Mikrokredite, dass die verschuldeten Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Städte ziehen, statt durch Subsistenzwirtschaft ihre Ernährungsunabhängigkeit auf dem Land zu sichern. Das können sie schon deshalb nicht mehr, weil viele dazu gezwungen wurden, ihr Land zu verkaufen. Jetzt müssen sie für alles bezahlen. Menschen, die keine Gelegenheit haben, zu ihrem Eigenbedarf Gemüse und Reis anzupflanzen und Tiere zu halten, sind zwingend, mindestens die Hälfte ihres spärlichen Einkommens für Essen ausgeben. Und das in einem Land, in dem sich die Preise für Lebensmittel über Nacht verdoppeln können. Muhammad Yunus hat wohl nichts dagegen, dass das Wirtschaftswachstum in Bangladesch zu einem »schrittweisen Rückgang der Subsistenzwirtschaft« geführt hat. »Im Jahr 2005 löste die Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft die landwirtschaftliche Beschäftigung als wichtigste Einkommensquelle in den ländlichen Gebieten ab, und fünfzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden mittlerweile im Dienstleistungssektor erwirtschaftet, schreibt er anerkennend.«520
Badrul, Mannan, Shipra und ich haben uns in eine Mofa-Rikscha gequetscht, wir fahren in eines der ungezählten Shanti in Dhaka. Das ist so etwas wie die Reihenhaussiedlung der Slums, eine gemauerte Vorstufe zum absoluten Elend. Die verkommene Siedlung liegt direkt an einem Arm des Buringanga-Flusses. Das schwarze Wasser verbreitet einen unerträglichen Gestank, der einem die Tränen in die Augen treibt: eine Mischung aus Gift, Fäulnis, Verwesung und Scheiße. Tausende Tonnen Müll produziert die Stadt jeden Tag, das meiste davon landet im Fluss. Dazu Tierleichen, Öl vom Hafen, Gift aus Gerbereien, chemische Abfälle aus der Industrie, Abwasser und Krankenhausmüll. An den Ufern spielen Kinder in einem Müllberg, der nach und nach ins Wasser rutscht. Ein paar Kühe sind an Pflöcke gebunden. Sie wühlen dort, wo kein Halm Gras wächst, im Abfall nach Futter, ein paar Meter weiter liegt ein aufgeblähter toter Straßenhund zwischen Plastikplanen. Auf dem Wasser warten Dutzende Fährmänner mit ihren Holzgondeln auf Kundschaft. Es gibt hier keine Brücke zum anderen Ufer, zur Innenstadt, zur Arbeit.
Durch einen düsteren, schmutzigen Betongang kommen wir zu den Wohneinheiten. Das heißt: zu 16 winzigen Zimmern, die von mehr als 120 Menschen bewohnt werden. Sie müssen sich zwei Toiletten und sechs Küchen teilen. Hier und in den Slums landen die Menschen, die vom Land in die Stadt fliehen: die Landlosen, die Schuldner, die immer mehr werdenden Klima-Flüchtlinge, die Verlierer des Existenzkampfs. Nach offiziellen Angaben strömen jeden Tag mindestens 2 000 neue Menschen in die Mega-City mit ihren 17 Millionen Einwohnern. Die Armen leben hier unter noch verheerendere Bedingung als auf dem Land: oftmals auf der Straße, in Verschlägen oder unter Plastikfolien. Sie können auf kein soziales Netz zurückgreifen, wehrlos sind sie der Gewalt und den Diebstählen von kriminellen Banden ausgeliefert, auch Vergewaltigungen sind nicht selten.
In einem vielleicht zehn Quadratmeter großen Raum, den sich acht Leute teilen, sitzen wir auf dem Bett. Gerade ist der Strom ausgefallen, das passiert hier mehrmals am Tag. Der Ventilator hört auf, sich zu drehen, und der Raum füllt sich mit Hitze und dem unerträglichen Gestank vom Fluss.
»Das Leben hier ist nicht gut. Das Essen und das Wasser sind schlecht«, sagt Sherina. Vor 15 Jahren ist sie aus dem Süden hier her gekommen. Damals besaßen sie Haus und Land in Madaripur am Fluss Padma zwischen Dhaka und Barisal. Doch der Fluss, der durch die Landerosion immer größer, stärker und unberechenbarer geworden ist, hat ihnen ihren Besitz geraubt. In Dhaka hat Sherina einen Kredit bei BRAC aufgenommen, damit ihr Mann ein Boot bauen und als Fährmann arbeiten konnte. Doch ihr Mann wurde schwer krank, für die Behandlung musste sie einen weiteren Kredit aufnehmen. Jetzt stehen sie haarwurzeltief in der Kreide, und wissen nicht, wie sie jemals das Geld zurückzahlen sollen. Die Konkurrenz unter den Fährmännern ist groß, die Verdienstmöglichkeiten gering, schließlich sind nur die Armen auf die Boote angewiesen. Von frühmorgens bis spät in die Nacht bringt ihr Mann die Menschen über das giftige Wasser und verdient trotzdem nur 2 000 Taka am Tag. »Erst muss der Kredit bezahlt werden, dann können wir an Essen denken«, sagt Sherina; der Hunger ist ihr steter Begleiter. Die Bewohner nennen die Siedlung Piloterbari, angeblich gehört sie einem reichen Piloten. Und der lange kräftig zu bei den Armen: 2 000 Taka sei die monatliche Miete für eine Baracke, sie steige ständig. Sherina sagt leise: »Wir wohnen schon so lange hier. Aber unser Leben auf dem Land können wir nicht vergessen.«
Nicht nur für sie ist hier Endstation. Auch Roshima ist vor zehn Jahren mit ihrer Familie aus der Gegend von Barisal nach Dhaka gekommen. Sie ist vor den Geldeintreibern geflohen. 10 000 Taka habe sie damals von einer NGO dort geliehen, an den Namen kann sie sich nicht mehr erinnern, sie kann weder lesen noch schreiben. Sie und ihr Mann legten von dem Geld eine kleine Fischzucht an. Doch eines Tages sei der Teich leer gewesen, alle Fische gestohlen worden, sie standen vor dem Nichts. Als sie den Kredit nicht mehr zurückzahlen konnten, kamen die Mitarbeiter der NGO in die Hütte, bedrohten sie und nahmen ihr den Nasenring weg. Schließlich ließ die Familie das Wenige, was blieb, zurück und floh nach Dhaka.
Roshima ist ausgemergelt, ihr Gesicht hohlwangig. Jetzt arbeitet sie im Haushalt von vier Familien, damit verdient sie 1 600 Taka – das sind etwa 16 Euro – im Monat, das reicht nicht zum Leben, auch ihr Mann ist hier krank geworden, er kann nicht mehr arbeiten. Die meisten Menschen, die hierherkommen, arbeiten zu miserablen Bedingungen in Fabriken, sammeln und sortieren Müll, versuchen sich als fliegende Händler, als Rikschafahrer oder als Tagelöhner auf den Baustellen. Die Konkurrenz ist groß, die Löhne sind niedrig. Roshimas Tochter arbeitet in der Textilfabrik. Fatimah, das bildhübsche Mädchen, sei 18, sagt die Mutter. Ab dann ist es offiziell erlaubt, in Fabriken zu arbeiten. Aber so zart und zerbrechlich, wie sie aussieht, könnte sie auch 15 sein. Sie ist nur bis zur 5. Klasse in die Schule gegangen, ab dann kostet es Geld. Jetzt arbeitet sie für 3 500 Taka im Monat Akkord in einem Sweatshop. Sie gehe morgens um sieben aus dem Haus und komme mitten in der Nacht zurück, die Überstunden würden nicht entgolten. Wer sich gewerkschaftlich organisiere, fliege raus, wer die Ziele nicht erreicht, beschimpft. »Manchmal«, sagt Fatimah mit dünner Stimme, »schlagen uns die Bosse sogar auf den Rücken.« Der Unterschied zu ihrer früheren Existenz? »Das Leben auf dem Land war auch hart und arm. Aber dort hatten wir wenigstens frische Luft zum Atmen. Hier ist alles laut, schmutzig und teuer, aber es gibt keinen Weg mehr zurück.« Als sie das sagt, steigen ihr die Tränen in die Augen.
Am Mittag bin ich mit einer Frau aus Deutschland zum Essen verabredet, die in Dhaka arbeitet. Wir treffen uns im Germans Club, einem Privatclub im Luxus-Stadtteil Gulshan. Dort leben die wohlhabenden Ausländer und die reichen Bangladeschi. Hier reihen sich die Fünf-Sterne-Hotels, die die Investoren und Händler beherbergen, hier sitzen die internationalen NGOs. Hier lebt auch Moosa Bin Shamsher, mit einem Vermögen von geschätzten 25 Milliarden US-Dollar ist er Bangladeschs einziger Milliardär. Er hat sich selbst zum Prinz ernannt, sein Vermögen hat er mit Bauunternehmen, Waffenhandel und einer Agentur gemacht, die billige bangladeschische Arbeiter in den Mittleren Osten verschachert.
Der Germans Club ist ein bewachtes kleines Gebäude in einer ruhigen Seitenstraße. Man kommt hier nur auf Einladung herein. Eben saß ich noch mit acht Leuten auf einem großen schmuddeligen Bett im stinkenden Slum, jetzt rieche ich das Chlor des Swimminpools, höre das Plopp-Plopp vom Tennisplatzen und lese in der Speisekarte, dass es nicht nur italienischen Rotwein gibt, sondern sogar Kässpätzle. An einem Tisch fläzen drei feiste weiße Männer in Rattansesseln, über ihren Wohlstandsbäuchen spannt das Karohemd, an ihren Handgelenken glänzen dicke Uhren. Sie plärren laut genug, dass man ihren rheinischen Dialekt erkennen kann. Sie lachen ein Alphamännchen-Lachen, während sie Bier bestellen und ihre dicken blutigen Steaks nicht aufessen. »Was sind denn das für Leute?«, frage ich. »Einkäufer in der Textilindustrie«, sagt meine Gastgeberin. Womöglich, zu diesem Gedanken lasse ich mich nach den erschütternden Bildern dieser Reise verleiten, feiern sie gerade einen lukrativen Deal, der den Fatmahs dieser Welt das Leben in den Fabriken noch mehr zur Hölle machen wird.
Die Motor-Riksha zurück zu meinem Hotel in Dhanmondi schiebt sich durch den Feierabendverkehr, in Gulshan fahren mehr Autos als Rikschas auf der Straße. Zwischen den Autos laufen Kinder umher, sie betteln oder verkaufen Bücher. In dem Stapel, den sie an die Autofenster halten, liegt ganz oben: Banker of the Poor: The Autobiography of Muhammad Yunus, Founder of the Grameen Bank.