»Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.«

Antonio Gramsci521

9. Her mit dem schönen Leben!

Warum nur wir als Gesellschaft für gerechten Wohlstand kämpfen können

Wenn sich der Novembernebel in den Kessel von Frankfurt senkt, dann sind sie von unten nicht mehr zu sehen, die glitzernden Bankentürme von »Mainhattan«. Wer hingegen in den Chefsesseln der Wolkenkratzer sitzt und aus den Fenstern der oberen Stockwerken blickt, der sieht blauen Himmel, die Sonne, den Taunus, und unter sich nur dichten Dunst.

Unten, auf der Wiese vor der Europäischen Zentralbank, stehen trotz ungemütlicher Temperaturen die Zelte derer, die nach dem Vorbild von Occupy Wall Street auch in Deutschlands Bankenmetropole den öffentlichen Raum besetzen. Im November sind dort noch immer 100 Zelte, winterfest gemacht mit Paletten, Isomatten und Schlafsäcken. Und es sind längst nicht die üblichen Verdächtigen, die hier unter sich bleiben. Viele Menschen, ganz normale Bürger, sind zu ihnen gekommen, haben diskutiert oder die Demonstranten mit Essen versorgt. Manchmal, so erzählen die Campbewohner, hätten sich nachts auch Banker dort eingefunden, die nicht gänzlich verlassen waren von Unrechtsempfinden. Auch sie wollten reden, auch sie empfanden Unbehagen.

Die allermeisten Medien berichteten mit Respekt und leiser Bewunderung von der Bewegung, auch wenn einige die Bemühungen um Basisdemokratie im Lager ein wenig belächelten und, wieder einmal, feststellten, dass die Protestierer gar keine Alternative anzubieten hätten und ihre Forderungen unklar blieben. Aber kann es eine klarere Forderung geben als die nach einer gerechten Wirtschaftsordnung?

Nur wenigen diente Occupy Frankfurt als Anlass für Häme und die Bestätigung ihrer eigenen Überlegenheit. Zu diesen Wenigen gehörte Constantin (mit distinktivem C) Magnis, Autor des neo-christlichen Buchs Generation Credo. Warum wir glauben – Junge Menschen erzählen. Er hat vier Tage auf dem Zeltplatz zugebracht, hat dort den Geruch von »nasser Wolle, fettigem Haar und Rauch, manchmal auch Marihuana« wahrgenommen und eine Reportage über zwischen den Zelten stolpernde Betrunkene und sentimentale Revolutionssprüche für das wirtschaftsliberale, rechtskonservative Magazin Cicero geschrieben. Seine kleine Erkenntnis nimmt der 32-Jährige gleich in der Überschrift vorweg: Wie die Weltrevolution im Zeltlager scheiterte.522 Ach Gottchen. In Frankfurt und Berlin demonstrierten derweil Tausende gegen die Macht von Banken und Konzernen. In Frankfurt gelang es den Protestierern gar, das Bankenviertel mit einer Menschenkette komplett zu umzingeln. In den USA schwappte die Bewegung durchs ganze Land; die Besetzer kehrten selbst nach der brutalen Räumung durch die Polizei ins Camp zurück.

Und lag zu diesem Zeitpunkt nicht schon etwas in der Luft? Im Dezember 2010, mitten im Winter, hatte in Tunesien eine jugendlich geprägte Protestbewegung das blaue Band des Arabischen Frühlings flattern lassen, und in der Folge kitzelte eine schnell stärker werdende Freiheitssonne auch in anderen Staaten des Nahen Ostens und in Nordafrika den autoritär herrschenden Regimes heftig in der Nase. Sie war es auch, die revolutionäre Knospen in anderen Ländern zum Erblühen brachte: In Spanien demonstrierten die Indignados, die Empörten, in 58 Städten gegen die unsozialen Folgen der Finanzkrise, gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit und für echte Demokratie. In Madrid machten Besetzer die Puerta de la Sol, in Barcelona die Plaça de Catalunya zum symbolischen Tahir-Platz. In Griechenland und Russland schossen ebenfalls Massenproteste ins Kraut. Zarte Pflänzchen, nicht gefeit gegen schwere Wetter, die noch über sie hereinbrechen könnten, aber unübersehbar: Da bricht etwas auf.

Es geht nicht um die eine Lösung

In Deutschland gingen Tausende gegen Atomkraft auf die Straße und entdeckten wieder die Macht des Protests gegen die Macht der Konzerne. Und zwei aufrührerische Bücher haben es, nicht nur in Deutschland, sogar in die Bestsellerlisten geschafft: Die Schrift Empört euch! des Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel, der darin zum Widerstand ruft (»Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.«523) und der analytische Essay Der kommende Aufstand, Verfasser: das »unsichtbare Komitee«.524 Der Erfolg beider Bücher rührt von einem großen Unbehagen in der Bevölkerung her, von einer Sehnsucht, die in beiden Büchern auf literarischem Niveau, ja: poetisch artikuliert wird.

Der kommende Aufstand sorgte jedoch gleichzeitig für viel Argwohn: »Das Buch ist der aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses Antlitz zu verpassen. Situationismus, Autonomen-Anarchismus und Punkpoesie werden darin zu einem knackig formulierten Pamphlet gemixt«, schrieb abfällig die taz in ihrer Rezension mit dem Titel »Revolution mit Melancholie«. These: »Nichteinverstanden sein einfach gemacht«.

Man kann den Aufruf zur Anarchie, die Idee, dass sich alles schon fügen wird, wenn erst einmal die Autoritäten entmachtet sind, man kann also den letzten Teil des Kommenden Aufstands durchaus kritisieren. Doch was ist einzuwenden gegen Poesie und Melancholie? Brauchen wir nicht genau diese Romantik, wenn es darum geht, Ideen dafür zu finden, wie wir alle auf dieser Welt friedlich zusammen leben wollen? Müssen wir nicht eher zu naiven Träumern werden, statt uns im lauen Pragmatismus einzurichten, der nur Stillstand bedeutet?

Die kalte Logik der Marktwirtschaft ist es doch, die alles abtötet, was den Mensch zum Menschen macht: Geist, Phantasie, Sehnsucht. Träume, Muße, Traurigkeit. Gerechtigkeitsempfinden. Mitgefühl. Das Primat der freien Marktwirtschaft, das den Wettbewerb in jedweden Bereich des Lebens trug, hat unser Miteinander vergiftet. Es hat uns zu ängstlichen Konkurrenten werden lassen und uns in einen Kampf gegeneinander geschickt. Angst und Verzweiflung sind kein Fundament für eine Gesellschaft, sie hemmen die Entfaltung des Einzelnen, sie zerstören Solidarität, Empathie und Sicherheit. Kein Wunder, dass die Marktapologeten jeden Funken solidarischen Denkens arrogant als »notorisches Gutmenschentum« wegbrüllen und als »politische Korrektheit« verhöhnen. Und dass sie jedem Gedanken an gesellschaftliche Gleichheit sofort kommunistische »Gleichmacherei« unterstellen. Als wäre der Kapitalismus gleichbedeutend mit Demokratie. Dabei zeigt gerade das viel beschworene Wirtschaftswachstum in China, dass Kapitalismus sehr gut ohne Demokratie auskommt. Die beiden britischen Wissenschaftler Kate Picket und Richard Wilson haben in ihrem Buch Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind sämtliche Studien zum Thema zusammengetragen. Das unleugbare Ergebnis: Ungleichheit macht unglücklich, krank und aggressiv. Ein Beleg dafür, dass die Gesellschaft vom freien Wettbewerb irgend wo in der Welt auf irgend eine Weise profitiert, bleiben dessen Apologeten hingegen schuldig.

Man hat uns erzählt, Banken seien »systemrelevant«. Doch was ist das für ein System, da selbst Wetten auf Nahrungsmittel erlaubt, die Hunger und Tod bedeuten? In dem man den Ärmsten nicht hilft, sondern sie zu »Unternehmern« ihres Schicksal macht? In dem private Schulden die Armut abschaffen sollen? In dem die Reichen zu Opfern und die Armen zu Tätern stilisiert werden? In dem man Menschen auf der ganzen Welt zu Sklaven des Konzernprofits? Ist das ein System, das für uns relevant ist?

Man legt uns nahe, dass die Wirtschaft zu kompliziert für uns ist – und das jeden Abend in den Hauptnachrichten, wenn wir minutenlang von Börsenberichten belästigt werden, in denen der Casinokapitalismus immer wieder aufs Neue seine Weihen erhält.525 Ist die Wirtschaft wirklich so kompliziert? Ist der Umstand, dass das Weltwirtschaftssystem die Armen ärmer und die Reichen reicher macht, tatsächlich so schwer zu durchdringen?

Man sagt uns: »There is no alternative.« Doch ist die gegenwärtige Struktur zum Profit der Wenigsten, aber mit verheerenden Auswirkungen für den Großteil der Menschen, wirklich alternativlos? Ist sie wirklich die einzige Möglichkeit, wie wir auf dieser Welt zusammenleben können?

Eine »Lösung«, wie sie die Systemprofiteure von ihren Kritikern verlässlich immer wieder fordern, kann ich hier freilich ebenfalls nicht präsentieren. Es gibt ja nicht eine, es gibt viele Ideen, die zu vielen Lösungen führen könnten. Manches Verbrechen, etwa Spekulationen auf Lebensmittel, könnte von heute auf morgen abgeschafft werden. Auch die Entschuldung der Dritten Welt, eine Verteilung des Reichtums von oben nach unten: All das könnte schnell entschieden werden und wird es womöglich auch, die Geschichte kennt Beispiele dafür. Landreformen in armen Ländern, die es den Menschen ermöglichen, sich selbst zu versorgen, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Regionalwährungen, die Bereitstellung von Boden, Wasser, Energie, Nahrung und Ressourcen als Gemeingüter, Genossenschaften statt Privatkonzerne – es gibt eine Menge von Alternativen. Sie haben alle nichts zu tun mit der gängigen Idee des Wirtschaftswachstums, das auf Ausbeutung von Menschen und Ressourcen gründet. Sondern mit Ideen von Gemeinschaft und Souveränität. Damit sie überhaupt in die Nähe einer Lösung kommen, müssen sie diskutiert werden. Wir dürfen es uns nicht nur wünschen, wir müssen fest daran glauben, dass, getreu dem Attac-Motto, eine andere Welt möglich ist. Die Wirtschaftseliten haben nur ein einziges Glaubensbekenntnis: Privatisierung, Deregulierung und Einschnitte bei den Sozialausgaben – »die Dreifaltigkeit des freien Marktes« (Naomi Klein).526

Verzweifelte Wut

Angst macht stumm, Demütigung aggressiv. Im Sommer 2011 entlud sich in Großbritannien der zu lange angestaute Hass der ausgegrenzten Jugendlichen in blinder Zerstörung. Die »London Riots« haben für Empörung gesorgt, schließlich war in ihnen unmöglich ein ehrenwerter Aufstand der Unterdrückten gegen das Establishment zu erkennen. Die Randalierer zerstörten ihre eigenen Viertel, sie fügten anderen Armen Gewalt und Leid zu, steckten Wohnhäuser in Brand, ruinierten die Existenzen kleiner Leute. Sie reagierten mit Gewalttätigkeit auf die strukturelle Gewalt, die ihnen und ihren Familien seit Jahrzehnten angetan worden ist. Mit der gleichen Härte schlug, von einer breiten Mehrheit etragen, das System abermals zurück: in Form von drakonischen Strafen – ein halbes Jahr Knast für drei geklaute Flaschen Mineralwasser – weil die Richter ein Exempel an der verkommenen Jugend statuieren wollten.527 Und auch mit der Drohung des konservativen Premiers David Cameron, die letzten Reste des lästigen Wohlfahrtsstaats abzubauen, der ja nur das Nichtstun belohne. Cameron, Nachfahre von König Wilhelm IV, Sohn eines Börsenmaklers, verheiratet mit einer Frau mit ebenfalls aristokratischen Wurzeln, ist nicht nur denkbar weit entfernt vom Lebensalltag dieser Jugendlichen. Seine Verachtung für sie ist sprichwörtlich – und wie alle, die sich weigern, Strukturen infrage zu stellen, welche zu Armut, Ausschluss und schließlich seelischer Zerstörung führen, sieht er die Schuld allein in der schlechten Moral am Rande der Gesellschaft.528

Von den 18- bis 24-jährigen Briten ist gut jeder Fünfte arbeitslos. Eine Studie des Prince’s Trust von 2009 ergab, dass Arbeitslosigkeit in so jungen Jahren erhebliche emotionale Auswirkungen hat – Depression, Minderwertigkeitsgefühle, Verunsicherung bis hin zu Selbstmordgedanken.529

Es muss viel zusammenkommen, bevor derartige Ausschreitungen passieren. In Großbritannien bestand der Auslöser darin, dass die Polizei den 29-jährigen schwarzen Familienvater Mark Duggan erschoss. Schwarze werden in Großbritannien diskriminiert, besonders Jugendliche werden von der Polizei besonders gegängelt. In Deutschland ist Ähnliches nicht zu erwarten. Doch Demütigung und Ausgrenzung sind Formen von Gewalt und haben auf die Entstehung von Gewalttätigkeiten immensen Einfluss. Die Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen Menschen, führt zu nichts anderem als Frustration und schließlich Aggression. Sie berührt, wie der Neurobiologe Joachim Bauer in seinem gleichnamigen Buch darlegt, die Schmerzgrenze.530 Jenseits dieser Grenze gibt es keine Empathie. Ausgrenzung zerstört nicht nur das Individuum, sondern die ganze Gesellschaft.

»Wer sich aus der Zwangsjacke befreien will, in die uns Angst und Gier nach Teilhabe an den verrückten Ansprüchen der Konsumgesellschaft fesseln, muss nichts aufregend Neues erwerben. (…) Es geht eher darum, sich unerschrocken der Banalität zu stellen, dass wir alle Menschenkinder sind, angewiesen auf einen einzigen geschundenen Planeten. Und herauszufinden, welchen Reichtum an Mitgefühl, Phantasie, Intuition und Sinnlichkeit jeder von uns in sich trägt, sofern er lernt, jene leise innere Stimme wieder zu hören, die Angst und Gier widersteht«, schreibt der Psychologe Wolfgang Schmidbauer.531 Wir sind viele. Wir haben nur uns. Es ist genug für alle da. Lassen wir uns also nicht zu Söldnern im Krieg der Reichen gegen die Armen machen – sondern leisten wir gemeinsam Widerstand.