Er trug einen leichten Sommerhut, der ihn vor der Sonne schützte. Zum ersten Mal sah ich ihn in Freizeitkleidung, und bei dem Anblick konnte man leicht vergessen, dass er ein Mörder und ein Drogenbaron war. Das Selbstbewusstsein des Erfolgreichen war nach wie vor spürbar, aber der flache Bauch, die breiten Schultern und die weichen Gesichtszüge verliehen ihm die Ausstrahlung eines liebevol en - und gut durchtrainierten - Familienvaters. Die zwanglose Kleidung betonte, im Gegensatz zu den Armanianzügen, seine Jugendlichkeit. An seinem Handgelenk entdeckte ich ein paar feine blonde Härchen, die aus dem Ärmel des geschmackvol en Hemds hervorlugten, und ich ertappte mich dabei der Überlegung, ob sie wohl genauso weich waren wie die hel en Strähnen, die seine Ohren umspielten.
Er hatte die grünen Augen zusammengekniffen, ob aus Sorge oder weil Ihn die Lichtreflexionen auf dem Wasser blendeten, wusste Ich nicht. Ich tippte al erdings auf die Unruhe, da er die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, wohl, damit ich sie nicht schüttelte.
Als er die Brücke erreichte, verlangsamte Trent seine Schritte. Er hatte die ausdrucksstarken Brauen wachsam zusammengezogen, und mir fiel wieder ein, wie schockiert er gewesen war, als Algaliarept meine Gestalt angenommen hatte. Es gab nur eine Erklärung, warum der Dämon das getan haben könnte: Trent hatte Angst vor mir. Entweder, weil er immer noch dachte, ich hätte den Dämon auf ihn angesetzt, oder, weil ich innerhalb von drei Wochen dreimal erfolgreich in sein Büro eingebrochen war, oder, weil ich wusste, was er war.
»Es ist nichts davon«, sagte er, als er schließlich vor mir stand.
»Wie bitte?«, stammelte ich, und stieß mich hastig vom Geländer ab.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen.«
Ich starrte ihn verwirrt an. Seine sanfte Stimme verschmolz mit dem Plätschern des Wassers.
»Und ich bin auch nicht in der Lage, Ihre Gedanken zu lesen, nur Ihre Mimik.«
Ich holte vorsichtig Luft. Wie konnte es sein, dass ich so schnel die Kontrol e über die Situation verloren hatte?
»Wie ich sehe, haben Sie sich um den Trol gekümmert.«
»Und um Detective Glenn«, ergänzte ich. »Er wird uns nicht stören, es sei denn, Sie machen etwas Dummes.«
Nervös prüfte ich, ob mein Zopf richtig saß. Er quittierte die Unterstel ung mit einem irritierten Blick, wahrte aber weiterhin den Sicherheitsabstand zwischen uns. »Wo ist Ihr Pixie?«
Verärgert richtete ich mich auf. »Sein Name ist Jenks, und er ist nicht hier. Er weiß nichts davon, und dabei sol te es besser auch bleiben, denn er hat eine verdammt große Klappe.«
Trent entspannte sich sichtbar und stel te sich mir gegenüber an das andere Geländer. Es war verdammt schwierig gewesen, Jenks loszuwerden, und schließlich hatte Ivy eingegriffen und ihn zu einem nicht existierenden Auftrag mitgenommen. Ich glaube, sie wol te Donuts holen.
Draußen auf dem Wasser spielte Sharps mit den Enten, indem er sie kurz unter die Oberfläche zog und dann losließ, woraufhin sie unter lautem Protestquaken davonflogen.
Trent wandte sich von dem Spektakel ab, lehnte sich an das Geländer und kreuzte die Füße - eine perfekte Kopie meiner eigenen Haltung. Zwei Menschen, die sich zufäl ig begegnen, ein paar Worte wechseln und den Sonnenschein genießen. Oh ja, ganz genau.
»Wenn irgendetwas davon bekannt wird«, sagte er mit einem Blick zu dem Toilettenhäuschen, »werde ich die Unterlagen über das nette Ferienlager meines Vaters veröffentlichen. Dann wird man Sie und die anderen erbärmlichen kleinen Blagen ausfindig machen und wie Aussätzige behandeln. Oder viel eicht wird man auch einfach dafür sorgen, dass ihr verbrannt werdet, aus Angst, dass es zu neuen Mutationen kommt, die einen zweiten Wandel auslösen könnten.«
Ich bekam weiche Knie. Ich hatte recht gehabt. Trents Vater hatte irgendetwas mit mir gemacht, hatte etwas in mir repariert. Und Trents Drohung war realistisch. Das bedeutete im besten Fal ein One-Way-Ticket in die Antarktis. Mein Mund war plötzlich völ ig ausgetrocknet.
»Woher wissen Sie das?« Mein Geheimnis war viel ge-lährlicher als seins.
Er sah mir direkt in die Augen, zog den Ärmel hoch und entblößte einen muskulösen Arm. Auf der weichen gebräunten Haut war eine gezackte Narbe zu sehen. Als ich den Blick davon löste, sah ich Wut in seinen Augen.
»Das waren Sie«, stammelte ich, »den ich auf den Baum geschossen habe?«
Abrupt zog er den Ärmel wieder über die Narbe. »Ich habe dir nie verziehen, dass du mich vor meinem Vater zum Weinen gebracht hast.«
Ärger, den ich längst vergessen geglaubt hatte, loderte in mir hoch. »Selbst schuld, ich hatte dich gewarnt! Ich hatte dir gesagt, dass du sie in Ruhe lassen sol st!«, schrie ich. Mir war es egal, dass ich so das Geräusch des Wassers übertönte.
»Jasmin war krank. Wegen dir hat sie sich drei Wochen lang in den Schlaf geweint!«
Trent zuckte zusammen. »Du kennst ihren Namen? Schreib ihn auf. Schnel !«
Ungläubig starrte ich ihn an. »Was interessierst es dich, wie sie hieß? Sie hatte es damals schon schwer genug, auch ohne deine Gemeinheiten.«
»Ihr Name«, drängte er und suchte dabei in seinen Taschen nach einem Stift. »Wie lautet ihr Name?«
Trotzig schob ich mir eine Strähne hinters Ohr. »Sage ich dir nicht«, antwortete ich, tatsächlich hatte ich ihn schon wieder vergessen.
Trent presste die Lippen zusammen und steckte den Stift weg. »Du hast ihn schon wieder vergessen, nicht wahr?«
»Warum interessierst du dich überhaupt dafür? Du hattest damals doch nichts Besseres zu tun, als sie zu quälen.«
Verärgert zog er sich den Hut tiefer in die Stirn.
»Ich war vierzehn. Das ist ein schwieriges Alter, Ms.
Morgan. Ich habe das Mädchen geärgert, weil ich sie mochte. Wenn Ihnen der Name wieder einfäl t, wäre ich Ihnen überaus dankbar, wenn Sie ihn aufschreiben und mir zukommen lassen würden. Das Trinkwasser im Camp war mit starken Gedächtnisblockern versetzt. Ich möchte herausfinden, ob -«
Er versuchte, die in seinen Augen aufflackernden Gefühle zu unterdrücken, aber ich lernte langsam, sie zu erkennen.
»Du wil st wissen, ob sie überlebt hat«, beendete ich den Satz für ihn. Als er meinem Blick auswich, wusste ich, dass meine Vermutung richtig war. »Wieso warst du dort?« Ich fürchtete mich vor der Antwort.
»Meinem Vater gehörte das Lager, wo sonst hätte ich den Sommer verbringen sol en?«
Sein Tonfal und ein leichtes Stirnrunzeln verrieten mir, dass da noch mehr dahintersteckte. Zufrieden stel te ich fest, dass ich den Schlüssel gefunden hatte, um zu erkennen, wann er log. Jetzt brauchte ich nur noch herausfinden, woran ich erkennen konnte, wann er die Wahrheit sagte, dann würde er mich nie mehr täuschen können.
»Sie sind genauso widerlich wie Ihr Vater«, sagte ich abschätzig. »Sie erpressten die Leute, indem Sie ihnen eine lebenswichtige Behandlung versprachen, sodass sie dann von Ihnen abhängig waren. Der Wohlstand Ihrer Eltern gründet sich auf das Leid Hunderter, wenn nicht sogar Tausender, Mr. Kalamack. Und Sie tun genau dasselbe.«
Trents Kinn zitterte kaum merklich, und ich glaubte, silberne Funken um ihn herum aufblitzen zu sehen, als würde die Erinnerung an seine Aura mir einen Streich spielen. Das war wahrscheinlich irgend so ein Elfentrick.
»Ich werde mich nicht vor Ihnen rechtfertigen«, erwiderte er. »Schließlich haben Sie ebenfal s große Fortschritte gemacht auf dem Gebiet der Erpressung. Ich bin nicht hier, um meine Zeit mit kindischen Streitereien darüber zu vergeuden, wer wen vor langer Zeit einmal verletzt hat. Ich möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen.«
»Sie wol en mich buchen?« Fassungslos stemmte ich die Hände in die Hüften. »Erst versuchen Sie, mich bei den Rattenkämpfen umzubringen, und nun glauben Sie al en Ernstes, dass ich für Sie arbeiten würde? Um Ihren Namen reinzuwaschen? Sie haben diese Hexen umgebracht, und ich werde das beweisen!«
Trent lachte. Er neigte den Kopf und kicherte in sich hinein.
»Was ist daran so lustig?«, fuhr ich ihn an. Irgendwie kam ich mir blöd vor.
»Sie.« Seine Augen strahlten. »Sie waren in der Rattengrube zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Ich wol te Ihnen damit nur klarmachen, wie schäbig Sie sich verhalten hatten.
Und ich konnte dort ein paar wertvol e Kontakte knüpfen.«
»Verdammter -« Ich biss mir auf die Lippe und bal te die Hand zur Faust.
Trents Heiterkeit schwand. Er legte warnend den Kopf schief und trat einen Schritt zurück. »Das würde ich nicht tun«, drohte er leise. »Wirklich nicht.«
Langsam zog ich mich wieder zurück. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das ich damals empfunden hatte, die Ausweglosigkeit, die grausame Wahl zu töten oder getötet zu werden - al das stieg wieder in mir auf. Er hatte mich als Spielzeug benutzt. Im Vergleich dazu war die Jagd hoch zu Ross, bei der er mich fast umgebracht hätte, gar nichts.
Immerhin hatte ich ihn bei dieser Gelegenheit ja auch bestohlen.
»Hören Sie mir gut zu, Trent«, flüsterte ich, wobei der Gedanke an Quen mich unwil kürlich so weit zurückweichen ließ, dass sich das Geländer schmerzhaft in meinen Rücken grub. »Ich werde nicht für Sie arbeiten. Ich werde Sie fertigmachen. Ich werde mir etwas ausdenken, damit ich Sie mit jedem der Morde in Verbindung bringen kann.«
»Oh, bitte«, antwortete er wegwerfend. Ich fragte mich, wie wir uns so schnel von einem erfolgreichen Geschäftsmann und einem gewieften Runner in zwei Streithähne verwandelt hatten, die sich über vergangenes Unrecht zankten.
»Sind Sie immer noch auf diesem Trip? Selbst Captain Edden hat inzwischen begriffen, dass die Leiche von Dan Smather lediglich in meinen Stal ungen abgeladen wurde.
Darum lässt er mich auch nur durch seinen Sohn beschatten, anstatt Anklage erheben zu lassen. Und natürlich hatte ich Kontakt zu den Opfern, al erdings habe ich mit ihnen gesprochen, um sie einzustel en, nicht, um sie zu töten. Sie haben breit gefächerte Fähigkeiten, Ms. Morgan, aber Ermittlungsgeschick gehört nicht dazu. Sie sind viel zu ungeduldig und lassen sich nur von Ihrer Intuition leiten, die Sie immer weiter treibt, auch wenn es manchmal nötig wäre, ein Stück zurückzugehen.«
Das war doch unfassbar. Was denkt er, wer er ist, mich so belehren zu wol en?
Trent griff in seine Hemdtasche, zog einen weißen Umschlag heraus und hielt ihn mir hin. Mit einer schnel en, wachsamen Bewegung nahm ich ihn und machte ihn auf. Mir stockte der Atem, als ich zwanzig nagelneue Hundertdol arscheine darin fand.
»Das sind zehn Prozent als Vorschuss, den Rest bekommen Sie bei Abschluss des Auftrags.« Mir wurde eiskalt, aber ich versuchte unbeeindruckt zu wirken. Zwanzigtausend Dol ar?
»Ich möchte, dass Sie den Hexenjäger finden. Ich versuche jetzt bereits seit drei Monaten, eine Kraftlinienhexe einzustel en, aber jeder der möglichen Kandidaten stirbt mir sozusagen vor der Nase weg. Langsam wird die Sache lästig.
Ich brauche nur einen Namen.«
»Gehen Sie zur Höl e, Kalamack«, giftete ich und ließ angewidert den Umschlag fal en, da er ihn nicht zurücknahm.
Ich war mit erstklassigen Informationen hierhergekommen, sicher, ihn damit zu einem Geständnis zwingen zu können.
Doch stattdessen wurde ich bedroht, beleidigt und zu guter Letzt auch noch bestochen.
Vol kommen gelassen bückte er sich, hob den Umschlag auf, klopfte den Schmutz ab und steckte ihn wieder weg.
»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass Sie nach der Aktion gestern wohl die Nächste auf der Liste des Kil ers sind. Nachdem Sie Ihre Fähigkeiten in Kraftlinienmagie unter Beweis gestel t und sich nun auch noch mit mir getroffen haben, passen Sie perfekt ins Profil.«
Verdammt. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Fal s Prent wirklich nicht der Mörder war, hatte ich nichts, womit ich mir den wahren Hexenjäger vom Leib halten konnte. Die Sonne schien plötzlich an Kraft verloren zu haben. Ich bekam kaum noch Luft, und mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ich nun den Mörder finden musste, bevor er mich fand.
»Also?«, begann Trent wieder, und seine Stimme war be-nihigender als das Plätschern des Wassers. »Nehmen Sie das Geld, damit ich Ihnen sagen kann, was ich bisher herausfinden konnte.«
Widerwil ig begegnete ich seinem spöttischen Blick. Ich würde genau das tun, was er wol te. Er hatte mich mit einer ganz miesen Tour dazu gebracht, ihm zu helfen. Verdammt, verdammt, verdammt. Ich ging zu ihm rüber und stützte die El bogen auf das Geländer. Glenn befand sich hinter lins, und Sharps war abgetaucht, nur das Fehlen von Enten verriet seine Anwesenheit. Und neben mir stand Trent.
»Haben Sie Sara Jane nur zu Edden geschickt, um mich zu ködern?«, fragte ich verbittert.
Trent rückte so nah an mich heran, dass ich den frischen Duft seines Aftershaves riechen konnte. Seine Nähe war mir unangenehm, aber wenn ich mich bewegte, würde mich das verraten.
»Ja«, gab er gelassen zu.
Seine Stimme hatte einen ganz bestimmten Klang, als er sprach, und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Damit hatte ich es geschafft. Ich kannte seine Signale, von nun an konnte er mich nicht mehr belügen. Als ich mit diesem neuen Wissen im Hinterkopf an unsere bisherigen Gespräche zurückdachte, wurde mir klar, dass er mich bis auf den vorgeschobenen Grund für seine Anwesenheit im Camp seines Vaters nie angelogen hatte. Kein einziges Mal.
»Sie hat sich ein paar Mal mit ihm getroffen, um sich das Bild zu besorgen, aber nein, sie kannten sich nicht wirklich. Es war sehr wahrscheinlich, dass er ermordet würde, nachdem er mein Stel enangebot angenommen hatte, auch wenn ich versucht habe, ihn zu beschützen. Quen ist darüber äußerst verärgert.« Trent beobachtete die kleinen Wel en, die Sharps bei seinen Runden verursachte. »Dass Mr. Smather in meinen Stal ungen aufgetaucht ist, bedeutet, dass der Kil er langsam dreist wird.«
Ich schloss frustriert die Augen und versuchte, mich mit der veränderten Lage zu arrangieren. Trent hatte die Hexen nicht umgebracht. Es musste jemand anders gewesen sein.
Ich konnte also entweder sein Geld nehmen und Trent bei seinem kleinen Beschäftigungsproblem behilflich sein, oder das Geld ablehnen und zusehen, wie es sich umsonst für ihn löste. Ich entschied mich für das Geld.
»Sie sind ein Bastard, wissen Sie das?«
Trent erkannte meinen Sinneswandel und lächelte. Ich musste mich schwer zurückhalten, um ihm nicht ins Gesieht zu spucken. Seine schmalen, gepflegten Hände ruhten entspannt auf dem Brückengeländer, und die Sonne verlieh seiner Haut einen goldenen Glanz, nur sein Gesicht lag im Schatten. Der Wind fuhr durch seine Haare und brachte die feinen Strähnen in beängstigende Nähe zu meinen ebenfal s aufgewirbelten Locken.
Mit einer beiläufigen Bewegung holte er den Umschlag wieder hervor und schob ihn mir so zu, dass die Bewegung von unseren Körpern verdeckt wurde und von dem Toilettenhäuschen aus nicht zu sehen war. Ich fühlte mich schmutzig, als ich ihn nahm und unter meiner Jacke in den Gürtel steckte.
»Hervorragend«, meinte er herzlich. »Ich bin froh, dass wir nun zusammenarbeiten.«
»Geh und wandel dich, Kalamack.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Meistervampir handelt«, fuhr er fort, während er von mir abrückte.
»Welcher?«, fragte ich vol er Selbstekel. Warum ließ ich mich darauf ein?
»Das weiß ich nicht«, gab er zu und warf ein Stückchen Mörtel vom Geländer ins Wasser. »Wenn ich es wüsste, hätte« ich mich bereits darum gekümmert.«
»Darauf würde ich wetten«, ätzte ich. »Warum bringen Sie sie nicht einfach al e um? Dann wäre die Sache erledigt.«
»Ich kann nicht einfach durch die Gegend ziehen und wahl os Meistervampire pfählen, Ms. Morgan«, erklärte er sachlich. Es beunruhigte mich zutiefst, dass er den Sarkasmus meiner Frage so selbstverständlich ignorierte. »Das wäre il egal, außerdem könnte das einen Vampirkrieg auslosen, den die Stadt eventuel nicht überleben würde. Und darunter würden wiederum meine geschäftlichen Interessen leiden.«
Ich kicherte säuerlich. »Oh, das können wir natürlich nicht zulassen.«
Trent seufzte. »Durch die Angewohnheit, mit Sarkasmus Ihre Angst zu überspielen, wirken Sie sehr jung, Ms.
Morgan.«
»Und durch Ihre Angewohnheit, mit einem Stift herumzuspielen, wirken Sie sehr nervös«, konterte ich. Es tat gut, sich mal mit jemandem zu streiten, bei dem nicht das Risiko bestand, gebissen zu werden, wenn die Dinge außer Kontrol e gerieten.
Sein Auge begann zu zucken, und er richtete den Blick demonstrativ wieder auf den Teich. »Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie das FIB aus dieser Sache heraushalten. Es ist eine Inderlanderangelegenheit, und ich bin mir nicht sicher, ob man der I. S. trauen kann.«
Es war schon interessant, wie mühelos er seine offiziel e, unbeteiligte Haltung gegenüber den Inderlandern abstreifen konnte. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die über Trents Herkunft Bescheid wusste, und der Grad an Intimität, den unsere Beziehung durch dieses Wissen erreicht hatte, war mir mehr als unangenehm.
»Ich vermute, dass es sich um einen aufstrebenden Vampirclan handelt, der mich beseitigen wil , um seine Macht zu erweitern. Das wäre wesentlich ungefährlicher, als eines ihrer eigenen schwächeren Häuser zu vernichten.«
Trent wol te nicht prahlen, er nannte nur die einfachen, geschmacklosen Fakten. Bei dem Gedanken, dass ich Geld von einem Mann angenommen hatte, der die Unterwelt als sein persönliches Schachbrett betrachtete, verzog ich den Mund. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh darüber, dass mein Vater tot war und ich mich so nicht vor ihm rechtfertigen musste. Das Bild von unseren lachenden Vätern vor dem Campbus tauchte wieder vor mir auf und erinnerte mich daran, dass ich Trent nicht trauen durfte.
Mein Vater hatte diesen Fehler gemacht, und das hatte ihn umgebracht.
Trent seufzte müde und wehmütig. »Cincinnatis Unterwelt ist äußerst wandlungsfähig. Al meine üblichen Verbindungen schweigen oder sind tot. Ich verliere den Kontakt zu den Geschehnissen.« Er sah mich flüchtig an.
»Irgendjemand setzt al es daran zu verhindern, dass ich mein Netzwerk erweitere. Und solange ich nicht über eine Kraftlinienhexe verfüge, stecke ich in einer Sackgasse.«
»Sie armer Junge«, spottete ich. »Warum wenden Sie nicht Ihre eigene Magie an? Oder ist Ihre Blutlinie durch die ganzen menschlichen Gene schon so verwässert, dass hohe Magie Sie überfordert?«
Sein Griff um das Geländer verstärkte sich kurz, dann entspannte er sich wieder. »Ich werde eine Kraftlinienhexe bekommen. Ich würde es natürlich vorziehen, einen Freiwil igen einzustel en, statt jemanden entführen zu müssen, aber wenn weiterhin jede Hexe, der ich ein entsprechendes Angebot mache, tot aufgefunden wird, werde ich mir eben auf anderem Wege jemanden beschaffen.«
»Oh ja, richtig«, entgegnete ich. »Dafür seid ihr Elfen ja bekannt, nicht wahr?«
Jetzt knirschte er vor Wut mit den Zähnen. »Seien Sie lieber vorsichtig mit dem, was Sie sagen.«
»Ich bin immer vorsichtig«, versicherte ich ihm, da ich wusste, dass meine Kräfte nicht stark genug waren, um als Wechselbalg zu enden. Ich beobachtete interessiert, wie seine Ohren die zarte Röte verloren, die meine Sticheleien hervorgerufen hatten. Waren sie tatsächlich ein wenig spitz oder bildete ich mir das nur ein? Mit diesem Hut konnte man das nur schlecht erkennen.
»Können Sie den Kreis der Verdächtigen etwas einschränken?« Zwanzigtausend Dol ar, um Cincinnatis Unterweit durchzukämmen und herauszufinden, wer Mr.
Kalamack den Tag versaut, indem er seine zukünftigen Angestel ten umbringt? Das klingt doch nach einem wirklich einfachen Job.
»Da gibt es viele Möglichkeiten, Ms. Morgan. Ich habe viele Feinde und viele Angestel te.«
»Und keine Freunde«, ergänzte ich schnippisch, während ich Sharps dabei zusah, wie er im Wasser herumtol te und schlangenähnliche Erhebungen im Wasser produzierte, die an das Monster von Loch Ness denken ließen. Dann kam mir ein unangenehmer Gedanke: Was würde Ivy wohl sagen, wenn ich nach Hause kam und ihr sagte, dass ich jetzt für Trent arbeitete? »Wenn ich herausfinden sol te, dass Sie lügen, haben Sie mich am Hals, Kalamack. Und diesmal wird der Dämon nicht versagen.«
Er lachte spöttisch. »Netter Versuch, aber dieser Dämon letztes Frühjahr wurde nicht von Ihnen geschickt.«
Der Wind wurde langsam kühl, und ich wickelte mich fester in die Jacke. »Woher wissen Sie. .?«
Trent schaute über den Teich und fixierte einen Punkt in der Ferne. »Nachdem ich in meinem Büro das Gespräch zwischen Ihnen und Ihrem Freund mit angehört und gesehen hatte, wie Sie auf den Dämon reagierten, wusste ich, dass jemand anders ihn geschickt haben muss. Obwohl mich der Anblick Ihres zerschundenen Körpers, unmittelbar nachdem ich den Dämon befreit hatte, damit er zu seinem Beschwörer zurückkehren und ihn töten konnte, fast überzeugt hatte.«
Mich störte es gewaltig, dass er das Gespräch mit Nick belauscht hatte. Und dass er genauso reagiert hatte wie ich, nachdem er die Kontrol e über Algaliarept erlangt hatte.
Trent wippte nachdenklich mit den Füßen, und ich entdeckte sanfte Neugier in seinen Augen. »Ihr Dämonenmal. .«
Er zögerte und die Intensität seines Blicks verstärkte sich.
». .war ein Unfal ?«
Ich betrachtete die kleinen Wel en, die Sharps Spielereien zurückgelassen hatten. »Er hat mich so lange ausgesaugt, dass -« Ich hielt inne und biss mir auf die Lippe. Warum erzählte ich ihm das? »Ja, ein Unfal .«
»Gut«, antwortete er schlicht. »Ich bin froh, das zu hören.«
Arschloch. Wer auch immer Algaliarept in dieser Nacht auf uns gehetzt hatte, hatte hinterher wenigstens doppelt gelitten. »Es gab da wohl jemanden, dem es überhaupt nicht gefal en hat, dass wir Kontakt hatten«, stel te ich fest und erschrak. Eisige Kälte breitete sich in meinem Körper aus.
Was, wenn es zwischen den Angriffen auf uns und den Gewalttaten der letzten Zeit eine Verbindung gab? Viel eicht war ich ursprünglich als erstes Opfer des Hexenjägers gedacht gewesen?
Ich versuchte, mich zu beruhigen und meine Gedanken zu ordnen. Jedes der Opfer war unter Bedingungen gestorben, die persönlich auf ihn zugeschnitten gewesen waren: der Schwimmer ertrunken, der Mann von den Rattenkämpfen bei lebendigem Leib gefressen, die beiden Frauen vergewaltigt und der Mann, der mit Pferden arbeitete, zu Tode gequetscht. Algaliarept hatte den Auftrag gehabt, mich so zu töten, dass meine persönlichen Ängste dabei zum tragen kamen. Verdammt. Es war derselbe.
Trent bemerkte mein Schweigen und sah mich fragend an.
»Was ist los?«
»Gar nichts.« Ich stützte mich schwer auf das Geländer, legte den Kopf in die Hände und kämpfte gegen die Ohnmacht an. Wenn ich jetzt umkippte, würde Glenn mit Verstärkung anrücken, und dann wäre al es vorbei.
Trent stieß sich vom Geländer ab. »Sie lügen. Ich habe diesen Gesichtsausdruck schon zweimal bei Ihnen gesehen.
Was ist los?«
Ich schluckte schwer. »Wir sol ten die ersten Opfer des Hexenjägers werden. Er hat versucht, uns beide zu töten, dann aber aufgegeben, nachdem wir bewiesen hatten, dass wir einen Dämon bezwingen können und ich mich geweigert habe, für Sie zu arbeiten. Nur die Hexen, die Ihr Angebot angenommen hatten, wurden umgebracht, ist es nicht so?«
»Sie haben al e zugestimmt«, flüsterte er, und selbst jetzt löste seine Stimme ein Schaudern in mir aus. »Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass es eine Verbindung zwischen den Ereignissen von damals und den Morden geben könnte.«
Ein Dämon konnte nicht des Mordes angeklagt werden. Da es keine Möglichkeit gab, sie nach der Verurteilung festzusetzen, hatten die Gerichte bereits vor langer Zeit entschieden, dass Dämonen vor dem Gesetz als Waffen galten, auch wenn der Vergleich hinkte. Dämonen hatten zwar so etwas wie einen freien Wil en, aber so lange die Bezahlung der Aufgabe angemessen war, lehnte keiner von ihnen einen Mord ab. Wie auch immer, es gab jemanden, der ihn beschworen hatte.
»Hat der Dämon Ihnen verraten, wer ihn geschickt hatte?«, fragte ich. So leicht hatte ich noch nie zwanzigtausend Dol ar verdient. Gott steh mir bei.
Er verzog verärgert das Gesicht. »Ich habe versucht, am Leben zu bleiben, ich hatte keinerlei Bedürfnis, mich mit ihm zu unterhalten. Aber Sie haben doch scheinbar eine gute Beziehung zu ihm. Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
Ich konnte kaum glauben, was er da von mir verlangte.
»Ich? Ich schulde ihm schon einen Gefal en. Soviel können Sie mir gar nicht zahlen, dass ich mich da noch weiter reinreite. Aber wie wäre es dann damit: Ich beschwöre ihn, und Sie stel en ihm die Frage. Ich bin mir sicher, dass ihr euch über die Bezahlung einig werdet.«
Sein sonnengebräuntes Gesicht wurde blass. »Nein.«
Befriedigt schaute ich wieder raus auf den Teich. »Sie können mich nicht erst als Feigling bezeichnen und sich dann weigern, es selbst zu tun. Ich bin zwar leichtsinnig, aber nicht blöd.« Dann zögerte ich. Nick würde es machen.
Ein überraschend ehrliches Lächeln erschien auf Trents desicht. »Sie tun es schon wieder.«
»Was?«
»Sie hatten gerade einen Einfal . Es macht wirklich Spaß, Sie zu beobachten, Ms. Morgan. Es ist, als wären Sie nicht älter als fünf.«
Zutiefst beleidigt starrte ich über den kleinen See. Wenn Nick den Dämon fragen würde, wer ihn auf mich angesetzt hatte, wäre das dann eine minderwertige oder eine schwerwiegende Frage, die weitere Bezahlung erforderte?
Ich beschloss, zum Museum zu gehen, um Nick selbst zu fragen.
»Also?«, fragte Trent wieder.
»Sie bekommen die Information nach Sonnenuntergang.«
Trent blinzelte überrascht.
»Sie wol en ihn rufen?« Sein unverblümtes Erstaunen tat mir unheimlich gut, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Trotzdem war es Balsam für mein Ego, dass Ich es geschafft hatte, ihn zu überrumpeln. Und dass er seine Verblüffung möglichst schnel zu vertuschen versuchte, machte die Sache noch besser.
»Sie haben doch eben noch gesagt, dass Sie -«
»Mr. Kalamack, Sie bezahlen für Resultate, nicht für Stra-tcgieabsprachen. Ich werde es Sie wissen lassen, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
Er hatte sein Gesicht wieder unter Kontrol e, aber ich meinte, Respekt in seinem Blick zu sehen. »Ich habe Sie falsch eingeschätzt, Ms. Morgan.«
»Tja, ich stecke eben vol er Überraschungen«, murmelte ich und hielt mit einer Hand meine Haare fest, damit der auffrischende Wind sie mir nicht ins Gesicht blies. Als eine besonders starke Böe kam, drohte Trents Hut im Wasser zu landen, und ich streckte die Hand aus, um ihn festzuhalten, doch ich griff ins Leere. Trent war zurückgewichen, und ich starrte fassungslos auf die Stel e, wo er gerade noch gestanden hatte.
Ich entdeckte ihn schließlich zwei Meter weiter, am Fuß der Brücke. Er hatte sich bewegt wie eine Katze. Als er sich aufrichtete, wurde die Angst in seinem Gesicht von der Wut darüber verdrängt, dass ich seinen Schrecken bemerkt hatte.
Die Sonne ließ sein feines Haar aufleuchten, da sein Hut nun im Wasser schwamm und bereits dessen widerliche grüne Farbe annahm.
Ich zuckte zusammen, als Quen aus einem der Bäume sprang und sicher vor Trent landete. Er richtete sich auf und blieb gelassen stehen, ein moderner Samurai in schwarzen Jeans und T-Shirt. Ich blieb reglos stehen, als das Wasser hinter mir in Bewegung geriet. Der Geruch von Kupfersulfat und Algen stieg mir in die Nase, ich spürte, wie Sharps hinter mir aufragte, kalt, nass und fast so groß, wie die Brücke, unter der er lebte. Der Trol hatte sich mit Wasser vol gesogen, um sich zu vergrößern. Ein leises Poltern aus dem Toilettenhäuschen kündigte an, dass Glenn bereits auf dem Weg war.
Niemand bewegte sich, und ich hatte das Gefühl, als würde mir gleich das Herz aus der Brust springen. Ich hätte ihn nicht anfassen sol en. Ich hätte ihn wirklich nicht anfassen sol en. Ich benetzte meine Lippen und zog die Jacke zurecht, froh darüber, dass Quen rechtzeitig erkannt hatte, dass ich Trent nicht verletzen wol te.
»Ich melde mich bei IIinen, wenn ich einen Namen für Sie habe«, versprach ich mit dünner Stimme. Ich schenkte Quen einen entschuldigenden Blick, drehte mich um und ging mit so betont resoluten Schritten auf die Straße zu, dass ich jeden Schritt bis ins Rückgrat spürte.
Und du hast sehr wohl Angst vor mir, dachte ich. Aber warum?
24
"Zum dritten Mal, Rachel. Wil st du noch eine Scheibe Brot?«
Ich schaute von meinem Weinglas hoch und sah, wie Nick mir amüsiert den Brottel er unter die Nase hielt. Offenbar streckte er ihn mir schon eine ganze Weile entgegen.
»Äh, nein. Nein, danke.« Ich senkte den Blick auf meinen Tel er, nur um festzustel en, dass ich das Essen, das Nick uns gemacht hatte, kaum angerührt hatte. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm ich die Gabel und spießte ein paar Nudeln auf. Wie üblich war es mein Mittag- und sein Abendessen. Es schmeckte köstlich, besonders, da ich nur den Salat gemacht hatte. Etwas Besseres würde ich heute auch nicht mehr kriegen, denn Ivy hatte ein Date mit Kist, was hieß, dass ich nur eine Kleinigkeit zum Abendessen haben würde, während ich mir Ben und Jerry im Fernsehen reinzog. Ich fand es seltsam, dass sie mit dem lebenden Vampir ausging, da er absolut besessen war von Blut und Sex, aber das ging mich definitiv nichts an.
Nicks Tel er war schon leer, deshalb begann er, nachdem er das Brot hingestel t hatte, mit Messer und Serviette heruumzuspielen. »Ich weiß, dass es nicht an meinem Essen liegt, also, was ist los mit dir? Du hast kaum ein Wort von dir gegeben, seit du. . ins Museum gekommen bist.«
Ich versteckte mein Grinsen hinter der Serviette und wischte mir den Mund ab. Ich hatte ihn dabei erwischt, wie er mit den Füßen auf dem Arbeitstisch ein Nickerchen gemacht hatte. Dazu hatte er sich das Teedeckchen aus dem 18. Jahrhundert, das er eigentlich restaurieren sol te, über das Gesicht gelegt. Solange es keine Bücher waren, brachte er überhaupt kein Interesse für die Antiquitäten auf. »Ist das so offensichtlich?«, fragte ich und biss in mein Brot.
Er grinste schief. »Du bist vieles, aber nicht stil . Hat es etwas damit zu tun, dass Mr. Kalamack nicht verhaftet wurde, nachdem ihr die Leiche gefunden habt?«
Schuldbewusst schob ich den Tel er weg. Er wusste noch nicht, dass ich die Seiten gewechselt hatte, was Trent anging.
Was so ja auch gar nicht stimmte, und genau das beunruhigte mich. Der Mann war und blieb Abschaum.
»Du hast die Leiche gefunden«, meinte Nick jetzt, lehnte sich über den Tisch und nahm meine Hand. »Al es andere wird sich finden.«
Ich fühlte mich mies. Nick würde bestimmt sagen, dass ich mich verkauft hatte. Er musste etwas bemerkt haben, denn er drückte meine Hand so lange, bis ich hochschaute.
»Was ist los, Ray-Ray?« Er sah mich aufmunternd an, und in seinen warmen braunen Augen spiegelte sich das Licht der hässlichen Lampe, die in der winzigen Esszimmer-Küchen-Kombi hing. Ich starrte auf den halb hohen Sims, der den Raum vom Wohnzimmer abtrennte und überlegte, wie ich das Thema anschneiden sol te. Ich hatte ihm monatelang gepredigt, dass man schlafende Dämonen nicht wecken sol te, und nun saß ich hier und wol te ihn darum bitten, Algaliarept für mich zu beschwören. Die Antwort war mit Sicherheit nicht durch seinen »Probevertrag« abgedeckt, und ich wol te auf keinen Fal , dass Nick meinetwegen dafür bezahlte. Seine ritterliche Ader war mächtiger als der Ohio River.
»Du kannst es mir ruhig sagen«, versicherte er mir und neigte den Kopf, um mir besser in die Augen sehen zu können.
Ich gab mir einen Ruck. »Es geht um Big Al.« Ich wol te nicht riskieren, dass Algaliarept beschließen könnte, dass ich ihn jedesmal rief, wenn ich seinen Namen aussprach, deshalb hatte ich mir diesen nicht gerade würdevol en Spitznamen ausgedacht. Nick fand das sehr komisch - meine Angst vor seinem unerwünschten Erscheinen, nicht den Spitznamen.
Jetzt ließ er meine Finger los und griff nach seinem Weinglas. »Fang nicht schon wieder damit an«, sagte er gereizt. «Ich weiß, was ich tue, und ich werde es wieder tun, egal, ob es dir gefäl t oder nicht.«
»Eigentlich. . wol te ich dich bitten, ob du ihn etwas für mich fragen würdest.«
Damit hatte er nicht gerechnet. »Wie bitte?«
Ich wand mich schuldbewusst auf meinem Stuhl. »Aber nur, wenn es dich nichts kostet, sonst vergiss es, dann werde ich eine andere Lösung finden.«
Er stel te das Glas hin und lehnte sich ungläubig über den Tisch. »Du wil st, dass ich ihn beschwöre?«
»Das ist so, ich habe heute mit Trent gesprochen«, erklärte ich hastig, damit er mich nicht unterbrechen konnte, und wir glauben, dass der Dämon, der uns im Frühjahr angegriffen hat, derselbe ist, der jetzt die Hexen tötet. Und dass ich eigentlich das erste Opfer des Hexenjägers sein sol te, er mich dann aber in Ruhe gelassen hat, weil ich Trents Jobangebot abgelehnt habe. Wenn ich also herausfinden kann, wer ihn geschickt hat, haben wir den Mörder.«
Nick starrte mich mit offenem Mund an. Ich konnte förmlich sehen, wie er die Puzzleteile zusammensetzte: Trent war unschuldig, und seine Freundin arbeitete für ihn, um den wahren Täter zu finden und ihn zu entlasten. Unbehaglich stocherte ich mit der Gabel auf dem Tel er herum.
»Wie viel zahlt er dir?«, fragte Nick schließlich ruhig.
»Zweitausend Vorschuss«, sagte ich sofort und war mir der Scheine in meiner Hosentasche plötzlich sehr bewusst. »Und noch einmal Achtzehntausend, wenn ich ihm den Namen des Hexenjägers liefere.« Hey, damit habe ich die Miete zusammen, wenn das kein Grund zum Feiern ist.
»Zwanzigtausend Dol ar?« Er war fassungslos. »Er bietet dir zwanzigtausend Dol ar, nur für einen Namen? Du musst ihn nicht abliefern oder so was?«
Ich nickte, unsicher, ob er mich nun für käuflich hielt oder nicht. Ich fühlte mich zumindest käuflich.
Nick blieb für ein paar Sekunden vol kommen regungslos sitzen, dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Dann sol ten wir mal herausfinden, was uns das kosten würde«, meinte er, schon auf dem Weg zur Tür.
Ich starrte einen Moment auf seinen leeren Stuhl. »Nick?«, rief ich dann, stand ebenfal s auf und stel te die Tel er in die Spüle. »Macht es dir gar nichts aus, dass ich für Trent arbeite? Mir nämlich schon.«
»Hat er die Morde begangen?«, erwiderte er aus dem Korridor, der zu seinem Zimmer führte. Ich ging durchs Wohnzimmer und fand ihn schließlich vor dem Wandschrank im Flur, wo er damit beschäftigt war, seine Klamotten mit routinierten Handgriffen auf sein Bett zu verlagern.
»Ich glaube nicht.« Gott hilf mir, wenn ich falsch liege. Nick reichte mir einen Stapel brandneuer knal grüner Handtücher.
»Wo liegt dann das Problem?«
»Der Mann handelt mit Biodrogen und Brimstone«, erinnerte ich ihn, während ich mir die Handtücher unter den Arm klemmte, um die übergroßen Gärtnerstiefel entgegenzunehmen, die er mir hinhielt. Es waren die aus unserem Glockenturm, und es wunderte mich, dass er sie noch hatte. »Trent wil die Kontrol e über Cincinnatis Unterwelt, und ich arbeite für ihn. Darin liegt das Problem.«
Nick schnappte sich die Leintücher, schob sich an mir vorbei und warf sie aufs Bett. »Du würdest ihm nicht helfen, wenn du nicht davon überzeugt wärst, dass er es nicht getan hat. Zwanzigtausend Dol ar! Wenn du dich irrst, kannst du dir für zwanzigtausend Dol ar einen verdammt guten Psychiater beschaffen.«
Ich verzog abschätzig das Gesicht; mit seiner Philosophie, dass Geld al e Probleme löste, konnte ich wenig anfangen.
Sicher, als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter jeden Cent zweimal umdrehen müssen, doch manchmal zweifelte ich an seinen Prioritäten. Aber ich musste den Kil er ja sowieso finden, um meine Haut zu retten. Und ich würde Trent bestimmt nicht aus reiner Freundlichkeit helfen.
Ich quetschte mich gegen die Wand, als Nick mit einem Stapel Sweatshirts an mir vorbei in sein Zimmer ging. Der Schrank war jetzt leer, viel war sowieso nicht drin gewesen, und Nick nahm mir noch die Stiefel und Handtücher ab und legte sie auf den Haufen in seinem Zimmer. Dann kehrte er zum Schrank zurück, kniete sich hin und entfernte ein Stück Teppich vom Boden, unter dem ein Kreis und ein Pentagramm zum Vorschein kamen, die in den Boden eingeritzt waren. »Du beschwörst AI in deinem Wandschrank?«, fragte Ich ungläubig.
Nick schaute zu mir hoch und grinste hinterhältig. »Als ich eingezogen bin, war der Kreis schon da. Und ist er nicht schön? Die Linien sind mit Silber verstärkt. Ich habe es überprüft, und es gibt nur zwei Stel en in der ganzen Wohnung, wo keine Gas- oder Elektrizitätsleitungen verlaufen. In der Küche gibt es noch einen Kreis, den man nur unter Schwarzlicht sehen kann. Er ist viel größer, aber einen so großen Kreis kann ich nicht schließen.«
Ich sah zu, wie er geschickt die Regalbretter aus den Halterungen löste und sie im Flur gegen die Wand lehnte.
Anschließend trat er in den Kreis und streckte mir die Hand hin. Überrascht starrte ich ihn an.
»AI hat doch gesagt, dass der Dämon im Kreis sein muss, und nicht derjenige, der ihn beschwört.«
Nick ließ die Hand sinken. »Das ist Teil des Probevertrags.
Ich beschwöre ihn nicht im klassischen Sinne, sondern bitte um eine Audienz, die er auch ablehnen kann. Seitdem du mich auf die Idee gebracht hast, mich in den Kreis zu stel en, kommt er immer, aber hauptsächlich, um mich auszulachen.«
Nick streckte noch einmal die Hand aus. »Komm schon, ich muss sehen, ob wir hier zusammen reinpassen.«
Ich schaute ins Wohnzimmer, oder zumindest in den Teil, den ich einsehen konnte. Ich wol te nicht mit Nick in den Schrank. Na ja, zumindest nicht unter diesen Umständen.
»Lass uns lieber den Kreis in der Küche benutzen«, schlug ich vor. »Es macht mir nichts aus, ihn zu schließen.«
»Du würdest riskieren, dass er denkt, du hättest ihn gerufen?«, fragte Nick überrascht.
Seine Ungeduld war mehr als deutlich, also nahm ich seine Hand und betrat den Wandschrank. Nick ließ mich sofort los und prüfte den Durchmesser des Kreises. Der Schrank war groß genug für uns beide, und im Moment war es noch recht angenehm. Mit einem Dämon, der versuchen würde, zu uns reinzukommen, würde es al erdings ziemlich klaustrophobisch werden. »Viel eicht ist das doch keine so gute Idee, Nick.«
»Es wird schon gehen.« Mit einer abrupten Bewegung trat er aus dem Schrank und streckte sich nach dem obersten Regalbrett, das noch über unseren Köpfen hing. Er holte einen Schuhkarton herunter und öffnete ihn. Darin befanden sich ein Plastikbeutel mit grauer Asche und ungefähr ein Dutzend halb abgebrannter, milchig-grüner Kerzen. Irritiert erkannte ich, dass es dieselben waren, die er benutzt hatte, um in Ivys Badezimmer romantisches Licht zu schaffen, als wir einmal einen, na ja, anregenden Abend in der Badewanne verbracht hatten. Warum waren sie jetzt mit einem Beutel Asche in diesem Karton?
»Hey, das sind meine Kerzen«, beschwerte ich mich. Jetzt wusste ich wenigstens, wohin sie verschwunden waren.
Er stel te den Karton auf sein Bett, nahm den Aschebeutel und die längste Kerze raus und verdrückte sich ins Wohnzimmer. Ich hörte ein dumpfes Geräusch, und als er zurückkam, zog er die Fußbank hinter sich her, auf der normalerweise seine einzige Pflanze stand, die ihm wohl mal jemand zum Einzug geschenkt hatte. Wortlos stel te er die Kerze auf den Platz, den sonst die Blattfahne einnahm.
»Kauf dir zur Dämonenbeschwörung demnächst deine eigenen Kerzen«, motzte ich.
Er runzelte die Stirn, zog die Schublade unter der Fußbank auf und kramte eine Streichholzschachtel hervor. »Sie müssen beim ersten Mal auf heiligem Boden angezündet werden, sonst funktioniert es nicht.«
»Na, du kennst dich ja bestens aus.« Verärgert fragte ich mich, ob diese ganze Nacht nur ein Vorwand gewesen war, um an die Kerzen ranzukommen. Wie lange lief das überhaupt schon mit den Beschwörungen? Schmol end sah ich zu, wie er die Kerze anzündete und mit dem Streichholz durch die Luft wedelte, bis es erlosch. Erst als er eine Hand vol Asche aus dem Beutel nahm, wurde ich nervös.
»Was ist das?«, fragte ich besorgt.
»Das wil st du lieber nicht wissen«, sagte er warnend.
Jetzt wurde ich wütend. Typen wie ihn hatte ich bei der LS.
wegen Grabplünderung hochgenommen. »Und ob ich das wil !«
Er sah mich genervt an. »Die Asche dient als Konzentrationspunkt, damit Algaliarept sich außerhalb des Kreises materialisiert, nicht innen bei uns. Und die Kerze sol sicherstel en, dass seine Aufmerksamkeit wirklich nur der Asche auf dem Tisch gilt. Ich habe sie gekauft, zufrieden?«
Ich murmelte eine Entschuldigung. Anscheinend hatte ich Nicks einzigen wunden Punkt gefunden und mit Schwung darauf herumgetrampelt. Im Gegensatz zu ihm hatte ich eben keine Ahnung von Dämonenbeschwörung. »Ich dachte immer, man müsste nur einen Kreis schließen und sie dann rufen«, meinte ich schockiert. Irgendjemand hatte die Asche seiner Großmutter verkauft, nur damit Nick mit ihren sterblichen Überresten einen Dämon beschwören konnte.
Nick klopfte sich den Staub von den Händen und verschloss die Tüte. »Bei dir mag das funktionieren, bei mir nicht. Der Typ im Zauberladen hat sogar versucht, mir ein unverschämt teures Amulett anzudrehen, weil er nicht glauben wol te, dass ein Mensch einen magischen Kreis schließen kann. Nachdem ich ihn in einen Kreis eingesperrt hatte, den er nicht brechen konnte, hat er mir zehn Prozent Rabatt auf meinen Einkauf gegeben. Wahrscheinlich hat er sich gesagt, dass ich gut genug bin, um zu überleben und dann wiederzukommen.«
Seine Gereiztheit war in dem Moment verschwunden, als ich aufgehört hatte, ihn anzuschnauzen. Das hier war die erste - na gut, die zweite - Gelegenheit für ihn, mir sein Können zu beweisen, auf das er offenbar sehr stolz war.
Menschen mussten sich unglaublich anstrengen, um die Kraftlinien so gut zu beherrschen wie Hexen, deshalb ließen sie sich auch oft auf einen Pakt mit einem Dämon ein, um mithalten zu können. Natürlich überlebten sie das in der Regel nicht lange, da sie irgendwann einen Fehler machten und ins Jenseits gezogen wurden.
Es ist verdammt gefährlich. Und ich ermutige ihn auch noch dazu!
Nick sah meine Zweifel, kam zu mir und legte seine Hände auf meine Schultern. Ich spürte die Reste der Asche auf meiner Haut. »Es wird schon gut gehen«, beruhigte er mich lächelnd. »Ich habe das schon mal gemacht.«
»Und genau das macht mir Angst«, flüsterte ich und trat zurück, um ihm Platz zu machen.
Nick warf den Plastikbeutel neben den Schuhkarton, während ich versuchte mir die Asche von den Schultern zu wischen.
Danach quetschten wir uns beide in den Wandschrank, und Nick klemmte mit einem Holzkeil die Tür fest.
»Er hat mich einmal hier drin eingesperrt«, erklärte er achselzuckend.
Das ist gar nicht gut, dachte ich und spürte, wie sich Schweißperlen zwischen meinen Schulterblättern sammelten.
»Fertig?«
Ich starrte auf die brennende Kerze und das Aschehäufchen.
»Nein.«
Als Nick die Augen schloss und sich dem zweiten Gesicht öffnete, begannen meine Fingerspitzen zu kribbeln. Ich hatte das unheimliche Gefühl, als würden meine inneren Organe verknotet, bis zum Hals hochgedrückt und dort in einem Kloß stecken bleiben. »Hey, halt, stop!«, schrie ich, als sich das Gefühl in einen unangenehmen inneren Sog verwandelte. »Was ist das?«
Nick öffnete die Augen. Sie wirkten glasig, woran ich erkannte, dass er jetzt al es durch die verwirrende Überschneidung von Jenseits und Realität wahrnahm.
»Genau das habe ich versucht, dir zu erklären«, sagte er dumpf. »Das kommt von dem Bindungszauber. Nett, nicht wahr?«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, achtete aber darauf im Kreis zu bleiben. »Das ist schrecklich«, gab ich zu.
»Es tut mir leid. Warum hast du mir nicht gesagt, dass es so unangenehm ist?«
Er zuckte nur mit den Schultern und schloss die Augen.
Dieses Ziehen in meinem Körper verstärkte sich, und ich versuchte krampfhaft, damit fertig zu werden. Ich spürte die Energie des Jenseits, die sich langsam in Nick aufstaute, und es fühlte sich genauso an, als würde ich eine Kraftlinie anzapfen. Die Energie floss weiter, und obwohl es nur ein Bruchteil dessen war, was ich in Trents Büro kanalisiert hatte, zog sie an mir.
Quälend langsam näherte sich das Energielevel dem erforderlichen Maß. Meine Hände waren schweißnass und mir war übel. Ich wol te nur noch, dass Nick sich beeilte und den Kreis schloss. Der Druck der durch mich hindurchfließenden Kraft machte mich ganz kribbelig; ich musste etwas tun.
»Kann ich dir helfen?« Ich verschränkte die Hände, damit sie nicht krampfhaft zuckten.
»Nein.«
Das Kribbeln in meinen Handflächen verstärkte sich zu einem Jucken. »Es tut mir so leid, ich wusste wirklich nicht, dass du das so stark spürst. Hast du deswegen nicht geschlafen? Habe ich dich dadurch wachgehalten?«
»Nein, mach dir einfach keine Gedanken.«
Meine Fersen begannen zu zittern und ein glühender Schmerz schoss in meine Waden. »Wir müssen den Zauber brechen«, sagte ich zittrig. »Wie hältst du das bloß aus?«
»Halt die Klappe, Rachel. Ich versuche hier, mich zu konzentrieren.«
»Tut mir leid.«
Er atmete langsam aus, und es überraschte mich nicht, als er heftig zusammenzuckte, da in diesem Moment der Zufluss der Energie, die durch ihn, beziehungsweise durch uns, strömte, abrupt aussetzte.
»Der Kreis ist geschlossen«, erklärte er keuchend. Ich widerstand dem Drang, nachzusehen. Das hätte Nick gekränkt, außerdem spürte ich, dass er gut war. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, da ich einen Teil deiner Aura in mir trage, kannst du den Kreis wahrscheinlich auch durchbrechen«, fuhr er fort.
»Ich werde aufpassen«, versprach ich unruhig. »Und was passiert jetzt?« Widerwil ig betrachtete ich die Kerze auf der Fußbank.
»Jetzt werde ich ihn einladen.«
Ich unterdrückte ein Zittern, als Nick lateinische Worte zu murmeln begann, die furchtbar fremd in meinen Ohren klangen. Während er sprach, schien Nick sich zu verändern, dunkle Schatten tauchten unter seinen Augen auf und ließen ihn krank aussehen. Sogar seine Stimme veränderte sich, sie klang jetzt tiefer und schien in meinem Kopf widerzuhal en.
Erneut spürte ich den Anstieg der Jenseitsenergie, bis es fast unerträglich wurde. Mein ganzer Körper kribbelte, und ich war so angespannt, dass ich fast erleichtert war, als Nick mit vorsichtigen, präzise gesetzten Lauten Algaliarepts Namen nannte.
Er ließ erschöpft die Schultern hängen und atmete tief durch. Auf so engem Raum konnte ich unter dem Deo seinen Schweiß riechen. Er drückte kurz meine Hand.
Aus dem Wohnzimmer konnte ich das Ticken der Uhr und den gedämpften Verkehrslärm hören. Es geschah nichts.
»Sol te jetzt nicht was passieren?« Ich kam mir langsam dämlich vor in dem Wandschrank.
»Es kann ein bisschen dauern. Wie ich schon sagte, es ist ein Probevertrag, nicht das vol e Programm.«
Ich atmete möglichst leise und lauschte gespannt. »Und wie lange genau kann das dauern?«
»Seit ich die Kreisgeschichte umgedreht habe, normalerweise fünf bis zehn Minuten.«
Nicks Stimmung besserte sich langsam wieder, und ich spürte die Wärme seines Körpers neben mir. In der Ferne heulte die Sirene eines Rettungswagens auf und verklang wieder.
Ich beäugte kritisch die brennende Kerze. »Und wenn er nicht auftaucht? Wie lange müssen wir warten, bis wir aus dem Schrank kommen können?«
Nick lächelte mich freundlich aber unverbindlich an wie ein Fremder im Fahrstuhl. »Äh, ich würde besser nicht vor Sonnenaufgang aus dem Kreis treten. Solange er nicht erschienen ist und wir ihn dem Ritus entsprechend wieder gebannt haben, kann er die ganze Nacht über auftauchen.«
»Wenn er also nicht kommt, stecken wir bis zum Morgen in diesem Schrank?«
Er nickte, wandte aber den Blick ab, als sich der Geruch von verschmortem Bernstein auszubreiten begann. »Oh, gut, da kommt er«, flüsterte Nick und richtete sich kerzengerade auf.
Oh gut, da kommt er, wiederholte ich in Gedanken sarkastisch. Oh Gott, mein Leben war eine Katastrophe.
Der Aschehaufen war plötzlich von rotem Jenseitsnebel umgeben. Der Nebel verdichtete sich mit rasanter Geschwindigkeit und nahm die groben Umrisse eines Tiers an. Ich hielt die Luft an, als ein Paar rotglühender Augen mit geschlitzten Pupil en auftauchte. Dann formte sich ein brutales Maul, aus dem der Sabber auf den Teppich tropfte, noch bevor die Gestalt fertig model iert war. Schließlich stand der riesige Köter vor uns, den ich damals im Bücherarchiv der Universität das erste Mal gesehen hatte: Nicks personifizierte Angst vor Hunden.
Sein rasselndes Hecheln weckte eine instinktive Angst in mir, von der ich bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Als sich das Tier schüttelte, erschienen kral enbesetzte Pfoten und kräftige Hinterläufe, aus dem letzten Rest des Nebels bildete sich eine dicke blonde Mähne. Nick begann zu zittern. »Al es in Ordnung?«, fragte ich besorgt, und er nickte mit kreidebleichem Gesicht.
»Nicholas Gregory Sparagmos«, knurrte das Biest, hockte sich auf die Hinterläufe und zog die Lefzen hoch. »Schon wieder, kleiner Zauberer? Ich war doch gerade erst hier.«
Gregory? Nick grinste mich verlegen an. Sein zweiter Vorname war Gregory? Und was hatte er wohl von dem Dämon für diese Information bekommen?
»Oder hast du mich nur gerufen, um Rachel Mariana Morgan zu beeindrucken?«, ergänzte er, richtete den Blick auf mich und ließ die lange rote Zunge aus dem Maul hängen. Das sol te wohl ein Grinsen sein.
»Ich habe ein paar Fragen«, sagte Nick wesentlich forscher, als es seine Haltung vermuten ließ. Ihm stockte al erdings der Atem, als der Hund sich erhob und durch den Flur auf uns zu trottete, den er in seiner Breite fast vol ständig ausfül te.
Entsetzt sah ich, wie er prüfend über den Boden vor dem Kreis leckte. Die Jenseitsbarriere zischte, als er mit der Zunge die unsichtbare Schwel e berührte. Heißender Rauch stieg auf, und durch den Dunstschleier konnte ich sehen, wie an Algaliarepts Zunge kleine Flammen aufloderten. Nick erstarrte, und glaubte einen leisen Fluch oder viel eicht auch ein Gebet zu hören. Der Dämon stieß ein irritiertes Knurren aus, und seine Umrisse verschwammen.
Mit klopfendem Herzen beobachtete ich die Verwandlung in den üblichen englischen Gentleman. »Rachel Mariana Morgan«, begrüßte er mich schmeichelnd. »Ich muss dich wirklich beglückwünschen, Liebes, dass du diese Leiche gefunden hast. Das war die geschickteste Anwendung der Kraftlinienmagie, die ich in den letzten zwölf Jahren gesehen habe.« Er lehnte sich ein wenig vor, und ich roch den Duft von Lavendel. »Du hast für ziemlich viel Aufsehen gesorgt«, flüsterte er. »Ich wurde plötzlich zu jeder Party eingeladen, da es meine Hexe war, deren Zauber es bis auf den Marktplatz geschafft und die Glocken zum Klingen gebracht hat. Sie haben al e etwas von der Köstlichkeit abbekommen, wenn auch nicht so viel wie ich.«
Der Dämon schloss die Augen und gab sich einem wohligen Schaudern hin, woraufhin seine Umrisse flackerten, wohl weil er sich nicht mehr ausreichend konzentrierte.
Ich schluckte schwer. »Ich bin nicht deine Hexe.«
Nicks Finger schlössen sich um meinen El bogen. »Du wirst in dieser Gestalt bleiben«, befahl er dem Dämon mit sicherer Stimme, »und du wirst aufhören, Rachel zu belästigen. Ich habe Fragen, und ich wil den Preis erfahren, bevor ich sie stel e.«
»Wenn deine Dreistigkeit dich nicht umbringt, wird es deine Neugier tun«, erwiderte Algaliarept gelassen, drehte sich mit fliegenden Rockschößen um und betrat das Wohnzimmer. Von meiner Position aus konnte ich gerade noch sehen, wie er die Glastüren von Nicks Bücherschrank öffnete. Seine behandschuhten Finger glitten über die Buchrücken, dann zog er einen Band heraus. »Oh, ich habe mich immer gefragt, wohin dieses Buch verschwunden sein mag«, sagte er freudig, ohne sich umzudrehen. »Wie grandios, dass du es hast. Beim nächsten Mal werden wir daraus lesen.«
Nick sah mich verlegen an. »Das machen wir normalerweise so«, flüsterte er. »Algaliarept entschlüsselt für mich die unverständlichen lateinischen Passagen, und dabei rutscht ihm immer wieder die ein oder andere Zusatzinfo raus.«
»Und du traust ihm?« Trotz meiner Nervosität runzelte ich missbil igend die Stirn. »Frag ihn jetzt.«
Algaliarept hatte den Wälzer wieder an seinen Platz gestel t und ein anderes Buch herausgezogen. Er wurde immer ausgelassener, blätterte murmelnd darin herum und wirkte, als hätte er einen alten Freund wiedergefunden.
»Algaliarept«, unterbrach Nick seine Studien. Der Dämon drehte sich um, ohne das Buch aus der Hand zu legen. »Ich möchte wissen, ob du der Dämon bist, der im Frühjahr Prent Kalamack angegriffen hat.«
Algaliarept zeigte keine Reaktion, sondern blickte weiterhin auf das Buch, das aufgeschlagen in seinen Händen lag. Mir wurde flau im Magen, als ich entdeckte, dass er seine Finger verlängert hatte, um es besser halten zu können. «Das ist durch unseren Vertrag abgedeckt«, antwortete er schließlich geistesabwesend, »da Rachel Mariana Morgan die Antwort bereits erraten hat.« Er schaute hoch und sah mich über die getönte Bril e hinweg an. »Oh ja, ich habe in dieser Nacht Trenton Aloysius Kalamack gekostet, genau wie dich.
Ich hätte ihn eigentlich ohne große Umstände töten sol en, aber seine Andersartigkeit war so exquisit, dass ich mich zu lange aufgehalten habe und er mich in einem Kreis bannen konnte.«
»Habe ich deswegen überlebt?«, fragte ich. »Weil du einen Fehler gemacht hast?«
»Ist das eine Frage, die du mir da stel st?«
Ich fuhr mir nervös mit der Zunge über die Lippen. »Nein.«
Algaliarept schloss das Buch. »Dein Blut ist gewöhnlich, Rachel Mariana Morgan. Delikat, mit feinen Nuancen, die ich nicht entschlüsseln kann, aber dennoch gewöhnlich. Ich habe nicht mit dir gespielt, ich habe versucht, dich zu töten. Hätte ich gewusst, dass du die Turmglocken läuten kannst, wäre ich wahrscheinlich anders vorgegangen.« Er lächelte, und ich spürte seinen Blick wie Öl auf meiner Haut. »Viel eicht aber auch nicht. Ich hätte wissen müssen, dass du deinem Vater ähnlich bist. Er hat ebenfal s die Glocken geläutet. Einmal.
Danach starb er. Du sol test wohl hoffen, dass es kein Zeichen ist.«
Mir wurde übel. Nick packte meinen Arm, bevor ich den Kreis berühren konnte. »Du hast doch gesagt, du kanntest ihn nicht«, sagte ich rau.
Der Dämon schenkte mir ein geziertes Lächeln. »Oh, ist das jetzt eine Frage?«
Ich schüttelte den Kopf, hoffte aber, dass er mir trotzdem mehr verraten würde.
Er tippte sich mit dem Finger an die Nase. »Dann sol te Nicholas Gregory Sparagmos lieber eine Frage stel en, bevor ich von jemandem weggerufen werde, der auch bereit ist, mich für meine Dienste zu entlohnen.«
»Du bist nichts anderes als ein jämmerlicher kleiner Spitzel, weißt du das?«, stieß ich zitternd hervor.
Algaliarepts Blick blieb an meinem Hals hängen, und ich musste automatisch daran denken, wie ich blutüberströmt in diesem Kel er gelegen hatte. »Nur an meinen schlechten Tagen.«
Nick richtete sich steif auf. »Ich möchte wissen, wer dich beschworen hat, um Rachel zu töten, und ob es derjenige oder diejenige dich zurzeit wieder beschwört, um Kraftlinienhexen zu töten.«
Algaliarept wanderte den Flur entlang, bis ich ihn fast nicht mehr sehen konnte, und murmelte: »Das sind sehr wertvol e Fragen. Beide zusammen liegen weit außerhalb unserer Vereinbarung.« Er schaute wieder auf das Buch in seinen Händen und blätterte eine Seite um.
Besorgt sah ich, wie Nick Luft holte, um zu sprechen.
»Nein«, sagte ich schnel , »das ist es nicht wert.«
Nick ignorierte mich und fragte: »Was verlangst du für die Antworten?«
»Deine Seele?«, kam die unbeschwerte Antwort.
Nick schüttelte den Kopf. »Nenn mir einen vernünftigen Preis, oder ich schicke dich sofort zurück und du kannst dich nicht weiter mit Rachel unterhalten.«
Algaliarept strahlte ihn an. »Du wirst langsam dreist, kleiner Zauberer, das gefäl t mir. Dadurch gehörst du schon so gut wie mir.« Mit einem lauten Knal schloss er das Buch.
»Gib mir die Erlaubnis, das Buch mit über die Grenze zu nehmen, und ich verrate dir, wer mich beauftragt hat, Rachel Mariana Morgan zu töten. Ob es dieselbe Person ist, die mich beschwört, um Trenton Aloysius Kalamacks Hexen zu töten, bleibt mein Geheimnis. Für diese Information Ist deine Seele nicht kostbar genug. Es ist schon tragisch, wenn die Vorlieben eines jungen Mannes seine Möglichkeit en übersteigen, nicht wahr?«
Die Erkenntnis, dass er gerade zugegeben hatte, die Hexen getötet zu haben, konnte mich nicht aufheitern. Es war anscheinend pures Glück gewesen, dass Trent und ich überlebt hatten, wenn die anderen Hexen ihn al e nicht hatten abwehren können. Nein, kein Glück, sondern Quen und Nick.
»Und warum wil st du ausgerechnet dieses Buch?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich habe es geschrieben«, erwiderte er so scharf, dass sich die Worte in mein Gehirn einzubrennen schienen.
Nicht gut! Nicht gut, nicht gut, nicht gut! »Gib es ihm nicht, Nick!«
Er drehte sich umständlich um, und wir pral ten in der Enge aufeinander. »Es ist doch nur ein Buch.«
»Es ist dein Buch«, korrigierte ich ihn, »aber meine Frage.
Ich werde schon einen anderen Weg finden, um an den Namen zu kommen.«
Algaliarept lachte leise, trat ans Fenster und schob den Vorhang ein Stück zurück, um auf die Straße zu sehen.
»Bevor ich das nächste Mal geschickt werde, dich zu töten?
Du bist das Gesprächsthema Nummer eins auf beiden Seiten der Grenze, sol test du wissen. Also beeil dich mit deiner Frage. Du möchtest doch sicher nicht, dass ich plötzlich weggerufen werde und deine Angelegenheiten dann noch nicht geregelt sind.«
Nick schaute mich entsetzt an. »Du bist die Nächste, Rachel?«
»Nein«, protestierte ich und hätte Algaliarept am liebsten eine reingehauen. »Er wil dich nur verunsichern, damit du ihm das Buch gibst.«
»Du hast die Kraftlinien benutzt, um Dan zu finden«, meinte Nick aufgebracht, »und jetzt arbeitest du für Trent!
Du stehst auf seiner verdammten Liste, Rachel. Nimm das Buch, AI. Wer hat dich geschickt, um Rachel zu töten?«
»AI?« Der Dämon grinste fröhlich. »Oh, das gefäl t mir. AI!
Ja, du darfst mich AI nennen.«
»Wer hat dich geschickt, um Rachel umzubringen?«, wiederholte Nick fordernd.
Algaliarept strahlte ihn an und verkündete: »Ptah Amnion Fineas Horton Madison Parker Piscary.«
Ich drohte zusammenzubrechen.
»Piscary?«, flüsterte ich schwach. Ivys Onkel war der Hexenjäger? Und er hatte sieben Namen? Wie alt war er eigentlich?
»Algaliarept, verlasse uns jetzt und störe uns nicht mehr In dieser Nacht«, befahl Nick plötzlich.
Das Grinsen des Dämons jagte mir kalte Schauer über den Rücken. »Das kann ich dir aber nicht versprechen«, säuselte er anzüglich und verschwand. Das Buch in seiner Hand fiel auf den Teppich, zugleich drang vom Bücherschrank ein dumpfes Geräusch zu uns herüber. Ich fühlte mich vol kommen ausgelaugt. Was sol te ich nur Ivy sagen? Wie sol te ich mich vor Piscary schützen? Ich hatte mich schon einmal in einer Kirche verkrochen, das wol te ich nicht schon wieder.
»Warte«, meinte Nick und zog mich zurück, bevor ich den Kreis berühren konnte. Ich folgte seinem Blick zu dem Aschehäufchen. »Er ist noch nicht weg.«
Ich hörte Algaliarept fluchen, dann verschwand die Asche.
Nick seufzte erleichtert und trat mit dem Fuß auf die Kreislinie, um den Zauber zu brechen.
»Jetzt kannst du raus.«
Viel eicht war Nick doch besser in so was, als ich angenommen hatte.
Bedrückt blies er die Kerze aus, ließ sich aufs Sofa fal en und blieb zusammengesunken sitzen, den Kopf in die Hände gestützt.
»Piscary«, sagte er, und starrte gedankenverloren auf den Teppich. »Warum kann ich keine normale Freundin haben, die sich nur vor ihrer ehemaligen Jugendliebe verstecken muss?«
»Du bist es doch, der Dämonen beschwört«, konterte ich mit schlotternden Knien. Das Dunkel der Nacht wirkte plötzlich viel bedrohlicher. Nun, da Nick nicht mehr neben mir stand, war im Schrank ausreichend Platz, und am liebsten wäre ich einfach drin geblieben. »Am besten gehe ich zurück in meine Kirche.« Ich dachte darüber nach, mein altes Klappbett aufzubauen und direkt auf dem ehemaligen Altar zu schlafen.
Also, nachdem ich Trent angerufen hatte. Er hatte immerhin gesagt, er werde sich darum kümmern. Sich darum kümmern. Hoffentlich meinte er damit, Piscary zu pfählen.
Der alte Vampir scherte sich einen Dreck um das Gesetz -
warum sol te ich mich also daran halten? Flüchtig prüfte ich mein Gewissen, fand aber nicht die leisesten Skrupel.
Ich schnappte mir meine Jacke und ging in Richtung Tür.
Ich wol te in meine Kirche - mich in die AZE-Decke einhül en, die ich Edden geklaut hatte, und es mir mitten in der gesegneten Kirche bequem machen. »Ich muss telefonieren«, sagte ich mühsam und stoppte auf halbem Weg durch das Wohnzimmer.
»Trent?«, fragte Nick unnötigerweise und reichte mir das schnurlose Telefon.
Nachdem ich die Nummer eingetippt hatte, bal te ich die Hand zu einer Faust, um meine zitternden Finger unter Kontrol e zu kriegen. Jonathans missmutige Stimme meldete sich. Ich schnauzte ihn so lange an, bis er mich zu Trent durchstel te. Endlich hörte ich ein Klicken und das Freizeichen eines Nebenanschlusses. Trent begrüßte mich in freundlichem, professionel em Tonfal : »Guten Abend, Ms.
Morgan.«
»Es ist Piscary«, sagte ich statt einer Begrüßung. Am anderen Ende der Leitung blieb es so lange stil , das ich schon befürchtete, er hätte einfach aufgelegt.
»Er hat Ihnen gesagt, dass Piscary ihn losschickt, um meine Hexen zu töten?«, hakte Trent nach, und ich hörte, wie er gebieterisch mit den Fingern schnippte, anschließend das Kratzen einer Feder auf Papier. Kurz fragte ich mich, ob Quen wohl bei ihm war. Die vorgetäuschte Erschöpfung in seiner Stimme, mit der er seine Besorgnis zu vertuschen versuchte, funktionierte bei mir nicht.
»Ich habe ihn gefragt, ob er im letzten Frühjahr geschickt wurde, um Sie zu töten, und wer ihn für diese Aufgabe beschworen hat.« Mein Magen verknotete sich vor Angst, während ich im Zimmer auf und ab tigerte. »Ich würde vorschlagen, Sie bleiben fürs Erste nach Sonnenuntergang auf heiligem Boden. Sie können doch heiligen Boden betreten, oder?«, fragte ich, unsicher, welche Regeln bei Elfen galten.
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, erwiderte er schroff.
»Ich habe ebenso eine Seele wie Sie auch. Und vielen Dank.
Sobald Sie die Information bestätigt haben, schicke ich einen Kurier mit dem Rest Ihres Honorars.«
Hilflos drehte ich mich zu Nick um. »Bestätigt? Was meinen Sie mit bestätigt?« Meine Hände wol ten einfach nicht aufhören zu zittern.
»Bisher habe ich nur einen Hinweis von Ihnen bekommen«, erklärte er. »Der Einzige, den ich für Hinweise bezahle, ist mein Börsenmakler. Liefern Sie mir einen Beweis, dann wird Jonathan Ihnen einen Scheck ausstel en.«
»Ich habe Ihnen einen verfluchten Beweis geliefert!«, rief ich fassungslos. »Ich habe eben mit dem verdammten Dämon gesprochen, und er hat zugegeben, dass er die Hexen tötet. Was für Beweise brauchen Sie denn noch?«
»Ein Dämon kann von mehr als einer Person beschworen werden, Ms. Morgan. Fal s Sie ihn nicht direkt gefragt haben, ob Piscary ihn gerufen hat, um diese Hexen zu töten, ist das reine Spekulation.«
Ich wandte Nick den Rücken zu, als ich leise sagte: »Dafür hat er zu viel verlangt.« Fahrig strich ich mit der Hand über meinen Zopf. »Aber er hat uns beide auf Piscarys Geheiß hin angegriffen, und er hat zugegeben, die Hexen ermordet zu haben.«
»Das reicht nicht. Ich brauche unwiderlegbare Beweise, bevor ich einen Meistervampir pfähle. Ich würde vorschlagen, Sie besorgen sie unverzüglich.«
»Sie wol en mich doch nur abzocken!«, schrie ich und wanderte zum Fenster, während die Angst in Frustration umschlug. »Und warum auch nicht? Die Howlers haben es getan, das FIB ebenfal s. Warum sol te es bei Ihnen anders sein?«
»Ich betrüge Sie nicht«, sagte er abwehrend, und die seidenweiche Stimme war plötzlich hart wie Stahl. »Aber ich zahle nicht für schlampige Arbeit. Wie Sie selbst angemerkt haben, zahle ich für Resultate, nicht für Strategie-besprechungen, und auch nicht für Spekulationen.«
»Für mich hört sich das so an, als würden Sie mir gar nichts bezahlen! Ich habe Ihnen gesagt, dass es Piscary war.
Aber für lausige zwanzigtausend Dol ar werde ich bestimmt nicht in den Schlupfwinkel eines über vierhundertjährigen Vampirs marschieren und ihn fragen, ob er einen Dämon losschickt, um die Bürger von Cincinnati umzubringen!«
»Wenn Sie den Auftrag ablehnen, erwarte ich, dass Sie mir meinen Vorschuss zurückerstatten.«
Kommentarlos beendete ich das Gespräch.
Ich löste meinen verkrampften Griff um das Telefon und legte es vorsichtig auf den Sims zwischen Küche und Wohnzimmer. Am liebsten hätte ich es an die Wand geschleudert. »Fährst du mich bitte nach Hause?«, fragte ich gepresst.
Nick starrte wie gebannt in sein Bücherregal und ließ den Finger über die Buchrücken gleiten.
»Nick«, rief ich gereizt. »Ich wil jetzt wirklich nach Hause.«
»Warte kurz«, murmelte er, ohne sich von den Büchern ablenken zu lassen.
»Nick!« Ich schrie jetzt und verschränkte aggressiv die Arme vor der Brust. »Du kannst dir deine Bettlektüre ja wohl auch später aussuchen. Ich wil jetzt endlich nach Hause!«
Endlich drehte er sich um. In seinem Gesicht stand blankes Entsetzen. »Er hat es mitgenommen.«
»Was mitgenommen?«
»Ich dachte, er meint das Buch, das er in der Hand hatte.
Aber er das Buch mitgenommen, mit dem du mich zu deinem Schutzgeist gemacht hast.«
Ich zog einen Schmol mund. »AI hat ein Buch über die Bindung von Menschen als Schutzgeister geschrieben? Sol er es doch haben.«
Nick schüttelte erschöpft den Kopf. »Dann verrate mir mal, wie wir ohne das Buch den Bund rückgängig machen sol en?
Mir fiel die Kinnlade runter. »Oh.« Daran hatte ich nicht gedacht.
25
Als draußen ein Motorengeräusch laut wurde, sah ich von meinem Buch auf. Dem typischen rhythmischen Tuckern nach zu urteilen war es Kists Motorrad. Ich rol te mich enger zusammen, zog die Decke bis ans Kinn und schaltete die Nachttischlampe aus. Hinter den angelehnten Buntglasfenstern wurde die Dunkelheit von einem Scheinwerfer durchbrochen.
Ivy war zurück. Fal s Kist mit reinkam, würde ich einfach vorgeben zu schlafen, bis er wieder ging. Doch das Motorrad hielt nur kurz, bevor es sich wieder entfernte. Ich schaute auf die leuchtenden Neonziffern der Uhr. Vier Uhr morgens. Sie war früh dran.
Ich klemmte einen Finger in mein Buch und lauschte auf ihre Schritte auf dem Gehweg. Die Kälte des frühen Septembermorgens hatte sich in meinem Zimmer ausgebreitet. Es wäre wohl schlauer, aufzustehen und das Fenster zu schließen, Ivy würde sowieso gleich die Heizung anmachen.
Ich dankte al en Heiligen dafür, dass mein Schlafzimmer zum ursprünglichen Teil der Kirche gehörte und sich somit auf gesegnetem Boden befand - garantierter Schutz gegen untote Vampire, Dämonen und böse Schwiegermütter. Bis zum Sonnenaufgang war ich in meinem Bett also sicher. Kist war dann zwar immer noch eine Gefahr, aber er würde mich nicht anrühren, solange Ivy lebte. Und wohl auch nicht, wenn sie tot war. Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf.
Ich zog den Finger aus dem Buch und legte es auf die mit einem Tuch bedeckte Kiste, die ich als Tisch benutzte. Ivy war immer noch nicht reingekommen. Aber ich hatte doch gehört, wie Kists Bike weggefahren war. .
Mit klopfendem Herzen wartete ich darauf, Ivys leise Schritte zu hören, oder das Geräusch der zufal enden Kirchentür. Aber ich hörte nur leise Würgegeräusche, die durch die Stil e der Nacht drangen.
»Ivy?« Ich warf die Decke zurück, stieg fröstelnd aus dem Bett, schlüpfte in meinen Bademantel, schob die Füße in die pinken Plüschslipper und eilte in den Flur. Schon halb aus der Tür, kam ich rutschend zum Stehen und ging in mein Badezimmer. Hastig suchte ich in der Dunkelheit aus der Parfümauswahl auf der schäbigen Kommode den richtigen Flakon heraus. Endlich fand ich den neuen Duft, der erst gestern hier aufgetaucht war, und nebelte mich damit ein.
Ein stechender Zitrusgeruch stieg auf, während ich die Flasche so hektisch abstel te, dass dabei die Hälfte der anderen umgestoßen wurde. Ich rannte durch den Altarraum und band mir dabei den Bademantel zu. Hoffentlich funktionierte dieses Zeug besser als das letzte.
Mit einem scharfen Flügelklappern stürzte plötzlich Jenks von der Decke herab und stoppte direkt vor meinem Gesicht.
Ein schwarzes Glühen ging von ihm aus. Ich blinzelte schockiert. Er glühte schwarz?
»Geh da nicht raus«, warnte er mich, und ich hörte Angst in seiner Stimme. »Geh hinten raus, nimm den nächsten Bus, versteck dich bei Nick.«
Mein Blick flog zur Eingangstür, als ich Ivy erneut würgen hörte und neben dem gequälten Keuchen Schluchzer laut wurden.
»Was ist passiert?«, fragte ich zaghaft.
»Sie ist wieder drauf.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Was?«
»Sie ist wieder drauf«, wiederholte er. »Sie zieht sich den H-Saft rein, sie verkostet den Wein. Sie praktiziert wieder, Rachel, und ist deswegen vol kommen durchgedreht. Hau ab. Meine Familie wartet an der hinteren Gartenmauer, bring sie für mich zu Nick. Ich werde hierbleiben und sie im Auge behalten. Damit sie nicht -« Er schaute ängstlich zur Tür. »Ich werde aufpassen, dass sie dir nicht folgt.«
Draußen hörte Ivy plötzlich auf zu würgen. Ich stand in Schlafanzug und Bademantel mitten im Altarraum und lauschte. Totenstil e hatte sich ausgebreitet, und mit ihr kam die Panik und zog an meinen Eingeweiden. Dann war da ein leises Geräusch zu hören, das ich bald als Weinen identifizierte.
»Lass mich durch«, flüsterte ich und ging an Jenks vorbei.
Mit klopfendem Herzen und weichen Knien öffnete ich die schwere Tür.
Das schwache Licht der Straßenlaternen reichte aus, um mir den bemitleidenswerten Anblick zu zeigen: Tief im Schatten der Eichen lag Ivy in ihren Motorradklamotten auf dem Boden. Sie hatte es nur bis zur untersten Stufe der Treppe geschafft, bevor sie zusammengebrochen und hilflos liegen geblieben war. Das dunkle, zähflüssige Ergebnis ihrer Würgeattacken war über die Treppe verteilt und tropfte in dicken Klumpen auf den Gehweg. Der süßliche Geruch von Blut überlagerte sogar meine Zitruswolke.
Ich raffte den Bademantel und ging die Treppe hinunter, mit einer Ruhe und Entschlossenheit, die sich nur nach der schlimmsten Angst einstel t.
»Rachel!«, schrie Jenks. »Du kannst ihr nicht helfen, hau ab!«
Ich zögerte, als ich Ivy erreichte und sie betrachtete. Ihre langen Beine waren merkwürdig verdreht, und ihre Haare hingen in der widerlichen dunklen Brühe. Das heftige Schluchzen war zu einem lautlosen, krampfartigen Weinen geworden. Gott steh mir bei. Lass mich das durchhalten.
Mit angehaltenem Atem packte ich sie von hinten unter den Armen und versuchte, sie auf die Füße zu stel en. Sie zuckte zusammen, als ich sie berührte, aber dann schien sie mich für einen Moment wahrzunehmen. Taumelnd versuchte sie aufzustehen. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wil «, krächzte sie. »Ich habe nein gesagt.«
In mir zog sich al es zusammen, als ich ihre Stimme hörte, sie klang vol kommen verwirrt. Der stechende Geruch des Erbrochenen drang in meinen Hals, doch darunter erkannte ich den Geruch feuchter Erde und Ivys eigenen Ascheduft.
Als ich sie aufrichtete, kam Jenks zu uns raus und begann, mich zu umkreisen. »Vorsichtig«, flüsterte er mir immer wieder ins Ohr. »Sei vorsichtig. Ich kann sie nicht aufhalten, wenn sie dich angreift.«
»Sie wird mir nichts tun«, erwiderte ich gereizt. »Sie ist nicht rückfäl ig geworden, hör ihr doch zu. Jemand hat sie gezwungen.«
Als wir die oberste Stufe erreichten, wurde Ivy von Krämpfen geschüttelt. Sie wol te sich an der Tür abstützen, riss aber die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Wie ein verletztes Tier wand sie sich aus meinem Griff. Keuchend wich ich vor ihr zurück. Ihr Kruzifix war verschwunden.
Sie richtete sich langsam auf und starrte mich an. Mir wurde eiskalt. Ihre schwarzen Augen waren vol kommen leer.
Dann flackerte Hunger in ihnen auf, und sie sprang.
Ich hatte nicht die geringste Chance.
Ivy packte mich am Hals und drückte mich mit dem Rücken an die Kirchentür. Mir schoss das Adrenalin ins Blut.
Unerbittlich presste sie mich gegen das Holz, und ich versuchte verzweifelt Luft zu holen. Ich wol te um mich treten, aber Ivy schob sich näher heran und drückte sich an mich, sodass ich durch den Stoff ihre Körperwärme spürte.
Heiß, sie war viel zu heiß. Panisch zerrte ich an ihren Fingern, um den eisernen Griff um meine Kehle zu lockern.
Hilflos starrte ich in ihre Augen. Sie waren vol kommen schwarz. Angst, Verzweiflung und Hunger brannten darin, aber von Ivy selbst war nichts übrig geblieben. Überhaupt nichts.
»Er hat es mir befohlen«, sagte sie weich. Ihr Ton passte so gar nicht zu dem von Hunger verzerrten Gesicht. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wil .«
»Ivy«, krächzte ich, »lass mich runter.« Sie kral te die Hand noch fester in meinen Hals, und ich keuchte.
»Nicht so!«, schrie Jenks. »Ivy! Das ist nicht das, was du wil st.«
Die Finger an meiner Kehle verkrampften sich. Meine Lunge brannte. Das Schwarz von Ivys Augen schien sich auszudehnen, als mein Körper den Kampf langsam aufgab.
Mit letzter Kraft suchte ich nach der Linie, fand sie und stel te die Verbindung her. Der Sauerstoffmangel dämpfte ineine Sinne, aber es gelang mir, die einströmende Energie zu halten und mit einem mächtigen Schlag freizusetzen.
Ivy wurde zurückgeschleudert, und ich stürzte auf die Knie.
Röchelnd pumpte ich Sauerstoff in meine Lunge. Der Schmerz von dem heftigen Aufpral breitete sich in meinem Körper aus. Hustend tastete ich meinen Hals ab und versuchte gleichmäßig zu atmen. Jenks war nicht mehr als ein grün-schwarzer Fleck, zumindest, bis sich die schwarzen Punkte vor meinen Augen auflösten.
Als ich schließlich hochschaute, sah ich Ivy, wie sie zusammengekauert vor der Tür hockte, die Arme über den Kopf gelegt, als müsse sie sich vor Schlägen schützen, und monoton vor und zurück schaukelte. »Ich habe nein gesagt, ich habe nein gesagt, ich habe nein gesagt«, flüsterte sie wieder und wieder.
»Jenks«, keuchte ich, ohne den Blick von Ivy abzuwenden.
»Flieg los und hol Nick.«
Als ich mich aufrappelte, schwebte der Pixie vor mir. »Ich werde nicht gehen.«
Ich schluckte vorsichtig und griff mir noch einmal prüfend an den Hals. »Na los, hol ihn, fal s er nicht sowieso schon auf dem Weg ist. Er muss gespürt haben, dass ich die Linie benutzt habe.«
Jenks blieb unnachgiebig: »Du sol test abhauen. Lauf weg, solange du noch kannst.«
Ich schüttelte nur den Kopf und konzentrierte mich wieder auf Ivy. Ihr gesamtes Selbstvertrauen, ihre Zuversicht, es war al es zerstört, zurückgeblieben war nur dieses Häufchen Elend, das nicht aufhören wol te zu weinen. Ich konnte nicht gehen. Ich konnte sie nicht zurücklassen, nur weil es sicherer war. Sie brauchte Hilfe, und ich war die Einzige, die sie ihr geben und das viel eicht sogar überleben konnte.
»Verdammt noch mal«, schrie Jenks. »Sie wird dich umbringen!«
»Wir kommen schon klar«, beruhigte ich ihn, während ich zu ihr rüberhumpelte. »Hol Nick. Bitte. Ich brauche ihn jetzt.«
Sein unregelmäßiger Flügelschlag spiegelte seine Unent-schlossenheit. Endlich nickte er und sauste ab, und ließ eine Stil e zurück, die so bedrückend war wie die in einem Sterbezimmer. Schwer schluckend zog ich den Gürtel meines Bademantels enger und flüsterte vorsichtig: »Ivy? Komm, Ivy.
Ich bringe dich rein.« Entschlossen legte ich die Hand auf ihre Schulter, zog sie aber sofort zurück, als Ivy anfing zu zittern.
»Lauf«, flüsterte sie noch, bevor sie aufhörte, sich zu wiegen und in eine angespannte Starre verfiel. Dann hob sie mühsam den Kopf und sah mich an. Ihr Augen waren leer, das Haar hing ihr wirr ins Gesicht. »Lauf«, wiederholte sie.
»Wenn du wegläufst, weiß ich, was ich zu tun habe.«
Ich zitterte, rührte mich aber nicht vom Fleck, da ich sonst eine Instinktreaktion ausgelöst hätte.
Ihr Gesicht verlor jeglichen Ausdruck, dann runzelte sie ganz leicht die Stirn. Das Schwarz ihrer Augen wurde von einer Spur Braun durchbrochen. »Oh Gott, Rachel. Hilf mir!«, wimmerte sie.
Das war angsteinflößender als al es andere.
Meine Beine fühlten sich an wie Gummi, und al es in mir schrie danach wegzulaufen, sie auf den Treppenstufen liegen zu lassen und zu verschwinden. Niemand würde mir Vorwürfe machen deswegen. Doch stattdessen packte ich sie wieder unter den Armen und zog sie hoch. »Komm schon«, sagte ich behutsam. Meine Alarmglocken schril ten, als ich ihre heiße Haut berührte. »Ich bringe dich erst mal rein.«
Sie hing schlaff in meinen Armen. »Ich habe nein gesagt«, fing sie wieder an, und ihre Stimme wurde undeutlich. »Ich habe nein gesagt.«
Ivy war zwar größer als ich, aber ich konnte sie gut mit der Schulter stützen und ihr so das Gehen erleichtern. Ich zog mühsam die schwere Tür auf.
»Er hat mir nicht zugehört«, lal te sie zusammenhanglos, als ich sie über die Schwel e zog und die Tür hinter uns zufal en ließ, sodass die ekelhaften Gerüche der Überreste auf der Treppe ausgesperrt wurden.
Die Dunkelheit des Foyers war mir unheimlich, also stolperte ich vorwärts, bis wir den schwach beleuchteten Altarraum erreichten. Ivy krümmte sich und keuchte wie unter Schmerzen. Auf meinem Bademantel entdeckte ich eine dunkle Schliere. Ich sah genauer hin. »Ivy, du blutest ja!«
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als sie ihre neueste Litanei von »Er hat gesagt, es wäre in Ordnung« unterbrach und anfing zu kichern. Es war ein kehliges, gruseliges Geräusch. Mein Mund wurde trocken.
»Ja«, sagte sie lasziv, »ich blute. Wil st du mal kosten?«
Entsetzt beobachtete ich, wie sie das Gesicht verzog und sich das Kichern in ein verzweifeltes Stöhnen verwandelte. »Jeder sol te es kosten«, wimmerte sie. »Es spielt sowieso keine Rol e mehr.«
Ich biss die Zähne zusammen und verstärkte meinen Griff um ihre Schultern. Jemand hatte sie benutzt. Jemand hatte sie gegen ihren Wil en gezwungen, Blut zu trinken. Sie war nicht zurechnungsfähig, wie ein Drogensüchtiger, der von einem Trip runterkommt.
»Rachel?«, fragte sie unsicher und wol te stehen bleiben.
»Ich glaube, mir wird schlecht. .«
»Wir sind schon fast da«, erwiderte ich grimmig. »Halt durch. Halt einfach durch.« Wir schafften es gerade noch rechtzeitig, und ich hielt ihr die verklebten Haare aus dem Gesicht, während sie sich würgend in ihre schwarze Toilette übergab. Im Schein der Nachttischlampe aus dem Nebenraum sah ich undeutlich, wie das zähflüssige schwarze Blut aus ihrem Mund brach und schloss die Augen. Jetzt schluchzte sie wieder so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte.
Als sie fertig war, betätigte ich schnel die Spülung, damit wenigstens ein Teil des Grauens verschwand.
Ich schaltete das Licht ein, und in der sanften Beleuchtung sah ich das ganze Ausmaß ihres Elends. Ivy hockte weinend auf dem Boden und presste die Stirn gegen den Rand der Toilette. Ihre lederne Hose war bis zu den Knien mit Blut beschmiert, und die Seidenbluse unter ihrer Jacke war zerrissen. Die Fetzen klebten an ihrem Körper, feucht von dem Blut, das von ihrem Hals tropfte. Ich ignorierte die warnende Stimme in meinem Hinterkopf und strich ihr behutsam das Haar aus dem Nacken, um sie besser zu untersuchen.
Mein Magen verknotete sich. Ivys makel oser Hals war brutal ausgerissen worden, der lange, tiefe Riss leuchtete auf ihrer ansonsten bleichen Haut. Er blutete immer noch, und ich hielt den Atem an, denn fal s noch Vampirspeichel in der Wunde war, konnte selbst dieser sanfte Lufthauch sie stimulieren.
Schockiert ließ ich ihre Haare los und wich zurück. In der Welt der Vampire entsprach das einer Vergewaltigung.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wil «, schluchzte Ivy wieder, beruhigte sich aber ein wenig, als sie merkte, dass ich nicht mehr ganz so nah bei ihr stand. »Ich habe nein gesagt.«
Ich schaute in den Spiegel, und ein kreidebleiches, verängstigtes Gesicht starrte mich an. Ich holte tief Luft.
Plötzlich wol te ich einfach nur, dass al es vorbei war. Aber erst musste ich ihr das Blut abwaschen. Ich musste sie ins Bett bringen und ihr ein Kissen zum Reinheulen geben. Ich musste ihr eine Tasse heiße Schokolade machen und einen guten Psychiater besorgen. Gab es überhaupt Psychiater für vergewaltigte Vampire?
Ich legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter. »Komm, Ivy. Wir machen dich erst mal sauber.« Ich schaute zweifelnd auf die Badewanne, in der inzwischen wieder der blöde Fisch herumdümpelte. Nein, sie brauchte eine ordentliche Dusche, kein Bad. Da würde sie nur in dem Dreck sitzen, den sie loswerden musste. »Na los, Ivy«, sagte ich aufmunternd. »Du gehst jetzt in mein Bad und stel st dich unter die Dusche. Ich hole dir in der Zwischenzeit dein Nachthemd. Also, gehen wir. .«
»Nein«, sagte sie abwehrend. Ihre Augen waren wieder glasig geworden, und sie blieb vol kommen apathisch, als ich sie auf die Beine zog. »Ich konnte nicht aufhören, ich habe doch nein gesagt, warum hat er nicht aufgehört?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte ich, und in mir begann es zu brodeln. Ich schleppte sie über den Flur in mein Badezimmer und machte mit dem El bogen das Licht an. Dann stel te ich Ivy neben dem Trockner ab und stel te die Dusche an.
Das Rauschen des Wassers schien sie wiederzubeleben.
»Ich stinke«, flüsterte sie tonlos und schaute an sich herab.
Sie konnte mir nicht in die Augen sehen. »Meinst du, du schaffst es, al ein zu duschen?«, fragte ich in der Hoffnung, irgendeinen Impuls auszulösen.
Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass ihre Kleidung mit erbrochenem Blut getränkt war. Vorsichtig tunkte sie den Finger in die klebrige Flüssigkeit, führte ihn zum Mund und leckte ihn ab. Automatisch verkrampfte sich al es in mir.
Ivy begann wieder zu weinen. »Drei Jahre«, stieß sie erschöpft hervor. Tränen liefen über ihr Gesicht, und als sie sie mit dem Handrücken abwischte, beschmierte sie ihr Kinn mit Blut. »Drei Jahre. .«
Sie ließ den Kopf hängen und begann mechanisch am Reißverschluss an ihrer Hose rumzufummeln. Ich humpelte zur Tür. »Ich mache dir erst mal einen heißen Kakao«, versprach ich und zuckte innerlich zusammen, weil es so absolut unpassend klang. Zögerlich fragte ich: »Kann ich dich ein paar Minuten al ein lassen?«
»Sicher«, hauchte sie, und ich zog leise die Tür zu.
Auf dem Weg in die Küche fühlte ich mich wie in einem bösen Traum gefangen. Der Raum erdrückte mich fast mit seiner beängstigenden Stil e. Ivys improvisierter Schreibtisch mit seiner modernen technologischen Ausstattung bildete eine merkwürdig stimmige Ergänzung zu meinen glänzenden Kupferkesseln, den Porzel anlöffeln und den Kräutern am Trockenregal. Die Küche spiegelte uns perfekt wider - al es war sorgfältig räumlich getrennt, wurde aber durch die gemeinsamen Wände zusammengehalten. Ich hatte das Bedürfnis, jemanden anzurufen, zu schreien, zu fluchen und um Hilfe zu betteln. Aber sie würden mir ja doch nur al e raten, so schnel wie möglich zu verschwinden und Ivy im Stich zu lassen.
Mit zitternden Fingern holte ich die Milch und das Kakaopulver aus dem Schrank und begann, das Getränk anzurühren. Heißer Kakao, dachte ich verbittert. Ivy war vergewaltigt worden, und ich konnte nichts tun, außer ihr eine beschissene Tasse Kakao zu machen.
Es musste Piscary gewesen sein. Nur Piscary verfügte über die Stärke und war furchtlos genug, um sie zu vergewaltigen.
Und es war Vergewaltigung gewesen. Sie hatte ihn gebeten aufzuhören, und er hatte es gegen ihren Wil en getan. So etwas nennt man Vergewaltigung.
Der Timer an der Mikrowel e piepste, und ich zog den Gürtel meines Bademantels enger. Dabei entdeckte ich Blutspuren auf dem Mantel und auch auf meinen Hausschuhen. Zum Teil war es schon geronnen, doch es war auch frisches Blut aus der Halswunde dabei. Die dunkleren Flecken schienen den Stoff zu versengen; es war offenbar das Blut des untoten Vampirs. Kein Wunder, dass Ivy sich die Seele aus dem Leib kotzte, das Blut musste wie Feuer in ihrem Körper brennen.
Entschlossen ignorierte ich den Gestank des schwelenden Blutes, machte den Kakao fertig und brachte ihn in Ivys Zimmer. Die Dusche lief immer noch.
Die Strahlen der Nachttischlampe tauchten den in Weiß-
und Rosatönen gehaltenen Raum in sanftes Licht. Ivys Schlafzimmer entsprach, ebenso wie ihr Bad, so überhaupt nicht der klassischen Vorstel ung vom Unterschlupf eines Vampirs. Die lichtabweisenden Ledervorhänge waren hinter weißen Gardinen versteckt, und eine ganze Wand war komplett mit geschmackvol gerahmten Familienfotos bedeckt, sodass es fast wie eine Art Schrein wirkte.
Da gab es grobkörnige Aufnahmen von der versammelten Familie vor dem Weihnachtsbaum, al e noch im Bademantel und mit ungekämmten Haaren. Urlaubsbilder, auf denen sie mit breiten Hüten und sonnenverbrannten Nasen vor einer Achterbahn standen. Ein Sonnenaufgang am Strand, Ivy und ihre Schwester im Arm ihres Vaters, der sie so vor der morgendlichen Kälte schützte. Die aktuel eren Fotos waren zwar schärfer und kräftiger in der Farbe, aber lange nicht so schön. Das Lächeln der Abgebildeten wirkte mechanisch. Ivys Vater sah erschöpft aus. Die noch frische Distanzierung Ivys.
von ihrer Mutter war spürbar. Auf den neuesten Fotos tauchte ihre Mutter gar nicht mehr auf.
Ich wandte mich von den Bildern ab und schlug Ivys weiche Tagesdecke weg, um die schwarze Satinbettwäsche aufzudecken. Ein feiner Geruch von Holzasche stieg auf. Das Buch auf dem Nachttisch befasste sich mit Tiefenmeditation und Praktiken, die einen auf eine andere Bewusstseinsebene führen sol ten. Meine Wut flammte wieder auf. Sie hatte sich so sehr angestrengt, und jetzt war sie wieder bei Nul .
Warum? Was hatte es ihr jetzt noch gebracht?
Ich stel te die Tasse neben das Buch und ging über den Flur, um den blutverschmierten Bademantel loszuwerden.
Mit fahrigen Bewegungen bürstete ich mir die Haare und zog mir eine Jeans und ein schwarzes, rückenfreies Top an.
Das waren die wärmsten Klamotten, die ich momentan hatte, da die meisten meiner Wintersachen noch eingelagert waren und al es andere schmutzig war. Den Bademantel und die Hausschuhe ließ ich auf dem Boden liegen, und tapste barfuss durch den Flur, um Ivys Nachthemd zu holen, das an ihrer Badezimmertür hing.
»Ivy?« Ich klopfte zaghaft, hörte aber nur das Wasser laufen. Als keine Antwort kam, klopfte ich noch mal und öffnete schließlich die Tür. Die Dampfschwaden trübten die Sicht und machten es mir schwer, richtig zu atmen. »Ivy?«
Langsam bekam ich Angst. »Ivy, ist al es klar?«
Ich fand sie zusammengekauert auf dem Boden der Duschkabine. Das Wasser floss über ihren gebeugten Nacken und vereinigte sich mit dem Blut aus der Wunde zu einem pinken Rinnsal, das in den Abfluss strömte. Aber auch das Wasser auf dem Boden der Kabine war rötlich gefärbt, hauptsächlich rund um ihre Beine. Entsetzt starrte ich auf ihre Oberschenkel, an deren Innenseiten einige tiefe Kratzwunden zu sehen waren. Anscheinend war sie auch im herkömmlichen Sinn vergewaltigt worden.
Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
Ivys Haare klebten am Körper, ihre Gliedmaßen waren merkwürdig verrenkt, und ihre Haut war so bleich, dass die beiden schwarzen Fußkettchen sich abzeichneten wie eiserne Fesseln. Obwohl das Wasser siedend heiß war, zitterte sie wie Espenlaub. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr verzerrtes Gesicht spiegelte eine Erinnerung, die sie ihr Leben lang und bis über den Tod hinaus verfolgen würde.
Wer hat behauptet, dass Vampirismus etwas Glamouröses sei? Es war eine Lüge, eine Täuschung, um die hässliche Realität zu verschleiern.
Ich holte tief Luft. »Ivy?«
Sie riss die Augen auf, und ich zuckte zurück.
»Ich wil nicht mehr nachdenken«, sagte sie leise und starrte mich an ohne zu blinzeln, obwohl ihr das Wasser übers Gesicht lief. »Wenn ich dich töte, muss ich nicht mehr nachdenken.«
Ich stand wie erstarrt. »Sol ich gehen?«, flüsterte ich.
Sie schloss die Augen wieder und verzog schmerzerfül t das Gesicht. Dann zog sie die Knie an, umschlang sie mit den Armen und begann wieder zu weinen. »Ja.«
Unsicher streckte ich mich nach dem Hahn und stel te das Wasser ab. Dann griff ich nach dem Badetuch, das sich plötzlich furchtbar rau anfühlte, und fragte ängstlich: »Ivy?
Ich wil dich nicht anfassen. Bitte steh auf.«
Noch immer weinend rappelte sie sich auf und nahm das Handtuch. Nachdem ich ihr das Versprechen abgenommen hatte, sich abzutrocknen und das Nachthemd anzuziehen, raffte ich ihre blutgetränkte Kleidung zusammen und warf sie mit meinem Bademantel und den Hausschuhen auf die hintere Veranda. Das weiterhin schwelende Blut stank wie verdorbener Weihrauch. Ich würde die Sachen später auf dem Friedhof vergraben.
Als ich zurückkam, fand ich Ivy in ihrem Bett. Sie hatte sich eng zusammengerol t, mit dem Gesicht zur Wand, und ihr feuchtes Haar durchnässte das Kopfkissen. Der Kakao stand unberührt auf dem Nachttisch. Sie lag vol kommen regungslos da, aber als ich die Wol decke vom Fußende des Bettes über sie zog, begann sie wieder zu zittern. »Ivy?« Ich fühlte mich so verdammt hilflos.
»Ich habe nein gesagt.« Ihr Flüstern hal te durch den stil en Raum.
Ich setzte mich auf die hübsch dekorierte Kommode an der Wand. Piscary. Aber ich schwieg, aus Angst, durch diesen Namen etwas Schlimmes auszulösen.
»Kist hat mich zu ihm gebracht«, fuhr sie monoton fort, als erzähle sie eine Geschichte, die bereits lange zurücklag. Sie hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und kral te sich an ihre Schulter. Mir wurde ganz anders, als ich rote Spuren unter ihren Nägeln bemerkte, die nur von selbstzugefügten Kratzern stammen konnten. Ich ging zum Bett, zog die Decke bis zu ihrem Hals hoch und setzte mich dann wieder.
»Kisten hat mich abgeholt, er hatte ihn geschickt, weil er mich sehen wol te«, begann sie noch einmal. Die Worte kamen nur langsam aus ihr heraus, als müsse sie sich überwinden, sie auszusprechen. »Er war wütend. Er sagte, du würdest ihm Ärger machen. Ich erklärte ihm, dass du ihm nichts tun würdest, aber er war so wütend. Er war so böse auf mich.«
Beunruhigt lehnte ich mich zu ihr.
»Er sagte«, fuhr Ivy kaum hörbar fort, »wenn ich dich nicht zähmen könnte, würde er es tun. Ich hatte ihm gesagt, dass ich dich zu meinem Nachkommen machen würde, dass du dich benehmen würdest und dass er dich nicht töten müsste, aber ich habe es nicht geschafft.« Sie sprach jetzt schnel er, fast hektisch. »Es sol te doch ein Geschenk sein, aber du wol test es nicht. Es tut mir so leid, so leid. Ich wol te es dir immer sagen, wol te immer dein Leben beschützen, aber jetzt wil er dich sehen. Er wil mit dir reden. Außer. .« Sie schien sich ein wenig zu beruhigen. »Rachel? Gestern. . als du mir gesagt hast, es täte dir leid. . war das, weil du dachtest, mich zu stark provoziert zu haben, oder weil du mein Angebot abgelehnt hast?«
Ich wol te ihr antworten und war entsetzt, als ich es nicht konnte.
»Wil st du mein Nachkomme werden?«, hauchte sie, verschämt wie bei einer Beichte.
»Nein«, flüsterte ich behutsam, obwohl ich vor Angst fast durchdrehte.
Ihr Rücken bebte, und sie weinte wieder.
»Ich habe auch nein gesagt«, schluchzte sie. »Ich wol te es nicht, aber ihm war das egal. Ich glaube, ich bin tot, Rachel.
Bin ich tot?«
Die plötzliche Furcht ließ ihre Tränen versiegen.
Ich schlang schützend die Arme um den Körper.
»Was ist passiert?«
Sie schnappte nach Luft, brauchte aber noch einen Moment, bevor sie fortfahren konnte: »Er war so wütend. Er sagte, ich hätte ihn enttäuscht. Aber dann sagte er, dass al es gut sei. Dass ich das Kind seines Herzens sei, dass er mich liebe und mir vergeben würde. Er erzählte mir, dass er genau wisse, wie es mit Spielzeugen sei, dass er sich früher selbst welche gehalten hätte, dass sie sich aber immer irgendwann gegen ihre Meister wenden, und dass er seine schließlich töten musste. Wie es ihn verletzt hätte, wenn sie ihn immer wieder betrogen. Er sagte, wenn ich dich nicht ruhig stel en könnte, würde er es für mich tun. Ich sagte, ich würde es tun, aber er wusste, dass ich log.« Sie stöhnte verzweifelt. »Er wusste, dass ich log.«
Ich war also ein Spielzeug. Ein gefährliches Spielzeug, das gezähmt werden musste. So dachte Piscary also über mich.
»Er sagte, dass er mein Bedürfnis nach einer richtigen Freundin, nicht nach einem Spielzeug, verstehen könne, dass es aber zu gefährlich sei, dich so sein zu lassen, wie du jetzt bist. Er sagte, ich hätte die Kontrol e verloren, und die Leute würden schon anfangen reden. Und dann fing ich an zu weinen, weil er so lieb war und ich ihn so enttäuscht hatte.«
Sie sprach jetzt abgehackt, als würde es mit jedem Wort schwerer. »Ich musste mich neben ihn setzen, und er nahm mich in den Arm und flüsterte, wie stolz er auf mich sei und dass er meine Urgroßmutter fast so sehr geliebt hätte, wie er mich liebe. Und das wol te ich doch immer nur, dass er stolz auf mich ist.«
Ivy lachte gequält. »Er sagte, er könne verstehen, dass ich mich nach einer Freundin sehne«, wiederholte sie in Richtung Wand, das Gesicht von den langen Haaren verdeckt. »Er erzählte mir, dass er seit Jahrhunderten auf der Suche nach jemandem sei, der stark genug sei, mit ihm zu überleben. Dass meine Mutter, meine Großmutter und meine Urgroßmutter zu schwach gewesen seien, aber dass mein Wil e stark genug sei, um zu überleben, aber er hat nur gesagt, ich sol e stil sein, und dass ich seine Auserwählte sei, und dass ich für immer bei ihm bleiben würde.«
Ihre Schultern zuckten krampfhaft unter der Decke. »Er hielt mich fest, nahm mir meine Angst vor der Zukunft, sagte immer wieder, dass er mich liebe und stolz auf mich sei. Und dann nahm er meinen Finger und ritzte sich eine Ader auf.«
Mir drehte sich der Magen um, und ich schluckte fieberhaft.
Ihre Stimme veränderte sich, wurde sanft und gleichzeitig hart vor Hunger und Gier. »Oh Gott, Rachel Er ist so alt. Es war, als quel e flüssige, reine Energie aus ihm hervor. Ich versuchte zu gehen. Ich wol te es, versuchte zu entkommen, aber er ließ mich nicht. Ich sagte nein und lief weg, aber er fing mich wieder ein. Ich versuchte zu kämpfen, doch es half al es nichts. Dann bettelte ich, dass er mich gehen lassen sol , aber er hielt mich fest und zwang mich, sein Blut zu trinken.«
Ihre Stimme klang heiser, und sie zitterte am ganzen Körper. Bestürzt setzte mich auf die Bettkante. Ivy beruhigte sich ein wenig, und ich wartete geduldig. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, wol te es aber auch gar nicht; ich hatte Angst vor dem, was ich dort entdecken könnte.
»Und dann musste ich nicht mehr nachdenken«, flüsterte sie erschreckend gefühl os. »Ich glaube, ich wurde kurz ohnmächtig. Ich wol te es. Diese Macht, diese Leidenschaft.
Er ist so alt. Ich zog ihn auf den Boden und klemmte ihn zwischen meinen Beinen ein. Er presste mich an seinen Körper, und ich nahm mir al es, während er mich drängte, immer weiter zu gehen, immer mehr zu trinken. Und ich nahm es, Rachel. Ich nahm mehr, als ich hätte nehmen sol en.
Er hätte mich aufhalten müssen, aber er ließ es geschehen.«
Der Schrecken des Ganzen lähmte mich.
»Kist versuchte, uns aufzuhalten. Er versuchte uns zu trennen, Piscary daran zu hindern, mir immer noch mehr zu geben. Aber mit jedem Schluck verlor ich einen Teil von mir.
Ich glaube, ich. . habe Kist verletzt. Ich glaube, ich habe ihn zerbrochen. Ich weiß nur noch, dass er irgendwann ging und Piscary. .« Als sie den Namen des Meistervampirs aussprach, wurde ihre Stimme weich und kehlig. »Piscary holte mich zurück.« Sie räkelte sich lasziv unter der schwarzen Bettdecke. »Er legte sanft meinen Kopf an seine Schulter und hielt mich fest, und schließlich erkannte ich, dass er mich wol te, und dann fand ich heraus, dass er mir noch so viel mehr geben konnte.«
Ein erschrecktes Keuchen drang aus ihrer Kehle, und sie kauerte sich wieder krampfhaft zusammen, verwandelte sich von der gesättigten Geliebten zurück in das geschlagene Kind. »Ich nahm al es, und er ließ mich. Ich wusste, warum er es zuließ, aber ich tat es trotzdem.«
Ivy schwieg, aber ich spürte, dass das noch nicht al es war.
Ich wol te nichts mehr davon hören, aber sie musste es loswerden, sonst würde es ihr langsam, aber stetig den Verstand rauben.
»Mit jedem Zug, den ich nahm, spürte ich, wie sein Hunger größer wurde. Mit jedem Schluck stieg seine Gier. Ich wusste, was passieren würde, wenn ich nicht aufhörte, aber er sagte, dass es nicht schlimm sei, und es war doch so lange her«, flüsterte sie gequält. »Ich wol te nicht aufhören. Ich wusste, was geschehen würde, aber ich wol te einfach nicht aufhören. Es war al es meine Schuld, al ein meine Schuld.«
Der klassische Satz eines Vergewaltigungsopfers. »Es war nicht deine Schuld«, widersprach ich und legte vorsichtig die Hand auf die Bettdecke, in Höhe ihrer Schulter.
»Doch, war es«, beharrte sie, und wieder wechselte ihre Stimmlage, wurde tief und sinnlich, sodass ich hastig die Hand wegzog. »Ich wusste, was geschehen würde. Als ich ihn vol ständig in mich eingesogen hatte, forderte er sein Blut zurück, genau, wie ich es erwartet hatte. Und ich gab es ihm.
Ich wol te es tun, und es war fantastisch.«
Ich holte zitternd Luft.
»Oh Gott, ja«, flüsterte Ivy. »Ich fühlte mich so lebendig.
Ich hatte drei Jahre lang nicht mehr wirklich gelebt. Ich war eine Göttin. Ich konnte Leben spenden, und ich konnte es nehmen. Ich sah bis auf den Grund seines Wesens und wol te so sein wie er. Und als sein Blut in meinen Adern brannte als wäre es mein eigenes, als seine Kraft und seine Macht mich erfül ten und mir die grässliche, wundervol e Wahrheit seines Daseins offenbarten, fragte er mich, ob ich sein Nachkomme sein würde. Er bat mich, Kistens Platz einzunehmen, erklärte mir, dass er nur darauf gewartet habe, dass ich erkenne, welche Bedeutung es habe, bevor er es mir anbot. Und dass ich nach meinem Tod ihm ebenbürtig sein werde.«
Ich streichelte ihr beruhigend über den Kopf, bis sie die Augen schloss und aufhörte zu zittern. Sie wurde schläfrig, und ihr Gesicht entspannte sich, als ihr Bewusstsein einen Weg fand, mit diesem Alptraum umzugehen. Oder hing ihre Müdigkeit viel eicht damit zusammen, dass der Himmel hinter den Vorhängen langsam hel er wurde?
»Ich ging zu ihm, Rachel«, flüsterte sie, und ihre Lippen bekamen wieder etwas Farbe. »Ich ging zu ihm, und er riss mich wie ein wildes Tier. Ich begrüßte den Schmerz. In seinen Zähnen lag die Wahrheit Gottes, die sich tief in meine Seele grub. Er fiel über mich her, völ ig hemmungslos und vol er Freude, sich seine Macht wieder zu holen, nachdem er sie mir geschenkt hatte. Und ich genoss jeden Moment davon, sogar, als er meine Arme zerquetschte und mir den Hals zerfetzte.«
Ich zwang mich dazu, weiter ihren Kopf zu streicheln.
»Es tat so weh«, wisperte sie mit ganz kleiner Stimme, und ihre Lider flatterten. »Niemand hat genügend Vampirspeichel in sich, um solche Schmerzen zu lindern, und mit meinem Blut nahm er auch meine Qualen in sich auf. Ich wol te ihm mehr geben, ihm meine Loyalität beweisen, ihm zeigen, dass ich sein Nachkomme sein wol te, auch wenn ich ihn enttäuscht hatte, weil es mir nicht gelungen war, dich zu zähmen. Und Blut schmeckt so viel besser, wenn es beim Sex getrunken wird, die Hormone verleihen ihm Süße. Also bot ich mich ihm an. Er lehnte ab, obwohl er es so sehr wol te. Er hatte Angst, mich versehentlich zu töten. Aber ich reizte ihn immer mehr, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Ich wol te es. Ich wol te es sogar noch, als er mich verletzte. Er kostete es vol aus, und wir erreichten den Höhepunkt in dem Moment, als er mich tötete.« Ein Schauer durchlief sie.
»Oh Gott, Rachel. Ich glaube, er hat mich umgebracht.«
»Du bist nicht tot«, flüsterte ich, doch ich hatte Angst, dass sie recht haben könnte. Aber wenn sie tot war, konnte sie sich doch nicht in einer Kirche aufhalten, oder? Es sei denn, sie war noch in der Übergangsphase. Es gab keine festen Regeln, wie lange es dauerte, bis die Körperchemie sich umgestel t hatte. Was, zum Teufel, sol te ich tun?
»Ich glaube, er hat mich umgebracht«, wiederholte sie schlaftrunken. »Ich glaube, ich habe mich selbst umgebracht.« Nun klang sie wieder wie ein verängstigtes kleines Mädchen. »Bin ich tot, Rachel? Wirst du über mich wachen? Aufpassen, dass die Sonne mich nicht verbrennt, während ich schlafe? Wirst du mich beschützen?«
»Shhh«, flüsterte ich. »Schlaf jetzt, Ivy.«
»Ich wil nicht tot sein«, murmelte sie. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich wil nicht Piscarys Nachkomme sein. Ich wil hier bei dir bleiben. Darf ich bei dir bleiben? Wirst du auf mich aufpassen?«
»Ganz ruhig«, raunte ich und strich sanft über ihre Haare.
»Versuch zu schlafen.«
»Du riechst so gut. . nach Orangen«, nuschelte sie. Mein Herz machte einen ängstlichen Sprung, aber wenigstens roch ich nicht nach ihr. Ich streichelte sie immer weiter, bis ihre Atmung tief und regelmäßig wurde. Sofort fragte ich mich, ob sie im Schlaf viel eicht aufhören würde zu atmen. Ich war mir nicht sicher, ob Ivy noch lebte.
Mein Blick glitt zum Fenster, hinter dem sich die beginnende Morgendämmerung abzeichnete. Die Sonne würde bald aufgehen. Und ich wusste überhaupt nichts über Vampire in der Wandlung, außer, dass sie unter der Erde begraben oder in einem lichtlosen Raum sein mussten. Ach ja, und dass sie bei Sonnenuntergang hungrig erwachten. Oh Gott. Was, wenn Ivy wirklich tot war? Ich schaute nachdenklich zu dem Schmuckkästchen auf dem Mahagonitisch, in dem sich ihr Notfal armband befand, das zu tragen sie sich weigerte. Ivy war gut versichert. Wenn ich die Nummer auf dem Silberarmband anrief, wäre innerhalb von fünf Minuten ein Krankenwagen hier, der sie in einen netten unterirdischen Raum schaffen würde, aus dem sie bei Einbruch der Nacht als wunderschöne Untote auferstehen würde.
Ich stand auf und ging in mein Zimmer, um mein kleines Kruzifix zu holen. Fal s Ivy tot war, würde sie darauf reagieren, auch wenn sie sich noch im Übergang befand. In einer Kirche ohnmächtig zu werden ist eine Sache, ein geweihtes Kreuz auf der Haut eine ganz andere.
Nervös kehrte ich an ihr Bett zurück und hielt mein Amulettarmband über ihren Kopf. Keine Reaktion. Ich nahm das Kreuz und hielt es direkt hinter dem Ohr über ihren Hals.
Beruhigt stel te ich fest, dass sie darauf auch nicht reagierte.
Für den Fal , dass ich mich irrte, bat ich sie wortlos um Verzeihung und berührte mit dem Kreuz die bleiche Haut.
Sie rührte sich nicht, und ihr Puls schlug gleichmäßig weiter.
Als ich das Kreuz wegzog, war ihre Haut unversehrt.
Ich richtete mich auf und sprach ein stil es Dankgebet. Sie war wohl doch nicht tot.
Langsam schlich ich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Piscary hatte Ivy nur aus einem Grund vergewaltigt: Er wusste, dass ich es herausfinden würde. Ivy hatte gesagt, er wol e mit mir reden. Wenn ich mich hier in der Kirche verkroch, würde er sich als Nächstes meine Mutter vornehmen, dann Nick, und anschließend würde er sich wahrscheinlich auf die Suche machen und meinen Bruder aufspüren. Ich musste an Ivy denken, zusammengekauert unter ihrer Decke, vol kommen erschöpft von diesem Alptraum. Meine Mutter würde die Nächste sein. Und sie würde sterben, ohne auch nur den Grund für die schreckliche Folter zu erfahren.
Vol kommen aufgewühlt ging ich ins Wohnzimmer und griff zum Telefon. Meine Finger zitterten so stark, dass ich zweimal ansetzen musste, bevor es mir gelang, die Nummer zu wählen. Dann musste ich mich drei kostbare Minuten lang mit diversen Leuten rumstreiten, bis ich endlich zu Rose durchgestel t wurde.
»Es tut mir leid, Ms. Morgan«, antwortete sie mit eisiger Höflichkeit. »Captain Edden ist nicht hier, und Detective Glenn möchte nicht gestört werden.«
»Nicht ge-«, stammelte ich aufgebracht. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich weiß, wer sie al e umgebracht hat. Wir müssen sofort handeln, bevor er jemanden auf meine Mutter ansetzt!«
»Es tut mir leid, Ms. Morgan«, wiederholte sie unbeeindruckt. »Sie sind nicht mehr länger als Berater für uns tätig. Fal s Sie eine Beschwerde haben oder einen Notfal melden möchten, verbinde ich Sie gerne mit der Zentrale.«
»Nein, warten Sie!«, flehte ich. »Sie verstehen mich nicht.
Lassen Sie mich doch bitte einfach mit Detective Glenn sprechen!«
»Nein, Morgan.« Roses ruhige Stimme wurde scharf. »Sie verstehen nicht. Niemand hier wil mit Ihnen sprechen!«
»Aber ich weiß, wer der Hexenjäger ist!«, schrie ich, doch die Leitung wurde unterbrochen.
»Ihr erbärmlichen Vol idioten!«, brül te ich und warf das Telefon quer durchs Zimmer. Es knal te gegen die Wand, die Batterien fielen heraus und rol ten über den Boden. Frustriert stampfte ich in die Küche, kippte Ivys Stiftebecher aus und griff mir einen davon. Damit kritzelte ich eine Nachricht auf einen Zettel, um ihn an der Kirchentür zu befestigen.
Nick war bereits auf dem Weg hierher. Mit Nick würde Glenn reden. Er würde das FIB davon überzeugen, dass ich recht hatte, und ihnen sagen, wohin ich gegangen war. Dann würden sie ausrücken müssen, und sei es nur, um mich zu verhaften. Am liebsten hätte ich Nick zur LS. geschickt, aber die waren wahrscheinlich al e von Piscary geschmiert.
Menschen hatten zwar genauso wenig Chancen, einen Meistervampir zu überwältigen wie ich, doch viel eicht reichte die Ablenkung schon aus, um mir den Arsch zu retten.
Entschlossen öffnete ich den Schrank, nahm wahl os Amulette von den Haken und warf sie in meine Tasche. Dann zog ich eine der unteren Schubladen auf und schnappte mir drei Holzpfähle. Vorsichtshalber packte ich auch noch das Fleischermesser dazu. Als Nächstes kam die Splat Gun. Ich lud sie mit dem stärksten Zauber, über den eine weiße Hexe verfügt - Schlaftränken. Aus einer Schublade unter der Arbeitsplatte kramte ich eine Flasche mit Weihwasser hervor.
Ich überlegte einen Moment lang, dann öffnete ich sie, nahm einen kräftigen Schluck, schraubte sie wieder zu und stopfte sie zu den restlichen Sachen in die Tasche. Normalerweise nützte Weihwasser nicht viel, solange es nicht das Einzige war, was man in den drei Tagen zuvor getrunken hatte, aber mir war jedes Abschreckungsmittel recht.
Sobald ich al es beisammen hatte, ging ich in den Flur, schlüpfte in meine Stiefel und machte mich ohne sie zuzubinden auf den Weg zur Tür. Im Vorraum drehte ich um und ging zurück in die Küche. Nachdem ich mir eine Handvol Kleingeld für den Bus geschnappt hatte, verließ ich die Kirche. Piscary wol te mit mir reden? Gut. Ich hatte ihm einiges zu sagen.
26
Um fünf Uhr morgens war der Bus randvol mit lebenden Vamps und Möchtegern-Vampiren, die auf dem Heimweg waren. Sie wichen mir al e so gut wie möglich aus.
Wahrscheinlich stank ich nach Weihwasser. Viel eicht sah ich in meinem hässlichen Wintermantel mit dem Kunstpelzkragen aber auch nur so ätzend aus. Ich hatte ihn angezogen, damit der Busfahrer mich nicht erkannte und ich mitgenommen wurde. Aber höchstwahrscheinlich lag es an den Pfählen.
An der Haltstel e bei Piscarys stieg ich aus, wartete aber noch, bis sich die Türen geschlossen hatten und der Bus weiterfuhr. Mit dröhnendem Motor entfernte er sich, bis das Geräusch im zunehmenden Verkehr unterging. Ich kniff die Augen zusammen und schaute in den hel er werdenden Himmel. Mein dampfender Atem legte sich über das zarte Blau. Viel eicht war es das letzte Mal, dass ich den Himmel sah. Bald würde die Sonne über den Horizont steigen. Es wäre sicherlich klüger zu warten, bis sie aufgegangen war, bevor ich da reinging.
Ich gab mir einen Ruck und ging auf das zweistöckige Gebäude zu. Die Fenster waren al e verdunkelt, aber die Jacht lag noch am Kai, und das Wasser schlug sanft gegen den Bug. Auf dem hinteren Parkplatz standen noch ein paar Autos. Wahrscheinlich die der Mitarbeiter. Während ich entschlossen auf die Tür zuging, öffnete ich meine Tasche.
Ich zog die Pfähle raus und schmiss sie weg, sodass mit einem lauten Klappern auf dem Asphalt aufschlugen. Es war albern gewesen, sie mitzunehmen. Als ob ich einen untoten Vampir pfählen könnte. Die Splat Gun an meinem Rücken war auch nicht mehr als eine leere Geste, da ich bestimmt durchsucht würde, bevor sie mich zu Piscary brachten. Der Meistervampir wol te mit mir reden, aber ich war nicht so naiv zu glauben, dass es dabei bleiben würde. Wenn ich ihm mit meinen Zaubern und Amuletten entgegentreten wol te, würde ich mir den Weg freikämpfen müssen. Wenn ich zuließ, dass sie mir al es abnahmen, würde ich zwar unbeschadet reinkommen, wäre ihm aber dann hilflos ausgeliefert.
Ich öffnete die Weihwasserflasche, trank den Rest, spritzte mir die letzten Tropfen in die Hände und rieb mir damit den Hals ein. Dann ließ ich die leere Flasche den Pfählen folgen.
Die Angst um meine Mutter und der Hass auf Ivys Peiniger beschleunigten meine Schritte. Wenn es zu viele waren, würde ich ohne Zauber reingehen. Mit Nick und dem FIB
hatte ich ja noch ein Ass im Ärmel.
Als ich die schwere Tür aufzog, begann das bekannte Ziehen im Magen. Die schwache Hoffnung, dass niemand hier sein könnte, hatte sich erledigt, als sich ungefähr sechs lebende Vampire, die noch mit diversen Arbeiten beschäftigt waren, nach mir umdrehten. Die menschlichen Angestel ten waren schon weg. Wahrscheinlich hatten diese hübschen, narbigen, hingebungsvol en Mitarbeiter ihre bevorzugten Gäste nach Hause begleitet. Jetzt, während der Aufräumarbeiten, war die Pizzeria hel erleuchtet. Der große getäfelte Raum, der sonst so mysteriös und elektrisierend wirkte, war nur noch dreckig und verlassen. Hier sah es ein bisschen so aus, wie ich mich fühlte.
Die schulterhohe Wand aus Buntglas, die den Raum unterteilt hatte, war zerbrochen. Eine zierliche Frau mit langen Haaren kehrte die grünen und goldenen Scherben an die Wand. Sie unterbrach ihre Arbeit und lehnte sich auf ihren Besen, als ich hereinkam. Ein intensiver, süßlicher Geruch drang in meine Nase, und ich wäre am liebsten rückwärts wieder rausgegangen, als ich ihn erkannte. Vamp-Pheromone - die Luft war vol davon.
Zumindest hat sich Ivy heftig gewehrt, dachte ich, als ich sah, dass die meisten Anwesenden Verbände oder Prel ungen aufwiesen, und dass sie al e, bis auf den Vampir an der Bar, so richtig mies gelaunt waren. Einer war gebissen worden, sein Hals war zerfetzt und der Kragen seiner Uniform war zerrissen. Im hel en Morgenlicht waren der Glamour und die Verführungskraft der Vamps wie weggewischt, jetzt wirkten sie nur noch müde und irgendwie hässlich. Ja, so waren sie regelrecht abstoßend. Trotzdem begann die Narbe an meinem Hals zu prickeln.
»Na, sieh mal an, wer kommt denn da?«, fragte der Vampir an der Bar gedehnt. Seine Uniform war ein wenig edler als die der anderen. Als er merkte, dass ich auf sein Namensschild starrte, nahm er es ab. Samuel - das war also der Vampir, der Tarra erlaubt hatte, oben zu arbeiten, als wir hier waren. Er stand auf, lehnte sich über den Tresen und legte einen Schalter um. Das »Geöffnet«-Schild hinter mir erlosch.
»Du bist also Rachel Morgan?«, fragte er herablassend.
Ich klammerte mich an meine Tasche und marschierte dreist an dem BITTE WARTEN SIE, WIR BEGLEITEN SIE ZU
IHREM TISCH-Schild vorbei. Oh ja, ich war ein ganz böses Mädchen. »So ist es«, erwiderte ich, während ich mir wünschte, hier würden nicht so viele sperrige Tische rumstehen. Dann gelang es meiner Vorsicht, sich gegen die Wut durchzusetzen, und ich zögerte. Ich hatte Regel Nummer eins verletzt: Nähere dich ihnen nie, wenn du aufgebracht bist. Was noch nicht so schlimm gewesen wäre, wenn ich nicht auch noch Regel Nummer zwei missachtet hätte: Versuche nie, einen untoten Vampir auf seinem eigenen Terrain zu stel en.
Die Kel ner beobachteten mich reglos, und meine Anspannung stieg, als Samuel die Eingangstür abschloss, sich umdrehte, und den Schlüsselbund quer durch den Raum warf. Neben dem ungenutzten Kamin bewegte sich etwas, und ich erkannte, dass dort jemand den Arm hob. Es war Kisten, der bis dahin im Schatten verborgen geblieben war.
Er fing den Schlüssel mühelos auf und ließ ihn verschwinden.
Ich wusste nicht, ob ich ihn nun hassen sol te oder nicht. Er hatte Ivy wie ein Stück Mül bei uns abgeladen, aber er hatte auch versucht, die beiden aufzuhalten.
»Und wegen der macht Piscary sich Sorgen?«, höhnte der süße Samuel. »Die besteht ja nur aus Haut und Knochen. Hat oben rum nicht viel zu bieten. .«, er grinste anzüglich, ». .und hintenrum auch nicht. Ich dachte, du wärst größer.«
Er griff nach mir. Instinktiv schlug ich seine Hand weg und wol te ihm eine verpassen, aber er fing meine Faust ab. Ich drehte mich aus seinem Griff, packte sein Handgelenk und trat ihm mit Wucht in den Magen. Keuchend taumelte er zurück und brach zusammen. Ich setzte ihm nach und verpasste ihm noch einen Tritt in den Unterleib. »Und ich dachte, du wärst cleverer«, konterte ich, als ich zurücktrat. Er krümmte sich röchelnd auf dem Boden.
Das hätte ich wohl besser nicht getan.
Die Kel ner ließen ihre Putzlappen und Besen fal en und näherten sich mir bedächtig. Sie kreisten mich ein. Hastig schlüpfte ich aus dem Mantel und schob mit dem Fuß einen Tisch zur Seite, um mir mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Sieben Ladungen in der Splat Gun. Neun Vampire. Damit würde ich sie nicht al e erledigen können. Ich zitterte in dem Luftzug, der meine nackten Schultern umspielte.
»Nein«, sagte Kist in seiner Ecke. Die Vampire zögerten.
»Ich habe nein gesagt!«, brül te er, stand auf und kam zu uns rüber. Er ging langsam, um ein Humpeln zu kaschieren.
Die Gesichter der anderen verzerrten sich wütend, aber sie blieben stehen, in einem Abstand von ungefähr drei Metern.
Drei Meter. Ich musste an das Training mit Ivy denken. Das entsprach ziemlich genau der Sprungreichweite lebender Vampire.
Der Junge mit den angeschlagenen Eiern erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Boden. Kist drängte sich in den Kreis und baute sich breitbeinig vor ihm auf. In dem dunklen Seidenhemd und der Anzugshose wirkte er um einiges eindrucksvol er als in seiner Lederkluft. Seine stoppelige Wange war durch eine große Prel ung entstel t, die knapp unter dem Auge endete. Aus seiner Haltung konnte ich schließen, dass ihm die Rippen wehtun mussten, doch das war sicher al es nicht so gravierend wie sein verletzter Stolz. Er hatte seinen Nachkommenstatus an Ivy verloren.
»Er sagte, wir sol en sie runterbringen, nicht aufmischen«, sagte er und funkelte mich wütend an, als mein Blick an den Kratzern auf seiner Stirn hängen blieb. Das sah stark nach Fingernägeln aus.
Obwohl Samuel größer war als er, wurde Kists Autorität nicht infrage gestel t. Seine übliche verführerische Unbeschwertheit war einer Unbarmherzigkeit gewichen, die ihm die Art von Härte verlieh, die ich bei Männern unglaublich sexy fand. Wie jede Führungskraft hatte Kist Probleme mit seinen Untergebenen, und die Tatsache, dass er sich mit so banalem Mist herumschlagen musste, machte ihn irgendwie noch anziehender. Ich musterte ihn unverhohlen und meine Gedanken verselbstständigten sich dabei. Verdammte Vamp-Pheromone.
Immer noch keuchend, schaute Samuel zwischen Kist und mir hin und her. »Sie muss durchsucht werden.« Er leckte sich über die Lippen und sah mich herausfordernd an. Mein Puls raste. »Ich werde das machen.«
Ich dachte daran, meine Splat Gun zu ziehen, aber es waren einfach zu viele.
»Ich werde sie durchsuchen«, widersprach Kist, und in seinen blauen Augen breitete sich Schwärze aus.
Fantastisch.
Samuel zog sich schmol end zurück, und Kist forderte mich wortlos auf, ihm meine Tasche zu geben. Ich zögerte, aber als er warnend eine Augenbraue hob, reichte ich sie ihm doch. Er ließ sie unsanft auf den nächsten Tisch fal en. »Und jetzt die Sachen, die du am Körper trägst«, bat er ruhig.
Ich sah ihm direkt in die Augen, griff langsam nach der Splat Gun und gab sie ihm. Keiner der Vampire reagierte. Sie hatten offenbar keinerlei Respekt vor der kleinen roten Waffe. Aber sie hatten ja auch keine Ahnung, womit sie geladen war. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass ich sie nicht würde einsetzen können, als hatte ich nur eine Möglichkeit verloren, die nie wirklich existiert hatte.
»Was ist mit dem Kreuz?«, fragte Kist, und ich streifte das Amulettarmband ab und ließ es in seine Hand fal en.
Kommentarlos legte er es zusammen mit der Waffe hinter sich auf den Tisch. Dann kam er auf mich zu und bedeutete mir, die Arme auszubreiten, was ich auch brav tat. Er begann mich abzutasten.
Zähneknirschend fühlte ich, wie er mit den Händen über meinen Körper strich. Wo er mich berührte, spürte ich ein Kribbeln, das sich langsam zur Körpermitte hin ausbreitete.
Nicht die Narbe, nicht die Narbe, dachte ich verzweifelt, da ich genau wusste, was passieren würde, fal s er sie berührte.
Hier schwebten so viele Vamp-Pheromone herum, dass man sie beinahe sehen konnte, und al ein der sanfte Luftzug der Klimaanlage löste leichte, wohlige Schauer aus, die von meinem Hals abwärts wanderten. Ich war erleichtert, als er die Hände zurückzog.
»Den Ring an deinem kleinen Finger«, forderte er. Ich nahm ihn ab und drückte ihn ihm unsanft in die Hand. Er warf ihn neben meine Waffe. Dan baute er sich wieder vor mir auf, musterte mich ausdruckslos und erklärte unverblümt: »Wenn du dich bewegst, stirbst du.«
Ich verstand überhaupt nichts und starrte ihn wortlos an.
Er näherte sich vorsichtig, und ich konnte seine Anspannung spüren, sah seine verhaltenen Bewegungen, während er abzuschätzen versuchte, wie ich mich verhalten würde. Als er ganz dicht vor mir stand, spürte ich seinen Atem auf meinem Schlüsselbein und musste daran denken, wie er vier Tage zuvor mein Ohr liebkost hatte. Er neigte den Kopf und sah mich an, zögerte. Seine Augen waren wieder blau, doch sie waren vol kommen leer, ich konnte keinen Hunger darin erkennen.
Mit einem Finger strich er sanft über mein Ohr und ließ ihn dann den Hals hinab und über die Narbe wandern. Ich taumelte kurz, atmete dann aber tief ein und richtete mich auf. Die Erregung brannte in meinem Körper, als ich zum Schlag ausholte, doch Kist fing meine Hand ab und zog mich an sich. Ich duckte mich in eine Drehung und riss den Fuß hoch, aber wieder kam er mir zuvor, hob mich blitzschnel hoch und ließ mich einfach fal en.
Ich pral te schmerzhaft mit dem Hintern auf den Boden.
Die anderen Vampire lachten, aber Kists Gesicht war wie versteinert. Keine Wut, keine Berechnung, nichts.
»Du riechst wie Ivy«, sagte er, als ich wieder auf die Füße kam. »Aber du bist nicht an sie gebunden.« Ein Hauch von Befriedigung brach durch die ausdruckslose Maske. »Sie konnte es nicht.«
»Was redest du da eigentlich?«, fauchte ich, während ich mir wütend und erniedrigt den Staub von den Klamotten klopfte.
Seine Augen wurden schmal. »Das hat sich gut angefühlt, nicht wahr? Als ich deine Narbe berührt habe? Wenn ein Vampir dich mit Blut an sich gebunden hat, kann nur noch er so eine Reaktion auslösen. Wer hat dich gebissen und sich dann nicht die Mühe gemacht, Anspruch auf dich zu erheben?« Er wirkte jetzt nachdenklich, und ich entdeckte Lust in seinen Augen. »Oder hast du ihn hinterher getötet, damit er dich nicht an sich binden kann? Du bist wirklich ein böses Mädchen.«
Ich schwieg, sol te der doch glauben, was er wol te.