Glenn sagte nichts dazu. »Die dunkle Kunst ist nicht nur krank und ekelhaft, sie ist auch extrem gefährlich, da sie immer gegen den Verursacher zurückschlägt.« Apropos schlagen. Ihm den Fuß in den Magen zu rammen oder ihn in Handschellen zu legen, wäre im Moment auch nicht schlecht.
Ich wählte ein Amulett, ließ drei weitere Blutstropfen darauf fal en und beschwor den Zauber. Als ich ihm anschließend das Amulett reichte, erinnerte ich mich an den Moment, als ich versucht gewesen war, schwarze Magie anzuwenden. Ich hatte es überlebt, aber ein Dämonenmal war chreckliches Souvenir zurückgeblieben. Mein einziger Frevel hatte darin bestanden, in das Buch zu sehen. Die schwarze Magie schlägt immer zurück. Immer!
»Ist da ist dein Blut drin.« Auf seinem Gesicht zeigte sich Abscheu »Mach ein anderes, ich gebe dir dann mein Blut dafür«.
»Deins? Mit deinem Blut wird es nicht funktionieren, es muss von einer Hexe stammen. Du hast nicht die richtigen Enzyme, um den Spruch zu katalysieren.« Ich hielt es ihm direkt unter die Nase, aber er schüttelte nur den Kopf.
Frustriert knirschte ich mit den Zähnen. »Dein Dad hat auch eins benutzt, du Jammerlappen. Jetzt nimm es schon, damit wir weitermachen können!« Streitlustig drückte ich das Amulett in seine Hand, und er schloss behutsam die Finger darum.
»Besser?«
»Äh, ja.« Sein kantiges Gesicht wirkte plötzlich entspannt.
»Ja, es ist viel besser.«
»Natürlich ist es jetzt besser«, murmelte ich. Ein wenig besänftigt nahm ich die restlichen Amulette und hängte sie in den dafür vorgesehenen Wandschrank. Glenn betrachtete wortlos meinen Vorrat, der sich auf einzelne Haken mit genau beschrifteten Schildchen verteilte. Ein weiterer Beweis für Ivys Ordnungszwang. Wie auch immer. Sie war glücklich damit, und mir tat es nicht weh. Mit einem lauten Knal schloss ich die Tür und drehte mich um.
»Vielen Dank, Ms. Morgan.« Dieser fast schon emotionale Ausbruch überraschte mich jetzt aber wirklich.
»Nichts zu danken«, antwortete ich, froh darüber, dass er mich nicht mehr mit Madam anredete. »Achte darauf, dass das Amulett nicht mit Salz in Berührung kommt. Es sol te ein Jahr lang wirken. Es hilft übrigens auch bei Giftefeu.« Ich begann das Chaos um mich herum zu beseitigen. »Tut mir leid, dass ich Jenks erlaubt habe, dich so anzupixen.
Normalerweise breiten sich die Blasen nicht so aus.«
»Machen Sie sich keine Gedanken.« Er griff nach einem von Ivys Bestel katalogen am Ende des Tisches, zog aber schnel die Hand zurück, als er die Abbildungen der geschwungenen rostfreien Stahldolche sah, die gerade im Angebot waren.
Ich schob mein Zauberbuch in die Schublade unter der Arbeitsplatte, froh, dass er endlich etwas lockerer wurde. »Bei Inderlandern gilt: Manchmal können die Kleinsten am härtesten zuschlagen.«
In diesem Moment wurde mit einem lauten Knal die Vordertür zugeschlagen. Ich erstarrte und kreuzte die Arme vor der Brust. Erst jetzt realisierte ich, dass das Motorengeräusch, das ich kurz zuvor gehört hatte, von Ivys Motorrad stammen musste. Glenn sah mir in die Augen. Als er meine Besorgnis erkannte, richtete er sich auf und blieb kerzengerade sitzen. Ivy war da.
»Al erdings nicht immer«, beendete ich meine Ausführung.
5
Die Augen auf den leeren Flur gerichtet, signalisierte ich Glenn sitzen zu bleiben. Mir blieb keine Zeit mehr für Erklärungen. Wie viel hatte Edden ihm erzählt? Oder war es eine seiner fiesen, aber effektiven Methoden, um Glenns raue Kanten zu glätten?
»Rachel?«, ertönte Ivys melodiöse Stimme. Glenn schoss in die Höhe und überprüfte die Bügelfalten in seiner grauen Hose. Oh ja, sehr hilfreich. »Wusstest du, dass vor Keasleys Haus ein FIB-Wagen parkt?«
»Setz dich, Glenn«, warnte ich ihn. Als er meinem Befehl nicht nachkam, stel te ich mich zwischen ihn und die große Tür, die zum Flur führte.
»Igitt!« Jetzt klang Ivys Stimme gedämpft. »In meiner Badewanne schwimmt ein Fisch! Ist das der von den Howlers? Wann holen sie ihn ab?« Ivy schien auf eine Antwort zu warten. Ich warf Glenn ein gequältes Lächeln zu.
»Rachel?« Ihre Stimme kam näher. »Bist du da? Hey, wir sol ten heute Abend ins Einkaufszentrum gehen.
Bath and Bodyworks haben einen Duft auf Zitronenbasis wiederaufgelegt, den es vor einigen Jahren schon mal gegeben hat. Wir müssen uns die Probefläschchen schnappen. Mal sehen, ob das Zeug wirkt. Damit können wir feiern, dass du die Miete zusammengekriegt hast. Was hast du gerade aufgelegt? Zimt? Das riecht nicht schlecht, hält aber nur drei Stunden lang.«
Das hätte sie mir auch mal früher verraten können! »Ich bin in der Küche«, rief ich. Ivys großer, in schwarz gehül ter Körper glitt am Eingang zur Küche vorbei.
Über ihrer Schulter hing ein Leinenbeutel mit ihren Einkäufen und ihr schwarzer Seidenmantel flatterte um ihre hochhackigen Stiefel. Jetzt suchte sie offenbar etwas im Wohnzimmer. »Ich hatte mir schon gedacht, dass du den Fisch nicht sofort loswirst.« Nach einer kurzen Pause redete sie weiter. »Verdammt noch mal, wo ist das Telefon?«
»Hier in der Küche«, antwortete ich und verschränkte unbehaglich die Arme. Als sie Glenn sah, blieb Ivy wie angewurzelt in der Tür stehen. Ihre leicht orientalischen Gesichtszüge wurden vor Überraschung vol kommen ausdruckslos, und ich konnte quasi dabei zusehen, wie sie ihre inneren Mauern hochfuhr, als ihr klar wurde, dass wir nicht al ein waren. Die Haut um ihre Augen zog sich zusammen, ihre zarten Nasenflügel bebten, als sie Glenns Körpergeruch in sich aufnahm. Augenblicklich erkannte sie seine Angst und meine Sorge. Mit zusammengepressten Lippen legte sie die Einkaufstasche auf die Arbeitsplatte und strich sich das Haar aus den Augen. Wie eine geschmeidige schwarze Wel e legte es sich auf ihren Rücken und ich wusste, dass weder Besorgnis noch Nervosität der Grund für diese Geste waren.
Ivy hatte früher Geld gehabt und kleidete sich immer noch entsprechend. Aber als sie zusammen mit mir die LS. verließ, war fast ihre gesamte Erbschaft für die Ablösung des Vertrags draufgegangen. Kurz gesagt: Sie wirkte wie ein Furcht einflößendes Model - geschmeidig, bleich und außergewöhnlich stark. Im Gegensatz zu mir trug sie weder Nagel ack noch Schmuck, abgesehen von zwei schwarzen Fußkettchen mit Kreuzornamenten, und sehr wenig Make-up
- sie hatte es einfach nicht nötig. Aber genau wie ich war sie ständig pleite, zumindest bis ihre Mutter endgültig starb und ihr damit den Rest des Tamwood-Vermögens vererbte. Was schätzungsweise noch ungefähr 200 Jahre dauern würde -
mindestens.
Ivys schmale Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie Glenn von Kopf bis Fuß beäugte.
»Hast du dir schon wieder Arbeit mit nach Hause genommen, Rachel?«
Ich holte tief Luft. »Hi, Ivy. Das ist Detective Glenn. Du hast heute Nachmittag mit ihm gesprochen, ihn geschickt, um mich abzuholen!« Ich sah sie vielsagend an. Darüber mussten wir später noch reden.
Ivy drehte Glenn den Rücken zu und packte die Lebensmittel aus. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie ausdruckslos. Dann murmelte sie in meine Richtung: »Sorry, aber mir ist etwas dazwischengekommen.«
Glenn schluckte schwer. Er sah verängstigt aus, schien aber durchzuhalten. Wahrscheinlich hatte Edden ihm nichts von Ivy erzählt. Guter Mann! »Du bist ein Vampir«, sagte er.
»Oho, was für ein schlaues Bürschchen.«
Er fummelte mit den Fingern an dem Halsband seines neuen Amuletts und zog dann ein Kreuz aus seinem Hemd hervor. »Aber die Sonne scheint doch.« Es klang, als fühlte er sich betrogen.
»Und ein Meteorologe ist er auch noch.« Sie sah ihn scharf an. »Ich bin noch nicht tot, Detective Glenn. Nur die wahren Untoten haben Probleme mit dem Licht. Kommen Sie in sechzig Jahren wieder - viel eicht mache ich mir dann Sorgen wegen Sonnenbrand.« Sie erblickte das Kreuz, lächelte herablassend und zog ihr eigenes, aufwändig gearbeitetes Kruzifix aus dem Ausschnitt ihres eng anliegenden Shirts.
»Das funktioniert nur bei toten Vampiren«, meinte sie und drehte sich wieder zur Arbeitsplatte. »Woher haben Sie Ihr Wissen, aus B-Movies viel eicht?«
Glenn wich einen Schritt zurück. »Captain Edden hat mir nicht gesagt, dass Sie mit einem Vampir zusammenarbeiten«, stammelte er. Als Ivy Eddens Namen hörte, wandte sie sich um. Die Vampirgeschwindigkeit erschreckte mich immer wieder. Das hier sah nicht gut aus. Sie begann ihn in einen Bann zu ziehen. Verdammt. Ich sah aus dem Fenster. Die Sonne würde bald untergehen. Verdammt, verdammt.
»Ich habe von Ihnen gehört«, sagte Glenn und die Arroganz in seiner Stimme, mit der er wohl seine Unsicherheit verbergen wol te, ließ mich zusammenfahren.
Nicht einmal Glenn konnte so blöd sein, einen Vampir im eigenen Haus herauszufordern. Die Knarre in seinem Halfter würde ihm nicht helfen. Natürlich konnte er auf sie schießen und sie töten, aber dann würde Ivy ihm den Kopf abreißen.
Und kein Gericht der Welt würde sie wegen Mordes verurteilen, da er sie ja zuerst getötet hätte.
»Sie sind Tamwood.« Seine Großspurigkeit bekam die ersten Sprünge, wohl da er merkte, dass das vermeintliche Sicherheitsgefühl fehl am Platze war. »Captain Edden hat Sie zu dreihundert Stunden gemeinnütziger Arbeit verdonnert, weil Sie seine gesamte Abteilung plattgemacht haben, nicht wahr? Was mussten Sie noch mal machen, als Riesenbonbon arbeiten?«
Ivy erstarrte, während mir die Kinnlade runterklappte. Er war nicht einfach blöd, er war unfassbar dämlich.
»Es hat sich gelohnt«, sagte Ivy sanft. Mit zitternden Fingern legte sie den Beutel mit den Marshmal ows auf den Tisch.
Ich hielt die Luft an. Scheiße. Ivys braune Augen hatten sich geweitet und man sah nur noch das Schwarz ihrer Pupil e. Ich stand einfach nur da, vol kommen geschockt, wie schnel das ging. Es war einige Wochen her, dass sie so vampirisch geworden war, und es passierte nie ohne Vorwarnung. Die unangenehme Überraschung, plötzlich jemanden in FIB-Uniform in ihrer Küche zu sehen, mochte dazu beigetragen haben, aber im Nachhinein wurde mir klar, dass ich schon die ganze Zeit ein ungutes Gefühl gehabt hatte. Ich hätte die beiden nicht einfach so aufeinander loslassen dürfen. Seine Angst hatte sie überrumpelt und ihr keine Möglichkeit gelassen, sich gegen die Versuchung zu wappnen.
Glenns Panik hatte die Luft mit Pheromonen vol gepumpt.
Sie wirkten wie ein hoch wirksames Aphrodisiakum, das nur Ivy wahrnehmen konnte und das die jahrtausendealten Instinkte weckte, die in ihrer durch das Virus veränderten DNS verankert waren. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatten sie meine leicht beunruhigende Mitbewohnerin in ein erbarmungsloses Raubtier verwandelt. Wenn die Versuchung, ihren lang unterdrückten Bluthunger auszuleben, stark genug wurde, um sie die Konsequenzen vergessen zu lassen, die sich daraus ergaben, einen FIB-Detective aus zusaugen, konnte Ivy uns beide innerhalb weniger Sekunden umbringen. Ich wusste nicht, zu welcher Seite das Pendel ausschlagen würde. Mich selbst konnte ich auf ihrer Hunger-Vernunft-Skala einordnen. Wo Glenn stand, war mir schleierhaft, und das machte mir Angst.
Mit raubtierhafter Grazie stützte sie einen El bogen auf den Arbeitstisch, das Becken angriffslustig vorgeschoben.
Totenstil e breitete sich aus. Ivy ließ den Blick über Glenn wandern, bis sie seine Augen fixierte. Sie neigte mit sinnlicher Langsamkeit den Kopf und betrachtete Mr. FIB
durch ihre Ponyfransen. Erst jetzt atmete sie langsam ein.
Ihre langen blassen Finger strichen über den tiefen V-Ausschnitt ihres Spandex-Shirts.
»Du bist groß.« Ivys Stimme hatte diesen uralten Klang, der angsterfül te Erinnerungen in mir weckte. »Das gefäl t mir.« Sie wol te keinen Sex - sie wol te ihn unterwerfen. Ivy hätte seinen Verstand vernebelt, wenn sie die Macht dazu gehabt hätte, aber um die Widerspenstigen zähmen zu können, musste sie ihren Tod abwarten.
Na toll! Jetzt stieß sie sich von der Tischkante ab und ging langsam auf ihn zu. Sie hatte die Kontrol e verloren. Es war viel schlimmer als damals, als sie Nick und mich beim Knutschen auf der Couch überrascht hatte, während im Fernseher Profi-Wrestling lief. Ich wusste bis heute nicht, warum sie durchgedreht war - wir hatten unmissverständlich geklärt, dass ich nicht ihr Spielzeug, Liebhaber, Partner, Schatten oder sonst was war, wie auch immer ein Vampirlakai gerade genannt wurde.
Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, der die Situation nicht noch verschlimmern würde. Wie in Zeitlupe blieb sie vor Glenn stehen, wobei der Saum ihres Mantels langsam nach vorn glitt und ihre Stiefel bedeckte. Dann fuhr sie mit der Zunge über ihre strahlendweißen Zähne, sodass sie bedrohlich glänzten. Das Ausmaß ihrer unterdrückten Kraft wurde spürbar, als sie ihre Hände rechts und links neben seinem Kopf an die Wand drückte und ihn so an seinem Platz festnagelte.
»Mmmmm.« Sie sog die Luft durch die leicht geöffneten Lippen ein. »Sehr groß sogar. Lange Beine. Und so schöne dunkle Haut. Hat Rachel dich mitgebracht, um mir ein kleines Geschenk zu machen?«
Sie lehnte sich immer weiter vor, bis sie ihn fast berührte.
Er war nur wenige Zentimeter größer als sie. Dann legte sie den Kopf zur Seite, als wol te sie ihn küssen. Schweißtropfen liefen sein Gesicht und den Nacken hinunter. Er bewegte keine Faser seines Körpers - jeder Muskel war bis aufs Äußerste angespannt.
»Du arbeitest für Edden«, hauchte sie, ihre Augen auf die feinen Tropfen gerichtet, die sich auf Glenns Schlüsselbein sammelten. »Er wäre wohl verärgert, wenn du stirbst?«
Sein Atem beschleunigte sich, als sie ihm wieder in die Augen sah.
Nicht bewegen, dachte ich. Wenn Glenn nur eine falsche Bewegung machte, würden Ivys Instinkte endgültig die Kontrol e übernehmen. Und in dieser Position, mit dem Rücken zur Wand, war er besonders gefährdet.
»Ivy?« Ich versuchte sie abzulenken und mir so den Weg zu Edden zu ersparen -ich war nicht sonderlich scharf darauf, ihm mitzuteilen, dass und warum sein Sohn auf der Intensivstation lag. »Edden hat mir einen Auftrag verschafft.
Glenn sol mich unterstützen.«
Ich unterdrückte ein Schaudern, als sie sich umdrehte und mich mit den tiefen schwarzen Abgründen, zu denen ihre Pupil en geworden waren, fixierte. Nicht eine Spur ihrer Iris war zu sehen. Ich brachte mich in Sicherheit und stel te mich hinter den Tisch. Ivy stand bewegungslos da, nur ihre Augen folgten meiner Bewegung, und mit der Hand zeichnete sie Glenns Schultern und Nacken nach, ohne ihn zu berühren.
»Äh, Ivy? Glenn wil jetzt, glaube ich, gehen. Lass ihn.«
Die Worte schienen zu ihr durchzudringen, denn sie holte tief Luft und stieß sich mit dem El bogen von der Wand ab.
Glenn sprang blitzschnel zur Seite und stand plötzlich mit gezogener Waffe breitbeinig in der Eingangstür. Die Pistole war auf Ivy gerichtet, und mit einem deutlich hörbaren Klicken löste er den Sicherungsbolzen. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.
Ivy drehte ihm den Rücken zu und kehrte zu der Tasche mit den Einkäufen zurück. Es schien, als würde sie ihn ignorieren, doch ich wusste nur zu gut, dass sie al es um sich herum wahrnahm - sogar das Brummen einer Wespe unter der Decke. Sie beugte sich vor und stel te eine Tüte Pizzakäse auf den Tisch. »Wenn du deinen Captain das nächste Mal siehst, bestel diesem Blutbeutel doch einen schönen Gruß von mir.«
In ihrer weichen Stimme schwang eine erschreckende Portion Wut mit, aber der Hunger und die absolute Dominanz waren verschwunden.
Mit zitternden Knien atmete ich auf. »Glenn? Steck die Waffe weg, bevor Ivy sie dir abnimmt. Und das nächste Mal, wenn du meine Mitbewohnerin beleidigst, werde ich nicht mehr dazwischengehen. Dann wird sie dir die Kehle rausreißen, verstanden?«
Bevor er die Pistole wieder in das Halfter steckte, warf er noch einen verunsicherten Blick auf Ivy, um dann schwer atmend im Türbogen stehen zu bleiben.
Das Schlimmste war jetzt wohl vorbei, und so öffnete ich den Kühlschrank. »Hey, Ivy«, träl erte ich betont unbekümmert, um die Wogen zu glätten, »schmeiß mal die Peperoniwurst rüber.«
Sie schaute mich verwirrt an und verscheuchte dann mit einem Blinzeln die letzten Reste ihrer gefährlichen Instinktsteuerung.
»Peperoniwurst«, wiederholte sie heiser. »Klar.« Mit dem Handrücken berührte sie ihre Wange, runzelte die Stirn, und kam dann mit bewusst langsamen Schritten zu mir rüber.
»Danke, dass du mich runtergebracht hast«, sagte sie leise, während sie mir den Beutel mit Schnittwurst in die Hand drückte.
»Ich hätte dich warnen sol en. Es tut mir leid.« Ich nahm die Wurst, richtete mich auf und warf Glenn einen bitterbösen Blick zu. Er wischte sich gerade den Schweiß von seinem blassen Gesicht und wirkte vol kommen ausgelaugt.
Ihm war wohl erst jetzt klar geworden, dass wir uns in einem Raum befanden mit einem Raubtier, das durch Stolz und Höflichkeit unter Kontrol e gehalten wurde. Viel eicht hatte er heute ja etwas gelernt. Edden würde sich freuen.
Ich kramte in den Einkäufen und zog die verderblichen Lebensmittel raus. Ivy lehnte sich zu mir rüber, als sie eine Dose mit Pfirsichen wegstel te.
»Was macht er denn hier?«, fragte sie, laut genug, dass Glenn es hören konnte.
»Ich bin sein Babysitter.«
Sie nickte und wartete dann, dass ich das näher erläuterte.
Als nichts kam, fragte sie: »Du wirst doch dafür bezahlt, oder?«
Glenn hatte sich nicht von der Stel e gerührt. »Äh, ja. Es geht um eine vermisste Person.« Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Ihre Pupil en hatten sich wieder verkleinert und das Braun der Iris leuchtete im Sonnenlicht.
»Kann ich dir dabei helfen?«
Seit Ivy nicht mehr bei der I. S. arbeitete, hatte sie nichts anderes getan, als vermisste Personen aufzuspüren. Wenn sie al erdings erfuhr, dass es sich um Sara Janes Freund handelte, würde sie sich auf Jenks' Seite schlagen und mich davon überzeugen wol en, das es eine Fal e von Trent Kalamack war. Andererseits konnte ich die ganze Angelegenheit nicht vor ihr verheimlichen, denn dadurch würde al es nur noch schlimmer werden. Außerdem wol te ich, dass sie mit uns zu Piscary fuhr, denn so würde ich wesentlich mehr Informationen bekommen.
Während Ivy und ich die Lebensmittel verstauten, blieb Glenn mit gespielter Gleichgültigkeit in der Tür stehen. Ihn schien es nicht zu jucken, dass er ignoriert wurde.
»Komm schon, Rachel!« Sieh mal einer an, ein bettelnder Vamp. »Wer ist es? Ich könnte meine Fühler für dich ausstrecken.« Im Moment hatte sie ungefähr noch so viel Ähnlichkeit mit einem Raubtier wie eine Ente. Ich hatte mich inzwischen an ihre Gefühlsschwankungen gewöhnt, aber Glenn schien völ ig verwirrt zu sein.
»Äh, eine Hexe namens Dan.« Ich versuchte ein Ablenkungsmanöver und steckte den Kopf in den Kühlschrank, während ich den Hüttenkäse verstaute. »Er ist Sara Janes Freund, und bevor du durchdrehst, ja, Glenn wird mit mir sein Apartment durchsuchen. Ich denke, mit dem Besuch bei Piscarys können wir bis morgen warten, Dan hat dort als Pizzabote gearbeitet. Ich bin auch an der Uni angemeldet, aber Glenn wird mich auf gar keinen Fal dorthin begleiten.« Einen Herzschlag lang blieb al es ruhig.
In Erwartung eines Protestschreis duckte ich mich. Der kam aber nicht.
Ich schielte verblüfft an der Kühlschranktür vorbei. Ivy stand am Spülbecken und stützte sich mit beiden Händen ab. Es war ihr »Luft anhalten und bis Zehn zählen«-Platz. Bis jetzt hatte das immer prima geklappt. Sie drehte sich um, öffnete die Augen und starrte mich an. Mein Mund wurde trocken. Oh nein, diesmal hatte es nicht funktioniert.
»Du wirst diesen Job nicht machen.« Sie sprach vol kommen ausdruckslos, doch ihre weiche Stimme durchdrang mich wie schwarzes Eis.
Panik schoss mir von den Zehen bis in die Haarspitzen und sammelte sich dann in der Magengegend. Es schien nichts mehr zu existieren außer ihren vol kommen schwarzen Augen. Sie holte tief Luft und schien dabei meine gesamte Köperwärme in sich einzusaugen. Plötzlich schien sie überal zu sein, sogar hinter meinem Rücken, und musste den Impuls unterdrücken, mich umzudrehen. Ich zog die Schultern hoch, und meine Atmung beschleunigte sich. Sie hatte mich in ihren Bann gezogen, einen vol ausgereizten Bann, mit dem sie Seelen stehlen konnte. Aber irgendetwas war anders als sonst. Ich sah weder Wut noch Hunger. Es war Angst. Ivy hatte Angst?
»Ich werde den Job machen.« Ich hörte eine Spur von Furcht in meiner Stimme. »Erstens kann Trent mir nichts anhaben, und zweitens habe ich Edden schon zugesagt.«
»Nein, wirst du nicht.«
Mit wehendem Mantel setzte sie sich in Bewegung. Ich wol te zurückweichen, doch sie stand schon direkt vor meiner Nase, ohne dass ich eine Bewegung bemerkt hätte.
Ihr Gesicht war noch blasser als gewöhnlich. Mit einem lauten Knal warf sie die Kühlschranktür zu, sodass ich zur Seite springen musste, um nicht eingeklemmt zu werden.
Unsere Blicke trafen sich. Wenn ich jetzt die Angst zeigte, die mir gerade den Magen umdrehte, würde das ihre Leidenschaft nur noch weiter anstacheln. Ich hatte während der letzten drei Monate eine Menge gelernt, manches auf die leichte und manches auf die harte Tour, darunter einiges, das ich niemals wissen wol te.
»Das letzte Mal, als du dich mit Trent angelegt hast, wärst du beinahe gestorben.« Kleine Schweißtropfen rannen ihren Hals hinab und verschwanden im V-Ausschnitt ihres Shirts.
Sie schwitzte?
»Das Schlüsselwort dabei ist >beinahe<«, entgegnete ich tapfer.
»Nein, es ist >gestorben<.«
Ich konnte ihre Körperwärme spüren und wich einen Schritt zurück. Glenn stand in der Tür und beobachtete mit großen Augen, wie ich mit einem Vampir stritt. Das hatte schon was.
»Ivy.« Meine Stimme klang ruhig, obwohl ich innerlich wie Espenlaub zitterte. »Ich werde den Job machen. Wenn du mit mir und Glenn zu dem Gespräch mit Piscary -«
Ich bekam keine Luft mehr. Ivy hatte ihre Finger um meinen Hals gelegt.
Ich rang nach Luft. Als sie mich gegen die Küchenwand schleuderte, wurde auch der letzte Atem aus mir heraus-gepresst. »Ivy«, war al es, was ich herausbrachte, bevor sie mich mit einer Hand gegen die Wand drückte und bis auf Augenhöhe hochschob.
Diese hängende Position machte das Atmen nicht gerade einfacher.
Ivys Gesicht rückte näher und näher. Ihre angsterfül ten Augen leuchteten in einem bedrohlichen Schwarz.
»Du wirst nicht mit Piscary sprechen«, sagte sie mit Panik in der Stimme, »und du wirst diesen Job nicht machen.«
Ich stemmte meine Füße gegen die Wand und drückte, doch sie stieß mich nur noch fester gegen die Wand. Dann versuchte ich, Ivy zu treten, aber sie wich aus. Ihr Würgegriff blieb die ganze Zeit unnachgiebig. »Was, zum Teufel, machst du da?«, keuchte ich. »Lass mich los!«
»Ms. Tamwood!«, schrie Glenn. »Lassen Sie die Frau los und bewegen Sie sich in die Mitte des Raumes!«
Ich grub meine Finger in die Hand, mit der sie mich gepackt hatte, und starrte über ihre Schulter. Glenn stand breitbeinig hinter ihr, bereit, bei der kleinsten Bewegung zu schießen.
»Nein!«, krächzte ich. »Raus mit dir! Verschwinde!«
Ivy würde mir nicht zuhören, solange er hier war. Sie hatte Angst. Wovor hatte sie, verdammt noch mal, Angst? Trent konnte mir nichts anhaben.
Mit einem schril en, überraschten Pfiff kam Jenks in den Raum geflitzt. »Tach auch, ihr seid ja schon gut bei der Sache«, meinte er sarkastisch. »Wie ich sehe, hat Rachel dir schon von ihrem Auftrag erzählt, Ivy?«
»Raus hier!«, schrie ich. Ivy packte noch fester zu, und das pulsierende Blut dröhnte in meinem Kopf.
»Heilige Scheiße!«, rief der Pixie aus sicherer Entfernung.
Seine Flügel leuchteten rot vor Entsetzen. »Ivy meint es ernst.«
»Ich weiß. .« Mit schmerzenden Lungen riss ich an den Fingern um meinen Hals und schnappte nach einem Quänt-chen Sauerstoff. Ivys Gesicht war verzerrt, und im tiefen Schwarz ihrer Augen erkannte ich die nackte Angst. Dieses Gefühl an ihr zu erleben, war verstörend.
»Verdammt, Ivy, lass sie los!«, verlangte Jenks, uns in Augenhöhe umkreisend. »Es ist al es nicht so schlimm, wir werden sie einfach begleiten.«
»Raus!« Dankbar schnappte ich nach Luft, als Ivy völ ig verwirrt kurz den Griff lockerte. Panik überkam mich, als ich das Zittern ihrer Finger bemerkte. Schweiß tropfte von ihrer Stirn, die sie angestrengt runzelte. Das Weiß ihrer Augäpfel bildete einen scharfen Kontrast zu den schwarzen Pupil en.
Jenks flitzte zu Glenn. »Du hast sie gehört. Verzieh dich.«
Mein Herz raste, als Glenn zischte: »Bist du verrückt? Wenn wir gehen, wird die Schlampe sie umbringen!«
Ivy gab ein leises Winseln von sich. Es war so sanft wie eine Schneeflocke, aber ich konnte es hören. Der Geruch von Zimt überflutete meine Sinne.
»Wir müssen sofort hier raus«, drängelte Jenks. »Entweder schafft Rachel es, dass Ivy loslässt, oder Ivy wird sie töten.
Wenn du Ivy anschießt, kannst du sie erst mal davon abhalten. Aber später würde sie Rachel verfolgen und bei der ersten Gelegenheit umbringen - fal s sie es schafft, Rachels Dominanz zu brechen.«
»Rachels Dominanz?«, fragte Glenn ungläubig.
Ich betete verzweifelt, dass die beiden sich endlich verzogen, bevor Ivy mich doch noch erwürgte.
Jenks' Flügelschlag war so laut wie das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. »Wie hätte Rachel dich wohl sonst von Ivy losgeeist? Glaubst du, jede x-beliebige Hexe schafft so etwas? Raus jetzt!«
Ich wusste nicht, ob Dominanz das richtige Wort war. Aber wenn sie nicht sofort verschwanden, wäre das auch egal. Es gab eine tiefgehende Struktur in unserer Beziehung, denn auf irgendeine verdrehte Art brauchte Ivy mich mehr, als ich sie. Ivy hatte mir im letzten Frühjahr einen vampirischen Dating-Guide geschenkt, damit ich nicht die falschen Knöpfe drückte und ungewol t ihre Instinkte anregte. Leider enthielt das Buch kein Kapitel mit der Überschrift »Wie man sich als dominanter Partner verhält«. Ich befand mich also auf unerforschtem Gebiet.
»Raus - hier«, wisperte ich, während am Rand meines Gesichtsfeldes schwarze Schatten auftauchten.
Ich hörte das Einrasten des Sicherungsbolzens. Zögernd verstaute Glenn die Waffe in seinem Holster. Während Jenks drängend zwischen der Hintertür und ihm hin- und herflog, machte er sich wütend und frustriert aus dem Staub. Das Fliegengitter der Tür schloss sich mit einem Quietschen, und ich starrte an die Decke und auf die Sterne, die jetzt in den Schatten tanzten.
»Ivy.« Ich sah sie an und erstarrte. Mein Bild spiegelte sich in den unergründlichen Tiefen der Pupil en - meine Haare waren zerzaust und das Gesicht rot angeschwol en. Plötzlich fühlte ich ein Pochen im Nacken, genau an der Stel e, an der mich der Dämon gebissen hatte. Mein Gott, es begann, sich gut anzufühlen. Es war wie ein Echo der perversen Euphorie, die durch meinen Körper geströmt war, als im letzten Frühjahr der Dämon, der auf mich angesetzt worden war, mir den Hals zerfetzt und mich mit Vampirspeichel vol gepumpt hatte.
»Ivy, lockere deinen Griff. Ich muss atmen«, brachte ich noch heraus, wobei mir der Speichel das Kinn hinablief. Die Wärme ihrer Hand verstärkte den Zimtgeruch.
»Du wol test, dass ich ihn gehen lasse«, knurrte sie und entblößte dabei die Zähne. Sie umklammerte meinen Hals noch fester, bis es sich anfühlte, als würden meine Augen aus den Höhlen quel en. »Ich wol te ihn, und du hast mich gezwungen, ihn laufen zu lassen!«
Ich rang nach Luft und versuchte stoßweise, Sauerstoff in die Lungen zu pumpen. Ihr Würgegriff lockerte sich ganz kurz. Dankbar atmete ich ein, einmal, zweimal. Sie wartete mit grimmigem Gesicht. Durch einen Vampir zu sterben war einfach - mit einem zu leben erforderte mehr Finesse.
Meine Kiefer schmerzten an der Stel e, an der sie ihre Finger platziert hatte. »Wenn du ihn so begehrst«, flüsterte ich, »dann hol ihn dir. Aber setz nicht dein Enthaltsamkeitsgelübde aufs Spiel, nur weil du wütend bist.«
Ich nahm einen weiteren Atemzug, betend, dass es nicht mein letzter sein würde. »Wenn es nicht aus wahrer Leidenschaft geschieht, ist es das nicht wert, Ivy.«
Sie schnappte nach Luft, als hätte ich sie geschlagen, und ließ mich ohne Vorwarnung fal en. Ich sackte an der Wand zusammen. Auf dem Boden kauernd, pumpte ich würgend in mein System. Ich betastete meinen Hals und bemerkte gleichzeitig, wie mein Magen rebel ierte, als der Dä-
monenbiss noch immer wohltuend prickelte. Nachdem ich meine verkrampften Beine gestreckt hatte, setzte ich mich mit angezogenen Knien an die Wand, schüttelte mein verrutschtes Zauberarmband wieder auf das Handgelenk, rieb mir den Speichel aus dem Gesicht, und schaute hoch.
Ivy hatte sich nicht von der Stel e gerührt. Das überraschte mich. Normalerweise rannte sie immer zu Piscary, wenn sie so fertig war. Andererseits war sie noch nie so vol kommen zusammengebrochen. Sie war völ ig verängstigt gewesen.
Sie hatte mich aus purer Angst an die Wand genagelt. Wovor hatte sie Angst? Davor, dass ich ihr nicht erlaubte, Glenns Kehle rauszureißen? Freundin oder nicht, ich würde Ivy verlassen, wenn so etwas in meiner Küche passierte. Das ganze Blut wäre die Garantie für lebenslange Alpträume.
»Bist du okay?« Die Anstrengung des Sprechens löste einen Hustenanfal aus, und ich kauerte mich wieder an die Wand.
Sie setzte sich an den Tisch, drehte mir den Rücken zu und schlug die Hände vor das Gesicht. Kurz nachdem wir zusammengezogen waren, wurde mir klar, dass der Vampirismus Ivy echte Probleme bereitete. Sie verabscheute Gewalt, auch wenn sie ein Teil ihrer Natur war. Obwohl sie sich nach Blut verzehrte, kämpfte sie darum, abstinent zu bleiben. Aber sie war nun einmal ein Vampir, sie hatte keine Wahl. Das Virus hatte sich tief in ihrer DNS verankert und würde dort auch bleiben. Man kann sich nicht selbst verleugnen. Dass Ivy die Kontrol e über ihre Instinkte verloren hatte, bedeutete eine schwere Niederlage für sie.
»Ivy?« Ich rappelte mich auf und stolperte schwankend zu ihrem Platz. Ich konnte immer noch ihre Finger um meinen Hals spüren. Das hier war schlimm gewesen, aber nichts im Vergleich zu dem Vorfal , als sie mich in einem Ausbruch von Hunger und Lust in einem Sessel festgesetzt hatte. Ich zog mein schwarzes Haarband zurecht. »Bist du in Ordnung?« Ich wol te sie berühren, zog aber gerade noch rechtzeitig die Hand zurück.
»Nein«, antwortete sie schließlich. Ihre Stimme klang gedämpft. »Rachel, es tut mir unendlich leid. Ich - ich kann nicht. .« Sie zögerte und holte schluchzend Luft. »Nimm diesen Auftrag nicht an. Wenn es ums Geld geht -«
Ich unterbrach sie. »Es geht nicht ums Geld.« Sie drehte sich um, und meine Wut über diesen Bestechungsversuch löste sich in Luft auf. Obwohl sie sich offenbar das Gesicht abgewischt hatte, sah ich Tränenspuren auf ihrer Wange.
Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Vorsichtig ließ ich mich neben ihr auf einen Stuhl sinken. »Ich muss Sara Jane helfen.«
Sie wandte den Blick ab. »Dann werde ich dich zu Piscarys begleiten.« Langsam kehrte die übliche Kraft in ihre Stimme zurück.
Ich legte schützend die Arme um den Körper und rieb mit einer Hand die verblasste Narbe an meinem Hals, bis mir klar wurde, dass es ein unbewusster Versuch war, das verlockende Prickeln wieder hervorzurufen. »Das hatte ich gehofft«, antwortete ich und zwang mich, die Hand in den Schoß zu legen.
Ivy schenkte mir ein ängstliches, besorgtes Lächeln und ging.
6
Die Pixiekinder umschwärmten Glenn, der am Tisch saß, so weit von Ivy entfernt, wie es möglich war, ohne dass es auffiel.
Jenks' Kids schienen eine für sie ungewöhnliche Zuneigung zu dem FIB-Detective entwickelt zu haben.
Ivy saß vor ihrem Computer und versuchte den Lärm und die herumflitzenden Gestalten nicht zu beachten. Sie machte den Eindruck einer dösenden Katze vor einem Vogelhäuschen, scheinbar al es ignorierend, aber immer wachsam, fal s ein Vogel einen Fehler macht und zu nahe herankommt. Al e Anwesenden verdrängten die Tatsache, dass es um ein Haar zu einem Zwischenfal gekommen wäre.
Meine Antipathie gegen Glenn war zu leichter Gereiztheit verblasst, da er ungeahntes Taktgefühl zeigte.
Mithilfe einer Diabetesspritze injizierte ich einen Schlaftrank in den letzten der dünnwandigen, blauen Paint Bal s. Es war schon nach sieben. Es gefiel mir nicht, die Küche in totalem Chaos zurückzulassen, aber ich musste diese kleinen Schätzchen noch präparieren. Auf gar keinen Fal würde ich Sara Jane in einem fremden Apartment treffen, ohne angemessen bewaffnet zu sein. Man sol te es Trent nicht zu einfach machen, dachte ich, zog die Schutzhandschuhe aus und schmiss sie auf den Tisch.
Dann zog ich meine Waffe aus einem der Drahtkörbchen unter dem Arbeitstisch. Zuerst hatte ich sie in einem Bottich versteckt, der über dem Tisch hing, aber Ivy hatte darauf hingewiesen, dass ich mich im Notfal zu offensichtlich danach strecken musste. Es war sinnvol er, sie in Kriechhöhe aufzubewahren. Glenn horchte auf, als das Metal auf die Tischplatte knal te und die grün gekleideten, pubertierenden Pixiemädchen plappernd von seiner Hand aufschreckten.
»Du sol test eine Waffe nicht so leicht zugänglich aufbewahren«, sagte er vorwurfsvol . »Weißt du eigentlich, wie viele Personen jedes Jahr aufgrund solcher Nachlässigkeiten ums Leben kommen?«
»Entspann dich, Mr. FIB«, erwiderte ich, während ich die Trommel reinigte. »Ein Paint Bal hat noch niemanden umgebracht.«
»Paint Bal ?« Seine Überraschung verwandelte sich in Herablassung. »Das ist wohl die Galaausstattung, was?«
Verärgert runzelte ich die Stirn. Ich mochte meine kleine Splat Gun. Sie lag gut in der Hand und gab mir trotz der geringen Größe ein Gefühl von Sicherheit. Zugegeben, sie war kirschrot, aber trotzdem hielten viele Leute sie für echt und dachten, ich würde ernst machen. Und was noch hinzukam - für das Ding brauchte man keinen Waffenschein.
Genervt schüttelte ich ein fingernagelgroßes, rotes Kügelchen aus der Kiste, die im Wandschrank über den Zaubern stand. Ich ließ es in die Trommel fal en.
»Ivy?« Sie schaute von ihrem Monitor hoch, ohne eine Gefühlsregung auf ihrem perfekten, schmalen Gesicht erkennen zu lassen. »Peng!«
Sie drehte sich wieder zum Monitor und schüttelte den Kopf über meine Albereien. Die Pixiekinder kreischten, stoben auseinander und flogen aus dem Fenster in den dunklen Garten. Nur ein paar glitzernde Spuren von Pixiestaub und die Erinnerung an ihre fröhlichen Stimmen blieben zurück. Langsam drang das Zirpen der Gril en in den Raum und vertrieb auch dieses Echo.
Ivy war nicht die Art von Mitbewohnerin, mit der man mal eine Runde »Mensch-ärgere-dich-nicht« spielte. Als wir uns einmal zusammen Rush Hour ansahen, hatte ich unwissentlich ihre Vampirinstinkte angeregt. Während der letzten Kampfszene stieg meine Körpertemperatur und unsere Gerüche vermischten sich stärker als sonst - sie hätte mich beinahe gebissen. Mit Ausnahme unseres regelmäßigen, sorgsam choreographierten Kampftrainings wahrten wir seitdem immer den nötigen Sicherheitsabstand.
Die Abwehr der Splat Bal s war für sie eine gute Reaktionsübung, während ich meine Treffsicherheit verbessern konnte.
Um Mitternacht auf dem Friedhof machte es besonders viel Spaß.
Wartend strich sich Glenn mit der Hand über seinen kurz geschnittenen Bart. Es war klar, dass irgendetwas passieren würde, doch er hatte keine Ahnung, was. Ohne ihn weiter zu beachten legte ich die Splat Gun auf den Arbeitstisch und begann das Spülbecken zu putzen, das ich total versaut hatte. Ich fühlte, wie die Aufregung mich langsam packte und mich bis in die Fingerspitzen unter Strom setzte. Ivy fuhr ungerührt mit dem Internetshopping fort, wobei das Klicken der Maus in der stil en Küche laut hal te. Als sie etwas Interessantes gefunden hatte, griff sie nach einem Stift.
Ich schnappte mir die Pistole, spannte sie und drückte den Abzug. Der leise Knal durchfuhr mich wie ein Blitz. Ivy lehnte sich unbeteiligt nach rechts und fing mit der freien Hand das Geschoss. Es traf mit einem scharfen Ploppen auf ihre Handfläche, zerbrach dabei und durchnässte sie.
Desinteressiert schaute Ivy auf den Bildschirm, las die Bildunterschrift der Sargkissen und schüttelte sich das Wasser von der Hand. Weihnachten stand vor der Tür, und sie wusste mal wieder nicht, was sie ihrer Mutter schenken sol te.
Der Knal hatte Glenn von seinem Stuhl aufspringen und reflexartig die Hand an die Waffe legen lassen. Mit verblüfftem Gesicht schaute er zwischen Ivy und mir hin und her. Ich warf ihm die Splat Gun zu, sodass er seine eigene Waffe in Ruhe lassen musste, um sie zu fangen. »Wenn das ein Gute-Nacht-Trank gewesen wäre«, sagte ich triumphierend, »würde sie jetzt unter dem Tisch liegen und ein ausgedehntes Nickerchen machen.«
Ich gab Ivy die Rol e Küchenpapier, die nur aus diesem Grund im Metal gerüst über dem Arbeitstisch steckte.
Gleichgültig wischte sie sich die Hand ab und surfte weiter.
Mit gesenktem Kopf begutachtete Glenn die Splat Gun und wog sie in der Hand. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass sie kein harmloses Spielzeug war. Er kam rüber und gab sie mir zurück. »Diese Dinger sol ten waffenscheinpflichtig sein«, sagte er, als ich den kühlen Griff umfasste.
»Aber sicher doch«, stimmte ich ihm scheinheilig zu.
Ich konnte seinen Blick spüren, als ich die Waffe mit sieben Zaubern lud. Nicht viele Hexen benutzten Zaubertränke; nicht nur, weil sie unverschämt teuer waren und ohne Aktivierung nur eine Woche hielten, sondern vor al em, weil man ihre Wirkung nur durch ein ordentliches Bad in Salzwasser aufheben konnte. Zufrieden, dass ich mich klar genug ausgedrückt hatte, steckte ich die geladene Splat Gun hinten in den Gürtel und zog meine Lederjacke darüber, um sie zu verstecken. Anschließend kickte ich die pinken Plüschpantoffeln von den Füßen und tapste ins Wohnzimmer, um meine Stiefeletten made by vampire zu holen. »Bist du dann so weit?«, fragte ich, lehnte mich im Flur gegen die Wand und zog die Schuhe an. »Du fährst.«
Glenn erschien in vol er Größe im Türrahmen, noch damit beschäftigt, sich geschickt die Krawatte zu binden. »Wil st du etwa so gehen?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich an mir runter - rote Bluse, Nylons und Stiefeletten. »Stimmt was nicht mit dem Outfit?«
Aus Ivys Richtung hörte ich ein spöttisches Lachen. Glenn sah kurz zu ihr rüber, dann wieder auf mich. »Vergiss es«, antwortete er unverbindlich. Er richtete seine Krawatte, wohl möglichst professionel und geschniegelt auszusehen. »Lass uns gehen.«
»Nein«, schnauzte ich ihn an. »Erst wil ich wissen, was ich deiner Meinung nach anziehen sol . Einen dieser Polyestersäcke, in die ihr eure weibliche Belegschaft zwängt?
Es muss doch einen Grund dafür geben, dass Rose immer so steif und verkrampft dasitzt - und das liegt sicherlich nicht daran, dass ihr keine Wände zum Anlehnen habt oder die Armlehne ihres Stuhls abgebrochen ist!«
Ohne auf meinen Ausbruch zu reagieren, ließ Glenn mich einfach stehen und ging den Flur hinunter. Ich schnappte mir meine Tasche, erwiderte Ivys abwesenden Abschiedsgruß und trottete hinter ihm her. Wenn er die Hände in die Taschen seines Jacketts steckte, nahm er fast die ganze Breite des Flurs ein. Das Leinen der Jacke rieb sich an seinem Hemd, war aber im Vergleich zu dem Geräusch seiner hart aufschlagenden Sohlen kaum wahrnehmbar.
Ich verharrte in eisigem Schweigen, während Glenn aus den Hol ows und dann über die Brücke in die andere Hälfte der Stadt fuhr. Dabei bedauerte ich, dass Jenks nicht mitgekommen war, aber Sara Jane hatte eine Katze erwähnt, und so hatte er es als weise erachtet, zu Hause zu bleiben.
Die Sonne war schon lange untergegangen, und der Verkehr hatte zugenommen. Von der Brücke aus konnte ich die Lichter von Cincinnati sehen, die ein schönes Panorama bildeten. Ich musste grinsen, als ich feststel te, dass sich hinter unserem Wagen eine lange Schlange bildete -die anderen Fahrer trauten sich offenbar nicht, Glenn zu überholen. Sogar die Zivilwagen des FIB waren stadtbekannt.
Langsam legte sich meine schlechte Laune. Ich kurbelte das Fenster runter, damit der starke Zimtgeruch abzog, woraufhin das Weichei sofort die Heizung anstel te. Ich mochte den Geruch des Parfüms nicht mehr, jetzt, da es mich im Stich gelassen hatte.
Dans Apartment lag in einem klassischen Stadthaus: Sauber, gepflegt und mit einem Tor von der Straße abgesetzt. Sowohl die Universität als auch der Freeway waren leicht zu erreichen. Sicher nicht ganz bil ig, aber wenn er die Universität besuchte, konnte er sich das wahrscheinlich auch leisten. Glenn fuhr in die reservierte Parklücke, auf der Dans Hausnummer stand, und stel te den Motor aus. Das Verandalicht war ausgeschaltet, und irgendjemand hatte die Vorhänge zugezogen. Eine Katze saß auf dem Geländer des Balkons im zweiten Stock. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, während sie uns beobachtete.
Wortlos griff Glenn unter den Sitz und schob ihn zurück.
Anschließend schloss er die Augen und machte es sich gemütlich. Anscheinend wol te er ein Nickerchen machen.
Stil e breitete sich aus, die nur von den Geräuschen des abkühlenden Motors durchbrochen wurde. Ich wol te das Autoradio einschalten, aber Glenn murmelte: »Fass es nicht an.«
Beleidigt ließ ich mich in den Sitz zurückfal en. »Wil st du nicht seine Nachbarn befragen?«
»Ja, gleich morgen früh. Wenn es hel ist und du in deinem Seminar sitzt.«
Ich runzelte die Stirn. Edden hatte mir einen Stundenplan gegeben, auf dem stand, dass das Seminar von sechzehn bis achtzehn Uhr dauerte. Das war die beste Zeit für eine Befragung, da die Menschen von der Arbeit zurückkamen, die tagaktiven Inderlander noch wach waren und die Nachtschwärmer sich langsam rührten.
Aus einem der Apartments kam ein Pärchen. Sie stritten sich, stiegen in ein schnittiges Auto und fuhren davon. Wenn ich es richtig verstanden hatte, kam sie zu spät zur Arbeit und es war seine Schuld.
Gelangweilt und gleichzeitig nervös grub ich in meiner Tasche, bis ich den Fingerstick und eines meiner Erkennungsamulette gefunden hatte. Ich liebte diese Dinger
- die Erkennungsamulette, nicht den Fingerstick-, und nachdem ich den Finger um drei Tropfen Blut erleichtert und das Amulett aktiviert hatte, stel te ich fest, dass sich außer Glenn und mir in einem Radius von zehn Metern niemand aufhielt. Ich hängte es mir gerade um den Hals wie früher meine I.S.-Marke, als ein kleiner roter Wagen auf den Parkplatz fuhr. Die Katze auf dem Geländer reckte sich und verschwand dann auf dem Balkon. Es war Sara Jane, und sie flitzte mit ihrem Auto auf den freien Platz direkt hinter uns.
Glenn bemerkte sie, sagte aber nichts, als wir ausstiegen und auf sie zugingen.
»Hi«, begrüßte sie uns. Im fahlen Licht der Straßenlampe zeigte sich die Besorgnis auf ihrem herzförmigen Gesicht.
»Ich hoffe, Sie haben nicht zu lange gewartet,« ergänzte sie im professionel en Ton einer Sekretärin.
»Überhaupt nicht, Madam«, versicherte Glenn.
Ich zog die Lederjacke enger um den Körper. Für diese Jahreszeit war es schon ziemlich kalt. Sara Jane suchte eine Weile an ihrem Schlüsselbund und öffnete schließlich mit einem brandneuen Schlüssel die Tür. Mein Puls schlug schnel er, und ich schielte verstohlen auf das Amulett, während sich meine Gedanken um Trent drehten. Ich hatte zwar die Splat Gun, gehörte aber nicht zu den mutigsten Mensehen. Wenn die bösen Buben kamen, lief ich immer weg. Dadurch verlängerte sich meine Lebensdauer beträchtlich.
Sara Jane schaltete das Licht an, sowohl auf der Veranda als auch im Apartment, und Glenn folgte ihr in die Wohnung.
Nervös trat ich über die Schwel e. Sol te ich die Tür schließen, damit uns niemand folgen konnte, oder sol te ich sie offen lassen, um einen möglichen Fluchtweg zu haben? Ich entschied mich dafür, sie einen Spalt weit offen zu lassen.
»Hast du ein Problem?«, flüsterte Glenn, während Sara Jane ganz selbstverständlich in die Küche ging. Ich schüttelte den Kopf. Das Apartment hatte einen offenen Wohnbereich, sodass man fast die ganze Etage überblicken konnte. Die Treppe bildete einen langweiligen, geraden Weg nach oben.
Ich entspannte mich in dem Bewusstsein, dass mein Amulett ein Warnsignal geben würde, wenn sich jemand näherte.
Außer uns dreien und der jaulenden Katze im oberen Stockwerk war niemand hier.
»Ich geh mal hoch und lass Sarcophagus rein«, meinte Sara Jane und macht sich auf den Weg zur Treppe.
Wie bitte? »Sie meinen die Katze, richtig?«
»Ich werde mitkommen, Madam«, bot Glenn an und folgte ihr die Stufen hinauf.
Während die beiden die obere Etage durchsuchten, nahm ich den Rest der Wohnung in Augenschein, wohl wissend, dass wir nichts finden würden. Trent war viel zu gerissen, um einen Beweis zu hinterlassen. Ich wol te mir einfach ein Bild von dem Typen machen, den Sara Jane anscheinend liebte.
Das Küchenspülbecken war trocken, der Mül eimer stank wie die Pest, auf dem Computermonitor hatte sich eine Staubschicht gebildet und das Katzenklo war randvol .
Offensichtlich war Dan eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen.
Die Dielen quietschten, als Glenn durch die obere Etage der Wohnung ging. Auf dem Fernseher stand das gleiche Bild von Dan und Sara Jane auf dem Dampfer, das ich schon beim FIB gesehen hatte. Ich nahm es und studierte ihre Gesichter. Als Glenn die Treppe herunterpolterte, stel te ich es schnel an seinen ursprünglichen Platz zurück. Mr. FIB
musste aufpassen, dass er mit seinen breiten Schultern auf der schmalen Treppe nicht stecken blieb. Sara Jane ging direkt hinter ihm, die Füße in den Stöckelschuhen vorsichtig auf die Stufen setzend. Im Vergleich zu Glenn wirkte sie winzig.
»Oben ist al es in Ordnung«, sagte Glenn, während er sich durch den Poststapel auf dem Küchentisch wühlte. Sara Jane öffnete die Vorratskammer, die sauber und aufgeräumt war, wie auch der Rest der Wohnung. Nach einem kurzen Zögern zog sie einen Beutel Nassfutter für die Katze hervor.
»Was dagegen, wenn ich seine E-Mails checke?« Sara Jane nickte mit traurigen Augen. Ich spielte mit der Maus herum und bemerkte, dass Dan, ebenso wie Ivy, einen permanenten Internetzugang hatte. Genau genommen war ich hierzu überhaupt nicht befugt, aber solange sich niemand beschwerte. . Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Glenn, der auf Sara Janes schick geschnittenen Businessanzug stierte, während sie die Katzenfuttertüte aufriss. Dann wanderten seine Augen zu meinem Outfit, während ich mich über das Keyboard beugte. Sein missbil igender Gesichtsausdruck verriet, wie unprofessionel er meine Aufmachung fand, und ich musste mich zusammenreißen, um eine höhnische Grimasse zu unterdrücken. Dan hatte einen Haufen ungeöffneter Mails, darunter zwei von Sara Jane und eine mit dem Absender der Universität. Der Rest stammte von irgendeinem Hard-Rock-Chatroom. Sogar ich wusste, dass es nicht klug wäre, sie zu öffnen, da es sich -
sol te er tot aufgefunden werden - um Beweismaterial handelte.
Glenn strich sich mit der Hand über das kurze Haar, sichtbar enttäuscht, nichts Ungewöhnliches gefunden zu haben. Das hatte al erdings wohl weniger damit zu tun, dass Dan als vermisst galt, sondern wohl mehr damit, dass er eine Hexe war und ein Normalmensch wie Glenn in seiner Wohnung wahrscheinlich so etwas wie Affenköpfe an der Decke erwartete. Dan schien aber absolut durchschnittlich zu sein. Viel eicht war er ein wenig ordentlicher als die meisten, aber es war ja klar, dass Sara Jane nicht mit einem Messie zusammen wäre.
Sie stel te die Futterschüssel neben einem Wassernapf ab.
Beim lauten Klappern des Porzel ans kam eine schwarze Katze die Treppe heruntergeschlichen. Sie fauchte Sara Jane an und näherte sich ihrem Fressen erst, nachdem die Frau die Küche verlassen hatte. »Sarcophagus mag mich nicht«, erklärte sie überflüssigerweise. »Er ist Dans Schutzgeist.«
Ein guter Schutzgeist sol te sich so verhalten. Die besten wählten ihre Besitzer aus, nicht umgekehrt. In Windeseile hatte die Katze al es aufgefressen und sprang auf die Rückenlehne der Couch. Spielerisch kratzte ich über den Bezug, und der Kater näherte sich, um nachzusehen, was da vor sich ging. Er reckte den Hals und berührte mit der Nase meinen Finger. Ich musste lächeln, denn das war ein typischer Katzengruß. Ich hätte liebend gern eine Katze gehabt, aber Jenks würde mich ein Leben lang täglich anpi-xen, wenn ich eine mit nach Hause brächte.
Mich an die Zeit als Nerz erinnernd, durchwühlte ich meine Tasche. Klammheimlich aktivierte ich dabei ein Amulett, um zu prüfen, ob der Kater durch einen Zauber verwandelt worden war. Nichts. Da mir das nicht reichte, grub ich auf der Suche nach meiner Nickelbril e noch tiefer in der Tasche. Ich ignorierte Glenns fragenden Blick, klappte das Bril enetui auf und setzte die Gläser auf. Die Bril e war so hässlich, dass sie sicher ein effektives Verhütungsmittel gewesen wäre. Als ich sie im August gekauft hatte, musste ich drei ganze Monatsmieten dafür hinblättern. Ich konnte sie zwar von der Steuer absetzen, aber das war nur ein schwacher Trost. Das Model , mit dem man nicht wie ein Vol idiot aussah, hätte doppelt so viel gekostet.
Kraftlinienmagie konnte in Silber gebunden werden und Erdmagie in Holz. Das Gestel war mit einem Zauber präpariert worden, sodass ich Tarnungen erkennen konnte, die durch Kraftlinienmagie bewirkt wurden. Ich fühlte mich ziemlich bescheuert mit dieser Idiotenbril e, da es mich irgendwie auf die Stufe eines Hexers zurücksetzte, der Zauber benutzt, die er selbst nicht anfertigen kann. Doch als ich, Sarcophagus' Kinn kraulend, mit Sicherheit festgestel t hatte, dass er nicht der verwandelte Dan war, wurde mir bewusst, dass es mir eigentlich egal war. Sol ten die Leute über die Bril e denken, was sie wol ten. Sie hatte ihren Zweck erfül t.
Glenn drehte sich zum Telefon um. »Dürfte ich wohl seine Nachrichten abhören?«
Sara Jane lachte verbittert. »Nur zu, sie sind von mir.«
Ich legte die Bril e wieder weg und ließ das Etui mit einem lauten Geräusch zuschnappen. Glenn drückte auf den Wiedergabeknopf. Mir lief ein leichter Schauer über den Rücken, als Sara Janes Stimme die Stil e des Apartments durchdrang. »Hey, Dan. Ich warte jetzt schon eine Stunde. Es war doch am Carew Tower, oder?« Dann, nach einer kurzen Pause: »Gut, ruf mich an. Und du sol test lieber ein paar Pralinen besorgen.« Plötzlich wurde ihre Stimme verspielt.
»Diesmal hast du wirklich etwas gutzumachen, mein kleines Landei.«
Bei der zweiten Nachricht klang Sara Jane bedrückt. »Hi, Dan. Geh ran, wenn du da bist.« Wieder eine Pause. »Äh, das mit den Pralinen war nur ein Scherz. Wir sehen uns morgen.
Ich liebe dich, bis dann.«
Sara Jane stand mit regungslosem Gesicht im Wohnzimmer. »Als ich hierherkam, war er nicht da, und seitdem habe ich ihn auch nicht mehr gesehen.«
»Na gut«, sagte Glenn, während er den Anrufbeantworter abschaltete. »Wir haben sein Auto noch nicht gefunden und seine Zahnbürste sowie das Rasierzeug sind noch im Bad.
Wo er auch sein mag, er hat keinen längeren Aufenthalt geplant. Die Vermutung liegt nahe, dass etwas passiert ist.«
Sie biss sich auf die Lippe und drehte sich um. Erstaunt über Glenns mangelndes Taktgefühl warf ich ihm einen mörderischen Blick zu. »Du hast das Einfühlungsvermögen einer läufigen Hündin, weißt du das?«, flüsterte ich.
Glenn bemerkte Sara Janes verkrampfte Haltung. »Es tut mir leid, Madam.«
Mit einem traurigen Lächeln drehte sie sich zu uns um.
»Viel eicht sol te ich Sarcophagus mit nach Hause nehmen. .?«
»Nein, noch nicht«, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich berührte mitfühlend ihre Schulter, und der Geruch ihres Fliederparfüms ließ die Erinnerung an den kreideähnlichen Geschmack mit Drogen versetzter Möhren zurückkehren.
Es war klar, dass Glenn uns nicht al ein lassen würde, und so bot sich mir auch keine Gelegenheit unter vier Augen mit ihr zu sprechen. »Sara Jane«, begann ich zögerlich, »ich muss Sie das jetzt fragen, und es tut mir wirklich leid. Wissen Sie, ob Dan bedroht wurde?«
»Nein.« Sie zupfte am Kragen ihrer Bluse, und ihr Gesicht verlor jeglichen Ausdruck. »Niemand.«
»Und Sie? Sind Sie in irgendeiner Form bedroht worden?
Denken Sie nach. Schon das kleinste Anzeichen könnte ein Hinweis sein.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie schnel . Sara Jane schlug die Augen nieder und ihr Teint wurde noch blasser.
Ich brauchte kein Amulett, um zu erkennen, dass sie log. Ich wartete einen Moment und gab ihr damit die Möglichkeit, sich mir doch noch anzuvertrauen, aber nichts geschah.
»Sind. . sind wir jetzt fertig?«, stammelte sie schließlich. Mit einem Nicken warf ich mir die Tasche über die Schulter, und Sara Jane ging mit schnel en gestelzten Schritten zur Tür.
Glenn und ich folgten ihr zum betonierten Treppenabsatz.
Für Käfer war es schon längst zu kalt, aber ich sah noch ein großes Spinnennetz, das im Licht der Außenlampe schimmerte.
»Vielen Dank, dass Sie uns in das Apartment gelassen haben«, sagte ich, während sie mit zitternden Fingern noch mal an der verschlossenen Eingangstür rüttelte. »Ich werde mich morgen mit seinen Kommilitonen unterhalten, viel eicht weiß einer von ihnen etwas. Ich werde Ihnen auf jeden Fal helfen«, sagte ich nachdrücklich, in dem Versuch, sie aufzurichten.
»Ja. Vielen Dank.« Sie konnte mir nicht in die Augen sehen und verfiel wieder in den kühlen, professionel en Umgangston einer Sekretärin. »Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Kommen. Ich wünschte, ich hätte Ihnen besser behilflich sein können.«
Glenn verabschiedete sich mit einem knappen »Madam«, und Sara Jane stöckelte davon. Ich folgte Glenn zum Auto und warf noch einmal einen Blick über die Schulter.
Sarcophagus saß im oberen Fenster und musterte uns argwöhnisch.
Sara Jane entriegelte ihren Wagen, der ein fröhliches Piepsignal von sich gab, stel te ihre Tasche hinein, stieg ein und fuhr davon. Ich stand in der Dunkelheit neben der geöffneten Tür von Glenns Wagen und starrte auf die Rückleuchten, bis sie hinter einer Ecke verschwanden.
Glenn betrachtete mich nachdenklich. Er stand auf der Fahrerseite und hatte die Arme auf das Dach gelegt. In dem trüben Licht der Straßenlaterne konnte ich keine Gefühlsregung in den braunen Augen erkennen.
»Kalamack muss seine Sekretärinnen gut bezahlen, wenn sie sich solche schicken Schlitten leisten können.«
»Ich weiß, dass es so ist«, entgegnete ich wütend, da mich die kaum verhül te Unterstel ung ärgerte. »Sie ist verdammt gut in ihrem Job. Und sie spart sogar noch Geld, um es ihrer Familie zu schicken, die dadurch im Vergleich zu den anderen Farmern fast wie Könige leben.«
Er gab ein unverständliches Grunzen von sich und öffnete die Fahrertür. Ich stieg ein, legte den Gurt an und ließ mich mit einem Seufzer in die Ledersitze fal en. Der Blick aus dem Fenster auf den dunklen, öden Parkplatz deprimierte mich noch mehr. Sara Jane vertraute mir nicht. Und wenn man es von ihrer Seite aus betrachtete - warum sol te sie?
»Du nimmst das hier ziemlich persönlich, stimmt's«, fragte Glenn, als er den Wagen startete.
»Denkst du, nur weil sie ein Hexer ist, verdiene sie keine Hilfe?«, fauchte ich ihn an.
»Komm wieder runter, so habe ich das nicht gemeint.«
Glenn warf mir einen kurzen Blick zu, als er den Wagen rückwärts ausparkte. Bevor er losfuhr, stel te er die Heizung auf die höchste Stufe. Durch den Luftzug tanzte eine Haarsträhne direkt vor meinen Augen. »Ich sage ja nur, dass du dich verhältst, als stünde bei dieser Sache einiges auf dem Spiel für dich.«
Ich schob mir das Haar aus den Augen. »Sorry.«
»Ist schon okay«, sagte er verständnisvol .
Dann bohrte er zögerlich weiter: »Also. . was steckt dahinter?«
Glenn ordnete sich in den Verkehr ein. Ich beäugte ihn im Licht der Straßenlaternen, nicht sicher, ob ich mich ihm anvertrauen sol te. »Ich kenne Sara Jane«, antwortete ich schließlich.
»Du meinst, diese Art von Frau.«
»Nein, ich kenne sie persönlich.«
Er wirkte skeptisch. »Aber sie kennt dich nicht.«
»Stimmt.« Ich öffnete das Fenster so weit wie möglich, denn ich wol te endlich mein Parfüm loswerden. Dieser Geruch war nicht mehr zum Aushalten, er erinnerte mich nur an den heutigen Vorfal und Ivys beängstigende schwarze Augen. »Das macht es ja so schwierig.«
Als wir an einer Ampel hielten, gaben die Bremsen ein gequältes Quietschen von sich. Glenn zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. Sein Bart war ein tiefer Schatten auf seinem Gesicht. »Kannst du langsam mal Klartext reden?«
Ich lächelte ihn kurz und traurig an. »Hat dein Vater dir erzählt, wie wir Trent Kalamack beinahe als Brimstonedealer und Biodrogenproduzent überführt hätten?«
»Ja, das war kurz vor meiner Versetzung in die Abteilung.
Der einzige Zeuge, ein I. S.-Runner, starb bei der Explosion einer Autobombe.« Die Ampel wurde grün, und wir fuhren weiter.
Ich nickte. Edden hatte ihm das Nötigste verraten. »Fangen wir bei Trent Kalamack an«, sagte ich, und ließ die Hand im Fahrtwind baumeln. »Als er mich dabei erwischt hat, wie ich in seinem Büro nach Beweisen für seine il egalen Machenschaften suchte, übergab er mich nicht der I.S., sondern bot mir einen Job an. Jeden Job, den ich nur wol te.«
Mir wurde plötzlich kalt, und ich richtete den Schlitz der Autoheizung auf mich. »Er war bereit, das Kopfgeld der I. S.
zu bezahlen, mich als selbstständigen Runner aufzubauen und mir sogar Personal zu finanzieren. Er wol te mir al es ermöglichen, doch die ganze Sache hatte einen Haken - ich sol te für ihn arbeiten. Er wol te mich zu einem Rädchen in genau dem System machen, das ich mein ganzes Berufsleben lang bekämpft hatte. Er bot mir eine trügerische Freiheit an. Das eine, was ich so sehr wol te, dass ich kurz in Versuchung war, sein Angebot anzunehmen.«
Glenn hielt sich klugerweise zurück und schwieg. Es gab keinen Cop, der nicht schon mal in Versuchung geraten wäre, und ich war verdammt stolz darauf, dieser Verlockung widerstanden zu haben. »Als ich ablehnte, wurde aus dem Angebot eine Drohung. Ich hatte für diese Aktion Nerzgestalt angenommen, und er wol te mich körperlich und psychisch so lange foltern, bis ich al es getan hätte, um diese Tortur zu beenden. Wenn er mich nicht aus freien Stücken bekommen konnte, hätte ihm auch eine gebrochene Hül e gereicht, die ihm wil enlos dient. Ich war hilflos, genauso hilflos wie Sara Jane jetzt.«
Nur langsam wurde mir bewusst, was ich da gerade gesagt hatte. Niemals zuvor hatte ich es laut ausgesprochen -dass ich einem anderen Menschen erbarmungslos ausgeliefert gewesen war. »Sara Jane dachte, ich sei ein Nerz, aber sie ließ diesem Tier mehr Würde, als Trent mir als Mensch zugestanden hatte. Ich muss sie aus seinen Klauen befreien -
bevor es zu spät ist. Und wenn es uns nicht gelingt, Dan zu finden und in Sicherheit zu bringen, hat sie keine Chance.«
»Mr. Kalamack ist doch nur ein Mensch«, bemerkte Glenn.
»Wirklich?« Ich lachte höhnisch. »Dann verrate mir mal, Detective Neunmalklug, ob er wirklich ein Mensch ist, oder viel eicht doch ein Inderlander? Seine Familie beherrscht seit zwei Generationen einen großen Teil Cincinnatis und niemand weiß, wer er wirklich ist. Weder Jenks noch die Fairys können seinen Geruch entschlüsseln. Er zerstört die Menschen, indem er ihnen genau das gibt, was sie wol en
-und er genießt es.« Ich betrachtete die vorbeiziehenden Gebäude, ohne sie wirklich zu sehen.
Glenns Schweigen riss mich aus meinen Gedanken. »Du glaubst also wirklich, dass Dans Verschwinden nichts mit den Morden des Hexenjägers zu tun hat?«, fragte er schließlich.
»Ja.« Unbehaglich rutschte ich in meinem Sitz herum. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei, ihm so viel von mir verraten zu haben. »Ich habe diesen Auftrag nur angenommen, um Sara Jane zu helfen und Trent dranzukriegen. Rennst du jetzt zu Papi und petzt?«
Die Scheinwerfer des Gegenverkehrs beleuchteten sein Gesicht. Er holte tief Luft und atmete langsam aus. »Wenn du bei deinem Privatfeldzug gegen Kalamack irgendetwas unternimmst, das meine Ermittlungen gegen die Hauptverdächtige Dr. Anders gefährdet, werde ich dich am Fountain Square auf einem Scheiterhaufen verbrennen«, drohte er leise. »Du wirst morgen zur Universität gehen, und du wirst mir al es berichten, was du herausfindest.« Er entspannte sich ein wenig. »Und gib auf dich Acht.«
Ich beobachtete, wie die Lichtkegel der Straßenlaternen über sein Gesicht huschten; die flackernde Bewegung schien meine eigene Unsicherheit widerzuspiegeln. Anscheinend verstand er mich. Wer hätte das gedacht. »Na schön«, antwortete ich und machte es mir bequem. Ich drehte mich um, als wir nach links statt nach rechts abbogen. Plötzlich hatte ich eine Art Dejä-vu. »Wo fahren wir hin? Zu meinem Büro geht's in die andere Richtung.«
»Piscarys. Es gibt keinen Grund, bis morgen zu warten.«
Ich wol te nicht zugeben, dass ich Ivy versprochen hatte, nicht ohne sie dorthin zu gehen. »Piscarys macht erst um Mitternacht auf«, log ich also. »Ihre Kunden sind hauptsächlich Inderlander. Mal ehrlich, wie oft bestel t sich ein Mensch eine Pizza?« Glenn wirkte einsichtig, und ich fummelte an meinem roten Nagel ack herum. »Sie werden wahrscheinlich erst so ab zwei Zeit haben, sich mit uns zu unterhalten. Vorher ist der Laden brechend vol und die Piazzataxis sind ständig unterwegs.«
»Du meinst zwei Uhr morgens?«
Was denn sonst? Um diese Uhrzeit kamen die meisten Inderlander, besonders die toten unter ihnen, erst so richtig in die Gänge. »Warum fährst du nicht nach Hause und schläfst dich aus? Morgen gehen wir dann al e zusammen hin.«
Er schüttelte den Kopf. »Dann würdest du heute gehen, ohne mich.«
Ich schnaubte empört. »So was mache ich nicht! Mal ganz abgesehen davon, dass du dann morgen al ein hinfahren würdest, und ich habe schließlich deinem Dad versprochen, dafür zu sorgen, dass du am Leben bleibst. Ich warte bis morgen. Großes Hexenehrenwort.«
Lügen - ja. Das Vertrauen eines Partners verraten, auch wenn es ein unwil kommener ist - nein.
Er sah mich misstrauisch an. »In Ordnung.
Hexenehrenwort.«
7
»Rachel«, kam Jenks' leise Stimme von meinem Ohrring.
»Schiel mal zu diesem Typ rüber. Sol das eine Anmache sein, oder was?«
Es war ein ungewöhnlich warmer Septembernachmittag.
Ich zog die Tasche höher auf die Schulter und spähte zu dem fraglichen Jüngelchen hinüber, während ich durch die Hal e schritt, in der das entspannte Unileben seinen Lauf nahm.
Musik drang an meine Ohren, doch das Radio des Typen war zu leise eingestel t, um etwas Konkretes hören zu können.
Offensichtlich hielt er sich für richtig geil. Er hatte schwarze Haare, trug schwarze Klamotten, eine schwarze Sonnenbril e und einen ebenfal s schwarzen Ledermantel. Lässig lehnte er an einem Automaten und versuchte während des Gesprächs mit einer Frau in einem Gothic-Spitzenkleid cool und weltmännisch zu wirken. Aber er vermasselte es. Mit einem Plastikbecher in der Hand sieht niemand interessant aus, egal, wie sexy sein Dreitagebart ist. Und niemand trägt Gothic-Klamotten außer ausgeflippten, lebendigen Teenager-Vampiren und erbärmlich traurigen Möchtegern-Vamps.
Ich kicherte und fühlte mich sofort besser. Der große Campus und die gebal te Ladung Jugend machten mich nervös. Ich hatte ein kleines Gemeindecol ege besucht und das zweijährige Standardprogramm abgerissen, gefolgt von einem vierjährigen Programm bei der LS. Meine Mutter wäre bei der schmalen Rente, die ihr von meinem Vater blieb, nie in der Lage gewesen, die Ausbildung an der University of Cincinnati zu bezahlen, vom Sterbegeld ganz zu schweigen.
Ich studierte den blassgelben Stundenplan, den Edden mir gegeben hatte. Auf dem Zettel standen der Tag und die Uhrzeit des Seminars und weiter unten rechts in der Ecke waren die Gesamtkosten aufgeführt - Steuern, Laborgebühren und Unterricht. Das ergab zusammen ein schönes Sümmchen. Al ein dieses Seminar kostete so viel wie ein ganzes Semester an meinem ehemaligen Col ege. Nervös stopfte ich den Wisch in die Tasche und bemerkte dabei einen Tiermenschen, der mich von einer Ecke aus beobachtete. Auch ohne den Stundenplan in der Hand wirkte ich hier ziemlich deplaziert. Ich hätte mir auch gleich ein Schild um den Hals hängen können, mit der Aufschrift: Fortbildungsmaßnahmenstudentin. Mein Gott, was fühlte ich mich alt. Viele der Studenten waren zwar nicht wesentlich jünger als ich, aber sie strahlten bei jeder Bewegung Uner-fahrenheit und Unschuld aus.
»Das ist dämlich«, murmelte ich zu Jenks und verließ den Infoschalter. Ich wusste noch nicht einmal, warum der Pixie mitkam. Das war sicherlich Eddens Werk. Er musste ihn auf mich angesetzt haben, um sicherzugehen, dass ich auch brav zum Unterricht ging. Meine Vamp-Stiefeletten klapperten apart, als ich die lange Glasröhre entlangging, die das Business-Arts-Gebäude mit der Kantack Hal verband. Ich zuckte zusammen, als mir bewusst wurde, dass meine Schritte dem Rhythmus von Takatas Shattered Sight folgten.
Obwohl mir die Melodie nicht einfiel, hatte ich plötzlich den Text im Kopf, der sich wie ein nervtötender Ohrwurm in meinen Gedanken festsetzte. Sift the clues from the dust, from my lives, of my wil . I loved you then. I love you still.
»Eigentlich sol te ich jetzt bei Glenn sein und mit ihm die Nachbarn befragen«, beschwerte ich mich. »Nur um Dans Kommilitonen auszuhorchen, muss ich doch nicht das ganze Seminar mitmachen.«
Mein Ohrring eierte hin und her wie eine Reifenschaukel, sodass Jenks' Flügel mich am Hals kitzelten. »Edden wil verhindern, dass Dr. Anders erfährt, dass sie verdächtigt wird.
Da hatte er doch mal eine gute Idee.«
Der Pixie nervte. Meine Schritte wurden nun durch den weichen Teppich des Flurs gedämpft, von dem die Seminarräume abzweigten. Ich studierte die ansteigenden Raumnummern, die neben den Türen angebracht waren. »Du hältst es also für eine gute Idee?«
»Klar, al erdings hat er etwas vergessen.« Jenks kicherte.
»Oder viel eicht auch nicht.«
Als ich vor einer der Türen eine Gruppe Studenten bemerkte, verlangsamte ich meinen Schritt. Wahrscheinlich war das mein Kurs. »Was sol er vergessen haben?«
»Nun ja. .« Er machte es mal wieder spannend. »Jetzt, wo du diesen Kurs besuchst, passt du ins Opferprofil.«
Adrenalin schoss durch meinen Körper, verebbte aber schnel wieder. »Sieh mal einer an«, murmelte ich.
Verdammter, verdammter Edden.
Jenks ließ sein Windspielgelächter erklingen. Ich schob das schwere Buch auf die andere Hüfte und suchte in dem kleinen Grüppchen nach der Person, die wohl den meisten Tratsch verbreitete. Ein Mädchen schaute zu mir hoch, oder besser gesagt zu Jenks, und lächelte kurz, bevor sie sich umdrehte. Sie war genau wie ich in Jeans, trug aber über ihrem T-Shirt einen teuer aussehenden Wildledermantel.
Lässig, aber stylish. Nette Kombination. Ich ließ meine Tasche auf den Teppich fal en und lehnte mich wie die anderen gegen die Wand, hielt aber einen Meter Abstand.
Verstohlen betrachtete ich das Buch, das zu Füßen des Mädchens lag. Kraftliniengebrauch bei kontaktlosen Zaubern.
Ich war ein wenig erleichtert. Zumindest hatte ich das richtige Buch dabei. Viel eicht würde das al es gar nicht so schlimm werden. Ich betrachtete das Milchglas der geschlossenen Tür und hörte ein gedämpftes Gespräch.
Musste der vorhergehende Kurs sein, der die Zeit überzog.
Jenks schaukelte wieder auf meinem Ohrring und zog daran.
Das konnte ich noch ignorieren, aber als er ein Lied über Raupen und Studentenblumen zu träl ern begann, wedelte ich ihn weg.
Das Mädchen neben mir räusperte sich. »Bist du gerade erst versetzt worden?«
»Wie bitte?«, fragte ich, irritiert, weil Jenks gerade auf seinen gewohnten Platz zurückkehrte.
Ihre Kaugummiblase platzte mit einem lauten Plopp und die stark geschminkten Augen wanderten von mir zu dem Pixie. »Es gibt nicht viele Kraftlinienstudenten. Ich kann mich nicht erinnern, dich schon mal gesehen zu haben. Gehst du normalerweise in die Mondscheinseminare?«
»Oh.« Ich löste mich von der Wand und wandte mich ihr zu.
»Nein. Ich mache diesen Kurs als, äh, Fortbildungsmaßnahme.«
Lachend schob sie sich ihre langen Haare hinter die Ohren.
»Hey, kann ich gut verstehen. Wenn ich mal fertig bin, gibt es für Filmproduktionsmanager mit Kraftlinienerfahrung wahrscheinlich keine Jobs mehr. Heutzutage scheint jeder Kunst als Nebenfach zu haben.«
»Ich bin Rachel.« Ich reichte ihr die Hand. »Und das hier ist Jenks.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, antwortete sie und zögerte dann einen Augenblick.
»Janine.«
Jenks hob ab und setzte sich auf ihre hastig ausgestreckte Hand. »Es ist mir eine Freude, Janine«, sagte er und verbeugte sich tatsächlich. Sie strahlte ihn an, vol kommen begeistert. Offensichtlich hatte sie noch nicht oft die Bekanntschaft von Pixies gemacht. Die meisten blieben auf dem Land, es sei denn sie konnten einen der wenigen Jobs ergattern, für die Pixies und Fairys besonders geeignet waren: Wartung von Überwachungskameras, Security oder das gute alte Herumschnüffeln. Trotzdem wurden Fairys meist bevorzugt, da ihre Nahrung aus Insekten bestand und nicht aus Nektar. Somit war es einfacher, sie zu ernähren.
»Äh, unterrichtet Dr. Anders selbst oder hat sie einen Assistenten?«
Janine kicherte, was Jenks zum Anlass nahm, auf meinen Ohrring zurückzukehren. »Du hast also schon von ihr gehört?
Ja, sie unterrichtet selbst, ihr Kurs ist ja immer ziemlich klein.« Janines Augen verengten sich. »Besonders jetzt. Am Anfang waren wir zwölf Studenten, aber vier haben sich abgemeldet, als Dr. Anders uns geraten hat, vorsichtig zu sein, da der Mörder sich immer Kraftlinienhexen aussucht.
Und dann hat auch noch Dan das Studium abgebrochen.«
Sie ließ sich seufzend gegen die Wand fal en.
»Der Hexenjäger?«, fragte ich und versuchte, ein ironisches Lächeln zu unterdrücken. Ich hatte mir genau die Richtige zum Ausquetschen ausgesucht. Ich versuchte, erstaunt auszusehen. »Das ich doch nicht dein Ernst. .«
Sie wirkte jetzt besorgt. »Wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum Dan gegangen ist. Es ist wirklich schade. Der Typ war so heiß, dass er sogar in einem Regensturm noch einen Wassersprinkler ausgelöst hätte. Er hatte ein wichtiges Bewerbungsgespräch vor sich, wol te mir aber nichts darüber verraten. Hatte viel eicht Angst davor, dass ich mich auch bewerbe. Anscheinend hat er den Job bekommen.«
Ich nickte zustimmend und fragte mich, ob das die Neuigkeiten waren, von denen er Sara Jane an diesem Samstag hatte berichten wol en. Aber dann tauchte ein böser Verdacht in mir auf. War das Abendessen im Carew Tower viel eicht nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um sich sang-und klanglos aus dem Staub zu machen?
»Bist du sicher, dass er abgebrochen hat? Der Hexenjäger könnte. .«
Janine lächelte aufmunternd. »Ja, er hat aufgehört. Er hat gefragt, ob ich seine magnetische Kreide kaufen wol e, fal s das mit dem Job klargeht. Nachdem das Siegel gebrochen ist, tauscht der Buchladen sie nämlich nicht mehr um.«
Auf meinem Gesicht zeigte sich plötzlich die nackte Angst.
»Ich wusste nicht, dass man Kreide mitbringen muss.«
»Oh, kein Problem. Ich kann dir welche leihen«, beruhigte sie mich und kramte in ihrer Tasche. »Dr. Anders lässt uns ständig zeichnen: Pentagramme, Nord/Süd-Apogäen -was auch immer es ist, wir zeichnen es. Sie kombiniert das Laborpraktikum mit dem regulären Unterricht. Darum treffen wir uns auch hier.«
»Danke.« Ich nahm den Metal stift mit dem Kreideaufsatz und steckte ihn zum Buch. Pentagramme? Ich hasste Pentagramme! Meine Linien waren nie gerade genug. Und ich musste Edden fragen, ob er mir eine zweite Einkaufsrunde im Buchladen bezahlen würde. Doch dann fielen mir die bisherigen Kosten für den Kurs ein, die er eventuel nie erstattet bekommen würde, und ich beschloss, meine alten Col egesachen bei meiner Mutter auszugraben.
Fantastisch. Dann musste ich sie wohl anrufen.
Janine bemerkte meinen missmutigen Gesichtsausdruck, interpretierte ihn falsch und versuchte noch einmal, mich zu beruhigen. »Hey, Rachel, mach dir keine Sorgen. Der Mörder ist nicht hinter uns her - er wil nur erfahrene Hexen, wirklich.
Dr. Anders hat uns nur zur Vorsicht geraten.«
»Ja«, antwortete ich und stel te mir dabei die Frage, ob ich als erfahren oder unerfahren gelten konnte. »Das vermute ich auch.«
Die Gespräche um uns herum verstummten, als Dr. Anders'
schril e Stimme hinter der Tür laut wurde. »Ich weiß nicht, wer meine Studenten umbringt, und ich bin diesen Monat schon bei zu vielen Beerdigungen gewesen, um mir Ihre unverschämten Anschuldigungen anzuhören. Und wenn sie meinen Namen in den Dreck ziehen, werde ich sie verklagen, bis zurück zum Wandel, wenn es sein muss!«
Als Janine ihr Buch aufhob und es sich gegen die Brust drückte, wirkte sie verstört. Die anderen Studenten im Flur traten nervös von einem Fuß auf den anderen und tauschten besorgte Blicke aus. »So viel zu dem Plan, Dr. Anders über den Verdacht im Unklaren zu lassen«, flüsterte Jenks. Ich nickte und hoffte, dass mich Edden jetzt viel eicht von dem Kurs erlösen würde. »Das ist Denon da drin«, ergänzte Jenks.
Ich holte tief Luft.
»Was?«
»Ich kann ihn riechen. Denon ist bei Dr. Anders.«
Denon? Ich wunderte mich, dass mein alter Boss sich von seinem Schreibtisch losgeeist hatte.
Einem gedämpften Murmeln folgte ein lauter Knal . Al e außer Jenks und mir zuckten zusammen. Janine rieb sich mit einer Hand das Ohr, so als ob sie gerade einen harten Schlag verpasst bekommen hätte. »Hast du das gespürt?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat einen Kreis geschlossen, ohne ihn vorher zu markieren.« Wie al e anderen auch konnte ich den Blick nicht mehr von der Tür losreißen. Ich hatte noch nie gehört, dass ein magischer Kreis auch ohne eine vorherige Skizze gezogen werden konnte. Warum spürten al e außer Jenks und mir, was sie da gerade getan hatte? Völ ig überfordert hob ich meine Tasche auf.
Die murmelnde Stimme meines ehemaligen Chefs weckte unangenehme Erinnerungen. Wie auch Ivy zählte Denon zu den lebenden Vampiren. Er gehörte aber zur untersten Kaste, war als Mensch geboren und erst später von einem wahren Untoten mit dem Vampirvirus infiziert worden. Ivy besaß Macht, denn sie wurde schon als Vampir geboren, was ihren Übergang zur Untoten garantierte. Auch wenn bei ihrem Tod noch jeder Tropfen Blut durch ihre Adern floss, würde sich die dunkle Welt für sie öffnen. Denon hingegen gehörte zu den zweitklassigen Vamps, denn er muss-te darauf vertrauen, dass nach seinem Tod ein Untoter seine Wandlung vervol ständigen würde.
»Raus aus meinem Hörsaal«, keifte Dr. Anders nun. »Sonst werde ich Sie wegen Nötigung anzeigen.«
Die Nervosität unter den Studenten stieg. Ich war nicht überrascht, als sich das Milchglas durch einen Schatten verdunkelte. Wir hielten al e die Luft an, als sich die Tür öffnete und Denon herauskam. Der Mann war fast zu breit, um durch die Tür zu passen. Ich war fest davon überzeugt, dass Denon in einem früheren Leben ein Felsblock gewesen war - ein schleimiger, vom Fluss blank geriebener Block mit dem Gewicht von, äh, viel eicht einer Tonne? Als zweitklassiger Vampir verfügte er nur über menschliche Kräfte und musste sich anstrengen, um mit seinen toten Brüdern mithalten zu können. Das Resultat waren ein Waschbrettbauch und jede Menge Muskelpakete, die sein weißes Hemd zu sprengen drohten, als er nonchalant in den Flur hinausschlenderte. Die gestärkte Baumwol e bildete einen scharfen Kontrast zu seiner Bräune und zog meinen Blick an. Es war nicht leicht, die Augen von Denon abzuwenden - und genau das bezweckte er auch.
Als er an uns vorbeiging, wich der Kurs zurück. Ein kalter Hauch schien ihm aus dem Raum zu folgen, wahrscheinlich die Überreste der Aura, mit der er versucht hatte, Dr. Anders in seinen Bann zu ziehen. Als Denon mich erkannte, lächelte er selbstbewusst und vol er Dominanz.
»Äh, Rachel«, murmelte Jenks hastig, während er zu Janine hinüberflog, »wir sehen uns dann drinnen, okay?«
Ich sagte nichts. Plötzlich fühlte ich mich klein und unscheinbar.
»Ich halt dir einen Platz frei«, bot Janine mir an und verschwand mit den anderen im Hörsaal. Ich ließ meinen alten Boss nicht aus den Augen.
Ich hatte früher wahnsinnige Angst vor ihm gehabt und stel te mich darauf ein, dass dieses Gefühl jetzt zurückkehren würde, aber irgendetwas hatte sich geändert. Obwohl er sich immer noch mit der Anmut einer Raubkatze bewegte, war die alterslose Ausstrahlung, die er einmal gehabt hatte, verflogen. Das unverhohlene hungrige Verlangen in seinen Augen verriet mit, dass er nach wie vor praktizierte, aber ich vermutete, dass er nicht mehr den erlesenen Geschmack der Untoten kosten durfte, obwohl diese sich wahrscheinlich immer noch an seinem Blut labten.
»Morgan.« Es fühlte sich an, als hätten seine Worte körperliche Substanz und drückten mich in ihrer Reflexion von der Mauer nach vorne. Seine Stimme hatte sich überhaupt nicht verändert - vol routinierter Macht und dunkler Versprechungen. »Ich habe gehört, dass du jetzt die FIB-Nutte spielst. Oder versuchst du tatsächlich, etwas aus dir zu machen?«
»Hal o, Mr. Denon«, erwiderte ich und starrte in die tiefschwarzen Augen. »Sind Sie zu einem Runner degradiert worden?«
Der lustvol e Hunger in seinem Blick verwandelte sich in Wut. Ich konnte nicht anders, musste ihn noch weiter reizen.
»Sie haben wohl meine Fäl e übernommen. Retten Sie Schutzgeister aus Bäumen? Überprüfen Lizenzen? Ach ja, wie geht es eigentlich den obdachlosen Brückentrol en?«
Denon bewegte sich unmerklich vorwärts, den Blick konzentriert, die Muskeln angespannt. Auf meinem Gesicht bildete sich kalter Schweiß. Ich presste mich gegen die Wand. Die von dem entfernten Verbindungskorridor hereinströmende Sonne schien sich zu verdunkeln. Das Licht wirbelte herum wie in einem Kaleidoskop und schien doppelt so weit entfernt zu sein. Mein Herz macht einen unangenehmen Sprung, fand aber erstaunlich schnel zu seinem üblichen Rhythmus zurück. Er versuchte mich in seinen Bann zu ziehen, aber das konnte er nicht, solange ich ihm keine Angst lieferte, mit der er ihn füttern konnte. Und das würde ich nicht tun.
»Lass den Scheiß, Denon«, sagte ich forsch, obwohl sich mein Magen zusammenzog. »Ich lebe mit einem Vamp zusammen, der dich zum Frühstück verspeisen könnte. Spar dir dein Getue für jemanden, bei dem es sich lohnt.«
Trotzdem rückte er näher und näher, bis er mein gesamtes Gesichtsfeld blockierte. Jetzt musste ich zu ihm aufschauen, und das machte mich wütend. Seinen warmen Atem durchzog der Geruch von Blut. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und es wurmte mich, dass er spüren konnte, wie sehr ich ihn immer noch fürchtete.
»Ist hier irgendjemand außer dir und mir?«, drohte er mit honigsüßer Stimme.
Meine Hand glitt im Zeitlupentempo zum Griff der Splat Gun. Die rauen Ziegel der Wand schrammten über meine Knöchel, doch als die Finger den Abzug berührten, kehrte meine Selbstsicherheit zurück. »Nur du, ich und meine Splat Gun. Fass mich an, und ich niete dich um.« Ich grinste ihn freundlich an. »Und was habe ich wohl in meinen Splat Bal s?
Stel dir vor, jemand von der I. S. muss kommen und dich mit Salzwasser abspritzen. Damit wärst du für mindestens ein Jahr der Witz der gesamten I. S.« Seine Feindseligkeit verwandelte sich in puren Hass.
»Hau ab«, sagte ich unmissverständlich. »Wenn ich sie .
ziehe, werde ich sie auch benutzen.«
Zögerlich ließ Denon von mir ab. »Halt dich hier raus, Morgan«, drohte er. »Das ist mein Fal .«
»So, so, deshalb hat die LS. also noch nichts erreicht.
Viel eicht sol test du besser Knöl chen schreiben und den Job einem Profi überlassen.«
Er schnaubte wütend, und ich merkte, wie sein Zorn mir Kraft verlieh. Ivy hatte recht. In den tiefsten Abgründen seiner Seele nagte die Angst. Die Angst, dass seine untoten Brüder, die er mit Blut speiste, eines Tages die Kontrol e verlieren und ihn töten würden. Die Angst, dass sie ihn sterben lassen und nicht als einen Bruder in ihren Kreis aufnehmen würden.
Und er hatte al en Grund dazu.
»Das hier ist eine I. S.-Angelegenheit. Wenn du mir in die Quere kommst, buchte ich dich ein.« Er lächelte und entblößte dabei sein rein menschliches Gebiss. »Du glaubst, Kalamacks Käfig war die Höl e? Dann warte mal ab, was ich zu bieten habe.«
Meine Selbstsicherheit verpuffte. Die I. S. wusste davon?
»Zieh die Kral en ein, Stubentiger«, fuhr ich ihn schnippisch an. »Ich fahnde nach einer vermissten Person, mit deinen Morden hab ich nichts am Hut.«
»Vermisste Person«, äffte er mich nach. »Da hast du dir ja
'ne schöne Geschichte ausgedacht. Bleib ruhig dabei, aber versuch doch ausnahmsweise mal, deinen Fang lebendig einzufahren.« Denon warf mir einen letzten Blick zu und ging dann den hel en Flur hinunter in Richtung Eingangshal e, deren gedämpfte Geräusche zu mir herüberdrangen. »Du wirst nicht dein Leben lang Tamwoods Schoßhündchen bleiben«, rief er, ohne sich umzudrehen. »Und wenn es so weit ist, kriege ich dich.«
»Wenn du meinst«, erwiderte ich lässig, obwohl die alte Angst sich wieder breitmachte. Ich verdrängte sie und löste die Hand von der Waffe. Auch wenn ich durch das Zusammenleben mit Ivy vor Cincinnatis Vampiren geschützt war, war ich nicht ihr Spielzeug. Ivy besetzte noch keine Machtstel ung in der gesel schaftlichen Hierarchie, aber als das letzte lebende Mitglied der Tamwoodfamilie hatte sie den Status eines Thronfolgers, den kluge Vampire, lebende wie tote, respektierten.
Ich holte tief Luft, um das schwammige Gefühl in den Knien zu vertreiben. Großartig. Jetzt kam ich auch noch als Einzige zu spät in das Seminar, das mit Sicherheit schon begonnen hatte.
In dem Bewusstsein, dass dieser Tag wohl nicht mehr schlimmer werden konnte, sammelte ich mich und betrat den Raum, der durch die großen Fenster, die eine guten Blick auf den Campus ermöglichten, hel erleuchtet war.
Genau wie Janine gesagt hatte, wirkte der Vorlesungssaal eher wie ein Labor. An jedem der hohen gefliesten Tische saßen zwei Studenten. Wie versprochen hatte mir Janine, die gerade in ein Gespräch mit Jenks vertieft war, einen Platz freigehalten.
Der stechende Ozongeruch von Dr. Anders' hastig konstruiertem Kreis drang mir in die Nase. Der Kreis selbst war verschwunden, doch die Überreste der Energie kitzelten meine Nasennebenhöhlen. Mein Blick richtete sich auf die Schöpferin dieses Werks, die an einem hässlichen Metal tisch vor einer altmodischen Tafel saß.
Sie hatte beide El bogen auf den Tisch gestützt und das Kinn in die Handflächen gelegt. Ich konnte ihre zitternden Finger sehen und fragte mich, ob das ein Zeichen ihrer Wut über Denons Anschuldigungen war, oder ob es eine Nachwirkung ihres starken Eingriffs ins Jenseits war, um einen magischen Kreis ohne physische Manifestation zu erstel en. Der Kurs wirkte ungewöhnlich ruhig.
Dr. Anders trug ihr dunkles Haar in einem strengen Knoten, der von einigen unvorteilhaften grauen Strähnen durchzogen war. In ihren konservativ geschnittenen hel braunen Hosen und der geschmackvol en Bluse wirkte sie älter als meine Mutter. Ich versuchte jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden, schlängelte mich klammheimlich zwischen den ersten beiden Tischreihen hindurch und setzte mich neben Janine.
»Danke«, flüsterte ich ihr zu.
Ich verstaute meine Tasche unter dem Tisch und bemerkte dabei Janines weit aufgerissene Augen. »Du arbeitest für die I. S.?«
Ich sah verstohlen zu Dr. Anders. »Früher mal. Letztes Frühjahr habe ich den Job geschmissen.«
»Ich wusste nicht, dass man bei der I. S. kündigen kann«, sagte sie, noch erstaunter.
Ich zog die Schultern hoch und schob meine Haare zur Seite, sodass Jenks auf seinem Stammplatz landen konnte.
»Es war auch nicht ganz einfach.« In diesem Moment erhob sich Dr. Anders von ihrem Stuhl und zog unsere Aufmerksamkeit auf sich.
Mit ihrem langen, hageren Gesicht und einer Nase, die dem Klischee einer Hexe aus der Zeit vor dem Wandel entsprach, flößte sie mir noch genauso viel Furcht ein wie früher. Al erdings hatte sie weder Warzen noch grüne Haut.
Sie strahlte eine unglaubliche Autorität aus und fesselte die Kursteilnehmer al ein durch ihre körperliche Präsenz. Mit nun wieder ruhigen Fingern nahm sie einen Stapel Papier vom Tisch. Theatralisch setzte sie ihre Nickelbril e auf und studierte betont gründlich ihre Aufzeichnungen. Ich hätte wetten können, dass sie die Gläser mit einem Spruch belegt hatte, um damit Kraftlinienzauber erkennen zu können. Am liebsten hätte ich meine eigene Bril e aufgesetzt, um festzustel en, ob sie sich mit Hilfe der Kraftlinien absichtlich verunstaltete, oder ob sie von Natur aus so hässlich war. Mit einem Seufzer blickte sie schließlich auf. Durch die verzauberten Gläser sah sie mir direkt in die Augen.
»Ach ja«, sagte sie langsam, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Wir haben heute ja einen Neuzugang.«
Ich heuchelte ein Lächeln. Es war offensichtlich, dass sie mich erkannt hatte, denn ihr Gesicht hatte sich verzogen und ähnelte nun einer schrumpeligen Dörrpflaume.
»Rachel Morgan«, bel te sie.
»Hier«, antwortete ich ausdruckslos.
In ihrem Gesicht blitzte Ärger auf. »Wir kennen uns ja bereits.« Mit bestimmten Schritten kam sie auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Sie lehnte sich nach vorn und betrachtete den Pixie. »Und wer sind Sie, Herr Pixie?«
»Ähhh, Jenks, Madam«, stammelte er und schlug so hektisch mit den Flügeln, dass sie sich fast in meinen Haaren verfingen.
»Jenks«, antwortete sie in einem Ton, der an Respektlosigkeit grenzte. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie stehen nicht auf meiner Teilnehmerliste. Bitte verlassen Sie den Kurs.«
»Ja, Madam.« Überrascht merkte ich, wie sich der normalerweise arrogante Pixie von meinem Ohrring abstieß.
»Sorry, Rachel«, flüsterte er mir zu. »Ich warte in der Mensa oder in der Bibliothek. Viel eicht ist Nick noch da.«
»Sicher, ich werde dich schon finden.«
Er nickte Dr. Anders höflich zu und schoss durch die immer noch geöffnete Tür. »Es tut mir leid«, höhnte Dr. Anders,
»fal s Sie mein Seminar in der Ausübung Ihres Sozial ebens behindern sol te.«
»Nein, Dr. Anders. Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen.«
Der sarkastische Unterton ließ sie zusammenzucken.
»Tatsächlich?«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Janine vor Staunen der Mund offen stand. Auch der Rest des Kurses gaffte, als wäre ich das achte Weltwunder. Mein Gesicht glühte. Ich wusste nicht, warum die Frau mich auf dem Kieker hatte, aber es gab keinen Zweifel, dass es so war. Zu anderen war sie ungefähr so liebenswürdig wie eine hungrige Krähe - zu mir wie ein tol wütiger Dachs.
Mit einem lauten Knal ließ Dr. Anders ihre Unterlagen auf meinen Tisch fal en. Sie hatte meinen Namen mit einem roten Textmarker dick umrandet. Mit zusammengepressten Lippen fragte sie: »Was machen Sie hier? Wir hatten dieses Semester schon zwei Sitzungen!«
»Die Orientierungszeit ist aber noch nicht vorbei«, erwiderte ich. Im Gegensatz zu Jenks hatte ich kein Problem, mich gegen Autoritäten aufzulehnen. Aber wie man so schön sagt - die Autorität sitzt immer am längeren Hebel.
»Ich kann mir nicht vorstel en, wie Sie die Genehmigung für diesen Kurs erhalten haben«, fuhr sie mich bissig an. »Sie erfül en keine der Voraussetzungen.«
»Die Zeugnisse wurden al e eingereicht, außerdem wurde aufgrund meiner praktischen Erfahrung ein Semester angerechnet.« Das war zwar nicht gelogen, aber ohne Edden hätte ich es mir nicht leisten können, ein Fünfhundert-Dol ar-Seminar zu besuchen.
»Sie verschwenden meine Zeit, Ms. Morgan. Sie sind eine Erdhexe. Das habe ich Ihnen doch schon in der Vergangenheit ausdrücklich klargemacht. Ihre Fähigkeiten in der Kraftlinienmagie beschränken sich auf das Schließen eines einfachen magischen Kreises. Bei komplizierteren Ritualen würden Sie die Kontrol e verlieren.« Sie lehnte sich über den Tisch, und ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. »Sie werden schnel er aus diesem Seminar fliegen, als Sie sich vorstel en können.«
Ich holte tief Luft, versuchte meine innere Balance zu finden und betrachtete die entsetzten Gesichter der anderen.
Zweifel os entdeckten sie gerade eine neue Seite an ihrer hochverehrten Dozentin. »Ich brauche diesen Schein, Dr.
Anders.« Mir war schleierhaft, warum ich ihr verkümmertes Mitgefühl anzusprechen versuchte. Aber ich hatte Angst vor einem Rausschmiss, denn womöglich hätte Edden mich dann gezwungen, selbst für die Kosten aufzukommen. »Ich bin hier, weil ich etwas lernen möchte.«
Daraufhin nahm die kratzbürstige Vogelscheuche ihre Unterlagen und lehnte sich gegen den freien Tisch, der hinter ihr stand. »Macht Ihnen Ihr Dämon das Leben schwer?«
Ein schockiertes Raunen ging durch den Kurs, und Janine rückte von mir ab. Dieses verdammte Weibsbild, dachte ich und versuchte mein gezeichnetes Handgelenk zu verstecken.
Ich bin noch nicht mal fünf Minuten hier, und schon hat sich mich vor der ganzen Klasse bloßgestel t. Hätte ich nur einen Armreif getragen. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, nicht darauf einzugehen.
In Dr. Anders' Gesicht zeigte sich höhnische Zufriedenheit.
»Al ein mit Erdmagie können Sie ein Dämonenmal nicht zuverlässig verstecken.« Sie hatte die Stimme erhoben und sprach jetzt im Tonfal einer Dozentin. »Dafür benötigen Sie Kraftlinienmagie. Sind Sie aus diesem Grund hier?«
Ich zitterte vor Wut, wol te aber auf gar keinen Fal ihrem Blick ausweichen. Dass ich zur Tarnung der Narbe Kraftlinienmagie einsetzen musste, war mir neu. Jetzt wusste ich wenigstens, warum meine Tarnzauber nach Sonnenuntergang ihre Wirkung verloren.
Als sie die Stirn runzelte, vertieften sich die Falten in ihrem Gesicht. »Professor Peltzers Seminar >Dämonologie für den modernen Praktiken findet im gegenüberliegenden Gebäude statt. Fal s es noch nicht zu spät ist, sol ten Sie versuchen, in seinen Kurs aufgenommen zu werden und dieses Seminar aufgeben. Wir befassen uns hier nicht mit den schwarzen Künsten.«
»Ich bin keine schwarze Hexe«, entgegnete ich gepresst, vol darauf konzentriert, nicht loszubrül en. »Ich habe den Dämon nicht gerufen, dem ich das Mal verdanke. Ich habe ihn abgewehrt.«
Ich holte langsam Luft und konnte niemandem in die Augen blicken, besonders nicht Janine, die mittlerweile so viel Raum wie möglich zwischen uns gebracht hatte. »Ich wil hier lernen, wie ich ihn von mir fernhalten kann, Dr. Anders.
Ich werde keinen Dämonologieunterricht nehmen. Ich fürchte mich vor ihnen.«
Den letzten Satz hatte ich nur noch geflüstert, aber jeder hatte ihn gehört. Dr. Anders wirkte betroffen. Mir war die ganze Situation ziemlich peinlich, aber wenn sie mich dadurch in Ruhe ließ, war es das wert.
Mit lauten Schritten ging sie zum Pult. »Gehen Sie nach Hause, Ms. Morgan« sagte sie, den Blick auf die Tafel gerichtet. »Ich weiß, warum Sie hier sind. Ich habe meine ehemaligen Studenten nicht umgebracht, und Ihre unausgesprochene Anschuldigung beleidigt mich.«
Mit dieser äußerst angenehmen Feststel ung drehte sie sich um und schenkte dem Kurs ein verkrampftes Lächeln.
»Wenn der Rest von Ihnen so freundlich wäre, jetzt Ihre Skizzen der Pentagramme des 18. Jahrhunderts hervorzuholen? Wir werden am Freitag einen Test schreiben.
Für nächste Woche lesen Sie bitte die Kapitel sechs, sieben und acht in Ihren Büchern und machen die dazugehörigen praktischen Übungen. Janine?«
Als ihr Name aufgerufen wurde, schreckte das Mädchen auf. Sie war völ ig in den Versuch vertieft gewesen, einen Blick auf mein Handgelenk zu erhaschen. Ich war immer noch ganz durch den Wind, und meine Finger zitterten, als ich mir die gestel ten Hausaufgaben notierte.
»Janine, Sie sol ten zudem die Anmerkungen am Ende vo Kapitel sechs lernen. Ihre Kontrol e bei der Abgabe gespeicherter Kraftlinienenergie lässt zu wünschen übrig.«
»Ja, Dr. Anders«, nuschelte sie mit kreidebleichem Gesicht.
»Und setzen Sie sich neben Brian. Von ihm können Sie mehr lernen als von Ms. Morgan.«
Das brauchte sie ihr nicht zweimal zu sagen. Noch bevor Dr. Anders den Satz beendet hatte, hatte sich Janine ihre Tasche und ihr Buch geschnappt und war an den Nebentisch geflüchtet. Jetzt war ich vol kommen al ein. Ich fühlte mich beschissen. Janines geliehene Kreide lag neben meinem Buch wie eine stumme Anklage.
»Kommenden Freitag werde ich außerdem die Verbindung zu Ihren Schutzgeistern überprüfen, da wir in den nächsten Wochen eine Lektion über Langzeitbeistand beginnen. Bitte bringen Sie sie mit. Der Vorgang wird einige Zeit beanspruchen, deshalb sol ten Studenten, deren Name sich am Ende des Alphabets befindet, darauf einstel en, länger zu bleiben.« Einige meiner Kommilitonen stöhnten gelangweilt, al erdings ohne die Herzlichkeit, die sonst sicherlich dazugehörte. Mein Magen hing mir wieder in den Kniekehlen. Ich hatte keinen Schutzgeist. Und wenn ich bis Freitag keinen auftreiben konnte, würde sie mich rausschmeißen. Genau wie letztes Mal.
Dr. Anders schenkte mir ein Lächeln von der Warmherzigkeit einer Vogelscheuche. »Ist das ein Problem für Sie, Ms. Morgan?«
»Nein«, log ich. Ob sie nun die Verbrechen begangen hatte oder nicht - ich hatte plötzlich große Lust, sie ihr anzuhängen. »Nein, überhaupt kein Problem.«
8
Glücklicherweise mussten wir nicht in einer Schlange warten, als Glenn mit dem FIB-Zivilwagen vor Piscarys hielt.
Sobald der Wagen stoppte, standen Ivy und ich schon auf der Straße. Die Fahrt war für keinen von uns angenehm gewesen, da wir beide die Erinnerung an den Übergriff in der Küche noch deutlich vor Augen hatten. Heute Abend hatte sie sich merkwürdig verhalten, einerseits zurückhaltend, andererseits irgendwie aufgeregt. Es war eine Stimmung, als würde sie mich heute ihren Eltern vorstel en. In gewisser Weise war es wohl auch so, denn bei Piscary begann die Blutlinie ihrer Vampirfamilie.
Glenn gähnte, als er bedächtig aus dem Auto stieg und sein Jackett anzog, war aber wach genug, um Jenks wegzu-wedeln, der um seinen Kopf kreiste. Mr. Detective schien sich bei seinem ersten Besuch in einem exklusiven Inderlander-Restaurant gar nicht so unwohl zu fühlen. Irgendwie wirkte er dadurch noch komplexbeladener. Ein Schnel merker war er offenbar nicht.
Glenn hatte einem Klamottenwechsel zugestimmt und seine förmliche Dienstkleidung gegen eine Jeans und ein ausgewaschenes Flanel hemd eingetauscht, die Ivy in ihrem Schrank gefunden hatte. Die Kleidung lag in einer Box mit der verblichenen schwarzen Aufschrift »Überreste«. Sie passte ihm wie angegossen. Ich wol te lieber gar nicht wissen, wie Ivy an die Klamotten gekommen war oder warum sie an einigen suspekten Stel en ordentlich gestopfte Risse aufwiesen. Ein Nylonjackett verbarg die Waffe, die abzulegen er sich geweigert hatte; ich hingegen hatte die Splat Gun zu Hause gelassen. In einem Raum vol er Vampire war sie sowieso nutzlos.
Ein Van fuhr auf den Parkplatz und hielt am anderen Ende des Hofs. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das hel erleuchtete Fenster der Pizzaausgabe. Während ich das ganze Treiben beobachtete, wurde die nächste Bestel ung fertig. Der Lieferwagen ruckelte auf die Straße, schoss dann aber in einem irren Tempo davon, das auf einen frisierten Motor schließen ließ. Pizzafahrer verdienten gutes Geld, seitdem sie sich erfolgreich eine Risikozulage erstritten hatten.
Hinter dem Parkplatz erklang das sanfte Geräusch der Wel en, die gegen die Holzpfähle schlugen. Lange Lichtstreifen spiegelten sich auf der Oberfläche des Ohio River und die Wolkenkratzer von Cincinnati warfen lange Schatten in dem dunklen Wasser. Piscarys Grundstück lag zwischen den Clubs, Restaurants und angesagten Läden der Amüsiermeile direkt am Wasser. Eine Anlegestel e bot begüterten Yachtbesitzern schnel en Zugang zu der Pizzeria -
aber um diese Uhrzeit noch einen Tisch mit Blick auf die Docks zu ergattern war so gut wie unmöglich.
»Bereit?«, fragte Ivy gut gelaunt, nachdem sie ihr Jackett geglättet hatte. Sie trug wie üblich eine Hose aus schwarzem Leder und eine Seidenbluse, sodass sie auch jetzt schmal und raubtierhaft wirkte. Ihr roter Lippenstift war der einzige Farbklecks in ihrem blassen Gesicht. Anstatt des Kruzifixes, das im Moment sicher in ihrer Schmuckschatul e verstaut war, hatte sie eine dunkle Goldkette um ihren schlanken Hals gelegt. Sie passte perfekt zu ihren Fußkettchen. Ivy hatte sogar Klarlack aufgetragen, sodass ihre Fingernägel dezent glänzten.
Da der Schmuck und der Nagel ack so untypisch für sie waren, hatte ich beschlossen, anstel e des Zauberarmbands einen breiten Silberreif anzulegen, der mein Dämonenmal verbarg. Es tat gut, sich mal wieder in Schale zu schmeißen, und so unternahm ich sogar den Versuch, etwas aus meinen Haaren zu machen. Die rote Wuschelfrisur, die dabei herauskam, wirkte sogar fast gewol t.
Als wir auf die Eingangstür zugingen, blieb ich immer einen Schritt hinter Glenn. Obwohl Inderlander in verschiedensten Kombinationen miteinander ausgingen, stach unsere kleine Gruppe hervor. Deshalb beabsichtigte ich, so schnel wie möglich die benötigten Auskünfte zu ergattern, bevor wir zu einer Massenattraktion wurden. Der Wagen, der nach uns kam, transportierte eine Horde partylustiger Tiermenschen.
»Glenn, von jetzt an hältst du die Klappe«, mahnte Ivy, als wir vor der Eingangstür standen.
»Wenn du meinst«, erwiderte er feindselig.
Wachsam trat ich einen Schritt zurück, während Jenks im Sturzflug auf meinem großen Ohrring landete. »Na, das kann ja heiter werden«, kicherte er.
Ivy schnappte sich Glenn beim Kragen, stemmte ihn hoch und knal te ihn gegen den hölzernen Pfeiler, der das Vordach trug. Der völ ig verblüffte Mann erstarrte für einen Moment und versuchte dann, Ivy einen Tritt in den Magen zu verpassen. Sie ließ ihn fal en, um dem Schlag auszuweichen, hob ihn anschließend in Vampirgeschwindigkeit wieder hoch und presste ihn erneut an den Pfosten. Er stöhnte vor Schmerzen und rang um Atem.
»Oh ja«, frohlockte Jenks, »das wird morgen früh ganz schön wehtun.«
Ich zappelte nervös herum und schielte zu den Tiermenschen hinüber. »Hättet ihr das nicht zuh Hause regeln können?«, beschwerte ich mich.
»Pass mal auf, du kleiner Snack«, drohte Ivy seelenruhig und sah ihm gelassen in die Augen. »Du wirst da drin die Klappe halten. Du existierst nur, wenn ich dir eine Frage stel e.«
»Fahr zur Höl e«, röchelte er, wobei er so rot anlief, dass seine dunkle Haut zu glühen schien.
Ivy schob ihn noch ein Stückchen höher, woraufhin er nur noch grunzen konnte. »Du stinkst nach Mensch«, ergänzte sie, ohne ihren Blick aus bedrohlich schwarzen Augen von ihm abzuwenden. »Bei Piscarys verkehren nur Inderlander oder unterworfene Menschen. Wenn du da in einem Stück und ohne zusätzliche Löcher wieder rauskommen wil st, müssen sie glauben, du wärst mein Schatten.«
Schatten -- Ein äußerst abfäl iger Begriff, ebenso wie Leibeigener. Zutreffender wäre al erdings Spielzeug. So bezeichnete man kürzlich gebissene Menschen, die nun eine lebende Sex- und Nahrungsquel e darstel ten und psychisch an den Vampir gebunden waren. Schatten wurden so lange wie möglich gefügig gehalten, manchmal sogar jahrzehntelang. Mein alter Boss Denon hatte auch zu dieser Gruppe gehört, bis er sich so weit eingeschmeichelt hatte, dass ihm eine unabhängigere Existenz zugebil igt worden war.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht löste Glenn sich aus ihrem Griff und fiel auf den Boden. »Geh und wandel dich, Tamwood«, krächzte er und rieb sich den Hals. »Ich kann auf mich aufpassen. Das hier kann auch nicht schlimmer werden als ein Besuch in einer Rassistenbar im tiefsten Georgia.«
»Ach nein?« Ivys Stimme triefte vor Ironie, als sie sich wieder vor ihm aufbaute, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Standest du da auch auf dem Speiseplan?«
Die Tiermenschen gingen an uns vorbei in den Laden.
Einer von ihnen zuckte kurz zusammen und warf mir einen prüfenden Blick zu. Hoffentlich wurde der gestohlene Fisch hier nicht zu einem Problem. Musik und Stimmengewirr drangen aus dem Restaurant und verstummten wieder, als die schwere Tür ins Schloss fiel. Ich seufzte; es schien ziemlich vol zu sein. Wahrscheinlich mussten wir auf einen Tisch warten.
Ivy zog die Tür auf, und ich bot Glenn eine Hand, um ihm aufzuhelfen, aber er lehnte sie ab. Er versteckte den Antijuckzauber unter dem Hemd und versuchte krampfhaft seinen Stolz wiederzufinden, den Ivy unter ihren Stiefeln zerquetscht hatte. Jenks sauste auf seine Schulter und ließ Glenn zusammenfahren. »Setz dich woanders hin, Pixie«, motzte er zwischen zwei Hustenanfäl en.
»Aber nicht doch«, meinte Jenks fröhlich. »Noch nie davon gehört, dass die Vampire dich nicht anrühren, solange ein Pixie auf deiner Schulter sitzt? Das ist doch al gemein bekannt!«
Glenn zögerte, und ich verdrehte die Augen. Was für ein Schwachsinn!
Wir stel ten uns hinter Ivy an, als die Tiermenschen gerade zu einem Tisch geführt wurden. Wie an den meisten Werktagen, war der Laden gerammelt vol . Bei Piscarys gab es die beste Pizza in ganz Cincinnati, und sie nahmen keine Reservierungen entgegen. Durch die Wärme und den geschäftigen Lärm entspannte ich mich und zog die Jacke aus.
Dicke, grob behauene Säulen stützten eine tiefe Decke, und von der breiten Treppe, die in das obere Stockwerk führte, klang dumpf der stampfende Rhythmus von Stings Rehumanize Yourself herüber. Neben dem Aufgang befanden sich große Fenster, durch die man den schwarzen Fluss und die Skyline der Stadt sehen konnte. Ein unverschämt teures Motorboot mit großen Aufbauten war am Pol er vertäut. Die Docklichter machten den Namen am Bug sichtbar -SOLAR.
Überal im Restaurant bewegten sich junge, betriebsame Bedienungen, deren aufreizende Uniformen mehr entblößten als bedeckten. Die meisten von ihnen waren unterworfene Menschen, da die Vampirbedienungen sich üblicherweise um den im oberen Stockwerk gelegenen, weniger überwachten Bereich kümmerten.
Der Kel ner am Eingang hob vielsagend die Augenbrauen, als er Glenn mit einem prüfenden Blick bedachte. An seinem Namensschildchen und dem nur halb aufgeknöpften Hemd erkannte ich, dass er wohl der Saalchef sein muss-te. »Ein Tisch für drei? Mit oder ohne Beleuchtung?«
»Mit Beleuchtung«, bat ich, bevor Ivy etwas Gegenteiliges sagen konnte. Ich wol te auf gar keinen Fal nach oben. Den Geräuschen nach zu urteilen, ging es da ziemlich hoch her.
»Dann dauert es leider noch circa fünfzehn Minuten. Wenn Sie möchten, können Sie so lange an der Bar Platz nehmen.«
Natürlich, fünfzehn Minuten. Man musste immer fünfzehn Minuten warten. Fünfzehn Minuten, aus denen dreißig wurden, dann vierzig und dann war man bereit auch noch zehn weitere in Kauf zu nehmen, um nicht die ganze Prozedur in einem anderen Restaurant noch mal durchmachen zu müssen.
Ivy lächelte und entblößte dabei ihr Gebiss. Ihre Eckzähne waren nicht größer als meine, aber scharf wie Rasierklingen.
»Wir warten hier, vielen Dank.«
Hingerissen von ihrem Charme nickte der Kel ner. Das offene Hemd gab den Blick frei auf seine mit blassen Narben übersäte Brust. Bei Denny's trug das Personal nicht so freizügige Kleidung, aber wer war ich schon, darüber zu urteilen? Er war eher der weiche Typ, passte also nicht ganz in mein Beuteschema, aber es gab sicher einige Frauen, die nicht abgeneigt gewesen wären.
»Es wird bestimmt nicht lange dauern«, sagte er und sah mir tief in die Augen, als er mein Interesse bemerkte. Seine Lippen öffneten sich langsam und vielsagend. »Möchten Sie schon bestel en?«
Als ich endlich den Blick von ihm losriss, trug eine Bedienung gerade ein Tablett mit appetitlich riechender Pizza an uns vorbei. Ich sah Ivy fragend an und zuckte mit den Schultern. Wir waren zwar nicht zum Essen gekommen, aber warum nicht?
»Ja«, meinte sie prompt. »Wir hätten gerne eine extra Große, al e Toppings außer Paprika und Zwiebeln.«
Glenn studierte eine Gruppe von Frauen, wahrscheinlich ein Hexenzirkel, die ihr Menü mit einem Applaus begrüßten.
Ein Dinner bei Piscarys war immer ein Event. »Du hast gesagt, wir bleiben nicht lange.«
Ivy drehte sich zu ihm um. Ihre Pupil en vergrößerten sich schon wieder. »Ich habe Hunger. Was dagegen?«
»Natürlich nicht«, murmelte er eingeschüchtert.
Von einem Moment auf den anderen hatte Ivy sich wieder im Griff. Hier würde sie bestimmt nicht vampirisch werden, denn es bestand die Gefahr, dass dadurch bei den anderen Vamps eine Kettenreaktion ausgelöst würde, was Piscary seine Fünf-Sterne-LGP kosten konnte. »Viel eicht können wir uns ja bei jemandem dazusetzen«, meinte sie ungeduldig.
LGP war die Abkürzung für »Lizenz für Gemischtes Publikum«. Sie besagte, dass in diesen Räumlichkeiten ein Blutsaugeverbot bestand. Das war in den meisten Läden mit Alkoholausschank seit dem Wandel Standard. So wurde für die normale »tot heißt wirklich tot«-Bevölkerung eine dringend benötigte Sicherheitszone geschaffen. Wenn zu viele Vampire zusammen waren und einer von ihnen Blut trank, bestand die Gefahr, dass die anderen die Kontrol e verloren. Kein Problem, wenn Vampire unter sich sind, aber ein Ärgernis, wenn der nächtliche Ausflug des Geliebten auf dem Friedhof endet - im besten Fal .
Es gab Clubs und Bars, die auch ohne eine LGP überleben konnten, aber sie machten einen weitaus geringeren Umsatz.
Besonders Menschen gingen gerne in Läden mit einem LGP-Zertifikat, da sie dort beruhigt flirten konnten, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dass sich ihr Date plötzlich in ein wildes, blutdurstiges Monster verwandeln könnte. Zumindest, bis man im heimischen Schlafzimmer gelandet war, wo wenigstens eine Überlebenschance bestand. Vamps bevorzugten diese Etablissements, weil das Eis hier um einiges leichter gebrochen werden konnte, da der Flirtpartner sich nicht aus Angst vor einem Biss total verkrampfte.
Ich sah mich in dem halb offenen Raum um und entdeckte unter den Gästen nur Inderlander. LGP hin oder her -Glenn erregte Aufmerksamkeit. Die Jukebox war verstummt und leider warf niemand neues Geld ein. Abgesehen von den Hexen in der Ecke und den Tiermenschen im Hintergrund sah ich nur Vampire, die al e Stufen der Sinnlichkeits und Kleidungsskala abdeckten, von leger bis Satin oder Spitze.
Einige der Tische schienen von einer Todestagspartygesel schaft belegt zu sein.
Plötzlich spürte ich einen warmen Atem im Nacken und nahm Abwehrhaltung ein. Nur Ivys leicht besorgter Blick hielt mich davon ab, mich umzudrehen und zuzuschlagen.
Als ich über die Schulter blickte, schluckte ich die bissige Abfuhr, die mir auf der Zunge lag, hinunter. Großartig. Kisten.
Der lebende Vampir war ein Freund von Ivy, und ich konnte ihn nicht ausstehen. Das lag zum Teil daran, dass er Piscarys auserwählter Nachkomme war, sozusagen die rechte Hand des Meistervampirs, die seine Tagesgeschäfte erledigte. Die Tatsache, dass Piscary mich einmal gegen meinen Wil en durch ihn in seinen Bann gezogen hatte, war meiner Sympathie für Kisten auch nicht gerade zuträglich.
Damals hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass so etwas überhaupt möglich war. Außerdem war er sehr, sehr attraktiv, was ihn für mich zu einem sehr, sehr gefährlichen Mann machte.
Wenn Ivy die Königin der Finsternis war, dann war Kisten ihr Prinzgemahl - und bei Gott, genau so sah er auch aus.
Kurze blonde Haare, blaue Augen und ein Stoppelbart, der den feinen Gesichtszügen einen Hauch Wildheit verlieh
-insgesamt eine Kombination, die viel Spaß versprach, Sex pur. Heute war er etwas konservativer gekleidet als sonst und hatte die mit Ketten besetzen Bikerklamotten gegen ein geschmackvol es Hemd und eine elegante Hose eingetauscht. Sein vol kommenes Desinteresse an der Meinung anderer war al erdings unverändert. Auch ohne Bikerboots war er, obwohl ich Absätze trug, ein wenig größer als ich. Trotzdem konnte ich in seine Augen sehen, in denen die Alterslosigkeit eines untoten Vampirs schimmerte wie ein Versprechen, das auf seine Erfül ung wartet. Er bewegte sich mit der eleganten Selbstsicherheit einer Katze; gut genug trainiert, um suchenden Fingern etwas zu tun zu geben, ohne dass es zu viel gewesen wäre.
Ivy und er hatten eine gemeinsame Vergangenheit, von der ich lieber nichts wissen wol te, da sie damals noch praktiziert hatte. In mir erweckte er immer den Eindruck, dass er sich, wenn er sie schon nicht haben konnte, auch mit der Mitbewohnerin begnügen würde. Oder mit dem Mädchen von nebenan. Oder mit der Frau, die er morgens im Bus getroffen hatte. .
»Na, Liebes«, hauchte er mit aufgesetztem britischem Akzent und einem amüsierten Funkeln in den Augen, wohl da es ihm gelungen war, mich zu überrumpeln.
Ich bohrte den Finger in seine Brust und schob ihn weg.
»Dein Akzent ist miserabel. Geh erst mal üben und komm dann wieder.« Mein Puls beschleunigte sich und leichtes, angenehmes Prickeln der Halsnarbe ließ meine Alarmglocken schril en. Verflucht. Das hatte ich ganz vergessen.
Er warf Ivy einen fragenden Blick zu, und als sie lediglich die Stirn runzelte, benetzte er lasziv seine Lippen. Daraufhin sah ich finster zu Ms. Vamp rüber, denn gegen den hier konnte ich mich nun wirklich al ein zur Wehr setzen. Als Ivy das merkte, machte sie eine verärgerte und zugleich spöttische Geste und zog Glenn hinter sich her zur Bar, wobei sie Jenks mit der Aussicht auf gesüßten Palmwein erfolgreich weglockte. Der FIB-Detective sah mich über die Schulter nachdenklich an, wohl wissend, dass zwischen uns dreien irgendetwas abgelaufen war - was genau, konnte er sich al erdings nicht erklären.
»Endlich al ein.« Kist stel te sich neben mich und ließ den Blick durch das Lokal schweifen. Ich roch Leder, obwohl er keines trug - zumindest nicht sichtbar.
»Fäl t dir kein besserer Spruch ein?«, fragte ich herausfordernd, wobei ich mir wünschte, Ivy nicht vertrieben zu haben.
»Das war kein Spruch.«
Seine Schulter war eindeutig in meinem Wohlfühlbereich, aber ich würde keinen Zentimeter von ihm abrücken und ihm damit zeigen, wie sehr er mich beunruhigte. Verstöhlen blickte ich ihn an, als er schwer und unendlich langsam einatmete, scheinbar ganz auf die Gäste konzentriert, während er meinen Körpergeruch in sich einsog, um den Grad meiner Erregung zu prüfen. An einem Ohr glitzerten zwei Diamanten, das andere war, wie ich wusste, nur mit einem einfachen Stecker und einer Narbe verziert. Eine Kette aus dem gleichen ungewöhnlichen Material wie Ivys war der einzige Hinweis auf seine übliche »Bad Boy«-Auf-machung.
Was machte er überhaupt hier? Es gab andere Orte, an denen ein lebender Vampir sich wesentlich besser ein Date, beziehungsweise einen Snack, aufreißen konnte.
Seine Finger waren ständig in Bewegung, sodass ich nur schwer den Blick anwenden konnte. Ich wusste, dass er Vamp-Pheromone verströmte, um mich zu beruhigen und einzulul en - das verfeinert den Geschmack, Süße -, aber je attraktiver sie sind, desto widerspenstiger werde ich. Als ich realisierte, dass ich mich seiner Atmung angepasst hatte, entgleiste mein Gesicht.
Ein subtiler Bann feinster Machart, dachte ich und hielt den Atem an, um mich von seinem Rhythmus zu lösen. Er lächelte, neigte den Kopf und strich sich mit der Hand über das Kinn. Normalerweise hatten nur tote Vampire die Macht, Unwil ige zu verzaubern, aber als Piscarys Nachkomme verfügte er über einen Teil der Fähigkeiten seines Meisters. Er würde es al erdings nicht wagen, sie hier einzusetzen. Nicht mit Ivy im Nacken, die an der Bar stand und ihn über den Rand ihrer Wasserflasche hinweg beobachtete.
Plötzlich bemerkte ich, dass er mit seinem Becken unzweideutige Stoßbewegungen machte. »Lass das«, warnte ich ihn angeekelt und wandte mich ihm zu, damit ich ihm direkt in die Augen sehen konnte. »An der Bar sitzen die Frauen wie Hühner auf der Stange und ziehen dich mit ihren Blicken förmlich aus. Geh denen auf die Nerven.«
»Es macht aber viel mehr Spaß, sich um deine Nerven zu kümmern.« Genussvol atmete er meinen Geruch ein und lehnte sich zu mir rüber. »Du duftest immer noch nach Ivy, aber sie hat dich nicht gebissen. Mein Gott, du bist die reinste Versuchung.«
»Ivy und ich sind Freunde«, antwortete ich beleidigt. »Sie jagt mich nicht.«
»Dann wird es sie ja sicher nicht stören, wenn ich es tue.«
Angewidert wich ich zurück. Er folgte mir Zentimeter um Zentimeter, bis ich mit dem Rücken an einem der Pfeiler stand. »Bleib stehen.« Er drückte die Hand gegen den Pfeiler und hielt mich so an Ort und Stel e, ohne mich zu berühren.
»Ich wil dir etwas sagen, aber es ist nur für deine Ohren bestimmt.«
»Als ob uns bei diesem Lärm jemand belauschen könnte«, spottete ich. Hinter dem Rücken bal te ich vorsichtig die Finger zur Faust und schaffte es sogar, mir nicht die Nägel in den Handbal en zu bohren.
»Du würdest dich wundern«, murmelte er mit hypnotischem Blick. Ich starrte in seine Augen, deren Pupil en sich unmerklich vergrößert hatten, und spürte die erregende Hitze, die sich von meiner Narbe durch den ganzen Körper ausbreitete. Ich hatte lange genug mit Ivy zusammengelebt, um zu wissen, wie ein Vampir aussah, der kurz davor war, die Kontrol e zu verlieren. Bei Kist war das nicht der Fal . Er hatte seine Instinkte im Griff, sein Hunger war momentan gestil t.
Ich war einigermaßen sicher, also entspannte ich mich.
Seine sinnlichen roten Lippen öffneten sich überrascht, er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich diese körperliche Nähe so einfach akzeptieren würde. Er seufzte genüsslich, neigte den Kopf zur Seite und strich mit den Lippen über mein Ohrläppchen. Das Licht spiegelte sich auf seiner schwarzen Halskette, die meine Hand wie magisch anzog. Sie war warm. Wie hypnotisiert ließ ich sie durch meine Finger gleiten.
Die Geräusche der klappernden Tel er und vereinzelten Gespräche verloren sich, während ich sein sanftes, kaum hörbares Flüstern aufsog. Ein köstliches Gefühl durchströmte mich, als flösse geschmolzenes Metal durch meine Adern. Es war mir egal, dass es von der Dämonennarbe kam und dass Kisten sie ganz bewusst stimulierte - es fühlte sich einfach zu gut an. Und dabei hatte er noch nicht einmal irgendetwas gesagt, dass ich verstanden hätte.
»Sir?«, erklang eine zögerliche Stimme.
Kistens Atem stockte. Drei Herzschläge lang rührte er sich nicht, die Schultern vor Wut angespannt. Meine Hand fiel von seinem Hals. »Da wil jemand was von dir«, sagte ich und entdeckte hinter ihm den Saalchef, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Ein ironisches Lächeln überkam mich.
Kist war drauf und dran gewesen, die LGP zu gefährden und jetzt hatten sie jemanden geschickt, um ihn zu bändigen.
Gesetze konnten manchmal doch ganz nützlich sein. Sie hielten mich am Leben, wenn ich Dummheiten machen wol te.
»Was?«, fragte Kist kalt. Seine Stimme war sonst immer entweder von Lust oder von Missmut erfül t gewesen. Die unerwartete Macht, die nun in ihr lag, ließ mich zusammenfahren.
»Sir, die Tiermenschen oben - sie fangen an Ärger zu machen.«
Wie bitte? Damit hatte ich nicht gerechnet.
Verärgert stieß Kist sich von dem Pfeiler ab. Ich holte befreit Luft, wobei sich meine ungesund tiefe Enttäuschung mit einem erschreckend kleinen Hauch Erleichterung und Überlebenswil en mischte.
»Ich hatte dir doch befohlen, diesem Pack klarzumachen, dass wir keinen getrockneten Eisenhut mehr haben. Die stanken doch schon danach, als sie hier reinkamen.«
»Das haben wir ja versucht, Sir«, protestierte der Kel ner und wich einen Schritt zurück, als Kist endgültig von mir wegtrat. »Aber sie haben Tarra dazu gebracht, ihnen zu verraten, dass wir hinten noch was haben. Und dann hat sie es ihnen gegeben.«
Kists Verärgerung verwandelte sich in Wut. »Wer hat Tarra den oberen Bereich zugeteilt? Ich habe ihr ganz klar gesagt, dass sie hier unten arbeiten muss, bis der Tiermenschenbiss verheilt ist.«
Kist arbeitete bei Piscarys? Überraschung, Überraschung!
Ich hätte nie gedacht, dass dieser Vampir überhaupt genug Grips hatte, um irgendetwas Sinnvol es zu tun.
»Tarra hat Samuel überredet, ihr den oberen Dienst zu überlassen - von wegen mehr Trinkgeld und so. .«
»Sam. .«, zischte Kist. Diese Reaktion war der erste Beweis dafür, dass er auch noch an etwas anderes denken konnte als an Sex und Blut. Schon wieder eine Überraschung. Mit zusammengepressten Lippen scannte er den Raum. »In Ordnung. Macht die Geburtstagspartynummer und bringt Tarra in Sicherheit, bevor sie die Tiermenschen endgültig überschnappen lässt. Keinen Eisenhut mehr. Wer wil , bekommt Dessert auf Kosten des Hauses.«
Oben wurde Tumult laut. Als Kisten zur Decke sah, als könne er sie mit seinen Blicken durchdringen, glänzten seine Bartstoppeln im Licht. Die Musik lief wieder und ein Song von Jeff Beck klang von oben herab. »Versager«, murmelte Kist. In gewisser Weise wirkte die Musik wohl beruhigend, da nun al e den Text mitgrölten. Die wohlhabenderen Gästen hier unten schien das al es nicht weiter zu interessieren.
»Piscary zieht mir die Haut ab, wenn wir wegen so etwas die fünf Sterne verlieren«, meinte er schließlich. »Und so aufregend das auch wäre, ziehe ich es doch vor, morgen noch laufen zu können.«
Eigentlich hätte mich Kists unverblümtes Eingeständnis seiner Beziehung zu Piscary nicht überraschen sol en, aber ich fand es trotzdem befremdlich. Auch wenn ich das Nehmen und Geben von Blut immer mit Sex gleichsetzte, traf das nicht unbedingt zu, besonders nicht, wenn der Austausch zwischen einem lebenden und einem untoten Vampir stattfand. Für diese beiden Parteien hatte es einen extrem unterschiedlichen Stel enwert, was wahrscheinlich daran lag, dass einer von beiden noch eine Seele hatte.
Die Verpackung, in der das Blut kam, war für die meisten lebenden Vampire nicht ganz unwichtig. Sie suchten sich ihre Partner sorgfältig aus, und für gewöhnlich - al erdings nicht immer - folgten sie ihren sexuel en Präferenzen, da es ja immer sein konnte, dass es Sex als Zugabe gab. Auch wenn sie von Hunger getrieben wurden, stil te das Geben und Nehmen des Bluts ein emotionales Bedürfnis, war eine Art physischer Bestätigung einer gefühlsbezogenen Bindung, die auch beim Sex entstehen kann. Aber das war keine unumstößliche Regel.
Untote Vampire dagegen hatten andere Ansprüche und wählten ihre Begleiter mit der Akribie eines Serienmörders.
Sie waren mehr darauf aus, zu dominieren und zu manipulieren, als auf eine wahre Bindung. Das Geschlecht spielte dabei keine große Rol e, obwohl die Untoten dem Bonus Sex nicht abgeneigt waren, da sie hier ihr Dominanzbedürfnis noch besser befriedigen konnten, sodass der Sex - selbst mit einem wil igen Partner - oft einer Vergewaltigung glich. Jede Beziehung, die aus so einer Übereinkunft entstand, konnte nur hoffnungslos einseitig sein, obwohl der Gebissene es meist nicht wahrhaben wol te und stets glaubte, sein Meister wäre die Ausnahme von der Regel. Kistens offensichtliche Vorfreude auf die nächste
»Zusammenkunft« mit Piscary machte mich nachdenklich, und während ich den jungen Vampir neben mir beobachtete, fragte ich mich, ob das nur an der großen Macht liegen konnte, die Kist durch seinen Status als Piscarys Nachkomme zuteil wurde.
Kist bemerkte nicht, welche Richtung meine Gedanken eingeschlagen hatten und zog ärgerlich eine Augenbraue hoch.
»Wo ist Sam?«
»In der Küche, Sir.«
Ein Auge des Mannes zuckte nervös. Kist warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu, der zu fragen schien »worauf wartest du noch?«, woraufhin der sich so schnel wie möglich verzog.
Mit der Wasserflasche in der Hand schlich sich Ivy nun an Kist heran und zog ihn noch weiter von mir weg. »Und du dachtest, ich wäre blöd, ins Security-Geschäft einzusteigen anstatt ins Business-Management? Du wirkst fast schon verantwortungsbewusst, Kisten. Pass auf, dass du dir nicht den Ruf ruinierst.«
Kist zeigte ein wenig Eckzahn, und schon war das Bild des geplagten Restaurantmanagers verschwunden. »Die Vergünstigungen sind großartig, Ivy, mein Liebes.« Er streichelte ihren Hintern mit einer Vertrautheit, die sie nur kurz tolerierte, dann verpasste sie ihm eine schal ende Ohrfeige.
»Wenn du mal einen Job brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.«
»Schieb dir deinen Job in den Arsch, Kist.«
Er lachte und senkte für einen Moment den Kopf, bevor er seinen anzüglichen Blick wieder auf mich richtete. Eine Gruppe von Kel nern drängte die ausladende Treppe hoch, klatschte in die Hände und sang dabei ein dämliches Lied.
Das Spektakel wirkte harmlosaufdringlich, überhaupt nicht wie ein Notfal einsatz. Geschickt. Kist hatte offenbar wirklich ein Händchen für so was.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, lehnte er sich zu mir rüber. »Im Bett bin ich sogar noch besser, Liebes«, flüsterte er und löste damit eine neue Wel e der Verheißung aus.
Bevor ich ihn wegschieben konnte, war er schon zurückgewichen und schlenderte lächelnd davon. Auf dem halben Weg zur Küche drehte er sich noch einmal um, um zu sehen, ob ich ihn beobachtete - was ich auch tat. Zur Höl e, jede Frau in diesem Laden, egal, ob lebendig, tot, oder irgendwas dazwischen, beobachtete ihn.
Ich riss mich von seinem Anblick los und bemerkte dabei, dass Ivy seltsam verschlossen wirkte. »Du fürchtest dich nicht mehr vor ihm«, stel te sie ausdruckslos fest.
»Nein.« Diese Erkenntnis überraschte mich selbst. »Das liegt wohl daran, dass er doch noch etwas kann als nur Flirten.«
Sie wich meinem Blick aus. »Kist kann so einiges. Es macht ihn unglaublich an, beherrscht zu werden, aber wenn's zur Sache geht, schickt er dich auf die Bretter, bevor du auch nur Luft holen kannst. Piscary würde sich keinen Idioten als Nachkommen aussuchen, egal, wie gut er blutet.« Sie presste die Lippen zusammen. »Unser Tisch ist frei.«
Ich folgte ihrem Blick zu dem einzigen freien Tisch an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand. Glenn und Jenks waren rübergekommen, sobald Kist verschwunden war, und so schlängelten wir uns gemeinsam zwischen den Tischen hindurch, setzten uns mit dem Rücken zur Wand auf eine halbkreisförmige Bank - Inderlander, Mensch, Inderlander -, und warteten auf die Bedienung.
Jenks hatte es sich auf dem tief hängenden Kronleuchter bequem gemacht, und das Licht, das durch seine Flügel fiel, malte grüne und goldene Punkte auf den Tisch. Glenn ließ wortlos die Atmosphäre auf sich wirken und versuchte, sich seine Irritation beim Anblick des handverlesenen, mit Narben übersäten Personals nicht anmerken zu lassen. Egal, ob männlich oder weiblich, sie waren al e jung und zeigten ein so dienstbeflissenes Lächeln, dass es mich fast wahnsinnig machte.
Ivy sagte nichts weiter zum Thema Kist, wofür ich ihr sehr dankbar war. Es war peinlich, wie schnel die Vamp-Pheromone bei mir wirkten und mich von »verpiss dich« auf
»verführ mich« umpolten. Dank der Massen an Vamp-Speichel, mit denen der Dämon mich vol gepumpt hatte, ging meine Widerstandsfähigkeit gegen die Botenstoffe gegen Nul .
Vorsichtig stützte Glenn die El bogen auf den Tisch. »Du hast mir noch gar nichts über dein Seminar verraten.«
Jenks lachte. »Es war die Höl e auf Erden. Zwei Stunden lang nichts als Pedanterie und Beleidigungen.«
Mir fiel die Kinnlade runter. »Woher weißt du das?«
»Ich hab mich wieder reingeschlichen. Was hast du dieser Frau nur angetan, Rachel? Ihre Katze umgebracht?«
Ich wurde rot. Dass Jenks al es beobachtet hatte, machte die Sache noch schlimmer. »Die Frau ist eine hässliche alte Furie. Wenn du sie für die Morde drankriegen wil st, Glenn, tu dir keinen Zwang an. Dr. Anders weiß längst, dass sie verdächtigt wird. Die I. S. war auch schon da und hat sie an den Rande des Nervenzusammenbruchs getrieben. Aber mal im Ernst, ich habe nichts gefunden, was sie mit den Verbrechen in Verbindung bringt. Kein Motiv und nicht die geringste Spur von Schuldgefühl.«
Glenn zog die Arme zurück und lehnte sich nach hinten.
»Überhaupt nichts?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur, dass Dan am Freitag nach dem Seminar ein Vorstel ungsgespräch hatte. Wahrscheinlich war das die gute Nachricht, mit der er Sara Jane überraschen wol te.«
»Er hat sich noch am selben Abend von al en Seminaren abgemeldet«, fügte Jenks hinzu. »Berief sich auf die Regeln der Orientierungszeit mit vol er Erstattung der Gebühren. Er muss das Formular per E-Mail geschickt haben.«
Ich blinzelte zu dem Pixie hoch, der zwischen den Glühbirnen saß, um sich warm zu halten. »Woher weißt du das?«
Er schlug fröhlich mit den Flügeln und grinste. »Während der Pause habe ich im Studentensekretariat herumgeschnüffelt. Denkst du, ich bin nur mit in die Uni gekommen, um deine Schulter zu zieren?«
Ivy trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wol t ihr drei die ganze Nacht nur über die Arbeit reden?«
»Ivy, mein Mädchen!« Die kräftige Stimme ließ uns al e hochschauen. Ein kleiner schlanker Mann in einer Küchenschürze eilte vom anderen Ende des Restaurants zu unserem Platz, wobei er sich geschickt zwischen den Tischen hindurchschob. »Ivy-Mädchen«, rief er noch einmal, »wie schön, dass du schon wieder kommst! Und du hast auch noch Freunde mitgebracht!«
Ich warf einen schnel en Blick auf Ivy und bemerkte überrascht, dass ein zartes Rot ihre bleichen Wangen färbte.
Mein Ivy-Mädchen?
»Ivy-Mädchen?«, fragte auch Jenks von seinem sicheren Platz auf dem Kronleuchter. »Was ist denn hier los?«
Als der Mann unseren Tisch erreicht hatte, erhob sich Ivy und nahm ihn in die Arme, wobei sie sich al erdings ganz offensichtlich nicht besonders wohlfühlte. Die beiden gaben ein merkwürdiges Bild ab, da er mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner war als sie. Dann gab er ihr auch noch einen väterlichen Klaps auf den Hintern! Ich runzelte verwirrt die Stirn. Sie umarmte ihn? Freiwillig?
In den schwarzen Augen des Kochs lag ein wohliges Glitzern. Ein Geruch nach Tomatenmark und Blut drang in meine Nase. Ohne Zweifel war er ein praktizierender Vamp.
Ich konnte al erdings nicht sagen, ob er schon untot war.
»Hi, Piscary«, begrüßte Ivy den Mann und setzte sich wieder. Jenks und ich sahen uns ungläubig an. Das sol te Piscary sein? Einer der mächtigsten Vampire Cincinnatis? Ich hatte noch nie einen so harmlos wirkenden Vampir gesehen.
Piscary war einige Zentimeter kleiner als ich, schlank und gut gebaut. Die zarte Nase, die weit auseinanderstehenden, mandelförmigen Augen und die schmalen Lippen verstärkten sein exotisches Erscheinungsbild. Seine dunklen Augen strahlten, als er seine Kochmütze absetzte und in den Schürzengürtel steckte. Die honigfarbene Haut seines kahl rasierten Schädels glänzte im Licht. Das unscheinbare Hemd und die Hose, die er trug, hätten von der Stange sein können, was ich al erdings stark bezweifelte. Sie verliehen ihm die Ausstrahlung eines wohlsituierten Mittelklassemanns, ein Eindruck, der durch sein beflissenes Lächeln noch verstärkt wurde. Piscary beherrschte einen Großteil der Unterwelt Cincinnatis, aber wenn ich ihn mir so ansah, fragte ich mich, wie er das hinkriegte.
Mein gesundes Misstrauen gegenüber untoten Vamps verschwand und ließ nur eine gedämpfte Vorsicht zurück.
»Piscary? Wie in >Piscarys<?«
Der Vampir lächelte und zeigte dabei seine Zähne, die länger waren als Ivys - er gehörte also zu den wahren Untoten - und im Kontrast zu seinem dunklen Teint strahlend weiß leuchteten. »Ja, Piscarys gehört mir.« Für einen so kleinen, schmalen Mann hatte er eine erstaunlich tiefe Stimme, in der die Macht der Elemente zu erklingen schien.
Ich fragte mich, wie lange Piscary wohl schon Englisch sprach, da er einen kaum noch hörbaren Akzent hatte.
Ivy räusperte sich und lenkte meine Aufmerksamkeit von den schwarzen, temperamentvol en Augen ab.
Merkwürdigerweise hatte der Anblick seiner Zähne nicht mein Bedürfnis geweckt, mein Knie in angemessene Körperregionen zu rammen, wie es sonst bei Vamps der Fal war. »Piscary«, erklärte Ivy nun, »das sind Rachel Morgan und Jenks, meine Geschäftspartner.«
Jenks war mittlerweile auf die Pfefferstreuer geflitzt und beobachtete von dort aus das Geschehen. Piscary begrüßte ihn kurz, bevor er sich mir zuwandte. »Ich habe schon lange darauf gewartet, dass mein kleines Mädchen uns einander vorstel t. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich ihr verbieten würde, weiter mit Ihnen zu spielen.« Sein Lächeln wurde noch wärmer. »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Ich hielt den Atem an, als er meine Hand nahm und die Finger an die Lippen führte, in einem Handkuss, dessen Eleganz in krassem Gegensatz zu seiner bescheidenen Aufmachung stand. Mein Herz schlug schnel er und schnel er, aber es schien sich nicht mehr in meiner Brust zu befinden. Er atmete den Duft meiner Hand ein, als könnte er das pulsierende Blut unter der Haut riechen. Ich unterdrückte einen Schauer, indem ich mir fest auf die Zähne biss.
Piscarys Augen hatten die Farbe von schwarzem Eis.
Unerschrocken erwiderte ich seinen Blick, fasziniert von der Ungewissheit, die in diesen Abgründen lauerte. Schließlich wandte er sich ab, und ich zog schnel meine Hand zurück. Er war gut. Teuflisch gut. Er hatte seine Aura dazu benutzt, mir zu schmeicheln, anstatt mich einzuschüchtern. Nur wirklich alte Vampire waren dazu in der Lage. Und die Dämonennarbe hatte sich überhaupt nicht gerührt. Ich war mir nicht sicher, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Mit einem gut gelaunten Lachen über mein plötzliches und offensichtliches Misstrauen setzte sich Piscary neben Ivy auf die Bank, während drei Kel ner sich hastig darum bemühten, so schnel wie möglich die runden Holzuntersetzer zu platzieren. Glenn nahm es locker, dass Ivy ihn nicht vorgestel t hatte, und selbst Jenks hielt ausnahmsweise mal die Klappe. Als Piscary Platz genommen hatte, saßen wir so eng zusammengerückt, dass meine Schulter sich in Glenns Arm bohrte und ich nur noch zur Hälfte auf der Bank hing.