»Rachel? Was ist los?« Er klang besorgt.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich und versuchte mit Blick auf Edden und Trent so leise wie möglich zu sprechen.

»Ich bin mit Captain Edden bei Trent. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Kannst du in deinen Büchern nach einem Kraftlinienzauber suchen, mit dem man, äh, Tote finden kann?«

Am anderen Ende der Leitung blieb es lange stil . »Das mag ich so an dir, Ray-Ray«, meinte Nick schließlich. Im Hintergrund hörte ich, wie er ein Buch aus dem Regal zog und auf den Tisch warf. »Du sagst immer die nettesten Dinge.«

Ich hörte ungeduldig zu, wie er die Seiten umblätterte.

»Tote«, murmelte er unbeeindruckt, während die Schmetterlinge in meinem Bauch den Presslufthammer rausholten. »Also, ich habe hier tote Fairies und tote Geister.

Reicht eine Beschwörung für Geister?«

»Nein.« Ich kratzte an meinem abblätternden Nagel ack herum und spürte, dass Trent mich nicht aus den Augen ließ, während er sich mit Edden unterhielt. »Tote Könige, tote Rinder. . ah, hier ist es, Tote.«

Hektisch durchwühlte ich die Tasche nach einem Stift.

»Okay. .« Er las sich murmelnd den Text durch. »Es ist nicht schwer, aber ich glaube nicht, dass man es tagsüber machen kann.«

»Warum nicht?«

»Du weißt doch, dass Grabsteine aus unserer Welt auch im Jenseits sichtbar sind. Gut, dieser Zauber ermöglicht das auch bei unmarkierten Gräbern, man kann sie dann aber nur mit dem zweiten Gesicht im Jenseits sehen, und das geht erst nach Sonnenuntergang.«

»Oder, wenn man in einer Kraftlinie steht«, flüsterte ich.

Plötzlich wurde mir kalt. Das hatte ich nicht aus Büchern gelernt, mein Dad hatte es mir erzählt, als ich acht Jahre alt war.

»Rachel«, protestierte er nach kurzem Zögern. »Das kannst du nicht machen. Wenn der Dämon erfährt, dass du dich an eine Kraftlinie gehängt hast, wird er versuchen, dich vol ständig ins Jenseits zu ziehen.«

»Das kann er nicht, er hat keinen Anspruch auf meine Seele«, widersprach ich ihm leise, aber heftig.

Wieder schwieg Nick lange, und ich hörte nur meinen eigenen Atem. »Ich halte nichts davon«, verkündete er schließlich.

»Ich halte auch nichts davon, dass du Dämonen beschwörst.«

Erneute Stil e. Ich sah kurz prüfend zu Trent und drehte ihm dann wieder den Rücken zu. Ich konnte nur hoffen, dass er kein übersinnliches Gehör hatte.

»Okay«, gab Nick schließlich zu. »Aber ihm gehören zwei Drittel meiner Seele und ein Drittel von deiner. Was, wenn. .«

»Seelen werden nicht so einfach addiert, Nick«, unterbrach ich ihn gereizt. »In solchen Fäl en heißt es: al es oder nichts, und dafür kann er weder von dir noch von mir genug beanspruchen. Und ich werde hier auf keinen Fal rausgehen, ohne zu beweisen, dass Trent diese Frau umgebracht hat.

Also, wie lautet die Formel?«

Ich wartete mit weichen Knien.

»Hast du einen Stift?«, fragte er endlich, und ich nickte, da ich völ ig vergessen hatte, dass er mich ja nicht sehen konnte.

»Ja«, antwortete ich und klemmte mir das Telefon an die Schulter, um mir den Text wie einen Spickzettel in die Handfläche schreiben zu können.

»Okay. Sie ist nicht lang. Ich werde al es ins Englische Übersetzen, bis auf das zentrale Beschwörungswort. Wir haben keinen exakten Begriff für >Die glühende Asche der Toten*, und ich denke, es ist wichtig, das eindeutig richtig zu sagen. Warte kurz, dann kann ich mir einen passenden Reim überlegen.«

»Es geht auch ohne Reim«, versicherte ich ihm. Das Ganze wurde ja immer besser. Die glühende Asche der Toten?

Welche Sprache hatte denn dafür ein eigenes Wort?

Er räusperte sich, und ich hielt den Stift bereit. »>Toter unter Toten, erstrahle wie der Mond. Lass al es verstummen außer den Ruhelosen.« Er zögerte kurz. »Dann kommt das eigentliche Schlüsselwort, es lautet >Favil a<.«

»>Favil a<«, wiederholte ich und schrieb es mir in Lautschrift auf. »Gibt es eine rituel e Handbewegung?«

»Nein. Der Zauber wirkt sich nicht physisch aus, deshalb brauchst du weder eine Geste noch ein Objekt für den Bezugspunkt. Sol ich al es noch mal wiederholen?«

»Nein.« Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur den Text in meiner Hand las. Sol te ich das wirklich machen?

»Rachel«, sagte Nick besorgt. »Bitte sei vorsichtig.«

»Sicher«, versprach ich. »Danke, Nick.« Plötzlich fiel mir noch etwas ein. »Hey, ahm, bitte pass auf mein Zauberbuch auf, bis wir uns das nächste Mal sprechen, okay?«

»Ray-Ray?«, fragte er vorsichtig.

»Wir klären das später«, sagte ich knapp mit einem weiteren nervösen Blick zu Edden und Trent. Ich musste nicht mehr sagen, er hatte verstanden.

»Warte, leg noch nicht auf«, drängte Nick, und die Besorgnis in seiner Stimme ließ mich zögern. »Bitte lass mich mithören, ich kann hier nicht einfach so rumsitzen und dieses Ziehen spüren, ohne zu wissen, in welcher Gefahr du schwebst.«

Unwil kürlich hatte ich angefangen, an meinem Zopf zu spielen, jetzt zwang ich meine Hand zur Ruhe. Nick als meinen Schutzgeist zu missbrauchen verstieß gegen al e meine moralischen Grundsätze - und ich bilde mir ein, eine Menge davon zu haben -, aber ich konnte jetzt nicht mehr zurück. Und ich würde es schließlich niemals machen, wenn ich mir nicht sicher sein könnte, dass Nick nichts passierte.

»Ich reiche dich an Edden weiter, okay?«

»Ausgerechnet Edden«, stöhnte er. Trotz al er Sorge funktionierte sein Selbsterhaltungstrieb also noch.

Ich drehte mich zu den drei Männern um.

»Captain?«, lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Ich würde gerne noch einen anderen Suchzauber einsetzen, bevor wir verschwinden.«

Eddens rundes Gesicht verzog sich frustriert. »Wir sind hier fertig, Morgan«, erklärte er abweisend. »Wir haben Mr.

Kalamacks Zeit lange genug beansprucht.«

Ich schluckte und versuchte so zu wirken, als wäre der Zauber reine Routine für mich. »Dieser Spruch wirkt aber anders.«

Er seufzte genervt. »Könnte ich Sie kurz draußen im Flur sprechen?«

Draußen? Ich würde mich doch nicht wie ein ungezogenes Kind in den Flur rauszerren lassen. Stattdessen drehte ich mich zu Trent um. »Mr. Kalamack wird sicherlich nichts dagegen haben. Er hat schließlich nichts zu verbergen, nicht wahr?«

Trents Maske professionel er Höflichkeit saß wie angegossen. Jonathan hinter ihm hingegen verzerrte das Gesicht. Sein schmales Gesicht war hässlich wie immer. »Sie können den Zauber nutzen, solange er durch den Durchsuchungsbefehl abgedeckt ist«, erwiderte Trent glattzüngig.

Trotzdem glaubte ich Besorgnis in seiner Stimme zu hören.

Er war beunruhigt. Tja, das war ich auch.

Langsam durchquerte ich das Büro und überreichte Edden das Telefon. »Es ist ein Suchzauber, der unmarkierte Gräber anzeigt. Nick wird es Ihnen erklären, Captain, damit Sie sicher sein können, dass auch al es legal ist. Sie erinnern sich doch an Nick?«

Edden nahm das Telefon. Das verschwand fast in seinen kräftigen Händen.

»Warum haben Sie mir nicht schon früher etwas davon gesagt, wenn es so einfach ist?«

Ich lächelte ihn nervös an. »Dafür braucht man eine Kraftlinie.«

Trents Gesicht erstarrte. Sein Blick flog zu meinem Däinonenmal, gleichzeitig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, als suche er Schutz bei Jonathan. Trotz meiner steinenden Unruhe registrierte ich die unwil kürliche Bewegung. Wenn er jetzt protestierte, ließ ihn das verdammt schuldig aussehen. Er griff fahrig nach seiner Bril e und klopfte damit auf den Schreibtisch.

»Aktivieren Sie den Zauber ruhig«, sagte er. Als hätte er in dieser Sache überhaupt etwas zu sagen! »Ich bin gespannt, zu sehen, wie gut eine Erdhexe wie Sie sich in der Kraftlinienmagie auskennt.«

»Das bin ich auch«, meinte Edden trocken, bevor er das Telefon ans Ohr hob und leise mit Nick sprach, wohl um sich zu versichern, dass ich innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen handelte.

»Wir werden wohl rausgehen müssen«, sagte ich, halb zu mir selbst. »Ich muss eine Kraftlinie finden, in die ich mich einklinken kann.«

»Ach wirklich, Ms. Morgan?« Trent richtete sich in seinem Stuhl auf, er war definitiv beunruhigt. Er hatte die Bril e wieder aufgesetzt und wirkte nun weniger weltmännisch, eher sanft, fast harmlos. Meiner Meinung nach sah er auch ein wenig blass aus.

Aber sicher doch, dachte ich abfäl ig, während ich die Augen schloss, um mich dem zweiten Gesicht zu öffnen. Als hättest du eine Kraftlinie in deinem Garten.

Ich tastete mich langsam vor und schickte meine Gedanken auf die Suche nach dem roten Glühen des Jenseits. Mir stockte der Atem, und ich riss die Augen auf.

Fassungslos starrte ich Trent an.

Der Mann hatte keine Kraftlinie im Garten. Sie lief direkt durch sein verdammtes Büro.

20

Trent saß unbeweglich an seinem Schreibtisch, Jonathan neben sich. Keiner von beiden sah besonders glücklich aus, Trents Gesicht zeigte deutliche Spuren von Erschöpfung. Er wusste von der Kraftlinie, und er konnte sie benutzen. Das bedeutete, dass er entweder ein Mensch oder eine Hexe sein musste. Vamps konnten keine Kraftlinien anzapfen, und Menschen, die mit dem Vamp-Virus infiziert waren, verloren diese Fähigkeit. Ich wusste nicht, was mich mehr erschreckte

- dass Trent Kraftlinien benutzte oder dass er jetzt wusste, dass ich es wusste. Gott steh mir bei, ich war kurz davor, Trents bestgehütetes Geheimnis aufzudecken, seine wahre Identität.

Als die Tür so heftig aufgestoßen wurde, dass sie laut geilen die Wand schlug, zuckte ich erschrocken zusammen und nahm automatisch Verteidigungshaltung ein. Quen platzte herein und brül te: »Sa' - Sir!« Er schaffte es gerade noch, die Anrede Sa'han zu unterdrücken. Er kam zum Stel en und nahm mit einem schnel en Blick sowohl meine abwehrende Haltung als auch den regungslosen Edden in seinem Stuhl wahr, der immer noch das Telefon am Ohr hatte. Seine grünen Augen fixierten mich, und nur langsam lösten wir uns aus der kämpferischen Haltung, die wir beide eingenommen hatten. Dann kam Jenks hereingeflitzt, und die Tür fiel ins Schloss.

»Hey, Rachel!«, rief der Pixie mit vor Aufregung geröteten Flügeln. »Da hat jemand eine Kraftlinie entdeckt und ein ganz gewisser Jemand hat deshalb ziemlich miese Laune.« Er unterbrach sich, als er die angespannte Atmosphäre im Raum spürte. »Ach, du warst das«, stel te er grinsend fest.

Mit lauten Flügelschlägen visierte er meine Schulter an, flog dann aber doch zu Edden, um dessen Gespräch mit Nick zu belauschen.

Trent lehnte sich langsam vor und stützte die El bogen auf den Schreibtisch. An seinem Haaransatz glitzerten kleine Schweißperlen. Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war völ ig ausgetrocknet. »Ms. Morgan demonstriert uns gerade ihre Geschicklichkeit im Umgang mit Kraftlinien. Ich bin äußerst gespannt.«

Darauf würde ich wetten. Wie tief hatte ich in das Ameisennest gestochen? Kraftlinienmagie wurde hauptsächlich für die Sicherheit eingesetzt, deshalb hatte Quen wohl auch sofort gemerkt, dass ich die Linie gefunden hatte.

Beklommen nutzte ich die Gelegenheit, die Aura al er Anwesenden zu prüfen. Bei Jenks waren, wie bei den meisten Pixies, al e Farben des Regenbogens vertreten. Edden umgab ein gleichmäßiges Blau, das auf Kopfhöhe leicht ins Gelbliche hineinspielte. Quens Aura leuchtete in einem tiefdunklen Grün, das im Bereich der Körpermitte und seiner Hände von orangenen Streifen durchzogen war - gar nicht gut!

Jonathans war ebenfal s grün, jedoch viel hel er und fast langweilig in ihrer Gleichmäßigkeit. Trents. . ich zögerte fasziniert.

Trents Aura strahlte sonnengelb, durchsetzt mit klar abgegrenzten roten Streifen. Purpurrote Risse wiesen auf eine tief greifende Tragödie in der Vergangenheit hin. Die Aura lag ungewöhnlich dicht um seinen Körper, und sie war wie bei Ivy von silbernen Funken umgeben. Sie leuchteten auf und umhül ten seine Hand, mit der er sich nun glättend durchs Haar fuhr. Er war auf der Suche - die Art, wie sich die kleinen Lichter um seinen Körpermittelpunkt drängten, deutete darauf hin, dass er dieser Suche sein ganzes Leben gewidmet hatte. Das Geld, die Macht und die Rastlosigkeit dienten einem höheren Zweck. Was suchte er wohl?

Meine eigene Aura konnte ich nicht sehen, dazu hätte ich mich auf einen magischen Spiegel stel en müssen, was ich nie wieder tun würde. Aber ich war mir sicher, dass Trent sie betrachtete, und das gefiel mir überhaupt nicht. Ich wol te nicht, dass er das Dämonenmal an meinem Handgelenk sah, behaftet mit ekelhaftem Schwarz, oder die hässlichen roten Streifen, die auch in meiner Aura zu finden waren. Oder, dass er feststel te, dass unsere Lichtkörper abgesehen von den silbernen Funken fast identisch waren.

Edden beäugte uns argwöhnisch. Er wusste, dass etwas vor sich ging, konnte es aber nicht deuten. Mit gerunzelter Stirn rutschte er auf seinem Stuhl herum und kehrte zu seinem leisen Gespräch mit Nick zurück.

»Sie haben also eine Kraftlinie hier in Ihrem Büro?«, fragte ich Trent benommen.

»Sie haben eine in Ihrem Garten«, erwiderte er trocken und sah zu Edden hinüber. Ihm war deutlich anzusehen, dass er ihn gerade zum Teufel wünschte. Als sein Blick zu mir zurückkehrte, spiegelte er eine Mischung aus Drohung und Warnung. Es war nicht al gemein bekannt, dass nur Hexen und Menschen mit Kraftlinien arbeiten konnten, aber es war ein offenes Geheimnis, und mir war klar, dass er Stil schweigen von mir verlangte. Ich war mehr als bereit dazu, denn über dieses Wissen zu verfügen war ungefähr so beruhigend wie eine Kobra am Schwanz zu packen.

Meine Finger zitterten vor Aufregung, also bal te ich sie zu Fäusten, als ich mich auf das ungefähr einen Meter breite, schmierige Jenseitsband zubewegte. Es verlief in einer exakten Ost/West-Achse vor seinem Schreibtisch, zuverlässiger als jeder Kompass, und setzte sich wahrscheinlich in sein zweites Büro fort. Sobald ich in sie eindrang, würde ich es wissen.

Mir lief der Schweiß den Rücken hinunter, als ich die Kraftlinie vorsichtig in Augenschein nahm. Ich hatte mich noch nie direkt in eine Linie begeben. Wenn man nicht gerade Energie aus ihnen zog, bemerkt man sie normalerweise nicht und konnte sie problemlos durchschreiten. Ich holte tief Luft und zwang mich zur Ruhe.

Fal s Algaliarept auftauchen sol te, musste ich einfach nur schnel aus der Linie treten. Solange die Sonne noch am Himmel stand, konnte er das Jenseits nicht verlassen.

Mit einem letzten wachsamen Blick auf die beiden Männer, die wie eine Leibgarde neben Trent standen, schloss ich die Augen und sandte entschlossen meinen Wil en aus, um das Energieband zu berühren.

Die berauschende Kraft raste durch meinen Körper und ließ meinen Puls sprunghaft ansteigen, sodass ich für einen Moment ins Taumeln geriet. Keuchend hob ich die Hand, um Edden daran zu hindern, mich zu berühren, da ich gehört hatte, wie er aufgesprungen war. Während er Nick mit geflüsterten Fragen bestürmte, ließ ich die immer stärker werdenden Energiewel en durch meinen Körper pulsieren.

Sie drangen in meine Extremitäten, wurden zurückgezwungen und kamen verstärkt wieder, was einen hämmernden Schmerz in meinem Kopf auslöste. Immer mehr Energie floss aus der Kraftlinie in meinen Körper, und ich musste einen Anflug von Panik unterdrücken. Verdammt, wie stark war dieses Ding?

Ich fühlte mich wie ein pral aufgeblasener Luftbal on; entweder platzte ich bald, oder ich wurde wahnsinnig.

Deswegen haben Kraftlinienhexen also Schutzgeister. Ihre tierischen Gefährten filterten die rohe Energie, da ihr einfaches Bewusstsein besser mit der Belastung umgehen konnte. Aber ich konnte Nick nicht diesem Risiko aussetzen.

Ich musste mich der Kraft al eine stel en. Und ich war noch nicht einmal bis zum Mittelpunkt der Linie vorgedrungen.

Wie stark sie dort sein würde, wol te ich mir lieber gar nicht vorstel en.

Ganz langsam verringerte sich der Zustrom und wurde fast erträglich. Mein Körper kribbelte, und ich holte tief Luft, was al erdings mehr nach einem Schluchzen klang. Die Kräfte schienen sich endlich ausgeglichen zu haben. Die feinen Haare, die meinem Zopf entkommen waren, kitzelten mich im Nacken, als der Wind des Jenseits mich umspielte.

»Oh, mein Gott. .«, hörte ich Edden wispern und betete, dass ich nicht gerade sein gesamtes Vertrauen verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er bis zu diesem Moment nie richtig verstanden, wie sehr wir uns tatsächlich voneinander unterschieden. Bis jetzt, als er sah, wie meine Haare von einem Wind erfasst wurden, den nur ich wahrnehmen konnte.

»Was ist das schon für eine Hexe«, hörte ich Jonathan meckern, »die am hel lichten Tag von der Energie so angegriffen wird.«

»Wenn sie die Linie so anzapfen würde wie die meisten anderen, hättest du recht«, hörte ich Quens kehliges Flüstern, und ich versuchte angestrengt, ihn zu verstehen. »Aber sie benutzt keinen Schutzgeist, Sa'han. Sie kanalisiert die verdammte Linie ganz al ein.«

Das schien Jonathan kurzzeitig aus der Fassung zu bringen, denn er schnappte hörbar nach Luft. Ich dachte schon, ich hätte mich in ihm getäuscht, doch dann sagte er:

»Töte sie, noch heute Nacht. Es wird zu riskant, das ist sie nicht wert.«

Ich musste mich zwingen, die Augen geschlossen zu halten, damit sie nicht merkten, dass ich al es gehört hatte.

Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren und verstärkte das unangenehme Gefühl der immer noch einströmenden Kraft.

»Jonathan«, schaltete sich Trent mit müder Stimme ein.

»Man tötet nichts, nur weil es stärker ist als man selbst. Man findet einen Weg, es zu benutzen.«

Mich benutzen? Nur über meine Leiche. In der Hoffnung, damit nichts heraufbeschworen zu haben, hob ich den Kopf und drückte mir selbst die Daumen. Mit einem Stoßgebet, dass ich hier keinen fatalen Fehler machte, berührte ich den Mittelpunkt der Linie.

Meine Knie zitterten, als der Energiefluss von jetzt auf gleich unterbrochen wurde. Das bedrückende Gefühl des einströmenden Jenseits war verschwunden. Das brachte mich so aus dem Konzept, dass ich erst einen Moment später bemerkte, dass ich auf die Knie gefal en war. Mit weiterhin geschlossenen Augen schlug ich Eddens Hand weg, mit der er mich stützen wol te.

Die Energie der Linie wirbelte durch meinen Körper, ließ meine Haut kribbeln und mein Haar im Jenseitswind flattern, aber die Kräfte waren jetzt perfekt ausgeglichen. Ich fühlte mich völ ig ausgelaugt, musste aber nicht mehr die Übermacht der Linie ankämpfen. Warum hatte mir das niemand gesagt? Direkt in einer Linie zu stehen war wesentlich leichter als eine Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten, auch wenn der schneidende Wind etwas gewöhnungsbedürftig war.

Ich ließ den inneren Blick durch das Jenseits wandern. Im Licht dessen, was für die Dämonen die Sonne war, wirkte es noch fremdartiger. Die Wände von Trents Büro waren verschwunden, und nur durch das gedämpfte Gespräch zwischen Edden und Nick wurde meinem erschöpften Bewusstsein klargemacht, dass ich noch nicht die Brücke ins Jenseits überschritten hatte, sondern nur durch eine Art Fenster einen Einblick bekam.

In al e Richtungen erstreckte sich eine hügelige Landschaft mit vereinzelten kleinen Wäldern und weiten freien Rächen.

In Ost-West-Richtung wurde sie von dem trüben Energieband durchzogen. Zwischen mir und dem Ende der Linie lag ungefähr ein Drittel ihrer Gesamtlänge, sodass meine Vermutung, dass sie auch durch Trents zweites Büro verlief, wohl richtig war. Der Himmel leuchtete in verwaschenem Gelb, und die Sonne strahlte eine so unbarmherzige Hitze aus, als wol te sie die gedrungenen Bäume niederdrücken. Es fühlte sich an, als würden ihre Strahlen durch mich hindurchscheinen, um dann vom Boden reflektiert zu werden und meine Fußsohlen zu wärmen.

Sogar das trockene Gras wirkte verkümmert, es reichte mir nicht einmal bis zum Knie. In der Ferne konnte ich eine verschwommene Ansammlung von Linien und Winkeln ausmachen, die sich über die Landschaft erhoben. Das war die Stadt der Dämonen, befremdlich, unheimlich, und eindeutig zerstört.

»Cool«, hauchte ich, während Edden Nicks drängende Fragen abwürgte.

Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass Trent mich beobachtete, also drehte ich ihm den Rücken zu, als ich den ersten Teil der Beschwörung murmelte, damit er mir die Formel nicht von den Lippen ablesen konnte.

Glücklicherweise konnte ich mich an die kurze Übersetzung erinnern, da ich sonst die Augen hätte öffnen müssen, um sie abzulesen.

Als ich die Worte aussprach, entstand ein leichtes Ungleichgewicht in der Jenseitsenergie, das als leichter Druck durch meine Füße in meinen Bauch eindrang und dort verharrte. Meine Knie begannen zu zittern, als der Wind um mich herum das Gras niederdrückte und die Kraft wieder in meinen Körper strömte. Sie erfül te ihn mit einem angenehmen Kribbeln, das sich nach und nach intensivierte.

Ich fragte mich, wie stark das Gefühl wohl noch werden würde, damit ich mich nicht damit auseinandersetzen musste, wie sehr ich es genoss.

Als ich die zweite Hälfte der Formel sprach, wirbelte ein Energiestoß meine Haare hoch, doch dann, als nur noch das Schlüsselwort fehlte, stabilisierte sich die Energie mit einem letzten, gleichmäßigen Prickeln. Für einen kurzen Moment blieb die Kraft reglos in meinem Körper, dann schoss sie in einer strahlendgelben Wel e aus mir heraus und verteilte sich gleichmäßig über das Land.

»Heilige Scheiße«, sagte ich unwil kürlich und schlug sofort die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatte ich dadurch nicht den Zauber ruiniert, immerhin fehlte noch das Initiationswort. Ich beobachtete, wie die Energie sich ausbreitete, sie pulsierte in der Farbe meiner Aura. Das beunruhigte mich etwas, aber dann sagte ich mir, dass sie ja nur ihre Farbe, nicht ihre Substanz angenommen hatte.

Der Energiering breitete sich immer weiter aus, bis er sich in der Ferne verlor. Ich wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, dass er offenbar auch die verschwommene Stadt erreichte. Der Impuls der Energie hatte die Jenseitslandschaft verändert, und meine Ehrfurcht verwandelte sich in Entsetzen, als ich die glitzernden grünen Flecken um mich herum sah.

Die Toten.

Sie waren überal .

In meiner Nähe konnte ich jeden einzelnen von ihnen erkennen, einige davon nicht größer als ein Fingernagel.

In der Entfernung waren nur noch die größeren Leichen auszumachen.

Ich beruhigte mich ein wenig, als mir klar wurde, dass der Zauber wirklich al e Toten enthül te, also auch Nagetiere, Vögel und Insekten. Im Westen entdeckte ich einige große Flecken, die ordentlich aufgereiht waren. Nach einem kurzen Schreckmoment erkannte ich, dass dort ja Trents Stal ungen lagen und das vermutlich die Leichen seiner ehemaligen Siegerpferde waren.

Schon wesentlich ruhiger versuchte ich mich an das letzte Wort der Formel zu erinnern, das den Zauber so abstimmen würde, dass nur noch menschliche Überreste sichtbar blieben. Da stand ich nun in Trents Büro, die Füße fest mit einer Brücke ins Jenseits verankert, und suchte krampfhaft nach dem letzten Teil der Formel.

»Oh, ist das nicht einfach wundervol «, erklang plötzlich eine distinguierte Stimme hinter mir.

Ich wartete darauf, dass jemand mir sagte, wer da gerade in Trents Büro gekommen war, aber niemand rührte sich. Mit stel ten sich die Nackenhaare auf. Auf das Schlimmste gefasst, presste ich die Lider zusammen, damit mir das

/weite Gesicht nicht entglitt, und drehte mich um. Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund und erstarrte. Es war ein Dämon in Morgenmantel und Slippern.

»Rachel Mariana Morgan?«, fragte er mit einem verschlagenen Lächeln. Okay - es war mein Dämon. »Was tust du li er in Trenton Aloysius Kalamacks Kraftlinie?«

Ich versuchte ruhig zu bleiben und suchte mit der Hand nach der Begrenzung der Linie. »Ich arbeite«, entgegnete ich, und merkte an dem dumpfen Pochen in meiner Hand, dass ich die Grenze zu meiner Realität gefunden hatte. »Und was treibt dich hierher?«

Er zuckte mit den Schultern und verwandelte sich übergangslos in einen schlanken, in Leder gekleideten Vampir mit blondem Haar und verletztem Ohr. Lässig schlenderte er auf mich zu und ließ die Kette klimpern, die von seiner Gesäßtasche bis zu seinem Gürtel gespannt war.

Lasziv benetzte er die geschwungenen Lippen. Mein Atem beschleunigte sich. Der Dämon wurde immer besser darin, das Bild von Kisten aus meinem Bewusstsein zu ziehen. Er glich ihm bis aufs Haar.

Eine getönte Bril e mit runden Gläsern erschien in seiner Hand, und mit einer eleganten Bewegung ließ er die Bügel herausgleiten. »Ich habe dich gespürt, mein Schatz«, hauchte er, während seine Zähne auf Vampirlänge anwuchsen und er die Bril e aufsetzte, um die roten Augen mit den geschlitzten Pupil en zu verstecken. »Ich musste dich einfach sehen, wenn du schon einmal hier bist. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich er bin? Der Kerl ist bestückt wie ein Bul e.«

Gott, hilf mir. Ich erschauerte und streckte die Hand aus der Linie, obwohl das dadurch entstehende Ungleichgewicht der Kräfte stechende Schmerzen auslöste. »Ich wol te aber nicht zu dir«, flüsterte ich. »Geh weg.«

Irgendetwas berührte meine Hand, und ich zuckte zurück.

Der Geruch nach verschmortem Kaffee verriet mir, dass es Edden gewesen war. Wann würde er es endlich lernen?

»Mit wem, zum Teufel, redet sie da?«, fragte der FIB-Captain leise.

»Keine Ahnung«, antwortete Jenks, »und ich werde sicher nicht in die Linie fliegen, um nachzusehen.«

»Du wil st mich verlassen?«, säuselte der Dämon mit einem breiten Grinsen. »Aber nicht doch, sei nicht albern. Erst wil ich sehen, wie viel Energie du bewältigen kannst. Na los, Liebes, beende deinen kleinen Zauber.«

Im Hintergrund hörte ich, wie Trent und Quen heftig debattierten. Ich hatte die Augen immer noch geschlossen, um den Dämon nicht aus dem Blick zu verlieren, aber es klang, als würde Trent sich durchsetzen. Nervös fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und sah angewidert zu, wie der falsche Kisten mich betont langsam imitierte. »Ich habe das letzte Wort vergessen«, musste ich zugeben, doch genau in diesem Moment fiel es mir wieder ein. »Favil a«, platzte ich erleichtert damit heraus, was mir einen fröhlichen Applaus von dem Dämon einbrachte.

Ich zuckte zusammen, als eine zweite Energiewel e durch meinen Körper raste, und schlang schützend die Arme um den Körper, als könnte ich so meine Aura abschirmen.

Wieder entlud sich die Energie mit einem gelben Strahlen und breitete sich wel enförmig aus. Algaliarept ließ die Kraft durch sich hindurchströmen und wurde fast von ihr mitgerissen. Er stöhnte genüsslich. Seine Reaktion erfül te mich mit schierem Entsetzen. Das Spektakel gefiel ihm offenbar, aber wenn er so an meine Aura gelangen könnte, hätte er sie bereits an sich gerissen. Vermutlich.

»Milch und Honig«, seufzte er mit geschlossenen Augen.

»Die reinste Wonne, Nektar und Ambrosia.«

Fantastisch. Ich musste hier so schnel wie möglich raus.

Während Algaliarept mit der Hand über das Gras strich und sich dann die gelben Energierückstände meines Zaubers von den Fingern leckte, scannte ich die Landschaft um uns herum. Das Ergebnis war niederschmetternd. Es war kein einziger glitzernder Fleck mehr zu sehen, der einen Toten angezeigt hätte. Algaliarept schien vol auf mit der Suche nach den Überresten des Zaubers beschäftigt zu sein, und so beschloss ich, einen Blick über die Schulter zu wagen. Hastig drehte ich mich um - Vol treffer.

Eines der Pferdegräber erglühte in hel em Rot. Das war kein Pferd, das war ein jemand.

Trent hat sie tatsächlich umgebracht.

Meine

Aufmerksamkeit wurde von der Entdeckung abgelenkt, als eine weitere Gestalt in der Linie auftauchte.

Es war Trent, der gekommen war, um das zu sehen, was ich entdeckt hatte. Als er das rote Glühen bemerkte, erstarrte er vor Entsetzen. Doch diese Reaktion war noch harmlos gegen den Schock, den er erlitt, als der Dämon nun meine Gestalt annahm. Die grazile Kopie von mir war in einen hautengen schwarzen Seidenbody gehül t - eine gefährliche Femme fatale,

»Trenton Aloysius Kalamack«, schnurrte der Dämon betörender, als ich es jemals gekonnt hätte. Verspielt leckte er die letzten Reste meines Zaubers von seinen Fingern.

Langsam fragte ich mich, ob er mich viel eicht schärfer aussehen ließ, als ich in Wirklichkeit war. »Was für eine gefährliche Richtung deine Gedanken doch eingeschlagen haben«, fuhr er neckend fort. »Du sol test besser aufpassen, wen du einlädst, mit deiner Linie zu spielen.« Er stützte eine Hand in die Hüfte, blickte über seine Bril e hinweg und verglich unsere beiden Lichtkörper. »Was für ein schönes Paar ihr doch seid - ihr passt fast so gut zusammen wie mein bestes Pferdegespann.«

Damit verschwand er und ließ nichts außer einem kurzen Prickeln auf der Haut zurück. Ich verharrte in der unwirklichen Jenseitslandschaft und schaffte es nicht, den Blick von Trent zu wenden.

21

Das laute Geräusch meiner Abätze ließ meine Schritte wesentlich energischer wirken, als ich mich fühlte, als ich den langen Holzvorbau vor Trents Fohlenstal hinunterging, dicht gefolgt von Trent und Quen. Die Reihe leerer Boxen war nach Süden ausgerichtet, sodass die Nachmittagssonne hineinschien. Über den Stal ungen befanden sich die Unterkünfte der Tierärzte, die jetzt im Herbst leer standen.

Obwohl Pferde das ganze Jahr über fohlen können, entwickelten die meisten Gestüte ein exaktes Zuchtprogramm, damit die Stuten möglichst gleichzeitig Nachwuchs bekamen und die kritische Phase nicht zu oft überstanden werden musste.

Ich hielt die vorübergehend verlassenen Gebäude für den perfekten Ort, um eine Leiche zu verstecken.

Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte ich nur so unbekümmert bleiben? Dr. Anders war tot.

Das schwache Bel en eines Beagles zerriss die Stil e des schwülen Nachmittags. Ich wendete mich in die entsprechende Richtung und zwang mein Herz, normal weiterzuschlagen. Am Ende der unbefestigten Straße stand ein Hundezwinger von der Größe eines kleinen Apartmentkomplexes. Die Hunde standen am Zaun des Auslaufgehe-tfes und beobachteten uns.

Trent überholte mich, und kurz nahm ich den Geruch von Herbstlaub wahr. »Sie vergessen niemals ihre Beute«, murmelte er, was mir prompt einen Schauer über den Rücken jagte.

Während Trent und Quen mit uns zu den Stäl en gekommen waren, war Jonathan im Haus geblieben, um ein Auge auf die FIB-Beamten zu haben, die nach und nach aus den Gärten zurückkehrten. Die beiden Männer gingen nun zielstrebig auf eine Art Alkoven zwischen den Boxen zu. Der holzverkleidete Raum war zu einer Seite hin nach außen offen, und die einfache Ausstattung ließ vermuten, dass es sich um eine ehemalige Box handelte, die zu einem Aufenthaltsraum umfunktioniert worden war, in dem die Tierärzte die Zeit zwischen den Geburten verbringen konnten. Es gefiel mir zwar ganz und gar nicht, dass die beiden dort mehr oder weniger unbeobachtet waren, aber ich würde ihnen bestimmt nicht folgen. Stattdessen lehnte ich mich gegen einen Pfosten des Vordachs, um sie von dort aus im Auge zu behalten.

Drei FIB-Beamte mit Leichenspürhunden warteten neben dem Transportwagen der Hundestaffel, der mit weit geöffneten Türen im Schatten einer riesigen Eiche geparkt war. Ich hörte, wie Glenn ihnen mit befehlsgewohnter Stimme Anweisungen erteilte. Edden stand ebenfal s bei der Gruppe, doch er wirkte irgendwie deplaziert. Die Art, wie er die Hände in den Taschen vergrub und sein dezidiertes Schweigen machten deutlich, dass er seinem Sohn das Kommando überlassen hatte.

Über ihren Köpfen kreiste Jenks, der hektisch mit den rot leuchtenden Flügeln schlug und ungefragt Ratschläge erteilte, die aber niemanden interessierten. Der Rest der FIB-Truppe wartete unter der alten Eiche, die den Parkplatz überschattete. Noch während ich die Szene in mich aufnahm, fuhr ein Einsatzwagen der Spurensicherung auf den Hof.

Captain Edden hatte ihn angefordert, nachdem ich die Leiche gefunden hatte.

Ich schaute verstohlen zu Trent, der gelassen in dem kleinen Raum stand. Sein Gesichtsausdruck zeigte nur leichte Beunruhigung. Also, ich wäre vol kommen zappelig, wenn eine Leiche auf meinem Grundstück gefunden würde. Und ich war mir sicher, dass er genau dort stand, wo das versteckte Grab angezeigt worden war.

Fröstelnd verließ ich den überdachten Gehweg und trat in die Sonne hinaus. Auf dem mit Sägemehl bestreuten Parkplatz blieb ich stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und nahm die Beobachtung von Trent möglichst unauffäl ig wieder auf. Als festgestanden hatte, dass wir in die Stal ungen gehen würden, hatte er zum Schutz vor der Sonne einen leichten, cremefarbenen Hut aufgesetzt und seine edlen Schuhe gegen Stiefel eingetauscht. An ihm sah selbst dieser Stilmix irgendwie gut aus. Es war einfach nicht richtig, dass er so ruhig blieb. Aber dann wurde eine Autotür zugeschlagen, und er zuckte zusammen. Er war also genauso angespannt wie ich, er kaschierte es nur besser.

Nachdem Glenn die letzten Befehle erteilt hatte, brach die Gruppe auf. Wedelnd begannen die Hunde ihre systematische Arbeit: zwei auf den umliegenden Weiden, einer direkt in den Stal ungen. Der Hundeführer, den man für das Gebäude abgestel t hatte, unterstützte sein Tier bei der Suche, indem er prüfend ins Dachgebälk schaute und verschlossene Verschlage öffnete.

Captain Edden signalisierte Glenn, was er vorhatte, und kam dann mit schnel en Schritten zu mir rüber.

»Rachel«, rief er, noch bevor er mich erreicht hatte. Ich schaute hoch, überrascht, dass er mich mit dem Vornamen ansprach.

Wir haben dieses Gebäude bereits durchsucht.«

»Fal s sie nicht im Gebäude ist, befindet sich die Leiche zumindest in der Nähe. Viel eicht haben Ihre Männer meine Zauber nicht richtig eingesetzt.« Oder gar nicht, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich wusste, dass die Menschen mit Freundlichkeit, Lügen und Heuchelei oft nur ihre Vorurteile vertuschten. Aber ich durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen, schließlich wusste ich, dass Trent die Leiche al er Wahrscheinlichkeit nach mithilfe von Kraftlinienmagie verborgen hatte, und das machte meine Zauber wirkungslos.

Meine Aufmerksamkeit wurde von den Hunden abgelenkt, als Quen sich zu Trent hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. »Sol te er nicht unter Arrest stehen, oder verhaftet sein oder so etwas?«, fragte ich.

Edden blinzelte gegen die tief stehende Sonne an. »Immer mit der Ruhe. Bei Mordfäl en steht und fäl t al es mit der Beweissicherung, Morgan, das sol ten Sie wissen.«

»Ich bin Runner, kein Detective«, erwiderte ich säuerlich.

»Die meisten, die ich geschnappt habe, waren bereits verurteilt.«

Das quittierte er nur mit einem unverständlichen Grunzen.

Ich hatte das ungute Gefühl, dass Eddens Regelbesessenheit damit enden könnte, dass Trent sich auf Nimmerwiedersehen in Luft auflöste. Edden bemerkte meine Nervosität und signalisierte mir unmissverständlich, dass ich mich nicht vom Fleck rühren sol te, bevor er gemütlich zu Trent und Quen hinüberschlenderte. Der untersetzte Mann behielt die Hände in den Taschen, aber in Reichweite seiner Waffe. Quen war unbewaffnet, aber wenn ich mir seine gespannte Körperhaltung so ansah, war ich mir sicher, dass er auch keine brauchen würde.

Ich fühlte mich sofort besser, als ich sah, wie Edden die beiden Männer geschickt voneinander trennte. Er rief einen der Beamten zu sich und beauftragte ihn, sich von Quen das Sicherheitssystem erklären zu lassen, während er selbst Trent in ein Gespräch über das anstehende Spendendinner des FIB

verwickelte. Sehr elegant gelöst.

Ich drehte mich beruhigt um und beobachtete, wie die Sonne das hel e Fel eines Spürhundes zum Leuchten brachte. Die Wärme und der Geruch der Stäl e lösten angenehme Erinnerungen an die drei Sommer im Camp aus.

Der Geruch von Pferdeschweiß, Heu und Futter wirkte wie Balsam auf die Seele.

Die Reitstunden hatten eigentlich dabei helfen sol en, meinen Gleichgewichtssinn und den Muskeltonus zu stärken und die Anzahl meiner roten Blutkörperchen zu erhöhen.

Aber am meisten hatten sie mein Selbstvertrauen gestärkt, durch das Gefühl, ein so großes, schönes Tier zu beherrschen, sodass es jedem meiner Befehle folgte. Für eine Elfjährige ist dieses Machtgefühl berauschend.

Lächelnd schloss ich die Augen und genoss die Wärme der Herbstsonne auf der Haut. Damals hatten meine Freundin und ich uns heimlich aus unserer Hütte geschlichen, um bei den Pferden zu schlafen. Die leisen Atemgeräusche der Tiere waren unsagbar beruhigend gewesen.

Unsere Gruppenleiterin hatte einen Riesenaufstand gemacht, aber ich hatte während der ganzen Zeit nie besser geschlafen. Ich öffnete die Augen. Das war so ziemlich die einzige Nacht gewesen, in der ich durchgeschlafen hatte, ebenso Jasmin. Und das blasse Mädchen hatte den Schlaf dringend gebraucht. Jasmin! Das war der Name des dunkelhaarigen Mädchens gewesen, Jasmin.

Das Knistern der Funkgeräte ließ mich aufblicken, vertrieb aber nicht die unerwartete Melancholie der Erinnerungen.

Sie hatte einen inoperablen Gehirntumor gehabt. Das hatten wahrscheinlich nicht einmal die il egalen Methoden von Trents Vater heilen können.

Ich zwang mich, meine Konzentration wieder auf Trent zu richten, der mich unablässig beobachtete, während er mit Edden sprach. Demonstrativ zog ich mir die Kappe in die Stirn, schob mir eine Locke hinters Ohr, und starrte zurück.

So leicht würde er mich nicht aus der Ruhe bringen. Doch dann schaute er über meine Schulter hinweg, und ich drehte mich um. Sara Janes roter Wagen kam in einer Wolke aus Sägespänen neben den FIB-Fahrzeugen zum Stehen.

Die zierliche Frau sprang aus dem Auto; in Jeans und Bluse wirkte sie wie ein vol kommen anderer Mensch, sozusagen.

Sie schlug die Tür zu und marschierte auf mich zu.

»Sie!«, rief sie wutentbrannt und baute sich vor mir auf.

Überrascht trat ich einen Schritt zurück.

»Das ist doch auf Ihrem Mist gewachsen, oder?«, schrie sie mich an.

Ich war ratlos. »Bitte?«

Sie lehnte sich so weit vor, dass ich noch einen Schritt zurückweichen musste. »Sie sol ten meinen Freund finden«, zeterte sie schril , und ihre Augen funkelten wütend. »Und was machen Sie? Sie beschuldigen meinen Arbeitgeber des Mordes! Sie sind eine böse Hexe, so böse, dass Sie. . Gott feuern würden!«

»Äh. .« Hilfe suchend sah ich mich nach Edden um. Er kam gerade mit Trent auf uns zu, und ich ging vorsichtshalber noch weiter zurück, die Tasche fest an den Körper gepresst.

Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen.

»Hören Sie, Sara Jane«, versuchte Trent sie schon von Weitem zu beruhigen. »Es ist al es in Ordnung.«

Sie drehte sich so heftig zu ihm um, dass ihr blondes Haar flog. »Mr. Kalamack«, seufzte sie. Ihre Wut verwandelte sich in Sorge, als sie händeringend vor ihm stand. »Es tut mir so leid, als ich das von der Durchsuchung gehört habe, bin ich sofort losgefahren. Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie herkommen sol , ich, ich. .«Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

Mir blieb die Spucke weg. Machte sie sich nun Sorgen um ihren Job, um ihren Freund oder um Trent?

Letzterer starrte mich finster an, so als wäre ich Schuld an ihrem Zusammenbruch. Dann wurden seine Züge weich, und er legte den Arm um die zitternden Schultern der zarten Frau.

Er neigte den Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können.

»Sie dürfen sich nun wirklich nicht schuldig fühlen, Sara Jane.

Ms. Morgans Anschuldigungen haben überhaupt nichts damit zu tun, dass Sie sich wegen Dan an das FIB gewandt haben.« Seine wunderbare Stimme umschmeichelte sie wie Seide.

»A-aber sie glaubt doch, dass Sie al diese Leute umgebracht haben«, stotterte Sara Jane unter Tränen, als sie den Kopf hob. Das verschmierte Make-up bildete dunkle Flecken auf ihren Wangen.

Edden trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

Die Funkgeräusche aus den Einsatzwagen nahmen zu und übertönten das Zirpen der Gril en. Ich weigerte mich, mich schuldig zu fühlen, weil ich Sara Jane zum Weinen gebracht hatte. Ihr Boss war der reinste Abschaum, und je eher ihr das klar wurde, desto besser. Trent hatte die Opfer zwar nicht eigenhändig umgebracht, aber er hatte die Morde arrangiert und war damit ebenso schuldig, als wenn er sie selbst aufgeschlitzt hätte. Das Bild des ersten Opfers fiel mir wieder ein und machte es mir leicht, jedes Schuldgefühl zu unterdrücken.

Trent berührte sanft Sara Janes Kinn, damit sie ihn ansah.

Sein Mitgefühl kam unerwartet. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er so sanft mit mir spräche, wenn diese atemberaubende Stimme mir versprechen würde, dass al es gut wird. Dann kehrte ich zu der alten Frage zurück, ob Sara Jane auch nur die geringste Chance hatte, lebendig von ihm loszukommen.

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, redete Trent beruhigend auf sie ein und reichte ihr ein Leinentaschentuch mit seinem Monogramm. »Es wurden keinerlei Anschuldigungen erhoben. Aber Sie müssen wirklich nicht hierbleiben, warum fahren Sie nicht nach Hause? Dieses unangenehme Schauspiel wird beendet sein, sobald wir den Streuner gefunden haben, auf den Ms. Morgans Zauber reagiert hat.«

Sara Jane warf mir einen giftigen Blick zu. »Natürlich, Sir«, erwiderte sie rau.

Streuner?, dachte ich, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ein Gespräch von Frau zu Frau mit ihr zu führen oder ihr ein wenig Vernunft einzuprügeln.

Edden räusperte sich. »Ich muss Sie und Ms. Gradenko bitten, das Gelände nicht zu verlassen, bevor wir zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sind, Sir.«

Trents professionel es Lächeln bekam erste Risse. »Stehen wir unter Arrest?«

»Aber nein, Sir«, erwiderte Edden respektvol . »Es ist lediglich eine Bitte.«

In diesem Moment rief einer der Hundeführer aus dem ersten Stock des Gebäudes nach dem Captain. Mein Herz machte einen Sprung, als ich die Aufregung in der Stimme des Mannes hörte. »Socks hat zwar nicht angeschlagen, aber hier ist eine verschlossene Tür«, rief er zu uns herunter.

Mein Adrenalinspiegel stieg. Ich sah Trent prüfend an, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos.

Quen und irgendein kleiner Mann liefen los, gefolgt von einem der Beamten. Der kleine Typ hatte ein wettergegerbtes, faltiges Gesicht und war offensichtlich ein ehemaliger .Jockey, der sich zum Manager hochgearbeitet hatte. Er trug einen Schlüsselbund, der leise klimperte, als er einen der Schlüssel abzog und an Quen übergab. Mit bedrohlicher Grazie, die zeigte, dass jeder Muskel seines Körpers angespannt war, reichte Quen ihn an Edden weiter.

Der Captain bedankte sich, mit dem Nachsatz: »Bitte warten Sie dort drüben bei meinen Leuten.« Als Quen sich nicht rührte, versuchte er es noch einmal: »Wenn Sie dann so freundlich wären, Sir.«

Schließlich winkte er zwei der Beamten heran und deutete auf Quen. Sie nahmen ihn in die Mitte.

Glenn hatte inzwischen den Einsatzwagen der Spurensicherung verlassen und kam mit dem Funkgerät in der Hand über den Hof. Jenks war bei ihm und umkreiste ihn dreimal, bevor er ihm vorausflog. »Geben Sie mir den Schlüssel«, bat er, als er in einer Wolke aus Pixiestaub zwischen Edden und mir zum Stehen kam. »Ich bringe ihn schon mal hoch.«

Glenn warf dem Pixie einen strengen Blick zu, als er uns erreichte. »Du gehörst nicht zum FIB. Den Schlüssel, bitte.«

Edden seufzte kaum hörbar. Man konnte ihm ansehen, wie viel Selbstbeherrschung es ihn kostete, seine Neugier zu unterdrücken und seinem Sohn den Vortritt zu lassen. Rein rechtlich sol te er gar nicht hier sein, denn es war nicht sein Fal . Aber einen Abgeordneten des Mordes zu beschuldigen erweiterte sicherlich seine Befugnisse.

Jenks schlug wütend mit den Flügeln, als Edden Glenn den Schlüssel in die Hand drückte. Ich konnte trotz Rasierwasser Glenns Schweiß riechen, das deutlichste Zeichen seiner Anspannung. Eine Menschentraube hatte sich um den Hund und seinen Führer gebildet, die vor der verschlossenen Tür warteten. Ich packte meine Tasche fester und wol te mich Glenn anschließen.

»Rachel«, sagte er mahnend und hielt mich am Arm fest.

»Du bleibst hier.«

»Das werde ich nicht«, erwiderte ich pampig und riss mich los. Ich sah Hilfe suchend zu Edden, aber der zuckte nur mit den Schultern. Er war wohl beleidigt, weil Glenn ihn auch nicht dabeihaben wol te.

Als er meinen Blick bemerkte, gefror Glenns Miene und er ließ mich los. »Du bleibst hier. Ich wil , dass du Kalamack im Auge behältst, damit du mir später sagen kannst, wie er reagiert hat.«

»Das ist doch Schwachsinn«, fuhr ich ihn an, obwohl ich wusste, dass es gar keine so schlechte Idee war. »Dein Va. .«

Ich kriegte gerade noch die Kurve. »Captain Edden kann das doch machen.«

Gequält runzelte er die Stirn. »Okay, es ist Schwachsinn.

Aber du bleibst trotzdem hier. Fal s wir Dr. Anders finden, muss dieser Tatort so unantastbar sein wie. .«

». .der Arsch einer Nonne?«, ergänzte Jenks frech. Er landete auf meiner Schulter, und ich ließ ihn dort sitzen.

»Komm schon, Glenn«, schmeichelte ich, »ich werde auch nichts anfassen. Außerdem brauchst du mich, um magische Fal en aufzuspüren, die könnten tödlich sein.«

»Das kann Jenks machen, der muss dafür nicht den Boden berühren.«

Frustriert stemmte ich die Hand in die Hüfte. Ich wusste genau, dass Glenn hinter seiner offiziel en Maske ebenso nervös war wie ich. Er war noch nicht lange Detective, das hier war sein erster großer Fal . Viele Cops gingen in Rente, ohne jemals einen Fal zugeteilt bekommen zu haben, der so weitreichende politische Konsequenzen haben konnte. Noch ein Grund mehr, dass ich dabei sein sol te.

Verzweifelt griff ich nach dem letzten Strohhalm: »Aber ich bin euer Berater in Inderlanderangelegenheiten!«

Er legte mir die Hand auf die Schulter, aber ich stieß sie weg.

»Es gibt nun einmal klare Regeln, die wir befolgen müssen.

Ich habe meinen ersten Fal vor Gericht verloren, weil der Tatort kontaminiert worden war, und ich werde dieses Risiko bei Kalamack auf keinen Fal eingehen, nur weil du nicht warten kannst. Der Tatort muss gesichert werden, abgesucht, gereinigt, fotografiert, analysiert, und was es sonst noch so al es gibt. Du kannst rein, sobald das Medium da war.

Verstanden?«

»Das Medium?«, fragte ich verständnislos.

»Okay, das mit dem Medium sol te ein Scherz sein, aber wenn du ohne meine Erlaubnis auch nur einen deiner lackierten Fingernägel über die Türschwel e schiebst, werde ich dich schnel er rausschmeißen, als eine Gazel e Piep sagen kann.«

Eine Gazelle Piep sagen? Wenn er die Metaphern so durcheinanderwarf, musste es ihm wohl wirklich ernst sein damit.

»Brauchst du einen AZE-Anzug?«, fragte er mit Blick auf den Hundetransporter.

Diese subtile Anspielung nahm mir den Wind aus den Segeln. Antizauber-Equipment. Bei meinem letzten Versuch Trent festzunageln, hatte er den einzigen Zeugen direkt vor meiner Nase getötet. »Nein.«

Mein bedrückter Ton schien Glenn zufriedenzustel en.

»Al es klar.« Er drehte sich um und ging.

Jenks verharrte vor mir in der Luft, eingehül t in glitzernden Pixiestaub. »Sag mir Bescheid, wenn du was findest«, wies ich ihn an, froh darüber, dass wenigstens ein Repräsentant unserer armseligen kleinen Firma dabei sein konnte.

»Darauf kannst du wetten, Rachel«, versprach er mir, bevor er hinter Glenn herflitzte.

Edden stel te sich stil schweigend neben mich. Es fühlte sich an, als wären wir wieder auf der High School und als Einzige nicht zu der großen Poolparty eingeladen worden, die wir von der anderen Straßenseite aus neidisch beobachteten. Gemeinsam mit einem nervösen Trent, einer eingeschnappten Sara Jane und einem angespannten Quen verfolgten wir, wie Glenn mit dem Warnruf »FIB« an die Tür klopfte - als ob das noch notwendig gewesen wäre - und sie öffnete.

Jenks drang als Erster in den Raum vor, kam aber sofort wieder raus und landete unsicher auf dem Geländer. Glenn lehnte sich kurz in die dunkle Öffnung.

»Holt mir einen Mundschutz«, sagte er in die gespannte Stil e hinein.

Ich atmete auf. Er hatte etwas gefunden. Und es war mit Sicherheit kein Hund.

Eine der Beamtinnen bedeckte ihre Nase und reichte Glenn eine OP-Maske. Stechender Fäulnisgestank überlagerte den angenehmen Duft von Heu und Pferden. Ich rümpfte die Nase und schaute zu Trent, der noch immer keine Reaktion zeigte. Die bedrückende Stil e auf dem ganzen Parkplatz wurde nur von dem Summen vereinzelter Insekten durchbrochen. Im oberen Stockwerk winselte Socks und kratzte an der Hose ihres Betreuers, um ihre Belohnung einzufordern. Mir wurde langsam schlecht. Warum hatte niemand den Gestank bemerkt? Der Raum musste mit einem Zauber hermetisch versiegelt gewesen sein.

Glenn trat über die Schwel e. Für einen Moment sah man noch seinen Rücken, dann drang er weiter in den Raum vor und war verschwunden. Jetzt gab es nichts mehr zu sehen außer der dunklen Türöffnung. Eine uniformierte Beamtin reichte eine Taschenlampe in das Dunkel. Jenks sah mich nicht an, sondern stand bewegungslos auf dem Geländer.

Seine Flügel hingen leblos an ihm herunter.

Mein Herz klopfte wild, als die Beamtin an der Tür zur Seite trat, um Glenn rauszulassen. »Es ist tatsächlich eine Leiche«, erklärte er einer zweiten Beamtin ruhig. »Nehmen Sie Mr. Kalamack mit zur Befragung.« Er holte tief Luft. »Und auch Ms. Gradenko.«

Die Frau bestätigte leise den Befehl und kam die Treppe herunter, um ihn auszuführen. Ich warf Trent einen triumphierenden Blick zu, doch das Gefühl hielt nicht lange an, da ich an die tote Dr. Anders denken musste. Dann erinnerte ich mich daran, wie ich mit angesehen hatte, wie Trent den Leiter seiner Forschungsabteilung umbrachte: schnel , sauber und mit einem perfekten Alibi. Aber diesmal hatte ich ihn geschnappt, hatte schnel genug gehandelt, sodass er seinen Hintern nicht mehr retten konnte.

Sara Jane klammerte sich an Trent. Sie hatte hektische Flecken auf den Wangen, und in ihren weit aufgerissenen Augen stand nackte Angst. Trent schien sie gar nicht wahrzunehmen, sein ausdrucksloser Blick ruhte auf Quen.

Mit weichen Knien beobachtete ich, wie er tief durchatmete, als müsse er sich beruhigen.

»Mr. Kalamack?« Die junge Beamtin signalisierte ihm, ihr zu folgen.

Als er seinen Namen hörte, spiegelten sich vage Gefühle In seinem Gesicht. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie unerschütterlich dieser Mann war, hätte ich es Angst genannt.

»Ms. Morgan«, verabschiedete er sich förmlich, nahm Sara Jane beim Arm und ging. Edden und Quen begleiteten sie.

Die Emotionen des Captains waren leicht zu deuten: Erleichterung. Diese Aktion musste seinen Ruf stärker bedroht haben, als ich gedacht hatte.

Da riss Sara Jane sich von Trents Arm los und drehte sich zu mir um. »Schlampe«, fauchte sie, ihre mädchenhafte Stimme war verzerrt vor Angst und Hass. »Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast.«

Ich schwieg schockiert, während Trent sie - wie ich fand, warnend - am El bogen packte. Meine Hände begannen zu zittern, und mir wurde übel.

Glenn verließ seinen Platz auf der Treppe und kam auf mich zu, noch immer damit beschäftigt, sich mit einem Erfrischungstuch die Hände abzuwischen. Er gab dem Team von der Spurensicherung ein Zeichen, dass sie mit ihrer Arbeit anfangen konnten, woraufhin zwei Forensiker sich mit einem schwarzen Plastikkoffer bewaffnet auf den Weg machten.

Ich sorge gerade dafür, dass Trent ins Gefängnis wandert, dachte ich. Werde ich das überleben?

»Es ist eine Leiche«, sagte Glenn schlicht, als er blinzelnd vor mir stand und das nächste Erfrischungstuch zückte. »Du hattest recht.«

Er muss mir meine Bedenken angesehen haben, denn er folgte meinem Blick zu Trent, der jetzt mit Edden und Quen in einiger Entfernung stand. »Er ist auch nur ein Mensch.«

Trent wirkte selbstbewusst und gelassen, ganz der kooperationsbereite Bürger, während Sara Jane inzwischen völ ig hysterisch war. »Meinst du?«, flüsterte ich.

»Es wird eine Weile dauern, bis du da reinkannst«, wechselte Glenn das Thema und wischte sich mit einem dritten Tuch den Schweiß aus dem Nacken. Er war ein wenig grau im Gesicht. »Viel eicht sogar bis morgen. Sol ich dich nach Hause fahren?«

»Nein, ich bleibe hier.« Mir kam der Gedanke, dass ich viel eicht Ivy anrufen und ihr al es erzählen sol te. Fal s sie mit mir sprach. »Wie schlimm ist es?«, fragte ich vorsichtig. An der geöffneten Tür waren die beiden Tatortermittler gerade dabei, einen Staubsauger aus dem ramponierten Koffer zu holen und sich Papierschoner über die Schuhe zu ziehen.

Dabei unterhielten sie sich entspannt mit den Wachposten.

Glenn antwortete nicht und vermied es, sowohl mich als auch die dunkle Türöffnung anzusehen. »Wenn du unbedingt bleiben wil st, brauchst du das hier.« Er gab mir eine FIB-Marke mit der Aufschrift TERMINIERT. Die Beamten begannen, das Gelände mit gelbem Sicherheitsband abzusperren, und al e verfielen in die übliche Routine. Aus den Funkgeräten kamen die gewöhnlichen knappen Anfragen. Al e schienen zufrieden zu sein, al e außer mir und den Hunden. Ich musste da hoch. Ich musste sehen, was er Dr. Anders angetan hatte.

»Danke«, flüsterte ich und hängte mir die Marke um den Hals.

»Hol dir erst mal einen Kaffee«, riet er mir und deutete auf eines der Einsatzfahrzeuge, die zeitgleich mit uns hier angekommen waren. Die FIB-Leute, die gerade nichts zu tun hatten, versammelten sich bereits um den Wagen. Ich nickte, und Glenn ging zurück zur Treppe und stieg zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf.

Im Vorbeigehen sah ich Trent in dem offenen Raum zwischen den Pferdeboxen. Er sprach mit einem Beamten, woraus ich schloss, dass er keinen Gebrauch machte von seinem Recht auf einen Anwalt. Glaubte er, dadurch weniger schuldig zu wirken? Oder hielt er sich einfach für so gerissen, dass er auf einen Verteidiger verzichten konnte?

Benommen gesel te ich mich zu den FIB-Leuten. Jemand reichte mir ein Wasser, und als ich ihren fragenden Blicken auswich, ignorierten sie mich netterweise. Ich wol te mich nicht unbedingt mit ihnen anfreunden, und ich fühlte mich unwohl, als ich ihren unbeschwerten Gesprächen zuhörte.

Jenks hingegen hatte keine Probleme damit, von einem zum anderen zu fliegen, Kaffee und Zucker von ihnen zu schnorren und sie zum Lachen zu bringen, in dem er Captain Edden imitierte.

Letztendlich stand ich am Rand der Gruppe und versuchte, drei Gesprächen gleichzeitig zu folgen. Die Sonne sank langsam, und die Luft wurde deutlich kühler. Das Geräusch des Staubsaugers drang leise zu uns herüber, und das ständige Ein- und Ausschalten zerrte an meine Nerven. Dann verstummte er ganz, aber niemand schien es zu bemerken.

Immer wieder glitt mein Blick zu den oberen Apartments, und ich zog die Jacke enger um den Körper. Gerade eben war Glenn heruntergekommen, aber sofort im Wagen der Spurensicherung verschwunden. Ich gab mir einen Ruck und schlenderte unauffäl ig Richtung Treppe.

Sofort saß Jenks auf meiner Schulter, was in mir den Verdacht weckte, dass er mich genau beobachtet hatte.

»Rachel«, warnte er, »geh da nicht rein!«

»Ich muss es sehen.« Ein Gefühl von Unwirklichkeit hatte mich ergriffen und ließ mich die Wärme des rauen Geländers unter meiner Hand überdeutlich wahrnehmen.

»Nein«, protestierte er und summte erbost mit den Flügeln. »Glenn hat recht. Warte, bis du an der Reihe bist.«

Ich schüttelte den Kopf und wischte ihn so mit dem Zopf von meiner Schulter. Ich musste es sehen, bevor das Grauen durch Klarsichttütchen, sauber beschriftete Registerkarten und sorgfältige Datenkolonnen gemindert wurde, die dem Wahnsinn Struktur verleihen sol ten, damit er begreifbar wurde. »Geh mir aus dem Weg«, sagte ich ausdruckslos und schlug nach ihm, als er angriffslustig direkt vor meinem Gesicht auf- und abschwebte. Er wich zurück, und ich blieb ruckartig stehen, als meine Fingerspitze seinen Flügel streifte. Hatte ich ihn gerade tatsächlich geschlagen?

»Hey!« In seinem Aufschrei lagen Überraschung, Angst und schließlich Wut. »Fein«, zischte er. »Geh rein, sieh es dir an. Ich bin doch nicht dein Kindermädchen.«

Fluchend schwirrte er ab, verfolgt von irritierten Blicken, da er eine wahre Schimpfkanonade von sich gab.

Meine Beine waren schwer wie Blei, als ich mich die Treppe hochquälte. Hastige Schritte ließen mich aufblicken, und einer der Staubsaugertypen eilte an mir vorbei. Er brachte den Gestank von verwesendem Fleisch mit sich, und ich spürte, wie mir die Gal e hochkam. Ich schluckte sie runter, ging weiter und lächelte den Wachhabenden neben der Tür gequält an. Hier oben war der Geruch noch viel intensiver.

Ich musste an die Bilder denken, die ich in Glenns Büro gesehen hatte, und hätte mich fast übergeben. Dr. Anders war doch erst seit wenigen Stunden tot, wie konnte die Verwesung so schnel eingesetzt haben?

»Name?«, fragte mich der Mann mit starrer Miene, in dem Versuch, trotz des süßlichen Gestanks möglichst professionel zu wirken.

Ich sah ihn regungslos an und bemerkte dabei seinen Notizblock. Er enthielt eine detail ierte Namensliste, der letzte war mit dem Zusatz »Fotograf« versehen. Außer uns befand sich nur noch ein Mann auf dem Gang, er ließ gerade seinen Koffer zuschnappen und schleifte ihn dann polternd die Treppe hinunter. Neben der Tür stand eine Videokamera, deren technischer Standard irgendwo zwischen Fernsehteam und Hobbyfilmer lag. Mein Dad hatte eine ähnliche gehabt, mit der er immer die Geburtstagsfeiern von mir und meinem Bruder aufnahm. »Äh, ja, Rachel Morgan«, antwortete ich leise. »Beraterin in Inderlanderangelegenheiten.«

»Ach ja, Sie sind doch die Hexe, richtig?« Er trug meinen Namen zusammen mit der Uhrzeit und der Nummer meiner Besuchermarke in die Liste ein. »Brauchen Sie Maske, Überzieher und Handschuhe?«

»Ja, vielen Dank.«

Mit zitternden Fingern zog ich mir die Maske übers Gesicht. Sie roch nach Tannennadeln und hielt so den Verwesungsgestank ab. Erleichtert warf ich einen ersten Blick auf den polierten Holzfußboden, der von den letzten Sonnenstrahlen erhel t wurde. Aus einer Ecke, die ich nicht einsehen konnte, kam das metal ische Klicken einer Kamera.

»Ich werde ihn doch nicht stören, oder?«, fragte ich dumpf unter dem Mundschutz.

Der Wachposten schüttelte den Kopf. »Sie«, korrigierte er mich. »Und nein, Gwen stört das nicht. Passen Sie bloß auf, sonst müssen Sie noch ihr Maßband halten.«

Ich bedankte mich noch einmal bei ihm, fest entschlossen, nicht dergleichen zu tun.

Während ich meine Schuhe mit Überziehern versah, beobachtete ich den Parkplatz. Je länger ich mich hier aufhielt, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass Glenn mir auf die Schliche kam. Entschlossen presste ich die Maske gegen das Gesicht, und der künstliche Duft wurde so intensiv, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Aber die Alternative war wesentlich schlimmer. Ich steckte meine mit Chirurgenhandschuhen versehenen Hände tief in die Taschen und betrat den Raum so vorsichtig, als würde ich einem schwarzmagischen Zauberladen einen Besuch abstatten.

»Wer sind Sie?«, fragte eine fordernde Frauenstimme, als mein Schatten auf den Sonnenfleck am Boden fiel.

Ich bemerkte eine spindeldürre Frau mit streng zurückgebundenen dunklen Haaren. Sie hielt eine Kamera in der Hand und ließ gerade einen Film in den schwarzen Beutel an ihrer Hüfte fal en.

»Rachel Morgan«, antwortete ich. »Edden hat mich angeheuert, um-«

Ich stockte, als ich den Torso entdeckte, der an einem Stuhl mit hoher Rückenlehne festgebunden war. Schnel presste ich die Hand vor den Mund und schluckte krampfhaft.

Es ist eine Puppe, dachte ich. Es musste eine Puppe sein.

Das konnte einfach nicht Dr. Anders sein. Aber ich wusste es besser. Die Leiche war mit gelben Nylonstricken an den Stuhl gefesselt, der Oberkörper war nach vorne gesackt. Der Kopf ruhte auf der Brust, und das Gesicht war durch die blutverkrusteten Haare verdeckt. Ich dankte Gott dafür.

Unterhalb der Knie waren die Beine abgetrennt worden, sodass sie kaum über die Stuhlkante hinausragten und eine grauenerregende Ähnlichkeit mit kleinen Kinderbeinen hatten. Die Stümpfe waren offen und durch die Verwesung stark aufgequol en. Auch die Unterarme fehlten. Welche Farbe ihre Kleidung einmal gehabt hatte, war nicht mehr auszumachen, da der Stoff mit Blut durchtränkt war, das im Gerinnungsproess rinnsalartige Muster hinterlassen hatte.

Vol kommen entsetzt sah ich Gwen an, die nur gleichmütig meinte: »Rühren Sie bloß nichts an, ich bin noch nicht fertig.« Sie nahm ihre Arbeit wieder auf, murmelte aber noch:

»Warum kann ich eigentlich nicht einmal fünf Minuten Ruhe haben, bevor hier jeder reinlatscht?«

»Entschuldigung«, stammelte ich und war überrascht, dass ich überhaupt sprechen konnte. Dr. Anders'

zusammengesunkener Körper war stel enweise mit Blut bedeckt, aber unter dem Stuhl fand sich kaum etwas. Mir war schwindelig, aber ich konnte die Augen nicht von der Leiche abwenden. Rund um den Bauchnabel war die Haut aufgeschlitzt worden, sodass eine kreisrunde Öffnung entstanden war, die von einem silbernen Messer offen gehalten wurde und so den Blick auf das sorgfältig sezierte Körperinnere freigab. Der Einschnitt wies keinerlei Blutspuren auf, so als ob er säuberlich abgewaschen - oder geleckt -

worden wäre. An den Stel en des Körpers, die nicht blutverschmiert waren, war die Haut auffal end weiß und wächsern. Automatisch registrierte ich den sauberen Boden und die makel osen Wände. Es passte nicht zusammen. Der Körper war an einem anderen Ort verstümmelt und dann hierhergeschafft worden.

»Das ist mal ein richtig krankes Schwein«, meinte Gwen, ohne die Kamera aus der Hand zu legen. »Schauen Sie sich mal das Fenster an.«

Sie nickte mit dem Kopf in die entsprechende Richtung, und ich drehte mich um. Es sah aus, als hätte jemand auf der breiten Fensterbank eine Miniaturstadt errichtet. Klobige Gebäude unterschiedlicher Größe waren ordentlich aufgereiht und wurden durch eine graue, klumpige Substanz

- wahrscheinlich Spachtelmasse - fixiert. Es schien fast so, als wären sie angeklebt worden. Im Zentrum lag, wie ein Denkmal auf einem öffentlichen Platz, ein protziger Ring der Art, wie sie von Privatschulen und Universitäten zum Abschluss verliehen werden. Ich sah mir das Arrangement genauer an, und mir drehte sich der Magen um. Hilflos vor Entsetzen schaute ich zwischen der Leiche und dem Fenster hin und her.

»Ganz genau«, bestätigte Gwen nüchtern meinen Verdacht. »Er hat sie da zur Schau gestel t. Die größeren Teile hat er in den Schrank geworfen.«

Ich starrte zu dem kleinen Schränkchen hinüber, dann wieder auf die Fensterbank. Es waren keine Gebäude - es waren Finger und Zehen. Er hatte ihre Finger und Zehen Glied für Glied abgeschnitten und sie wie Kinderspielzeug dort aufgebaut. Und die vermeintliche Spachtelmasse bestand aus Teilen ihrer inneren Organe.

Mit wurde erst heiß, dann kalt, mein Magen hob sich, und ich befürchtete, ohnmächtig zu werden. Als mir be-wusst wurde, dass ich hyperventilierte, hielt ich verzweifelt den Atem an. Ich war mir sicher, dass sie während der gesamten Folter noch gelebt hatte.

»Raus hier«, befahl Gwen, während sie durch den Sucher blickte. »Wenn Sie hier drin kotzen, kriegt Edden einen Tobsuchtsanfal .«

»Morgan!« Der Wutschrei kam vom Parkplatz. »Ist die Hexe da drin?«

Ich hörte die gedämpfte Antwort des Wachhabenden, schaffte es aber einfach nicht, mich von dem grauenerregenden Anblick loszureißen. Fliegen krochen durch die Straßen der Horrorstadt und kletterten auf die verstümmelten Glieder wie bil ige Filmmonster. Das Klicken von Gwens Kamera schien sich meinem Herzschlag anzupassen, schnel und erbarmungslos. Dann zerrte jemand an meinem Arm, und ich keuchte.

»Rachel!« Fuchsteufelswild wirbelte Glenn mich herum.

»Beweg deinen verfluchten Hexenarsch hier raus!«

»Detective Glenn«, stammelte der Beamte an der Tür. Sie ist korrekt eingetragen.«

»Dann tragen Sie sie jetzt wieder aus«, knurrte er. »Und lassen Sie sie vor al en Dingen nicht mehr rein.«

»Du tust mir weh«, flüsterte ich schwach.

Er zerrte mich zur Tür. »Ich hatte dir doch befohlen, draußen zu bleiben«, raunte er mir aufgebracht zu.

»Du tust mir weh«, wiederholte ich und versuchte, seine Finger von meinem Arm zu lösen. Ich stolperte hinaus und die untergehende Sonne traf mich wie ein Schlag, der mich aus meiner Benommenheit riss. Ich holte tief Luft. Das da drin war nicht Dr. Anders. Die Leiche war nicht frisch genug, und das auf der Fensterbank war eindeutig ein Männerring.

Das eingravierte Logo schien zu einer Universität zu gehören. Offenbar hatte ich Sara Janes Freund gefunden.

Glenn zog mich zur Treppe. »Hör zu, Glenn«, setzte ich an, doch dann geriet ich ins Stolpern und wäre die restlichen Stufen runtergefal en, wenn er mich nicht gehalten hätte. Ein weiteres FIB-Fahrzeug fuhr auf den Parkplatz, diesmal von der Gerichtsmedizin. Glenn wol te nichts dem Zufal überlassen.

Je mehr Abstand ich zwischen mich und das Grauen brachte, desto sicherer wurde mein Gang, da meine Knie nicht mehr nachzugeben drohten. Jetzt verstand ich noch viel weniger, wie die FIB-Beamten hier rumstehen und Witze reißen konnten. Ich war einfach nicht geschaffen für Tatortermittlungen. Ich war eben ein Runner und kein Ermittler. Mein Vater hatte in einer Abteilung gearbeitet, in der er viel mit Leichen zu tun hatte. Nun war mir klar, warum er beim Abendessen nie etwas von seiner Arbeit erzählt hatte.

»Glenn«, versuchte ich es noch einmal, als er mich in den Raum zwischen den Boxen schleifte. Trent stand noch immer mit Sara Jane und Quen in einer Ecke und beantwortete mit ruhiger Stimme die Fragen des Beamten. Glenn blieb ruckartig stehen, als er sie sah und warf seinem Vater einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur mit den Schultern.

Edden saß vor einem Laptop, der auf einem Heubal en aufgebaut war. Jemand hatte von einem der Einsatzwagen eine Leitung hierher verlegt, und Eddens dicke Finger huschten über die Tasten, während er sich möglichst unauffäl ig benahm, um nichts zu verpassen.

Irritiert winkte Glenn den Officer heran, der Trent befragte.

»Glenn«, sagte ich drängend, während der Beamte zu uns rüberkam. »Das da oben ist nicht Dr. Anders.«

Eddens Blick wurde fragend, aber Glenn nahm mich kaum zur Kenntnis. »Ich weiß«, sagte er knapp. »Die Leiche Ist zu alt. Setz dich und halt die Klappe.«

Der Officer hatte uns erreicht, und ich beobachtete verblüfft, wie Glenn ihm unsanft einen Arm um die Schultern legte. »Ich hatte doch befohlen, die beiden zum Verhör zu bringen«, raunte er. »Was machen sie also noch hier?«

Der Mann wurde blass. »Sie meinen, ich hätte sie in den Wagen bringen sol en? Ich dachte, dass es für Mr. Kalamack so bequemer wäre.«

Glenn presste Lippen zusammen, als müsse er um Fassung ringen. »Ich sagte, Sie sol en zur Befragung mitgenommen werden, und das bedeutet, sie zum FIB zu bringen. Bei derart wichtigen Fäl en verhört man die Verdächtigen nicht am Tatort. Los, bringen Sie sie weg.«

»Aber das haben Sie so nicht. .« Der Mann schluckte.

»Jawohl, Sir.« Er kehrte hastig zu Trent und Sara Jane zurück.

Mit einem entschuldigenden Lächeln versuchte er, seine Angst zu überspielen; er wirkte auf einmal sehr jung. Aber Ich hatte keine Zeit, ihn zu bedauern.

Immer noch gereizt baute sich Glenn hinter seinem Vater auf und tippte mit steifen Fingern sein Passwort ein. letzt reichte es mir. Ich klappte wütend den Bildschirm des Laptops runter und klemmte Glenns Finger ein. Die beiden Männer schauten verblüfft zu mir hoch. Ich wartete, bis Trent und Sara Jane an mir vorbeikamen und Eddens und Glenns Aufmerksamkeit hatten und sagte: »Ich kann es nicht hundertprozentig sagen, aber ich glaube, es ist Dan.«

Sara Janes Gesicht blieb einen verräterischen Moment Itng vol kommen ausdruckslos, dann weiteten sich ihre Augen und sie klammerte sich an Trent. Sie setzte erfolglos dazu an, etwas zu sagen, lehnte sich schließlich an Trents Schulter und begann zu weinen. Er klopfte ihr tröstend auf den Rücken und sah mich wütend an.

Edden spitzte nachdenklich die Lippen, sodass sein grauer Schnurrbart unter seiner Nase hervorquol . Wir wechselten vielsagende Blicke. Sara Jane hatte Dan nicht so gut gekannt, wie sie uns hatte weismachen wol en. Warum sol te Trent sie aber mit einer gefakten Vermisstenanzeige zum FIB schicken, wenn er wusste, dass ich die Leiche auf seinem Grundstück finden könnte? Es sei denn, er hatte gar nichts davon gewusst. Aber wie konnte er davon nichts wissen?

Glenn hatte offensichtlich gar nichts verstanden, denn er packte mich wieder am Arm, zerrte mich an der hysterischen Sara Jane vorbei und schleppte mich in den Schatten der großen Eiche. »Verflucht noch mal, Rachel«, zischte er, während Sara Jane in einen Wagen verfrachtet wurde. »Ich habe dir gesagt, du sol st die Klappe halten! Verschwinde von hier, sofort! Diese Nummer da eben könnte ausreichen, damit Kalamack den Hals aus der Schlinge ziehen kann.«

Trotz meiner Absätze musste ich zu ihm aufschauen, und das brachte das Fass zum Überlaufen.

»Ach ja?«, schoss ich zurück. »Du wol test doch, dass ich Trents Reaktion beobachte, und genau das habe ich getan!

Sara Jane kann Dan Smather nicht von ihrem Milchmann unterscheiden, Trent hat ihn umbringen lassen, und der Fundort der Leiche ist nicht der Tatort!«

Glenn streckte die Hand nach mir aus, aber ich entzog mich ihm. Seine Miene versteinerte, und er trat langsam einen Schritt zurück. »Das weiß ich. Geh nach Hause.« Er deutete fordernd auf meine Marke. »Ich weiß deine Hilfe bei der Suche nach der Leiche zu schätzen, aber wie du ja selbst gesagt hast, bist du kein Detective. Und jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, lieferst du Trents Verteidiger mehr Munition, um die Geschworenen auf seine Seite zu ziehen.

Geh. . geh einfach nach Hause. Ich rufe dich morgen an.«

Ich war noch immer wütend, aber vor al em fühlte ich mich ausgelaugt. »Ich habe die Leiche gefunden. Du kannst mich nicht so einfach wegschicken.«

»Das habe ich gerade. Und jetzt gib mir den Ausweis.«

Ich zog mir die Marke über den Kopf, bevor er sie mir vom Hals reißen konnte. »Glenn, Trent hat diese Hexe töten lassen, das ist so sicher, als hätte er ihr selbst das Messer im Magen umgedreht.«

Glenn nahm die Marke entgegen; seine Wut war der Frustration gewichen. »Ich kann mit ihm reden, ihn sogar zum Verhör festhalten, aber ich kann ihn nicht verhaften.«

»Aber er war es!«, protestierte ich. »Du hast eine Leiche.

Du hast eine Waffe. Und du hast ein mögliches Motiv.«

»Ich habe einen Körper, der vom eigentlichen Tatort weggeschafft wurde«, erwiderte er gepresst. »Das mögliche Motiv ist reine Spekulation. Und ich habe eine Waffe, die jeder seiner sechshundert Angestel ten dort platziert haben könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir rein gar nichts, was Trent mit dem Mord in Verbindung bringt. Wenn ich ihn jetzt festnehme, könnte er freikommen, selbst wenn er die Tat später gesteht. Ich habe so etwas schon erlebt. Es kann sein, dass Mr. Kalamack das al es inszeniert hat, dass er die Leiche hier deponiert und al es so eingefädelt hat, dass wir keine konkreten Hinweise finden, die auf ihn hindeuten. Aber wenn wir diesen Fal nicht wasserdicht hinkriegen, wird es doppelt so schwer, ihm einen der anderen Morde nachzuweisen, selbst wenn er einen Fehler machen sol te.«

»Du hast doch nur Angst davor, ihn hart ranzunehmen«, versuchte ich, ihn zu einer Festnahme zu provozieren.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Rachel«, fuhr er mich an. »Ich gebe keinen Dingoarsch darauf, was du denkst. Ich muss ihm den Mord nachweisen. Und das hier ist die einzige Chance, die ich habe.« Er wandte sich ab und schaute suchend über den Parkplatz. »Jemand sol Ms. Morgan nach Hause bringen«, rief er und stampfte ohne sich noch einmal umzusehen durch das Sägemehl zum Stal zurück.

Ich starrte ihm hilflos hinterher. Dann sah ich, wie Trent einen der FIB-Wagen bestieg. In seinem teuren Anzug sah er so gar nicht wie ein Verbrecher aus. Er warf mir noch einen unergründlichen Blick zu, bevor die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Ohne Licht fuhren beide Wagen mit den Verdächtigen langsam vom Hof.

Mein Kopf hämmerte, und das Blut rauschte mir in den Ohren. Trent würde aus dieser Sache nicht unbeschadet rauskommen. Irgendwie würde ich es schaffen, ihn mit jedem einzelnen der Morde in Verbindung zu bringen. Da Dans Leiche auf Trents Anwesen gefunden worden war, konnte Edden jetzt jeden Gerichtsbeschluss durchbringen, den ich nur haben wol te. Trent Kalamack war der elektrische Stuhl so gut wie sicher. Ich konnte es langsam angehen lassen, ich war ein Runner. Ich wusste, wie man seine Beute weich kocht.

Angewidert wandte ich mich ab. Manchmal hasste ich das Gesetz, auch wenn ich mich oft genug darauf verließ. Lieber bekämpfte ich al e schwarzen Hexen dieser Welt, als mich in einem Gerichtssaal durchzuschlagen. Den Moralkodex der Hexen konnte ich nachvol ziehen, den der Anwälte nicht.

Fal s sie überhaupt einen hatten.

Ich rief gerade nach Jenks, als Captain Edden mit klimpernden Schlüsseln aus den Stal ungen auftauchte.

Großartig. Jetzt konnte ich mir auf dem ganzen Nachhauseweg weise Predigten anhören. Ich holte gerade Luft, um den Pixie noch einmal zu rufen, als er im Sturzflug auf mich herabstieß. Er glühte vor Aufregung und verteilte großzügig Pixiestaub um sich herum.

»Was ist denn, Rachel? Hey, ich habe gehört, dass Glenn dich rausgeschmissen hat. Ich hab dir doch gesagt, dass du da nicht hochgehen sol st. Aber hast du auf mich gehört?

Nein. Nie hört einer auf mich. Ich habe über dreißig Kinder, und die Einzige, die auf mich hört, ist meine Libel e.«

Für einen kurzen Moment vergaß ich meine Wut und fragte mich, ob Jenks tatsächlich eine zahme Libel e hatte.

Doch dann riss ich mich zusammen und überlegte, wie ich die Situation noch retten konnte. »Kommst du von hier aus auch al eine nach Hause, Jenks?«

»Klar, kein Problem. Ich fahre einfach bei Glenn oder den Hunden mit.«

»Okay.« Edden kam auf uns zu.

»Erzähl mir hinterher genau, was war, al es klar?«

»Kapiert. Ach, auch wenn es dir nichts mehr bringt: Es tut mir leid für dich. Du sol test eben endlich mal lernen, den Mund zu halten und deine Finger bei dir zu behalten. Dann bis später.«

Und das aus dem Mund eines Pixies? »Ich habe doch gar nichts angefasst«, rief ich ihm beleidigt hinterher, aber er war schon in Glenns provisorischem Büro verschwunden.

Edden schenkte mir nur einen kurzen Blick und marschierte an mir vorbei. Mürrisch folgte ich ihm und riss die Autotür auf. Er ließ den Wagen an, ich stieg ein und knal te die Tür zu. Nachdem ich den Sicherheitsgurt angelegt hatte, streckte ich den Arm aus dem offenen Fenster und starrte auf die verlassenen Weiden.

»Was ist los?«, motzte ich ihn an. »Hat Glenn Sie auch rausgeworfen?«

»Nein.« Edden legte den Rückwärtsgang ein. »Ich muss mit Ihnen reden.«

»Sicher«, nickte ich, da mir im Moment nichts Besseres einfiel. Mir entfuhr ein frustrierter Seufzer, als ich Quen entdeckte. Er stand reglos im Schatten der alten Eiche, sein Gesicht war vol kommen ausdruckslos. Er musste gehört haben, wie Glenn und ich uns wegen Trent stritten. Mir lief es kalt den Rücken runter, da ich mich damit bestimmt ganz nach oben auf Quens »besondere« Liste katapultiert hatte.

Seine grünen Augen fixierten mich mit beängstigender Intensität. Dann griff er nach einem niedrig hängenden Ast, schwang sich hinauf und verschwand zwischen den Blättern der Eiche, als hätte er nie existiert.

22

Edden steuerte den Wagen schwungvol auf den kleinen, mit Unkraut überwucherten Parkplatz der Kirche. Er hatte während der ganzen Fahrt kaum etwas gesagt. Die verkrampften Hände am Lenkrad und der rote Kopf verrieten mir al erdings, was er von meinen Überlegungen hielt, die ich ihm in einem mehr oder weniger pausenlosen Redeschwal mitgeteilt hatte, nachdem er mir den Grund für seine Chauffeurdienste verraten hatte.

Kurz nach dem Leichenfund war über Funk die Anweisung gekommen, mich »aus den Diensten des FIB zu entlassen«.

Irgendwie war wohl bekannt geworden, dass sie mit einer Hexe zusammenarbeiteten, woraufhin die LS. Einspruch eingelegt hatte. Ich wäre viel eicht trotzdem damit durchgekommen, wenn Glenn sich dazu herabgelassen hätte, ihnen zu erklären, dass ich nur als Beraterin tätig war.

Doch er sagte gar nichts dazu. Wahrscheinlich war er immer noch sauer, dass ich seinen ach so geliebten Tatort betreten hatte. Dass er ohne mich keinen Tatort gehabt hätte, schien dabei keine Rol e mehr zu spielen.

Edden schaltete den Wagen auf Parken, starrte stumm durch die Windschutzscheibe und wartete darauf, dass ich ausstieg. Eins musste ich ihm lassen: Es ist bestimmt nicht einfach, gelassen zuzuhören, während der eigene Sohn unter anderem als Tentakel utscher und Fledermausscheiße bezeichnet wird. Ich blieb reglos sitzen. Sobald ich ausstieg, war al es vorbei, und das wol te ich nicht. Außerdem kostet so eine zwanzigminütige Hasstirade ziemlich viel Energie, und ich sol te mich dafür zumindest bei Edden entschuldigen. Also ließ ich einfach den Arm aus dem Fenster hängen und lauschte dem leisen Klavierspiel, das zu uns herüberdrang. Es war eines dieser Stücke, mit denen Komponisten mehr ihr technisches Geschick zur Schau stel en als künstlerischen Ausdruck erzeugen wol en. Ich holte tief Luft.

»Wenn ich wenigstens mit Trent reden. .«

»Nein.«

»Darf ich mir dann wenigstens die Aufnahme der Vernehmung anhören?«

»Nein.«

Ich rieb mir die Schläfen, wobei sich eine Locke aus dem Zopf löste und meine Wange kitzelte.

»Das ist jetzt nicht mehr Ihr Job«, erklärte Edden gepresst.

Sein Tonfal machte mich hel hörig. Ich folgte seinem Blick zu den Pixiekindern, die auf der kleinen Rutsche herumtobten, die ich ihnen gestern aus Wachspapier gebastelt hatte.

Edden zog steif sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er reichte unir ein Bündel Scheine. »Man sagte mir, ich sol Sie bar bezahlen. Es ist nicht nötig, das bei der Steuer anzugeben.«

Wütend presste ich die Lippen zusammen, schnappte imir das Geld und zählte es. Barzahlung? Vom Chef persönlich? Da wol te wohl jemand auf Nummer sicher gehen. Enttäuscht stel te ich fest, dass es wesentlich weniger war, als "wir vereinbart hatten. Ich hatte immerhin fast eine ganze

"Woche an diesem Fal gearbeitet. »Den Rest kriege ich dann später, ja?«, fragte ich und stopfte das Geld in meine Tasche.

»Die Geschäftsleitung lehnt es ab, für das abgebrochene Seminar bei Dr. Anders aufzukommen«, meinte er, ohne mich anzusehen.

Schon wieder gelinkt. Also würde ich Ivy wieder einmal sagen müssen, dass ich die Miete nicht aufbringen konnte.

Frustriert öffnete ich die Tür und stieg aus. Komisch, es hörte sich fast so an, als käme die Klaviermusik aus der Kirche, aber das konnte ja gar nicht sein. Ich schlug die Wagentür zu und beugte mich noch einmal zum Fenster runter.

»Wissen Sie was, Edden? Rufen Sie mich nie wieder an!«

»Werd endlich erwachsen, Rachel«, entgegnete er. Er lehnte sich über den Beifahrersitz, um durch das offene Fenster mit mir zu sprechen. Sein rundes Gesicht war angespannt. »Wenn du das mit mir gemacht hättest, hätte ich dich verhaftet und der LS. übergeben. Er hat dir befohlen zu warten, und du hast seine Autorität mit Füßen getreten.«

Verlegen hängte ich mir die Tasche über die Schulter. So hatte ich das noch gar nicht gesehen.

»Hör mal«, fuhr Edden ruhiger fort, als er meine plötzliche Einsicht erkannte. »Ich würde unser speziel es Arbeitsverhältnis nur ungern komplett beenden. Wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist, könnten wir es doch noch einmal probieren. Und irgendwie komme ich bestimmt auch an das restliche Geld ran.«

»Na gut, okay.«

Ich richtete mich auf. Meine Ansichten über dämliche, mutwil ige Managemententscheidungen war zwar mal wieder bestätigt worden, aber bei Glenn musste ich mich wohl entschuldigen.

»Rachel?«

Ja, ich musste mich auf jeden Fal entschuldigen. Mit einem deprimierten Seufzer meinte ich also: »Sag Glenn, dass es mir leidtut.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stöckelte ich über den rissigen Gehweg und ging die breite Eingangstreppe hinauf.

Einen Moment lang blieb al es stil . Dann setzte Edden rückwärts aus der Einfahrt und fuhr davon. Die Musik kam tatsächlich aus der Kirche. Noch immer gereizt wegen der fehlenden Miete riss ich die schwere Tür auf und ging hinein.

Um diese Tageszeit musste Ivy zu Hause sein. Mein Ärger wegen Edden wurde von der Hoffnung verdrängt, endlich mit ihr reden zu können. Ich wol te ihr klarmachen, dass sich nichts zwischen uns geändert hatte, dass sie immer noch meine Freundin war - fal s sie mich noch haben wol te.

Viel eicht war es in der Welt der Vampire ja auch eine unverzeihliche Beleidigung, wenn man das Angebot der Nachkommenposition ausschlug. Aber das hielt ich für eher unwahrscheinlich. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ich sie seitdem gesehen hatte, wirkte sie mehr schuldbewusst als wütend.

»Ivy?«, rief ich vorsichtig. Das Klavier verstummte.

»Rachel?« Ihre Stimme hal te durch den Altarraum, trotzdem hörte ich einen Hauch von Angst in der Frage. Verdammt, sie würde wieder abhauen. Erst dann fiel bei mir der Groschen.

Die Musik war gar nicht vom Band gekommen. Seit wann hatten wir ein Klavier?

Ich zog meine Jacke aus, hängte sie auf und ging nach vorne in den sonnendurchfluteten Altarraum. Wir hatten tatsächlich ein Klavier, beziehungsweise einen wunderschönen schwarzen Konzertflügel, der durch die grünen und bernsteinfarbenen Lichtstrahlen passend ausgeleuchtet wurde. Der Deckel war hochgeklappt, sodass man die glänzenden Saiten und filzüberzogenen Hämmerchen sehen konnte.

»Wann hast du dir denn einen Flügel zugelegt?«, fragte ich vorsichtig. Ivy war vol kommen verkrampft, bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Verdammt, wenn sie mir doch nur einmal in Ruhe zuhören würde!

Ich entspannte mich etwas, als sie nach einem Ledertuch griff und begann, das glänzende Holz zu polieren. Sie trug Jeans und ein schlichtes Top, sodass ich mir in meinem Kostüm ziemlich overdressed vorkam.

»Heute«, antwortete sie und fuhr weiter mit dem Lappen über das makel ose Holz. Ein Problem zu ignorieren ist ein vol kommen legitimer Weg, damit umzugehen, solange sich beide Parteien darüber einig sind, es nie wieder anzusprechen.

»Du brauchst nicht aufzuhören, nur weil ich jetzt da bin«, sagte ich verzweifelt bemüht, etwas zu sagen, bevor sie einen Anlass fand, um zu verschwinden. Sie ging um das Instrument herum, um die Rückseite zu polieren, und ich schlug eine Taste an. »Eingestrichenes C«, stel te sie sofort fest, und plötzlich entspannten sich ihre bleichen Züge, und sie wirkte vol kommen gelöst.

Ich wählte eine andere Taste, hielt sie gedrückt und lauschte dem Echo, das von den Dachbalken zurückgeworfen wurde. In dem hohen, kahlen Raum konnte sich der Klang vol entfalten, besonders jetzt, wo die Turnmatten verschwunden waren.

»Fis«, flüsterte sie, und ich schlug zwei Töne gleichzeitig an. »C und Dis«, antwortete sie immer noch leise, dann öffnete sie die Augen und sah mich an. »Das ist ein schrecklicher Akkord.«

Ich lächelte erleichtert, da wir uns wieder in die Augen sehen konnten. »Ich wusste gar nicht, dass du spielst.«

»Meine Mutter hat mich dazu verdonnert.«

Ich nickte gedankenverloren und kramte das Geld aus der Tasche. Als ich ihr die Scheine gab, wurde mir unwil kürlich wieder bewusst, wie unterschiedlich wir lebten: Ivy kaufte mal eben einen Konzertflügel, ich lagerte meine Klamotten in einem Sperrholzwrack.

Ivy senkte den Blick, um das Geld zu zählen. »Es fehlen noch zweihundert.«

Ich ging wortlos in die Küche, warf meine Tasche auf ihren antiken Küchentisch und ging zum Kühlschrank, um mir ein Glas Saft zu holen. Das ewige Schuldgefühl nagte an mir.

»Edden hat mein Honorar gekürzt«, rief ich in den Altarraum hinüber. Viel eicht blieb sie ja, wenn ich das Gespräch beim Thema Finanzen halten konnte. »Aber ich kriege den Rest schon irgendwie zusammen. Ich werde noch mal mit dem Basebal team reden.«

»Rachel. .« Ihre Stimme klang ganz nah. Erschrocken drehte ich mich um und sah sie im Flur stehen. Ich hatte sie nicht kommen hören. Sie registrierte meine Bestürzung, und ich sah, wie sehr es sie verletzte. Sie hatte Eddens mickrige Aufwandsentschädigung in der Hand, und plötzlich war es mir al es zu viel. Sie sol ten mich einfach al e in Ruhe lassen.

»Vergiss es einfach«, meinte sie, und zog mich damit noch weiter runter. »Ich kann dir ja diesen Monat aushelfen.«

Mal wieder, ergänzte ich in Gedanken. Verflucht noch mal, ich sol te doch wohl in der Lage sein, meine eigenen, beschissenen Rechnungen zu bezahlen.

Deprimiert nahm ich die Kappe ab und hängte sie an einen Stuhl. Als Nächstes entledigte ich mich meiner Schuhe, sie flogen in hohem Bogen durch die Tür und landeten polternd irgendwo im Wohnzimmer. Dann ließ ich mich in den Stuhl fal en und umklammerte mein Saftglas wie ein Betrunkener das letzte Bier des Abends. Auf dem Tisch entdeckte ich eine geöffnete Kekstüte und griff danach.

Schokoladencreme machte al es besser, solange man nur genug davon aß.

Ivy streckte sich, um das Geld in der Dose auf dem Kühlschrank zu verstauen. Es war zwar nicht gerade der sicherste Platz für eine Haushaltskasse, aber wer würde schon einen Tamwood-Vampir bestehlen? Wortlos ließ sie sich am anderen Ende des Tisches nieder. Als sie die Maus bewegte, sprang summend die Lüftung des Computers an.

Meine Laune besserte sich etwas. Immerhin war sie nicht gegangen. Sie arbeitete an ihrem Computer, ich befand mich in einem Raum mit ihr. Viel eicht fühlte sie sich jetzt sicher genug, um wenigstens zuzuhören.

»Ivy. .«

»Nein«, sagte sie sofort und warf mir einen kurzen verängstigten Blick zu.

»Ich wil mich doch nur entschuldigen«, sagte ich hastig.

»Geh nicht. Ich werde auch nichts mehr sagen.« Wie konnte man nur so stark und mächtig sein und gleichzeitig so viel Angst vor sich selbst haben? Dieser ständige Konflikt zwischen Stärke und Verletzlichkeit war mir unbegreiflich.

Sie wich meinem Blick aus, aber nach und nach löste sich ihre Anspannung wieder. »Aber es war doch nicht deine Schuld«, flüsterte sie schließlich.

Und warum fühle ich mich dann so beschissen? »Es tut mir so leid, Ivy.« Für einen kurzen Moment begegneten sich unsere Blicke. Ihre Augen leuchteten in warmem Braun, ohne eine Spur von Schwarz.

»Es ist einfach. .«

»Stopp«, unterbrach sie mich. Sie starrte auf ihre Hand, die krampfhaft die Tischkante umklammerte. Die Nägel glänzten noch von dem Lack, den sie für unseren Besuch bei Piscary aufgetragen hatte. Mühsam lockerte sie den Griff.

»Ich. . ich werde dich nie wieder bitten, mein Nachkomme zu werden, wenn du jetzt einfach nichts mehr sagst«, erklärte sie stockend. Die Verwundbarkeit, die aus diesem Satz sprach, war beunruhigend.

Es kam mir so vor, als wüsste sie, was ich sagen wol te, und konnte es schlicht nicht ertragen, es zu hören. Ich würde nie ihr Nachkomme werden - ich konnte es einfach nicht.

Dieses Band würde uns zu eng aneinanderketten und mir meine Unabhängigkeit nehmen. Und auch wenn ich wusste, dass das Geben und Nehmen von Blut bei den Vampiren nicht zwangsläufig mit Sex verbunden war, sah ich diesen Unterschied nicht. Ich konnte aber auch nicht einfach fragen:

»Können wir nicht Freundinnen bleiben?« Es würde abgedroschen und bil ig klingen, auch wenn es genau das war, was ich wol te. Sie würde es nur als die Abfuhr verstehen, die es ja meistens auch war. Und ich mochte sie viel zu sehr, um sie so zu verletzen. Außerdem wusste ich, dass sie dieses Versprechen nicht aus Verbitterung gab, sondern weil sie den Schmerz einer weiteren Zurückweisung vermeiden wol te.

Ich würde Vampire wohl nie verstehen, aber so lagen die Dinge nun mal zwischen Ivy und mir.

Sie sah mich ängstlich an, gewann aber an Sicherheit, als sie in meinem Schweigen die Bereitschaft erkannte, die Sache endgültig zu begraben. Sie entspannte sich und zumindest ein Teil ihres gewohnten Selbstvertrauens kehrte zurück. Ich hingegen fühlte mich mies, als mir bewusst wurde, wie gnadenlos ich sie eigentlich ausnutzte. Sie beschützte mich vor den vielen Vampiren, denen ich sonst aufgrund der Dämonennarbe hilflos ausgesetzt gewesen wäre, was nichts anderes hieß, als dass sie mir meinen freien Wil en erhielt. Und sie erwartete nicht einmal, dass ich mich auf dem bei Vampiren üblichen Weg dafür bedankte. Das al ein war schon Grund genug zum Selbstekel. Und nun wol te sie etwas von mir, das ich ihr nicht geben konnte, und gab sich trotzdem damit zufrieden, meine Freundin zu sein, in der Hoffnung, dass ich ihr eines Tages viel eicht doch mehr geben könnte.

Ich holte tief Luft. Ivy tat so, als würde sie meine Blicke nicht bemerken, während ich langsam al es begriff. Ich konnte nicht gehen. Es ging nicht nur darum, meine einzige echte Freundin seit acht Jahren nicht zu verlieren oder sie in ihrem zermürbenden inneren Kampf zu unterstützen. Ich hatte Angst davor, in einem Moment der Schwäche vom ersten dahergelaufenen Vampir in ein wil enloses Spielzeug verwandelt zu werden. Ich saß in einem Käfig aus Bequemlichkeit, und der Tiger, der mit mir eingesperrt war, schnurrte und schlabberte seine Milch, bis er einen Weg fand, meine Meinung zu ändern. Großartig. Heute Nacht würde ich sicher gut schlafen.

Ivy schaute mir in die Augen, und ihr stockte kurz der Atem, als sie erkannte, dass ich endlich verstanden hatte.

»Wo ist Jenks?«, fragte sie dann und wandte sich wieder dem Monitor zu, als wäre nichts gewesen.

Ich atmete tief durch und versuchte, mich mit meiner neuen Lage anzufreunden. Ich konnte abhauen und von da an jeden lüsternen Vampir bekämpfen, der mir über den Weg lief, oder ich konnte bleiben, weiter unter Ivys Schutz stehen und darauf vertrauen, dass es nie so weit kam, dass ich sie bekämpfen musste. Was hatte mein Dad immer gesagt? Eine bekannte Gefahr ist immer noch besser als eine unbekannte.

»Mit Glenn bei Trent.« Mit zitternden Fingern nahm ich mir noch einen Keks. Ich würde bleiben. Wir hatten eine Abmachung. Oder hatte Nick viel eicht doch recht, und tief In mir drin wol te ich gebissen werden und konnte mir nur nicht eingestehen, dass sich meine »Vorlieben« ein wenig verändert hatten?

»Ich bin raus aus dem Fal . Ich habe eine Leiche gefunden, und dann ist irgendwie rausgekommen, dass das FIB sich von einer Hexe helfen lässt.«

Sie sah mich über den Monitor hinweg skeptisch an. »Du hast eine Leiche gefunden? Auf Trents Anwesen? Das ist nicht dein Ernst.«

Ich stützte die El bogen auf den Tisch, zu müde, um mich jetzt noch weiter mit meiner merkwürdigen Psyche auseinanderzusetzen, und nickte. »Ich bin ziemlich sicher, dass es Dan Smather ist, aber das spielt eigentlich keine Rol e. Glenn ist zwar verbissener als ein Pixie in einem Terrarium vol er Frösche, aber Trent wird davonkommen.«

Meine Gedanken verließen das Ivy-Problem und kehrten zurück zu Dans misshandeltem, gefesseltem Körper auf seinem Stuhl. »Trent ist zu clever, um Beweise zu hinterlassen, die ihn mit der Leiche in Verbindung bringen könnten. Ich verstehe nicht einmal, warum die Leiche überhaupt auf seinem Grundstück war.«

Sie nickte und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm.

»Viel eicht hat er sie dort platziert?«

Ich verzog das Gesicht. »Das denkt Glenn auch. Er glaubt, dass Trent der Mörder ist und geplant hat, dass wir die Leiche bei ihm finden, da er genau wusste, dass wir auch so keine Beweise gegen ihn in der Hand haben würden und es dann umso schwieriger wird, ihn dranzukriegen, selbst wenn er später einen Fehler begeht. Das würde auch zu Sara Janes Reaktion passen. Sie könnte Dan Smather nicht von einem Paketboten unterscheiden, aber irgendetwas. .« Ich zögerte und versuchte das unbestimmte Gefühl in Worte zu fassen.

»Irgendetwas stimmt nicht.« Ich musste an das Bild denken, dass sie mir gegeben hatte. Es war identisch gewesen mit dem Foto auf Dans Fernseher. Daran hätte ich schon erkennen müssen, dass ihre Beziehung ein Märchen war.

Langsam begann ich an meiner nicht ganz vorurteils freien Theorie zu zweifeln, nach der Trent für die Morde verantwortlich war, und das war mehr als beunruhigend.

Trent war dazu fähig, zu morden - das hatte ich selbst mit erlebt -, aber der verstümmelte, blutleere Körper, gefesselt und gequält, das war etwas ganz anderes als der schnel e, saubere Tod, den er seinem Chefgenetiker beschert hatte.

Nachdenklich nahm ich mir noch einen Keks, biss hinein und ging zum Kühlschrank, um unser Abendessen zusammenzustel en. Am besten ließ ich das Ganze fürs Erste ruhen, viel eicht hatte mein Unterbewusstsein ja eine Lösung parat. Jetzt würde ich uns erst mal etwas Besonderes zum Essen machen. Es war schon eine ganze Weile her, dass ich etwas serviert hatte, das nicht aus der Dose kam.

Bei Ivys Anblick fühlte ich mich schuldig und erleichtert zugleich. Kein Wunder, dass sie geglaubt hatte, ich wol te mehr sein als ihre Freundin. Ein Teil der Schuld lag bei mir.

Viel eicht sogar der größte Teil.

»Und wie hat Trent reagiert, als du die Leiche gefunden hast?«, fragte sie, während sie sich durch ein paar Chat-moms klickte. »Schuldbewusst?«

»Eher nicht«, erklärte ich und verdrängte mein Unbehagen.

Im Gefrierschrank fand ich eine Portion Hamburger-Fleisch, zog sie heraus und legte sie zum Auftauen in die Spüle. »Es hat ihn auch nicht überrascht, dass ich eine Leiche gefunden habe, nur, dass es die von Dan war. Deshalb glaube ich auch nicht, dass er sie dort platziert hat, um sich zu schützen. Auf jeden Fal weiß er mehr, als er zu geben wil .«

Ich schaute aus dem Fenster in den sonnigen Garten und bemerkte ein Glänzen, das von Pixieflügeln stammen musste Jenks' Rasselbande war gerade damit beschäftigt, einen verirrten Kolibri zu verjagen, der sich an den letzten Loberre bedienen wol te. Er musste sich wohl auf dem Weg in den Süden befinden, denn sonst hätte Jenks ihn schon getötet. Er ließ nicht zu, dass irgendwelche Konkurrenz in seinem Garten Fuß fasste.

Während sich die Kinder kreischend gegen den unglückseligen Vogel zusammenrotteten, musste ich wieder daran denken, wie beunruhigt Trent gewesen war, als ich die Kraftlinie in seinem Büro entdeckte. Das hatte ihn stärker verunsichert als der Fund von Dans Leiche.

Die Kraftlinie. Das war noch so ein Rätsel. Seufzend drehte ich mich um und wischte mir mit einem Handtuch das Kondenswasser der Hamburger von den Händen, nachdem ich sie schon fast an meinem guten Rock abgetrocknet hätte.

Ich überlegte, ob ich die Fenster schließen oder mich darauf verlassen sol te, dass Jenks' Nachwuchs zu beschäftigt war, um uns zu belauschen. Als Ivy meinen nachdenklichen Blick bemerkte, lehnte sie sich abwartend in ihrem Stuhl zurück.

Jenks hatte eine große Klappe, und ich wol te nicht riskieren, dass er etwas von meinen Mutmaßungen über Trents Herkunft erfuhr. Denn dann würde er sie hundertprozentig ausplaudern, und Trent würde ein Flugzeug mieten und die Gerüchte zum Schweigen bringen, indem er den gesamten Block mit Dioxinen verseuchte, zum Beispiel mit einer Ladung Agent Orange.

Ich entschloss mich zu einem Kompromiss, schloss die Vorhänge und stel te mich so vor das Fenster, dass ich ihre Schatten sehen konnte, fal s sie in Hörweite kamen. »Trent hat eine Kraftlinie in seinem Büro«, erklärte ich leise.

Ivy sah mich ungläubig an. »Ernsthaft? Wie wahrscheinlich ist das denn?«

Sie blickt es nicht. »Das heißt, dass er sie wohl auch benutzt«, versuchte ich ihr auf die Sprünge zu helfen.

»Und. .« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Na, wer kann denn Kraftlinien benutzen?«

Plötzlich verstand sie und hauchte fassungslos: »Er ist Mensch oder Hexe.« Sie sprang auf, kam zu mir rüber und schloss mit einer heftigen Bewegung das Fenster. »Weiß Trent, dass du sie entdeckt hast?« In dem schummrigen Licht wirkten ihre Augen schwarz.

»Ja, ich denke schon.« Unter dem Vorwand, mir noch einen Keks zu holen, schaffte ich etwas Abstand zwischen uns. »Immerhin brauchte ich die Linie, um die Leiche zu finden.«

Damit stand sie wieder vol unter Strom.

»Du riskierst also mal wieder deinen Hals und bringst dadurch Jenks, seine Familie und mich auch gleich in Gefahr.

Trent wird vor nichts zurückschrecken, um das geheim zu halten.«

»Wenn ihm das so wichtig ist, hätte er sein Büro doch gar nicht erst auf eine Kraftlinie bauen lassen«, protestierte ich; hoffentlich lag ich damit richtig. »Jeder kann sie finden, er muss nur richtig hinsehen. Und es ist kein genauer Hinweis auf seine Herkunft, denn er könnte entweder Mensch oder Inderlander sein. Wir sind nicht in Gefahr, vor al em, weil ich bestimmt kein Wort darüber verlieren werde.«

»Jenks könnte eins und eins zusammenzählen«, sagte Ivy unnachgiebig. »Du weißt doch, dass er nichts für sich behalten kann. Es würde ihm enormes Ansehen einbringen, wenn er herausfindet, was Trent wirklich ist.«

Ich brauchte noch einen Keks. »Und was sol ich deiner Meinung nach tun? Wenn ich ihm verbiete, über die Linie zu reden, versucht er doch nur herauszufinden, warum.«

Ivy trommelte mit den Fingern auf die Arbeitsplatte, und Ich stopfte das Gebäck in mich hinein. Als wol te sie wieder einmal ihre verstörenden Kräfte beweisen, stemmte sie sich einhändig hoch und setzte sich auf den Tresen. Sie wirkte endlich wieder richtig lebendig, als sie nun versuchte, dieses lang gehütete Geheimnis zu lüften. »Also, was denkst du? Ist er Mensch oder Hexe?«

Ich ging zum Spülbecken und ließ heißes Wasser über das gefrorene Fleisch laufen.

»Weder noch«, erklärte ich knapp. Ivy sagte nichts, also drehte ich das Wasser ab und fuhr fort: »Weder noch, Ivy. Ich würde mein Leben darauf setzen, dass er keine Hexe ist, und Jenks schwört, dass er mehr als ein Mensch ist.«

An dem Funkeln in ihren Augen erkannte ich, dass die Frage sie ebenso faszinierte wie mich. War das auch ein Grund, warum ich blieb? Ihr logischer Verstand und meine Intuition. Trotz al er Probleme funktionierte unsere Zusammenarbeit reibungslos. Das war schon immer so gewesen.

Ivy schüttelte den Kopf, und ich spürte, wie ihre Anspannung stieg. »Wir haben nur diese Möglichkeiten.

Wenn man al es andere ausschließt, muss das, was übrig bleibt, die Lösung sein, egal, wie unwahrscheinlich sie auch sein mag.«

Es wunderte mich nicht, dass sie Sherlock Holmes zitierte.

Die spitzfindige Logik und das schroffe Wesen des Romandetektivs entsprachen vol und ganz Ivys Naturel . »Na gut, wenn wir schon beim Thema unwahrscheinlich sind, kannst du auch Dämonen zu den Möglichkeiten zählen.«

»Dämonen?« Ivy unterbrach ihr Fingerstakkato.

Gedankenverloren schüttelte ich den Kopf. »Trent ist kein Dämon. Ich habe sie nur erwähnt, weil sie aus dem Jenseits kommen und mit Kraftlinien umgehen können.«

»Oh, das hatte ich ganz vergessen«, gestand sie leise. Die Sanftheit in ihrer Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken, aber Ivy war so in ihre Überlegungen vertieft, dass sie nicht merkte, dass sie gerade mal wieder in den Spukmodus abrutschte. »Dass ihr verwandt seid, meine ich, Hexen und Dämonen.« Ich knurrte beleidigt, woraufhin sie entschuldigend mit den Achseln zuckte. »Sorry, ich wusste ja nicht, dass das ein wunder Punkt bei dir ist.«

»Ist es auch nicht«, erwiderte ich knapp, obwohl es natürlich genau das war. Vor ungefähr zehn Jahren hatte es eine hitzige Debatte gegeben, als eine al zu neugierige

-menschliche - Ahnenforscherin mit dem Spezialgebiet Inderlander einige der wenigen genetischen Stammbäume ausgegraben hatte, die den Wandel unbeschadet überstanden hatten. Sie stel te die Theorie auf, dass wir aufgrund unserer Fähigkeiten in der Kraftlinienbeeinflussung ursprünglich aus dem Jenseits stammten und uns zusammen mit den Dämonen entwickelt hätten. Hexen sind definitiv nicht mit Dämonen verwandt. Aber peinlicherweise mussten wir unter dem Druck der Wissenschaft zugeben, dass wir uns paral el zu ihnen entwickelt hatten.

Diese fragwürdigen Spekulationen brachten ihr reichlich Forschungsgelder ein, und die Frau benutzte sie, um ihre Theorie auszuweiten. Aufgrund der Mutationsrate der Ribonukleinsäure datierte sie unseren Massenexodus aus dem Jenseits auf fünftausend Jahre zuvor. Die Hexenmythologie besagte, dass diese Flucht durch einen Aufstand der Dämonen ausgelöst worden sei und nur die Elfen zurückgeblieben seien und sich in eine hoffnungslose Schlacht gestürzt hätten, um ihre geliebten Felder und Haine vor der Plünderung und Verseuchung zu schützen. Diese Theorie klang glaubhaft, und die Elfen verloren leider al e geschichtlichen Aufzeichnungen, als sie vor knapp zweitausend Jahren aufgeben mussten und uns hierherfolgten.

Die Menschen wiederum entwickelten erst ungefähr zu dieser Zeit die Fähigkeit, mit Kraftlinien umzugehen, und man ging davon aus, dass der Grund dafür in dem elfischen Versuch lag, durch die Fortpflanzung mit Menschen ihrem drohenden Aussterben entgegenzuwirken, das mit dem Dämonenaufstand begann und mit dem Wandel vol endet wurde. Plötzlich musste ich an Nick denken. Es war schon ganz gut, dass Menschen und Hexen genetisch so unterschiedlich waren, dass nicht einmal Magie die Lücke schließen konnte. Nicht auszudenken, wozu ein ungeschulter Mensch-Hexen-Hybrid mit Kraftlinienmagie in der Lage wäre. Es war schon schlimm genug, dass die Elfen die Menschen mit in dieses Spiel gebracht hatten. Die elfische Geschicklichkeit im Umgang mit den Linien hatte sich so nahtlos in das menschliche Genom eingefügt, als wäre es dafür geschaffen worden. Das machte einen schon nachdenklich.

Elfen? Mir wurde eiskalt. Die Antwort war die ganze Zeit direkt vor meiner Nase gewesen. »Oh - mein - Gott!«

Ivy schaute hoch und vergaß, mit den Beinen zu schlenkern, als sie mein Gesicht sah.

»Er ist ein Elf«, flüsterte ich. Die Aufregung über diese Entdeckung ließ meinen Puls ansteigen. »Sie sind gar nicht ausgestorben während des Wandels. Er ist ein Elf. Trent ist ein verdammter Elf!«

»Okay, jetzt warte mal«, bremste Ivy meine Euphorie. »Sie sind Vergangenheit. Wenn es noch welche geben würde, wüsste Jenks das. Er könnte sie riechen.«

Ich war aufgesprungen und ging zur Tür, um nach geflügelten Lauschern Ausschau zu halten. »Nicht, wenn die Elfen eine Pixie- oder Fairy-Generation lang im Verborgenen gelebt haben. Ihre Zahl ist durch den Wandel stark dezimiert worden, und es ist nicht schwer, eine so kleine Gruppe zu verstecken, bis der letzte Pixie, der sie am Geruch erkennen kann, tot ist. Sie leben doch nur so um die zwanzig Jahre -

die Pixies.« Meine Stimme überschlug sich. »Du weißt, wie sehr Trent Pixies und Fairies verabscheut, es grenzt schon an eine Phobie. Es passt al es zusammen. Ich kann es nicht glauben! Wir haben es!«

»Rachel«, meinte Ivy sanft und rutschte in meine Richtung.

»Sei nicht albern, er ist kein Elf.«

Ich verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. »Er schläft mittags und in der Mitte der Nacht, in der Morgen- und Abenddämmerung ist er am aktivsten -

so waren die Elfen auch. Seine Reflexe sind fast so gut wie die eines Vampirs. Er bevorzugt die Abgeschiedenheit, ist aber verdammt gut darin, andere zu manipulieren. Mein Gott, Ivy, der Mann hat versucht, mich zur Beute einer Vol mondjagd zu machen!« Ich warf frustriert die Arme hoch.

»Du hast doch seine Gärten gesehen, und den künstlichen Wald. Er ist ein Elf! Genau wie Quen und Jonathan.«

Ivy schüttelte den Kopf. »Sie sind ausgestorben, restlos.

Was hätten sie für einen Vorteil davon, sogar den Inderlandern ihre Existenz zu verheimlichen? Du weißt doch, wie viel Geld wir für gefährdete Spezies ausgeben, besonders für intel igente.«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. Ihre Ignoranz machte mich rasend. »Die Menschen haben sie immer gehasst, weil sie ihre Kinder gestohlen und gegen ihre eigenen schwächlichen Neugeborenen ausgetauscht haben. Für mich wäre das Grund genug, die Klappe zu halten und den Kopf einzuziehen, bis al e denken, ich wäre tot.«

Ivys räusperte sich skeptisch, aber ich konnte sehen, dass sie ins Wanken geriet. »Er arbeitet mit Kraftlinien«, sagte ich drängend. »Und du hast es selbst gesagt: Schließe das Unmögliche aus, und was dann übrig bleibt, egal, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, muss die Wahrheit sein.

Und er ist weder ein Mensch noch eine Hexe.« Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Erinnerung an meine Zeit als Nerz, als ich sowohl Trent als auch Jonathan gebissen hatte. »Kann er gar nicht sein, denn sein Blut schmeckt nach Zimt und Wein.«

»Er ist ein Elf«, sagte Ivy tonlos. Ich öffnete die Augen und sah, dass sie strahlte. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass er nach Zimt schmeckt?« Sie rutschte vom Tresen und kam lautlos auf dem Boden auf.

Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. »Ich dachte, das sei eine Nebenwirkung der Drogen gewesen, mit denen er mich ruhig gestel t hatte.« Es gefiel mir nicht, dass die Erwähnung von Blut eine so energische Reaktion ausgelöst hatte. Aber das lag bestimmt nur daran, dass wir Trents Abstammung entschlüsselt hatten, und nicht an meinem rasenden Puls und den schweißnassen Händen. Trotzdem. . das gefiel mir ganz und gar nicht. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich sah sie warnend an und zog mich vorsichtshalber hinter die Arbeitsplatte zurück.

Okay, nun kannte ich also Trents Geschichte. Mit dieser Information konnte ich mir bestimmt eine Privataudienz verschaffen, aber wie erklärt man einem Serienkil er, dass man sein Geheimnis kennt, ohne hinterher in einem Sarg zu landen?

»Du wirst ihm auf keinen Fal sagen, dass du es weißt«, sagte Ivy warnend, sah mich aber gleichzeitig entschuldigend an und lehnte sich demonstrativ gegen die Spüle, um mir zu zeigen, dass sie mein Bedürfnis nach Abstand respektierte.

»Ich muss mit Trent sprechen, und wenn ich ihm das schön verpackt serviere, muss er mit mir reden. Mir kann gar nichts passieren, ich habe ihn schließlich immer noch in der Hand.«

»Edden wird dir eine Belästigungsklage an den Hals hängen, wenn du ihn auch nur anrufst«, gab Ivy zu bedenken.

Mein Blick blieb an der Kekstüte hängen, deren Logo eine ausladende Eiche mit einem kleinen Schindelhäuschen zeigte. Wie in Zeitlupe zog ich die Tüte zu mir rüber und suchte so lange darin herum, bis ich eine Keksfigur fand, die noch vol kommen intakt war. Ivy schaute erst auf die Packung, dann zu mir. Ich konnte sehen, dass sie dasselbe dachte wie ich. Sie schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln und ließ kurz ihre Zähne aufblitzen, was sie gleichzeitig durchtrieben und schüchtern wirken ließ.

Mich durchfuhr ein kurzer Schauer. »Ich denke, ich weiß, wie wir seine Aufmerksamkeit erregen können«, sagte ich, biss dem Keksfigürchen säuberlich den Kopf ab, und wischte mir die Schokoladenkrümel aus dem Mundwinkel. Doch in meinem Hinterkopf tauchte eine leise Stimme auf und stel te eine Frage, auf die ich ohne Nicks anhaltende Sorge wohl nie gekommen wäre: Wurde diese elektrisierende Vorfreude durch die Aussicht auf das Gespräch mit Trent ausgelöst. .

oder durch den flüchtigen Blick auf diese strahlendweißen Zähne?

23

Der Dieselmotor des Busses dröhnte ohrenbetäubend, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte und mühsam den Hügel hocharbeitete. Der Fahrer hatte al e Mühe, sie in der Spur zu halten.

Ich wartete auf dem ungepflegten Gehweg, bis ich hinter ihm die Straße überqueren konnte. Der gedämpfte Verkehrslärm im Hintergrund wurde von Vogelgesang, Insekten und dem gelegentlichen Quaken einer Ente überlagert. Mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, drehte ich mich um.

Es war ein Tiermensch. Das dunkle Haar reichte ihm bis zu den Schultern, und sein durchtrainierter Körper verriet, dass er nicht nur auf vier Beinen ein ausdauernder Läufer war.

Sein Blick glitt von mir zum Park hinüber, dann lehnte er sich an den Baum, unter dem er stand und zog sich den abgewetzten Ledermantel zurecht. Ich zögerte, als mir einfiel, woher ich ihn kannte - ich hatte ihn in der Universität gesehen -, aber er wich meinem Blick aus und schob sich den Hut tief in die Stirn. Er wol te etwas von mir, wusste aber offensichtlich, dass ich beschäftigt war, und würde warten.

Einzelgänger verhielten sich so, und auch seine selbstbewusste, reservierte Ausstrahlung deutete darauf hin, dass er einer war. Wahrscheinlich hatte er einen Auftrag für mich, wol te aber nicht einfach vor meiner Tür auftauchen, sondern eine günstige Gelegenheit abwarten, wenn ich Zeit für ihn hätte. So etwas war schon öfter vorgekommen.

Tiermenschen neigten dazu, einen für mysteriös und spirituel zu halten, wenn man auf heiligem Boden lebte.

Ich respektierte seine professionel e Einstel ung, also wandte ich mich ab, schlenderte den Gehweg entlang und genoss die Mittagssonne auf meinen Schultern. Ich mochte den Eden Park, besonders diesen wenig genutzten Teil davon. Das Kunstmuseum, in dem Nick arbeitete, war nur wenige Blocks entfernt, die Straße runter und manchmal nahmen wir unser Mittag- beziehungsweise Abendessen mit hierher, machten ein Picknick und genossen die schöne Aussicht über Cincinnati. Mein Lieblingsplatz lag al erdings an einer anderen Ecke, da man von dort aus in die entgegengesetzte Richtung sehen konnte, über den Fluss hinweg bis zu den Hol ows.

Mein Dad hatte mich immer hierhin mitgenommen, fast jeden Samstag. Wir hatten Donuts gegessen und mit den Krümeln die Enten gefüttert. Meine Stimmung verdüsterte sich, als ich mich an dieses eine Mal erinnerte, als er mich nach einer der wenigen Streitereien mit meiner Mutter hierhergebracht hatte. Es war Nacht gewesen, und wir hatten die glitzernden Lichter der Hol ows betrachtet, die sich im Fluss spiegelten. Während sich die Welt um uns herum weiterdrehte, war es, als stünde für uns die Zeit stil , als weigere sich der Moment zu vergehen und dem nächsten Platz zu machen. Seufzend wickelte ich mich in meine kurze Lederjacke und konzentrierte mich darauf, wohin ich trat.

Ich hatte gestern noch eine der Kekstüten per Eilkurier zu Trent geschickt, versehen mit einer Karte, auf der einfach nur stand: »Ich weiß es.« Sowohl die Kekse selbst als auch die Verpackung strotzten nur so vor verklärten Klischees sowohl über Elfen als auch über Magie an sich. Kitschiges Zeug eben, das selbst in den aufgeklärten Zeiten nach dem Wandel nie ganz aus der Mode gekommen war. Prompt war ich am Morgen durch das Klingeln des Telefons geweckt worden. Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, verstummte es. Und klingelte dann wieder und wieder und wieder.

Acht Uhr morgens ist für Hexen eine wahrhaft unchristliche Zeit - ich hatte nur vier Stunden geschlafen -, aber Jenks konnte den Hörer nicht abnehmen, und Ivy aufzuwecken war gar keine gute Idee. Langer Rede kurzer Sinn, Trent lud mich auf eine Tasse Tee in seinen Garten ein.

Als ob ich so dämlich wäre. Ich erklärte Jonathan, dass ich Kalamack um vier an der Twin Lakes Bridge im Eden Park treffen würde, also direkt nach seinem Nickerchen.

Twin Lakes Bridge war der hochtrabende Name für einen kleinen Betonbogen, der den Vorteil hatte, dass ich den Trol kannte, der darunter hauste und ich mir ziemlich sicher war, dass ich mich im Zweifelsfal auf ihn verlassen konnte.

Außerdem würde das Geräusch der künstlichen Stromschnel en jeden Lauschzauber wirkungslos machen. An diesem Sonntag fand noch dazu ein Footbal spiel statt, weshalb der Park so gut wie ausgestorben sein würde - also ausreichend Diskretion bot für ein ungestörtes Gespräch, aber noch genug Zeugen, um Trent nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen, wie etwa, mich einfach umzubringen.

Als ich vom Gehweg hochsah, entdeckte ich mitten im Halteverbot Glenns zivilen Dienstwagen. Wahrscheinlich war er dazu abgestel t worden, Trent im Auge zu behalten. Sehr schön. Das ersparte mir die unangenehme Aufgabe, irgendeine von Edden eingesetzte Wache außer Gefecht zu ttzen, damit Trent und ich nicht gestört würden.

Ich hatte darauf geachtet, bis auf meinen Ring keinerlei Zauber bei mir zu haben, ebenso wenig eine hinderliche Tasche. So hatte ich nur meinen Busfahrschein und meinen kaum genutzten Führerschein eingesteckt. Auf diese Weise konnte ich schnel er laufen, fal s Trent Mist bauen sol te, und ich gab ihm keine Möglichkeit zu behaupten, ich hätte ihm heimlich einen Zauber angehängt.

Langsam begannen meine Waden gegen den Stechschritt zu protestieren, den ich angeschlagen hatte. Ich sah mich in dem großen Park um und fand ihn so wenig besucht vor, wie ich gehofft hatte. Ich war eine Haltestel e weiter gefahren als nötig, da ich mir vor dem Treffen noch einen Überblick verschaffen wol te. Außerdem war es unmöglich, von einem Bus aus einen guten Auftritt hinzulegen. Da half nicht einmal ein Outfit aus Lederjacke, dazu passender Hose und rotem Spaghettiträgertop.

Ich ging langsamer und nahm die Umgebung in mich auf: Rund um den Teich, dessen Wasser durch das Kupfersulfat leicht grünstichig war, wuchs dichtes, saftiges Gras. Die Bäume leuchteten in al en Farben des Herbstes, noch unberührt vom ersten Frost. Das Rot von Trents Decke stach deutlich hervor. Er war al ein und gab vor, in ein Buch vertieft zu sein. Und wo mochte Glenn sein? Wenn er nicht auf einem der wenigen Bäume saß oder das Ganze von einem der kleinen Apartments auf der anderen Straßenseite aus beobachtete, konnte er eigentlich nur in den öffentlichen Toiletten auf der Lauer liegen.

Unbeschwert schlenderte ich den Weg entlang und winkte Jonathan fröhlich zu, der missmutig mitten in der Sonne stand und die Limousine bewachte. Er hob grimmig die Hand und sprach in seine Armbanduhr. Mir kam der beunruhigende Gedanke, dass Quen wahrscheinlich irgendwo in den Bäumen saß und mich beobachtete. Ich zwang mich dazu, gelassen weiterzugehen und betrat so gut wie lautlos die öffentlichen Toiletten.

Das kleine Gebäude war mit seinen efeubewachsenen Mauern und dem Schindeldach überraschend hübsch, ein Relikt vergangener Zeiten. Sowohl die Dauerblüher ringsherum als auch die eisernen Fenstergitter und Türen verliehen ihm eine gewisse Zeitlosigkeit. Wie ich es geahnt hatte, fand ich Glenn in der Herrentoilette. Er stand mit dem Rücken zu mir auf einer Klobril e und beobachtete Trent durch ein Fernglas. Erleichtert stel te ich fest, dass er von hier aus auch die Brücke im Blick hatte.

»Hal o, Glenn.« Er wirbelte herum und wäre fast von der Toilette gefal en.

»Verdammt noch mal«, fluchte er und warf mir einen düsteren Blick zu, bevor er sich wieder auf Trent konzentrierte.

»Was machst du denn hier?«

»Dir auch einen schönen guten Morgen«, erwiderte ich höflich, während ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte, um ihn anschließend zu fragen, warum er sich am Tag zuvor nicht für mich eingesetzt und mich nicht in seinem Team behalten hatte. In dem nach Chlor stinkenden Raum gab es nicht einmal Trennwände. In der Damentoilette befanden sich wenigstens Kabinen.

Seine Nackenmuskeln spannten sich an, aber er ließ Trent keine Sekunde aus den Augen. Immerhin etwas.

»Geh nach Hause, Rachel. Ich weiß nicht, wie du herausgefunden hast, dass Mr. Kalamack hier ist, aber wenn du auch nur in seine Nähe kommst, werde ich dich höchstpersönlich der LS. übergeben.«

»Hör zu, das von gestern tut mir leid«, sagte ich ehrlich.

Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte warten müssen, bis du den Tatort frei gibst. Aber heute bin ich auf Einladung von Trent hier, also geh und wandel dich.«

Glenn nahm das Fernglas runter und schaute mich fassungslos an.

»Großes Pfadfinderehrenwort«, antwortete ich und salutierte ironisch.

Sein Blick wurde nachdenklich. »Das hier ist nicht mehr dein Fal , also verschwinde, bevor ich dich festnehmen lasse.«

»Du hättest mich gestern wenigstens zu der Vernehmung mitnehmen können«, erwiderte ich vorwurfsvol . »Warum hast du zugelassen, dass sie mich abschieben? Das war mein Fal !«

Er legte warnend die Hand an das Funkgerät, das er neben seiner Waffe am Gürtel trug. In seinem Blick lag eine solche Wut, dass mir klar wurde, dass es hier eigentlich um irgendeinen Vorfal aus seiner Vergangenheit gehen musste, mit dem ich nichts zu tun hatte.

»Du hast den Prozess ruiniert, den ich gerade gegen ihn aufgebaut habe. Ich habe dir gesagt, dass du dich raushalten sol st, aber das war ja anscheinend zu viel verlangt.«

»Ich habe mich doch entschuldigt! Und ohne mich hättest du gar nichts, was du aufbauen könntest!« Frustriert stemmte ich eine Hand in die Hüfte und hob die andere in einer eindeutigen Geste, doch da kam ein hässlicher Mann in einem hässlichen Mantel herein. Er blieb wie angewurzelt stehen, musterte erst den akkurat gekleideten Glenn auf dem Klo, dann mich in meinem Lederoutfit.

»Äh, ich komme dann wohl besser später wieder«, erklärte er hastig und verzog sich.

Ich wandte mich wieder Glenn zu und starrte zu ihm hoch.

»Deinetwegen kann ich jetzt nicht mehr für das FIB arbeiten.

Dass ich dich über mein Treffen mit Trent informiere, ist reine Höflichkeit unter Kol egen. Also halt dich zurück und komm mir nicht in die Quere, verstanden?«

»Rachel. .«

Ich war kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren. »Leg dich besser nicht mit mir an, Glenn. Trent hat mich um dieses Treffen gebeten.« Die feinen Sorgenfalten um seine Augen vertieften sich. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang. Normalerweise hätte ich ihm gar nichts von der ganzen Sache erzählt, aber dann hätte er wahrscheinlich von seinem Dad bis zum Bombenkommando al es antanzen lassen, wenn er mich mit Trent gesehen hätte.

»Haben wir uns verstanden?«, fragte ich scharf, und er sprang von seinem Aussichtsposten.

»Wenn ich rauskriege, dass du mich angelogen hast. .«

»Ja, ja, al es klar.«

Er streckte die Hand aus, und sofort sprang ich mit einer Drehung zur Seite. Warnend schüttelte ich den Kopf. Glenn war vol kommen baff über die Schnel igkeit meiner Reaktion.

»Du kapierst es einfach nicht, oder? Ich bin kein Mensch, das hier ist eine Sache zwischen Inderlandern, und du bist damit hoffnungslos überfordert.« Mit dieser Weisheit, die ihm sicher schlaflose Nächte bereiten würde, schlenderte ich in die Sonne hinaus, überzeugt davon, dass er zwar ein wachsames Auge auf mich haben, mir aber nicht in die Quere kommen würde.

Ich schlenkerte mit den Armen, um die verbliebene Anspannung abzuschütteln, aber als ich Jonathans Blick spürte, begann meine Haut zu prickeln. Ich ignorierte ihn und versuchte auf dem Weg zur Brücke Quen auszumachen.

Auf der anderen Seite der beiden Teiche saß Trent auf seiner Decke. Er hielt zwar immer noch das Buch in der Hand, aber er wusste jetzt, dass ich da war. Er wol te mich warten lassen, was mich nicht weiter störte, denn ich war noch nicht bereit für ihn.

Tief im Schatten unter der Brücke schäumte der kleine, schnel fließende Strom, der die beiden Teiche miteinander verband. Als mein Fuß die Brücke berührte, erbebte ein violetter Schatten in der Mitte des Bachs.

»Heydi-hey«, rief ich und blieb stehen, kurz bevor ich den höchsten Punkt des Brückenbogens erreichte. Ja, das war ein ziemlich dämlicher Gruß, aber er entsprach der Tradition der Trol e. Wenn ich Glück hatte, war Sharps noch immer Herr dieser Brücke.

»Heydi-ho«, antwortete der dunkle Wasserwirbel und erhob sich tropfend, bis ein zerklüftetes Gesicht erkennbar wurde. Die blaue Haut war mit Algen überwuchert, und die nun auftauchenden Fingernägel waren weiß vom Mörtel, den er von der Unterseite der Brücke abkratzte, um ab und zu seinen Speiseplan zu erweitern.

»Sharps«, rief ich erfreut. Er war es tatsächlich, erkennbar an dem weiß leuchtenden Auge, das seit einem lange zurückliegenden Kampf blind war. »Na, wie fließt das Wasser?«

»Officer Morgan«, antwortete er müde. »Können wir viel eicht noch bis Sonnenuntergang warten? Ich verspreche auch, heute Nacht noch zu verschwinden. Aber jetzt ist die Sonne einfach noch zu grel .«

Ich musste lächeln. »Du kannst mich ab jetzt einfach Rachel nennen, ich bin nicht mehr bei der LS. Von mir aus brauchst du nicht umzuziehen.«

»Wirklich?« Der Wasserwirbel versank wieder, bis nur noch der Mund und das gesunde Auge zu sehen waren. »Das ist gut. Du bist nett. Nicht wie der Hexer, den sie jetzt haben.

Taucht immer mittags auf, mit Elektroschockern und furchtbar lauten Glocken.«

Ich nickte mitfühlend. Die Haut der Trol e war extrem empfindlich, weshalb sie direktes Licht möglichst mieden.

Leider hatten sie die Angewohnheit, die Brücken, unter denen sie hausten, auf die Dauer zu zerstören. Darum wurden sie regelmäßig von der I. S. vertrieben. Doch es war ein aussichtsloser Kampf: Sobald ein Trol ging, nahm ein anderer seinen Platz ein, und wenn der erste dann zurückkam und seine Wohnstatt wiederhaben wol te, gab es regelmäßig Ärger.

»Hey, Sharps. Du könntest mir da bei etwas helfen.«

»Ich werde tun, was ich kann.« Ein magerer, bläulich-violetter Arm erhob sich aus dem Wasser und pflückte ein Stückchen Mörtel von der Brückenunterseite.

Ich sah zu Trent, der gerade aufstand, wohl um zu mir rü-

berzukommen. »War heute Morgen irgendjemand in der Nähe der Brücke? Viel eicht um einen Zauber oder ein Amulett hier zu verstecken?«

Der Wirbel verlagerte sich zur gegenüberliegenden Seite der Brücke, wo er sich im Schatten verkroch, sodass ich ihn nicht mehr klar erkennen konnte. »Sechs Kinder, die Steine von der Brücke geworfen haben, ein Hund, der an das Geländer gepinkelt hat, drei erwachsene Menschen, zwei Spaziergänger, ein Tiermensch und fünf Hexen. Vor Sonnenaufgang zwei Vampire. Jemand wurde gebissen. Ich habe das Blut gerochen, in der südwestlichen Ecke.«

Ich schaute zu der angegebenen Stel e, sah aber nichts.

»Aber keiner hat etwas hinterlassen?«

»Nur das Blut«, flüsterte er. Es klang wie Wasserblasen, die an Steinen zerplatzen.

Trent war inzwischen dabei, ein paar Grashalme von seiner Hose zu wischen. Nervös zog ich einen meiner Träger zurecht. »Danke, Sharps. Ich werde auf deine Brücke aufpassen, wenn du eine Runde schwimmen wil st.«

»Wirklich?«, fragte er ungläubig, aber hoffnungsvol . »Das würden Sie für mich tun, Officer Morgan? Sie sind eine so nette Frau.« Der Wasserstrudel zögerte. »Und Sie passen wirklich auf, dass niemand meine Brücke übernimmt?«

»Ich werde mich bemühen. Es kann sein, dass ich plötzlich wegmuss, aber ich werde so lange wie möglich hierbleiben.«

»So eine nette Frau«, wiederholte er. Ich lehnte mich über das Geländer und sah einen erstaunlich langen, violetten Schatten unter der Brücke hervorkommen, der um die Steine herumschwamm und dann im tiefen Wasser des hinteren Beckens verschwand. Trent und ich waren jetzt zwar ungestört, aber das Revierverhalten der Trol e war sehr ausgeprägt, und ich wusste, dass uns Sharps keine Sekunde aus den Augen lassen würde. Mit Glenn auf der einen und Sharps auf der anderen Seite fühlte ich mich sicher, auch wenn das viel eicht nicht ganz gerechtfertigt war.

Ich lehnte mich mit dem Rücken zur Sonne - und Glenn

-gegen das Geländer und beobachtete, wie Trent auf mich zukam. Auf dem Rasen hinter ihm lag noch die Decke, auf der zwei Weingläser, eine eisgekühlte Flasche und eine Schale mit Erdbeeren aufgebaut worden waren. Die Früchte hatten keine Saison mehr, und dadurch sah das Arrangement mehr nach Juni als nach September aus. Trent wirkte gelassen und selbstsicher, doch ich erkannte die Nervosität hinter der Maske, und sie ließ ihn so jung wirken, wie er tatsächlich war.