IX Die Vision von der okzidentalen Rationalisierung. Professor Weber lehrt wieder

Es war eine folgenreiche Idee des US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons – dem bis heute einflussreichsten Importeur Max Webers in den englischsprachigen Raum –, seine 1930 erschienene englische Übersetzung der Weber’schen Schriften über die Kulturbedeutung des Protestantismus mit dessen Vorbemerkung zur Buchveröffentlichung seiner gesammelten Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen einzuleiten. Parsons muss bekannt gewesen sein, dass Weber diesen Text erst im Jahr 1920 verfasst hatte und dass er darum aus der rückwärtsgewandten Perspektive des Verfassers der Studien sowohl über den Protestantismus als auch über die chinesischen, indischen und vorderasiatischen «Systeme der Lebensreglementierung» geschrieben worden war. Parsons formulierte als Begründung: «Er wurde in diese Übersetzung aufgenommen, da er einiges über den allgemeinen Hintergrund jener Ideen und Probleme mitteilt, in den diese Untersuchung nach Webers eigener Meinung gehört.» Das bleibende Problem dabei ist, dass die Leser dieser bis heute maßgeblichen Übersetzung glauben müssen, dass Weber die Vorbemerkung als Einleitung zu seinen Arbeiten über Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus geschrieben habe. Wer den werkgeschichtlichen Zusammenhang kennt, weiß, dass dieses Missverständnis zu mancherlei Fehlinterpretationen geführt hat. Der Text der Vorbemerkung griff weit über Webers religionssoziologische Arbeiten hinaus: In ihm strömten die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschertätigkeit zusammen. So stellt er bis heute eine Art von «Schlüssel» dar – ein nachträglich formuliertes «Programm» seiner materiellen Untersuchungen. Darum soll er hier als tragfähige Ausgangsposition für eine Gesamtinterpretation des Weber’schen Werks behandelt werden, dessen einzelne Bausteine uns bereits in den vorangegangenen Abschnitten begegnet sind.

In der Vorbemerkung tritt uns Weber als Universalhistoriker entgegen, den eine Frage beschäftigte: «welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?» An diese Frage anschließend, zählte Weber jene großen gesellschaftlichen Bereiche auf, in denen sich in seinen Augen maßgebliche Unterschiede zwischen dem Okzident und den übrigen Kulturbereichen verzeichnen lassen:

– die Wissenschaften: Als dem Okzident eigentümlich betrachtete Weber die mathematische Fundamentierung, den rationalen «Beweis», das rationale Experiment, die biologische/biochemische Grundlage der Naturwissenschaften, eine rationale Chemie, das «thukydideische Pragma» der Geschichtsschreibung, die Systematik und die rationalen Begriffe der Staatslehre, die strengen Schemata und Denkformen des Rechts.

– die Kunst: Nur im Okzident gab es – nach Weber – eine rationale harmonische Musik, die Grundinstrumente Orgel, Klavier, Violine, als Mittel zu deren Umsetzung, die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes, eine nur für den Druck gedachte Presse.

– die Verwaltung: Nur im Okzident beobachtete Weber jenen rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft, der die Ausbildung geschulter «Fachmenschen» übernimmt. Insbesondere dem «Fachbeamten», als dem «Eckpfeiler des modernen Staats und der modernen Wirtschaft», maß Weber die allergrößte Bedeutung für die Sonderentwicklung des Okzidents zu.

– den Staat: Schon den «Ständestaat» betrachtete Weber als Spezifikum des Okzidents, ebenso wie die Institution von Parlamenten. Aber der «Staat» als eine «politische Anstalt», mit einer rational gesetzten «Verfassung», mit rational gesetztem Recht und einer an rationalen, gesetzten Regeln («Gesetzen») orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, diese Kombination von Merkmalen und ihre Vereinigung in dieser Institution kannte – nach Weber – nur der Okzident.

– die Wirtschaft: Hier verortete er das zentrale Spezifikum des Okzidents: den Kapitalismus.

War es ihm ein Anliegen gewesen, jeweils deutlich zu machen, welche Ansätze es in den nichtwestlichen Zivilisationen in eine vergleichbare Entwicklungsrichtung gegeben hatte und wodurch sich die spezifisch okzidentale Entwicklung davon abhob, so bewegte ihn diese Zielsetzung bei der Charakterisierung des abendländischen Kapitalismus – dieser «schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens» – in verstärkter Weise.

Dessen spezifische Charakteristika waren in seiner Sicht die folgenden:

– die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit,

– die an den Chancen des Gütermarktes orientierte rationale Betriebsform,

– die Trennung von Haushalt und Betrieb,

– die rationale Buchführung.

In der Analyse Max Webers erlangten diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus ihre eigentliche Bedeutung erst durch ihren Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation, die das wesentliche Moment der Kalkulierbarkeit bewirkte. Für ihn und die von ihm angestrebte «Universalgeschichte der Kultur» stellte nicht die wechselnde Entfaltung kapitalistischer Betätigung das Objekt seiner Untersuchungen dar, sondern die Entstehung des «bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit». Oder wie er es alternativ formulierte: «die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart, die freilich mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation zwar im nahen Zusammenhang steht, aber natürlich doch nicht einfach identisch ist».

Hatte Weber mit der Behandlung des Kapitalismus seine Bestandsaufnahme der wesentlichsten Spezifika der abendländischen Entwicklung abgeschlossen, so wandte er sich anschließend verschiedenen Dimensionen einer möglichen Erklärung für diese Sonderentwicklung des Okzidents zu, wobei er in einkreisender Manier vorging. Deswegen und auch wegen der durchgängigen dialektischen Verknüpfung möglicher kausaler Zusammenhänge sind gerade diese Passagen so gut dafür geeignet, das Vorgehen und die Zielrichtung der Weber’schen Soziologie zu verdeutlichen: «Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften. Die Entwicklung dieser Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun andererseits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen. […] Auch die Entstehung der Mathematik und Mechanik war nicht durch kapitalistische Interessen bedingt. Wohl aber wurde die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse: dies für die Lebensordnung unserer Massen Entscheidende, durch ökonomische Prämien bedingt, welche im Okzident gerade darauf gesetzt waren. Diese Prämien aber flossen aus der Eigenart der Sozialordnung des Okzidents. Es wird also gefragt werden müssen: aus welchen Bestandteilen dieser Eigenart, da zweifellos nicht alle gleich wichtig gewesen sein werden. Zu den unzweifelhaft wichtigen gehört die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung. Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formellen Regeln, ohne welche […] kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist. Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen Vollendung nur der Okzident zur Verfügung. Woher hat er jenes Recht? wird man also fragen müssen. Es haben, neben anderen Umständen, auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschulten Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet […] Aber keineswegs nur oder vornehmlich sie. Und nicht sie haben jenes Recht aus sich geschaffen. Sondern noch ganz andere Mächte waren bei dieser Entwicklung tätig. Und warum taten die kapitalistischen Interessen das gleiche nicht in China oder Indien? Warum lenkten dort überhaupt weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind?»

An dieser Stelle schlug die ursprüngliche Fragestellung Webers in eine neue um: Nicht mehr die Frage nach den Ursachen des spezifisch abendländischen Kapitalismus steht im Vordergrund, sondern die Frage nach den Merkmalen eines «spezifisch gearteten ‹Rationalismus› der okzidentalen Kultur» und nach dessen Ursachen und Wirkungen. Der seiner Meinung nach fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, seien vor allem die ökonomischen Bedingungen zu berücksichtigen, aber auch der umgekehrte Kausalzusammenhang dürfe darüber nicht unbeachtet bleiben: «Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.»

Weber behauptete in diesem Zusammenhang von seinen Protestantismus-Untersuchungen, dass diese versucht hätten, in einem wichtigen Einzelpunkt der Bedingtheit der Entstehung einer «Wirtschaftsgesinnung», des «Ethos», einer Wirtschaftsform, durch bestimmte religiöse Glaubensinhalte näher zu kommen, und zwar an dem Beispiel der Zusammenhänge des modernen Wirtschaftsethos mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus. Dabei sei jedoch nur der einen Seite der Kausalbeziehung nachgegangen worden. Die Aufsätze über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, also die Studien über die Glaubenswelten Chinas, Indiens und Palästinas, hätten hingegen dem Versuch gedient, «in einem Überblick über die Beziehungen der wichtigsten Kulturreligionen zur Wirtschaft und sozialen Schichtung ihrer Umwelt, beiden Kausalbeziehungen soweit nachzugehen, als notwendig ist, um die Vergleichspunkte mit der weiterhin zu analysierenden okzidentalen Entwicklung zu finden».

Weber schrieb diesen Text nicht mehr an seinem Schreibtisch in Heidelberg, sondern bereits in München. Dass es in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt schon bald auf das Ende seines Lebens und wissenschaftlichen Arbeitens zugehen sollte, konnte niemand wissen. Er selbst ging nicht davon aus, ganz im Gegenteil, für ihn hatte eine neue, hoffnungsvolle Phase seines Lebens begonnen. Die Protestantismus-Studien lagen lange hinter ihm, seine Exkursionen in die chinesischen, indischen und vorderasiatischen Kulturzusammenhänge hatte er gedanklich abgeschlossen. Wer den Weg seiner Fragestellungen und die Ergebnisse, zu denen diese führten, als Ganzes vor Augen hat, erkennt, dass hier ein Wissenschaftler zu einem Gesamtbild gelangt war, das «nur noch» niedergeschrieben werden musste. Seine Sicht der okzidentalen Kulturentwicklung als Endpunkt einer universalen Rationalisierung aller Lebensbereiche war das Ergebnis aller Stationen seines Lebens und seines Werkes. Es war ein langwieriger und keineswegs zielstrebiger Weg gewesen, an dessen Ende Weber nun – im postrevolutionären München –diese Vorbemerkung schrieb. Es ist, als wenn er plötzlich die Steine eines puzzleartigen Mosaiks zusammenfügt, als ob alles, was er bis dahin behandelt hatte, seinen adäquaten Platz gefunden hatte. Diese abgeklärte Sicht mag insgesamt auch damit zusammenhängen, dass Weber zu diesem Zeitpunkt in zweierlei Hinsicht wieder einen festen Standort gefunden zu haben glaubte: München war nicht nur ein beruflicher Neuanfang, die neue Wirkungsstätte versprach auch eine Neuausrichtung seines ganzen Lebens.

Wie war es dazu gekommen, dass der entpflichtete Honorarprofessor der Universität Heidelberg am 26. März 1919 den an ihn ergangenen Ruf des «Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus» angenommen hatte? Wieso war ihm «im Namen der Regierung des Volksstaates Bayern» die Stelle als «ordentlicher Professor der Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie» an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München in etatmäßiger Eigenschaft übertragen worden? Max Weber übernahm mit vereinbartem Dienstantritt zum 1. April 1919 die Nachfolge von Lujo Brentano, dem prominenten Vertreter des linksliberalen Flügels der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, der diesen Münchner Lehrstuhl von 1891 bis 1914 innegehabt hatte.

Der Berufung Webers waren heftige Turbulenzen vorausgegangen. Am Abend des 7. November 1918 hatte der Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) in Bayern, Kurt Eisner, die Revolution ausgerufen, das Haus Wittelsbach für abgesetzt erklärt, den bayerischen König Ludwig III. zur Flucht gezwungen und am Tag darauf eine sozialistische «Volksregierung» der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte gebildet, mit sich selbst als deren Ministerpräsidenten und Außenminister. Im Rahmen der vielfältigen Umwälzungsabsichten dieser Regierung eines «Freien Volksstaats Bayern» sollte unbedingt ein sozialistischer Wissenschaftler auf den Brentano-Lehrstuhl berufen werden. Erst nachdem Otto Bauer und Karl Kautsky abgelehnt hatten, nahm der Hochschulreferent des Kultusministeriums, Franz Matt, die Angelegenheit wieder in seine erfahrenen Beamtenhände. Abweichend von der tatsächlichen Vorschlagsliste der Fakultät, die den Nationalökonomen Moritz Julius Bonn an die erste Stelle und die Nationalökonomen Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Max Weber gemeinsam auf die zweite Stelle gesetzt hatten, beschloss der bayerische Ministerrat in seiner Sitzung am 18. Januar 1919, die Verhandlungen zuerst mit Max Weber aufzunehmen. Die offensichtlich beabsichtigte Ruferteilung an Weber wurde am 26. März 1919 auf einer Sitzung des Aktionsausschusses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte heftig kritisiert: Es wurde gefordert, den Lehrstuhl mit einer Persönlichkeit zu besetzen, die «die Gesinnung der Jugend mit sozialistischem Geist zu durchtränken versteht». Max Weber habe sich dagegen stets in «bürgerlich-kapitalistischen Gedankengängen» bewegt. In der Resolution verlangte der Aktionsausschuss, «daß der freigewordene Lehrstuhl für Nationalökonomie lediglich von einem Manne besetzt wird, der tiefes Verständnis hat für die Nöte des schwerringenden Volkes, vor allem aber dem Sozialismus nicht feindselig gegenübersteht». Trotz dieser Widerstände erhielt Max Weber, mit Zustimmung des sozialdemokratischen Kultusministers Johannes Hoffmann und durch die engagierte Mithilfe des damaligen bayerischen Finanzministers Edgar Jaffé, den schriftlichen Ruf. Verständlicherweise zweifelte der Jurist Weber, ob in diesem «politischen Durcheinander» seine Anstellung formell in Ordnung gehen würde.

Es war weder die Begeisterung für die Wiederaufnahme des «Professor-Spielens» – wie er selbst mehrfach diese Tätigkeit nannte – noch die Liebe zur Münchner Universität, die Weber zur Rufannahme veranlassten, sondern zwei Motivkomplexe: Seine seit 1899 geführte Existenz als Rentier, der ausschließlich von den Kapitalerträgen seiner Mutter und seiner Frau lebte, würde er nach Kriegsende nicht fortsetzen können. Nachdem eine hauptamtlich politische Karriere für ihn nicht (mehr) möglich war, gab es zur Wiederaufnahme der bezahlten Arbeit als Universitätsprofessor keine Alternative.

Vor allem aber ging Max Weber an die Münchner Universität – oder genauer: in diese Stadt – einer Frau wegen, die seine große, leidenschaftliche, späte Liebe geworden war. Elisabeth Freiin von Richthofen, geboren 1874, war die älteste Tochter eines preußischen Offiziers, des Friedrich Freiherrn von Richthofen, und seiner bürgerlichen Ehefrau, Anna Marquier. Aufgrund der Stellung des Vaters in der preußischen Okkupationsverwaltung nach dem Krieg 1870/71 wurden die drei gemeinsamen Töchter – Else, Frieda und Johanna – im damaligen «Reichsland Elsass-Lothringen» geboren. Else von Richthofen hatte im Herbst 1891 ein Examen als Lehrerin absolviert. Nach mehrjähriger Berufstätigkeit, während der sie sich auf ein Universitätsstudium vorbereitete, begegnete sie Max und Marianne Weber Mitte der 1890er-Jahre zuerst in Freiburg. Sie freundete sich mit der vier Jahre älteren Marianne Weber an und hörte, mit einer Sondererlaubnis, Vorlesungen, unter anderem beim jungen Professor Weber. Nach anschließenden Semestern in Heidelberg und in Berlin wurde sie im Jahr 1900 mit einer von Max Weber betreuten Arbeit zum Thema Ueber die historischen Wandlungen in der Stellung der autoritären Parteien zur Arbeiterschutzgesetzgebung und die Motive dieser Wandlungen in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert. Im Anschluss arbeitete Else von Richthofen bis zum Jahr 1902 als erste Fabrikinspektorin des Großherzogtums Baden in Karlsruhe. Im November 1902 heiratete sie den Millionär und Nationalökonomen Edgar Jaffé, der einer jüdischen Familie Hamburger Textilfabrikanten entstammte und sich zwei Jahre später in Heidelberg habilitierte. Nach acht Jahren Tätigkeit in England beim Manchester-Zweig seiner Familie besaß er genügend wirtschaftliche Unabhängigkeit, um sich ausschließlich dem akademischen Leben zu widmen. Mit ihrer Heirat beendete Else Jaffé ihre Tätigkeit als Fabrikinspektorin und wurde Ehefrau, Mutter und Hausherrin der vierstöckigen Villa «Unter der Schanz» in Heidelberg. In dichtem zeitlichen Abstand brachte Else Jaffé in den Jahren 1903 bis 1909 vier Kinder zur Welt. Im September 1906 hatte sie in München den österreichischen Mediziner Otto Gross kennengelernt. Aus dem intensiven Liebesverhältnis zwischen Else Jaffé und Otto Gross entstammte der am 24. Dezember 1907 geborene Sohn Peter, der im Alter von nur acht Jahren verstarb. Allein die Tatsache, dass Max Weber Patenonkel dieses Kindes wurde und er zugleich mit Edgar Jaffé beruflich viel tun hatte, deutet an, wie sehr die beiden Paare vielfältige und enge freundschaftliche Beziehungen untereinander pflegten. Nicht nur die beiden Frauen Marianne Weber und Else Jaffé waren gut miteinander befreundet, auch die beiden Männer hatten wissenschaftlich viel miteinander zu tun: Wie bereits dargestellt, hatte Edgar Jaffé 1904 das Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik gekauft und gab es zusammen mit Max Weber und Werner Sombart als Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik heraus.

Erheblich komplizierter wurden diese Konstellationen, als Else Jaffé noch in der Heidelberger Zeit eine intensive Liebesbeziehung mit Alfred Weber einging, dem jüngeren Bruder von Max Weber, den sie bereits seit ihrer Studienzeit kannte. Zwar geschah dies im vollen Wissen von Edgar Jaffé, der diese Beziehung keineswegs erfreulich fand, sich jedoch damit abfand, in Alfred Weber gewissermaßen einen «Ehemann Nummer zwei» zu akzeptieren. Auch das Ehepaar Max und Marianne Weber hegte erhebliche moralische Vorbehalte. Eine nur vorübergehende Entspannung der Situation stellte sich ein, als Else Jaffé im Jahr 1911 von Heidelberg nach München zog, da Edgar Jaffé im Jahr zuvor den Ruf auf eine Professur an der dortigen Handelshochschule angenommen hatte. Diese ohnehin einigermaßen schwierige Konstellation wurde noch einmal erheblich verwickelter, als Max Weber ab den Jahren 1908/1909 eine zunehmend starke Zuneigung zu Else Jaffé entwickelte, die – nach diversen Tief- und Höhepunkten in den Jahren 1911 bis 1916 –ab Herbst 1918 zu einer heimlichen Liebesbeziehung führte, obwohl sich Max Weber weiterhin an Marianne Weber gebunden fühlte und Else Jaffé (nach der Trennung von Edgar Jaffé) an Alfred Weber.

Durch die große, späte und leidenschaftliche Liebe zu Else Jaffé gelangte Max Weber, der bis dahin kein sonderliches Talent zum Glücklichsein entwickelt hatte, zur festen Überzeugung, dass die Liebe eine Erlösungkraft besitze, die weit über die Befreiung von sexuellen Bedürfnissen hinausgehe. In Else Jaffé glaubte er die Personifikation der Erotik als der «größten irrationalen Lebensmacht» vor sich zu haben, wie er sie in der Zwischenbetrachtung von 1920 beschrieb: «Gerade darin: in der Unbegründbarkeit und Unausschöpfbarkeit des eigenen, durch kein Mittel kommunikablen, darin dem mythischen ‹Haben› gleichartigen Erlebnisses, und nicht nur vermöge der Intensität seines Erlebens, sondern der unmittelbar besessenen Realität nach, weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages.»

Ungeachtet seiner Ernennung zum 6. April 1919 – einem Tag vor Ausrufung der Räterepublik – konnte Weber seine Lehrtätigkeit nicht unmittelbar aufnehmen. Seine Teilnahme an den Friedensverhandlungen in Versailles führte dazu, dass er nach einem kurzen Abstecher in Berlin erst ab der ersten Juniwoche 1919 ins Isartal zurückkehren konnte, wo er sich, im ersehnten Zusammensein mit Else Jaffé in deren bescheidenem Haus «Vogelnest» in Wolfratshausen im Isartal, auf die Wiederaufnahme seiner Universitätslehre vorbereitete. Die Liste der von Weber in den insgesamt drei Semestern seiner Münchner Zeit angebotenen Lehrveranstaltungen ist nicht sonderlich lang: im restlichen Sommersemester 1919, das vor allem für die zurückkehrenden Kriegsteilnehmer organisiert wurde, die Vorlesung Die allgemeinsten Kategorien der Gesellschaftslehre, die der Neuformulierung der ersten Kapitel jener Texte dienten, die später als Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlicht wurden. Für die Vorlesung, für die sich Weber von Stunde zu Stunde vorbereitete, hatten sich 600 Hörer eingeschrieben. Weber präsentierte hier jene dürren Paragraphentexte, die im folgenden Kapitel als seine Allgemeine Soziologie skizziert werden. Im Wintersemester 1919/20 bot Weber eine zweistündige Vorlesung mit dem Titel Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an, die 1923 aus den Vorlesungsmitschriften als Wirtschaftsgeschichte publiziert wurde, sowie eine vierstündige Übung Soziologische Arbeiten und Besprechungen. Auch im Sommersemester 1920 wurden es nicht weniger Studierende. Für die dreistündige Vorlesung Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie) hatten sich 400 Teilnehmer eingeschrieben und ihre Hörergelder bezahlt. Für die einstündige Einführungsvorlesung Sozialismus waren es 600 Hörer, nur der zweistündige Kurs Soziologisches Seminar konnte auf einen kleinen Kreis beschränkt werden.

Es waren keine «normalen» Semester, die Max Weber an der Münchner Universität erlebte, fielen sie doch in eine insgesamt überaus turbulente Periode der bayerischen Geschichte. Dass er in diesen Monaten, die man in jeder Hinsicht – sowohl privat als auch öffentlich – als aufgewühlt bezeichnen kann, hat derart produktiv wissenschaftlich arbeiten können, ist zumindest bewundernswert. Neben seinem häuslichen Schreibtisch in der Schwabinger Seestraße 3c und dem Lesesaal in der Bayerischen Staatsbibliothek diente ihm das Professorenzimmer des Staatswirtschaftlichen Seminars als Arbeitsplatz. Ungeachtet seines festen Vorsatzes, sich vollkommen aus dem politischen Leben herauszuziehen und sich ausschließlich der Arbeit an seinen wissenschaftlichen Vorhaben zu widmen, überschattete eine Vielzahl dramatischer politischer Vorgänge die drei Münchner Semester des Professors Max Weber.