VII Rationalisierung, Intellektualisierung, Entzauberung der Welt. Wissenschaft als Beruf

Am 7. November 1917 hielt Professor Max Weber im «Kunstsaal Steinicke» in München auf Einladung des Landesverbandes Bayern des Freistudentischen Bundes einen Abendvortrag über Wissenschaft als Beruf. Die erheblich überarbeitete Druckfassung dieses Vortrags ist bis heute eines der Monumente der allgemeinen Weber-Rezeption. In ihrer anhaltenden Wirkung ist sie vergleichbar mit seinen Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus und der Druckfassung seiner Rede über Politik als Beruf, die er im gleichen Rahmen eineinhalb Jahre später hielt.

Weber sprach über Wissenschaft in einer Situation, die sowohl für ihn wie für seine Zuhörer nicht einfach war. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges war der nicht felddiensttaugliche Weber zur Reserve-Lazarett-Kommission beim Bezirks- und Garnisonskommando Heidelberg abkommandiert worden, wo er für 42 ihm unterstellte Lazarette die militärische und wirtschaftliche Verantwortung trug. Nach seinem Ausscheiden aus dem militärischen Dienst zum 30. September 1915 war er an seinen Heidelberger Schreibtisch zurückgekehrt und hatte sich erneut in die Materialberge für seine Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen und die geplanten Beiträge für den Grundriß der Sozialökonomik vertieft. Neben diesen inhaltlichen Studien und der damit verbundenen unermüdlichen Organisationsarbeit für dieses Sammelwerk beschäftigten ihn zunehmend mehr seine öffentlichen Stellungnahmen zu Fragen der deutschen Innen- und Außenpolitik und seine Überlegungen über die Verfassungsgestaltung des zukünftigen Deutschlands nach dem absehbaren Ende des Krieges. Die Einladung des Freistudentischen Bundes traf ihn zudem in einer Umbruchsituation seines eigenen Lebens: Gerade war er von Berufungssondierungen aus Wien nach München zurückgekommen und schwankte zwischen seinen beiden eigenen, inneren Berufungen, der Wissenschaft und der Politik. Zudem stand er vor schwerwiegenden privaten Entscheidungen.

Max Webers Münchner Publikum bestand vor allem aus jungen – zum großen Teil fronterfahrenen – Männern, die sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft machten. Sie hatten sich gegen die Mitgliedschaft in einer «farbentragenden», einer «schlagenden» Studentenverbindung entschieden, gehörten als «Freistudenten» zu jenen angehenden Akademikern, die an der Idee von Universität als einer primär wissenschaftlichen Ausbildungs- und Bildungsanstalt orientiert waren und die daran glaubten, dass die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fragen eine Erziehung zur Mündigkeit bewirken könne. Viele seiner Zuhörer erwarteten, dass ihnen ein Professor für Nationalökonomie raten würde, ob sie sich für eine wissenschaftliche Laufbahn entscheiden sollten, was dagegen und dafür spreche, wie sich Wissenschaft als Beruf auch im materiellen Sinne gestaltet. Weber, der ein Jahr später aus seiner ehemaligen Heidelberger Burschenschaft Allemannia austreten sollte, muss mit dieser Münchner Gruppe sympathisiert haben, sonst hätte er deren Einladung nicht angenommen. Webers frei gehaltener Vortrag wurde mitstenographiert, die Veranstalter übergaben ihm die Niederschrift, die Endfassung der überarbeiteten Version ließ auf sich warten, erst im Sommer 1919 wurde sie publiziert, zusammen mit der Druckfassung seiner Rede über Politik als Beruf.

Webers Rede gliederte sich in zwei vermeintlich klar voneinander getrennte Abschnitte. Zuerst sprach er über die «äußeren Bedingungen» des Berufs als Wissenschaftler, um sich dann dem «inneren Berufe zur Wissenschaft» zu widmen. Im ersten Abschnitt verglich er das US-amerikanische mit dem deutschen Hochschulsystem. Dabei vertrat er die These, dass sich das deutsche Universitätsleben «amerikanisiert» habe – «wie unser Leben überhaupt» –, was sich bereits in der Medizin und den Naturwissenschaften bemerkbar mache. Zu den wichtigsten Unterschieden beider Systeme zählte Weber die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses: Der akademische Einstieg in Deutschland geschehe über die Rolle als unbezahlter Privatdozent, weswegen für den akademischen Neuling einerseits ein hohes finanzielles Risiko entstehe. Andererseits sei er nach Weber aber auch keinen zu hohen Erwartungen ausgesetzt. So werde ein Privatdozent in Deutschland kaum zentrale Vorlesungen seines Fachs abhalten müssen, besitze aber mehr Möglichkeiten, tatsächliche wissenschaftliche Forschungsarbeit zu betreiben. Das amerikanische Pendant zum Privatdozenten – der assistant – werde dagegen bereits beim Einstieg in das akademische Leben besoldet, müsse sich jedoch auch von Beginn an beweisen und sogar mehr leisten als die Professoren. Durch die Erwartung, möglichst viele erfolgreiche Vorlesungen abzuhalten, also viele Studenten in seine Veranstaltungen zu locken, würden seine Fähigkeiten als universitärer Lehrer früh getestet. Während der deutsche Privatdozent Zeit für wissenschaftliches Arbeiten besitze und sein Wissen ausbauen könne, bleibe dem amerikanischen assistant dafür kaum Zeit. Einen weiteren Unterschied zum deutschen System sah Weber darin, dass amerikanische Universitäten als «staatskapitalistische Unternehmungen» funktionierten, was einerseits eine größere Abhängigkeit des Dozenten von seinem Institut und andererseits eine größere Einmischung in die wissenschaftliche Arbeit des Dozenten mit sich bringe. Fähige Wissenschaftler, so Weber, sollen zugleich gute Gelehrte und gute Lehrer sein. Wie aber kann man erstens beides gleichermaßen erlernen, und wie lassen sich – zweitens – derartige Fähigkeiten messen, wenn sie über den beruflichen Erfolg entscheiden? Die Fähigkeiten als Gelehrter sind nur schwer greifbar. Sehr leicht messbar ist dagegen die Frequentierung seiner Veranstaltungen: Mache er «volle Häuser», so gelte der Dozent als guter Lehrer. Inwieweit jedoch der Dozent tatsächlich ausschlaggebend für den Erfolg einer Veranstaltung sei, bleibe ebenso ungewiss wie der qualitative Lehrerfolg der Studenten im Berufsverlauf.

Als zusätzliche äußere Rahmenbedingung der Akademikerlaufbahn herrscht überall – unabhängig von USA oder Deutschland – der Zufall. Die Berufung zum Professor geschieht durch kollektive Willensbildung innerhalb der jeweiligen Fakultät. Durch Kompromisse werden oftmals die wissenschaftlich besten Vertreter ausgesiebt und mittelmäßige Kandidaten bevorzugt. Trotzdem – so Weber – sei die Quote an qualifizierten und guten Akademikern hoch genug. Zu einer insgesamt defizitären Besetzung komme es erst dann, wenn dritte Kräfte, z.B. Parlamente, Monarchen oder Revolutionäre, in die innerwissenschaftliche Auslese eingreifen. In direkter Ansprache an seine Zuhörerschaft beendete Weber diesen Abschnitt über die «äußeren Bedingungen des Gelehrtenberufs», indem er fragte: «Glauben Sie, daß Sie es aushalten, daß Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben? Dann bekommt man selbstverständlich jedesmal die Antwort: Natürlich, ich lebe nur meinem ‹Beruf›; – aber ich wenigstens habe es nur von sehr wenigen erlebt, daß sie das ohne inneren Schaden für sich aushielten.»

Nach dieser Beschreibung der Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens widmet sich Max Weber im zweiten Teil seiner Rede dem «inneren Berufe zur Wissenschaft». Wissenschaftlicher Erfolg im Sinne brauchbarer Ergebnisse sei nur «im Falle strengster Spezialisierung» möglich, wenn sich der Wissenschaftler mit der dafür notwendigen Energie in seine Disziplin oder Idee völlig hineinvertieft. Einigermaßen pathetisch betonte Weber, dass alle solche wissenschaftliche Spezialisierung nichts wert sei, wenn sie nicht mit «Leidenschaft» betrieben werde. Um das «Vollgefühl» zu erlangen, «einmal und vielleicht nie wieder im Leben» etwas geleistet zu haben, was «dauern» wird, brauche es die Fähigkeit, sich selbst «Scheuklappen» anzuziehen und sich in die Vorstellung hineinzusteigern, «daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt», ob man die selbstgestellte Aufgabe lösen könne.

Doch auch die Leidenschaft sei es nicht allein, die die innere Berufung zur Wissenschaft ausmache. Denn weiterhin benötige der Wissenschaftler eine «Eingebung», ohne die jede noch so große Leidenschaft ergebnislos bleiben würde. Grundlage einer solchen Eingebung sei harte Arbeit im eigenen Fachgebiet. Der unersetzbare Einfall selbst sei aber nicht steuerbar, sondern an komplexe Bedingungen geknüpft, die weder mit der wissenschaftlichen Arbeit selbst in Zusammenhang stehen müssen noch von außen erklärbar sind. Weber verglich diese Grundbedingung wissenschaftlichen Fortschritts mit der Phantasie und Inspiration eines Künstlers, die zunächst unabhängig von den zukünftigen Werken existieren müssen, um Kunst schaffen zu können. Des Weiteren müssen Künstler ebenso wie Wissenschaftler «rein der Sache dienen», um einen echten Fortschritt zu erzielen bzw. ein bedeutungsstarkes Kunstwerk zu schaffen. Wissenschaftliche und künstlerische Persönlichkeit erreiche man also gerade dadurch, dass die eigene Person untergeordnet oder sogar ausgeklammert werde. Jedem (angehenden) Wissenschaftler sollte jedoch auch der grundsätzliche Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft bewusst sein: Ein Kunstwerk könne, da es keinen unmittelbaren Zweck erfülle, sondern unterschiedlichste subjektive Bedeutungen besitze, theoretisch unabhängig von äußeren Veränderungen überdauern und bleibende Erfüllung schenken.

Ein wissenschaftlicher «Fortschritt» hingegen sei dazu verdammt, entweder überholt oder widerlegt zu werden. Die Bedeutung wissenschaftlicher Funde sei nur von begrenzter Dauer, da wissenschaftlicher Fortschritt niemals zu einem endgültigen Ergebnis gelange, sondern sich im ewigen Wandel befinde. Dieser Unterordnung in einen ewigen Prozess müsse sich der Wissenschaftler bewusst werden, andernfalls sei ein langfristiges Engagement kaum vorstellbar, da dieses auch das Infragestellen und Widerlegen eigener Ergebnisse umfasse. Das Tragische an jeder noch so leidenschaftlich betriebenen Wissenschaft sei ihr «Schicksal», überboten zu werden. Hier verließ Weber das Thema des «inneren Berufs» zur Wissenschaft und warf das «Sinnproblem der Wissenschaft» auf, ja mehr noch: das Sinnproblem des menschlichen Lebens und Sterbens überhaupt.

Seine Charakterisierung wissenschaftlicher Arbeit wirkt zunächst sehr ernüchternd: «Warum betreibt man etwas, das in der Wirklichkeit nie zu Ende kommt und kommen kann?» Ganz grundsätzlich gehe es darum, durch wissenschaftliche Erkenntnisse, die Dinge «durch Berechnen beherrschen zu können», es gehe um «die Entzauberung der Welt». Um den Unterschied zwischen unserer technisierten modernen Welt und früheren Gesellschaften zu verdeutlichen, bemühte Weber als Antwort den von ihm so genannten «Intellektualisierungsprozess». Zwar wisse der einzelne Mensch in der heutigen Zeit nicht wesentlich mehr über seine unmittelbaren Lebensbedingungen «als ein Indianer oder ein Hottentotte», aber während jene bestimmte Alltagsphänomene unberechenbaren Mächten zuordneten, besäßen wir die Möglichkeit, uns entsprechend unserem wissenschaftlichen Wissen zu informieren.

In verblüffender Volte seiner Ausführungen bezog sich Weber auf den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi und dessen Frage, ob der Tod eine sinnvolle Erscheinung sei oder nicht. Bei seinem Grübeln darüber sei Tolstoi zum Ergebnis gekommen, dass der Tod für den Kulturmenschen nicht sinnvoll sei, da er allenfalls «lebensmüde», nicht aber «lebensgesättigt» sein könne, da er im ständigen Prozess des Fortschritts stehe und nicht unabhängig von diesem existieren könne. Damit gelangte er zum dramatischen Schluss, bei dem es ihm um die Frage ging: «welches ist der Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit? und welches ihr Wert?»

Um diese Frage zu klären, beleuchtete Weber das Wissenschaftsbild im Wandel der Menschheitsgeschichte. Während in der Antike die Wissenschaft die Vorstellung einer absoluten Wahrheit verfolgte, die den Blick auf «das wahre Sein» ermögliche, so sei sie in der Neuzeit zu einer Welt künstlicher Abstraktionen geworden, die vergebens die echte Welt «einzufangen» versuche. Als Begründung führte Weber den Wandel vom «Begriff» zum «Experiment» als zentralem Instrument der modernen Wissenschaft an. In der Antike basierte die Wissenschaft auf der Annahme, dass alles erfahrbar sei: Wenn man erst einmal die wahre Identität einer Sache verstanden habe – einen «Begriff» von ihr habe –, so könne man daraus alles andere erschließen. Seit der Renaissance ist jedoch das Experiment das treibende Organ der Wissenschaft. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass auf Basis erfahrbarer Umstände größere Zusammenhänge erschlossen werden können. Künstlerische Experimentatoren wie Leonardo da Vinci nahmen dies zum Anlass, nach der «wahren Natur» zu suchen. Dieses Verständnis der Wissenschaft als Weg zur Natur ging jedoch verloren und musste einem Gegenkonzept weichen, welches die Loslösung von der Wissenschaft als Weg zurück zur Natur verstand. Auch theologische Aspekte, die zwischenzeitlich Einfluss auf die Naturwissenschaft nahmen – nach der Idee, dass wissenschaftliche Forschung zum Verständnis der Werke Gottes führen könne –, verschwanden aus der (abendländischen) Wissenschaft. Entwürfe, die der Wissenschaft einen absoluten Sinn hätten geben können, waren also nur von temporärer Bedeutung. Ein Blick auf die Geschichte bringt keinen übergeordneten Sinn hervor, der die Arbeit eines Wissenschaftlers untermauern oder rechtfertigen könnte. Laut Tolstoi existiert ein solcher Sinn auch gar nicht, da Wissenschaft auf die zentralen Fragen der Menschheit – Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? – nicht antworten könne. Wissenschaft im modernen Sinne basiert auf Logik und Methodik; die Motivation, Wissenschaft zu betreiben, ist jedoch subjektiver Natur und daher nicht selbst Bestandteil konkreter Wissenschaften. Die Subjektivität dieser grundlegenden Motivationen birgt die Gefahr, politisiert zu werden, was besonders unter dem Deckmantel der akademischen Wissenschaft gefährlich sein kann.

Eine abschließende Bewertung der Wissenschaft in Hinsicht auf ihren grundlegendsten Sinn ist nach Weber nicht möglich, da verschiedene Weltordnungen und Weltanschauungen im ständigen Wettstreit miteinander stehen und eine Entscheidung für oder gegen die eine oder andere nicht wissenschaftlich, sondern politisch wäre. Wissenschaft könne nur Klarheit darüber schaffen, auf welche nicht weiter zu hinterfragende Grundposition sich bestimmte Theorien stützen. Auf dieser Grundlage sollte jeder Wissenschaftler in der Lage sein, «sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns». Wer die Subjektivität der Grundlagen der Wissenschaft nicht ertragen könne, soll laut Weber zurück in die Kirche gehen und keine Wissenschaft betreiben, auch keine Theologie. Wer jedoch in der Lage sei, einen nicht vorhandenen objektiven Sinn durch individuellen Antrieb zu ersetzen, solle an die Arbeit gehen und der «Forderung des Tages» gerecht werden, menschlich sowohl wie beruflich: «Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.»

Es waren gewiss gerade diese Schlusspassagen jenes Münchner Vortrags, die einige seiner Zuhörer zutiefst verstörten, andere nachhaltig beeindruckten. Man muss aus diesem sehr kontextgebundenen Gelegenheitsvortrag nicht gleich «einen philosophischen Text» machen (Wolfgang Schluchter), aber als ein sehr persönliches Dokument eines Wissenschaftlers, der sich an diesem Wendepunkt seines Lebens schonungslos nach dem Sinn seines eigenen Tuns befragt, dient er auch heute noch sowohl als Ausgangspunkt der Selbstbefragung jedes wissenschaftlich Tätigen als auch als autobiographisches Zeugnis für einen Max Weber gegen Ende seines wissenschaftlichen Schaffens.