II Von der Leibeigenschaft zum Agrarkapitalismus. Die Gutsbesitzer-Enquêten
Fünf Jahre nach der Geburt des Maximilian Carl Emil Weber am 21. April 1864 im damals preußischen Erfurt zogen Dr. Max Weber senior (1836–1897) und seine Ehefrau Helene Weber, geborene Fallenstein, mit ihren beiden kleinen Söhnen – Max und dem vier Jahre jüngeren Alfred – nach Charlottenburg, eine damals eigenständige und wohlhabende Stadt im Westen Berlins. Grund für diesen Umzug war die berufliche Karriere des Vaters. Der Stadtrat Weber hatte Jura in Göttingen und Berlin studiert und war im April 1858 in Göttingen zum Dr. jur. utr. promoviert worden. Seit 1862 war er in der Garnisonsstadt Erfurt als besoldeter Stadtrat tätig gewesen, doch genügte ihm diese Stelle nicht. Ehrgeizig wie er war, bewarb er sich um die Übernahme des Amtes eines der 34 hauptberuflichen Stadträte der Großstadt Berlin und hatte Erfolg. Von Oktober 1868 an füllte er dieses Amt 2. Jahre lang aus. Zugleich diente Max Weber senior als Abgeordneter zum Preußischen Abgeordnetenhaus (1868–1882; 1884–1897) und als Abgeordneter zum Deutschen Reichstag (1872–1884). Von seiner politischen Haltung her gehörte er zu den Konstitutionalisten, einer Fraktion der Nationalliberalen Partei, die sowohl für eine starke Hohenzollern-Monarchie als auch für die Beachtung der Rechte des Volkes eintrat. Max Weber senior entwickelte sich zu einem erfolgreichen, bürgerlich-liberalen Politiker im Königreich Preußen. Der Vater sollte dem Erstgeborenen und Träger des gleichen Namens lebenslang als Modell des Berufspolitikers vor Augen stehen.
Ein Blick auf die Geschichte der väterlichen Familie führt in das Milieu einer im preußischen Westfalen ansässigen Industriellen- und Kaufmannsfamilie deutsch-englischer Textilfabrikanten und -händler. Der Großvater, Karl August Weber (1796–1872), war Mitglied des Bielefelder Handelspatriziats und blieb für seinen Enkel Max das Beispiel eines frühkapitalistischen Unternehmers. Der Onkel, Carl David Weber (1824–1907), übernahm eine Leinenweberei in Oerlinghausen im Fürstentum Lippe und etablierte dort die moderne Unternehmensführung, er lieferte das Vorbild des modernen kapitalistischen Unternehmers. Von den Erträgen der Haus- und Familiengemeinschaft des Leinenhandels der Familie Weber lebten viele Mitglieder des verzweigten Familiensystems, nicht zuletzt auch Max Weber junior und seine Ehefrau Marianne.
Lässt sich die Familie Weber dem deutschen Besitzbürgertum zuordnen, so gehörte die mütterliche Familie der Fallenstein eher zum deutschen Bildungsbürgertum, bei gleichzeitigem erheblichen materiellen Wohlstand. Helene Weber (1844–1919), Max Webers Mutter, empfing die wesentlichsten geistigen Anregungen von ihrem Vater, Georg Friedrich Fallenstein (1790–1853), einem Geheimen Finanzrat im preußischen Finanzministerium in Berlin. Ihre Mutter, Emilie Souchay, entstammte einem Hugenottengeschlecht, das in der Gegend um Frankfurt am Main ansässig geworden war. Helene Weber selbst war eine Frau von hoher Bildung, die sich stark mit religiösen und sozialen Problemen beschäftigte und ab 1904 in der Armenverwaltung der Charlottenburger Stadtverwaltung tätig wurde.
Ab 1870 besuchte Max Weber junior eine vorbereitende Privatschule, zwei Jahre später wechselte er auf das Königliche Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg. Der große Kreis bekannter Persönlichkeiten, die in seinem Elternhaus verkehrten und mit denen sein Vater politische und intellektuelle Diskussionen pflegte, schuf für den jungen Max Weber ein geistig anregendes Milieu. Im Frühjahr 1882 absolvierte Max Weber das Abitur und begann im folgenden Sommersemester sein Studium in Heidelberg, dem Jugendwohnsitz seiner Mutter, wo er im Hauptfach Jurisprudenz – daneben Nationalökonomie, Geschichte, Philosophie und etwas Theologie – belegte. Seine Spezialthemen waren die Geschichte der Spätantike, modernes Handelsrecht und die zeitgenössische Staatsrechtslehre. Im November 1882 trat Weber bei der Burschenschaft Allemannia zu Heidelberg ein, in der er sich leidenschaftlich engagierte. Weber verließ das Berliner Elternhaus als magerer, schüchterner Abiturient; während der drei Semester in Heidelberg wandelte er sich, physisch und in seiner Persönlichkeit, grundlegend. Doch nicht nur die akademische Freiheit veränderte ihn, auch die mehrfachen Besuche bei seinem Onkel Hermann Baumgarten (1825–1893) in Straßburg halfen ihm, sich innerlich von den Vorgaben des Charlottenburger Elternhauses zu lösen. Anfang Oktober 1883 siedelte er nach Straßburg über, um dort bis Ende September 1884 seinen Militärdienst als «Freiwillig-Einjähriger» beim 2. Niederschlesischen Infanterie-Regiment Nr. 47 abzuleisten. Der Dienst war hart für ihn, sodass er erleichtert war, als er schließlich zum Korporalschaftsführer ernannt wurde; in seinem weiteren Leben war er immer stolz auf seinen späteren Rang als Hauptmann der Reserve der Preußischen Armee. Dem als eintönig empfundenen Kasernendienst entging er durch das nebenherlaufende Studium an der Straßburger Universität, vor allem bei dem Juristen Rudolf Sohm und seinem Onkel, dem Historiker Baumgarten. Mit der Familie seiner Tante Ida, der Frau Hermann Baumgartens, verband ihn eine tiefe Freundschaft. Der Onkel war für ihn politischer und intellektueller Mentor und Vertrauter. Er gehörte zu jener kleinen Minderheit deutscher Liberaler, die sich den bürgerlich-revolutionären Geist der 1848er-Bewegung bewahrt hatten und sich über den restaurativen Charakter der Politik des Reichskanzlers Bismarck keine Illusionen machten. Baumgarten bildete, neben dem Oerlinghausener Onkel Carl David Weber, dessen unternehmerische Energien den Neffen beeindruckten, eine starke Gegenfigur zum Vater.
1884 nahm Weber für zwei Semester sein Studium in Berlin wieder auf. Mit wenigen Unterbrechungen blieb er die nächsten acht Jahre zu Hause, damit finanziell vom Vater abhängig. An der Berliner Universität hörte er bei Georg Beseler Privatrecht, bei Ludwig Aegidi Völkerrecht, bei Rudolf von Gneist deutsches Staats- und preußisches Verwaltungsrecht, bei Heinrich Brunner und Otto von Gierke deutsche Rechtsgeschichte sowie historische Vorlesungen bei Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke. Der demagogische Treitschke wurde für Max Weber zum Beispiel des professoralen Agitators, dem er später als Alternative den «werturteilsfreien», historisch differenzierenden Wissenschaftler entgegenzusetzen versuchte.
Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen, das er vor dem Oberlandesgericht in Celle im Mai 1886 absolvierte, setzte er seine Studien in Berlin während des Referendardiensts mit dem Ziel der Promotion fort. Er besuchte vor allem die Seminare bei August Meitzen (1822–1910) und Levin Goldschmidt (1829–1897), dessen Doktorand Weber im Mai 1886 wurde. Hinter dieser Entscheidung stand eine bewusste und kalkulierte Strategie, sowohl des Doktoranden Weber als auch des «Doktorvaters» Goldschmidt. Wie so häufig im Leben Max Webers spielten persönliche und familiäre Verbindungen eine Rolle: Goldschmidt und seine Frau waren eng mit der Familie von Max Weber senior befreundet, sie wohnten in der Heidelberger Phase Goldschmidts (1860 bis 1870) im Haus der Familie Fallenstein, Goldschmidt war ebenso wie Max Webers Vater Reichstagsabgeordneter für die Nationalliberale Partei in den Jahren 1875 bis 1877.
Mit endgültigem Abschluss im August 1889 wurde der 25-jährige Max Weber mit magna cum laude promoviert. Danach stand er vor einer entscheidenden Weggabelung: Sollte er eine wissenschaftliche Karriere als Handelsrechtler anstreben, sollte er sein sozialpolitisches Engagement im Rahmen des Vereins für Socialpolitik fortsetzen, dem er 1888 beigetreten war, oder sollte er eine Karriere im juristisch-wirtschaftlichen Bereich verfolgen? Im Sommer des Jahres 1890 bewarb er sich zunächst um die Syndikusstelle bei der Handelskammer Bremen, die Bewerbung scheiterte aber wegen des fehlenden Assessorexamens. Dieses schloss Weber nach Beendigung seiner Referendarzeit am 18. Oktober 1890 ab, sodass er in Berlin als Rechtsanwalt zugelassen wurde. Zu diesem Zeitpunkt aber konzentrierte er sich bereits auf die wissenschaftliche Laufbahn.
Schon mit seiner Dissertation zur Entwicklung des Handelsrechts hatte Weber sein wissenschaftliches Thema gefunden: die Erforschung der Entstehungsbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftens. Kaum hatte er sein Erstlingswerk abgeschlossen, verfolgte er diese Fragestellung erneut im Rahmen einer Habilitationsschrift über die Herausbildung des römischen Agrarkapitalismus. War der tatkräftige Mentor für seine Dissertation sein Lehrer Goldschmidt gewesen, so engagierte sich bei diesem zweiten akademischen Qualifikationsvorhaben der Berliner außerordentliche Professor für Statistik und Nationalökonomie, August Meitzen. Unter dessen Patronage strebte Weber die Lehrberechtigung (Venia) für «Römisches (Staats- und Privat-)Recht» an, wozu zuvor noch die Venia für Handelsrecht kam, die er mit einer Langfassung seiner Dissertationsschrift erwarb. Dadurch ergab sich für ihn die Möglichkeit, bereits ab dem Sommersemester 1892 den erkrankten Levin Goldschmidt zu vertreten: Der Weg in die akademische Wissenschaft schien für Max Weber endgültig vorgezeichnet.
Parallel zu den skizzierten akademischen Stationen engagierte er sich noch in zwei Organisationen, die ihm einen beruflichen Schritt in eine eher praktische und politische Richtung hätten ermöglichen können. Bedingt durch die Neigungen und persönlichen Kontakte seiner Mutter, besuchte er den maßgeblich von dem preußischen Hofprediger Adolf Stöcker 1890 gegründeten ersten Evangelisch-sozialen Kongreß. Im Rahmen dieser Organisation, die sich die aktive Beteiligung an der politischen und medialen Auseinandersetzung mit der «sozialen Frage» aus protestantischer Sicht zum Ziel gesetzt hatte, knüpfte Max Weber freundschaftliche Kontakte, insbesondere zu den protestantischen Geistlichen Paul Göhre und Friedrich Naumann, und arbeitete zugleich mit an der von Martin Rade, ebenfalls protestantischer Pfarrer, herausgegebenen Zeitschrift Christliche Welt.
Zudem erhielt er vom renommierten Verein für Socialpolitik den Auftrag, in der von diesem geplanten «Landarbeiter-Enquête» die Materialien zu den ostelbischen Gebieten zu bearbeiten. Auch dahinter steckte Webers Bemühen, endlich eine berufliche Anstellung zu finden, die ihn vor allem finanziell unabhängig machen würde. Dass dem 28-jährigen Berliner Privatdozenten der Rechtswissenschaft Max Weber dieser Auftrag erteilt wurde, scheint sich der Mithilfe seines Vaters zu verdanken, der Mitglied der «Kommission zur Vorbereitung des Gesetzentwurfs betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Westpreussen und Posen» des Preußischen Abgeordnetenhauses war und das Ziel der Eindämmung der angeblichen Gefahr einer «Polonisierung» des deutschen Ostens durch gezielte «innere Kolonisation» teilte. Es spricht einiges dafür, dass in Anlage und Durchführung dieser Enquête Politik und Wissenschaft von Anfang an eng miteinander verflochten waren. Webers umfangreiche Auswertung erweist sich weniger als eine freie wissenschaftliche Arbeit im Auftrag eines unabhängigen sozialwissenschaftlichen Vereins, sondern sehr viel mehr als ein mit dem Preußischen Landwirtschaftsministerium abgesprochenes Gutachten zugunsten der inneren Kolonisation und damit eines nationalliberalen Reformprogramms für die Agrarpolitik Preußens.
Weber kannte die ihm in den Zahlen entgegentretenden Verhältnisse aus eigener, wenn auch oberflächlicher Anschauung. Sein Regiment war am 1. April 1887 von Straßburg in den Osten Preußens, in die Provinz Posen, verlegt worden. Anlässlich einer achtwöchigen Offiziersübung, die er im Sommer 1888 dort absolvierte, besuchte er auf Einladung des Landrats des Kreises Gnesen, Otto Nollau, die Kolonistengüter der Preußischen Ansiedelungskommission. Die Königliche Ansiedelungskommission für Westpreußen und Posen war durch Gesetz vom 26. April 1886 gegründet worden; ihr politischer Hauptzweck bestand darin, durch Landkäufe und die Aufteilung dieser Ländereien in Form von «Rentengütern» unter deutschen Ansiedlern einen starken deutschen Kleingrundbesitz zu schaffen, um auf diese Weise eine Konsolidierung des vor allem durch die anhaltende Abwanderung der ländlichen Arbeitskräfte und die Zuwanderung von polnischen Saisonarbeitern «bedrohten» deutschen Bevölkerungsanteils in den beiden preußischen Provinzen herbeizuführen.
Der 1872/73 gegründete Verein für Socialpolitik, dessen Mitgliedschaft aus Professoren der Nationalökonomie, Politikern, Verwaltungsbeamten und Journalisten bestand, hatte sich zum Ziel gesetzt, die staatliche Sozialpolitik mit wissenschaftlichen Argumenten auf der Basis empirischer Erhebungen zu beeinflussen. Die häufig als «Kathedersozialisten» bezeichneten Wissenschaftler strebten, in den Worten ihres bekanntesten Repräsentanten, Gustav von Schmoller, das Ziel an, «auf der Grundlage der bestehenden Ordnung, die unteren Klassen soweit zu heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen». Der Verein hatte im September 1890 mit der Planung und Durchführung einer Enquête über Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland begonnen. Ein erster Fragebogen wurde im Dezember 1891 an 3180 Gutsbesitzer versandt, ein zweiter im Februar 1892 an 562 ausgewählte «Berichterstatter» für ganze landwirtschaftliche Bezirke – erneut Gutsbesitzer. Mithilfe dieser schriftlichen Befragung sollte Auskunft über die Lage der Landarbeiter im Deutschen Kaiserreich eingeholt werden. Und das nicht durch Befragung der Landarbeiter selbst, sondern durch schriftliche Auskünfte ihrer Arbeitgeber, der Gutsbesitzer! Es handelt sich also streng genommen weniger um eine Landarbeiter-Enquête als vielmehr um eine Gutsbesitzer-Enquête.
Max Weber wurde nun beauftragt, jene insgesamt 2568 zurückgesandten Fragebögen – an deren Formulierung er keinen Anteil hatte – auszuwerten, die das ostelbische Deutschland betrafen, also Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Mecklenburg und Lauenburg. Unter erheblichem Zeitdruck – der Rücklauf der letzten Fragebögen erfolgte im Februar 1892, die Publikation des Berichts war für die Tagung im September des gleichen Jahres angesetzt –, stellte der 28-jährige Privatdozent die Ergebnisse seiner Arbeit termingerecht fertig. Webers wissenschaftliche und politische Bewertung dieser 891-seitigen Untersuchung zog sich ab da wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk.
Trotz unzweifelhafter Mängel, vor allem vom Stand heutiger sozialwissenschaftlicher Methodologie aus geurteilt – so fehlten Weber vor allem die Kenntnisse der Wahrscheinlichkeits- und Stichprobentheorie –, stellte diese Arbeit eine wichtige Etappe in der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methoden und Techniken dar. Die Hauptfunktion der Studie sah Weber in der Korrektur mancher landläufiger Ansichten seiner Zeit, vor allem der, dass die Lage der Landarbeiter eine besonders erbärmliche sei, verglichen mit der angeblich wesentlich erfreulicheren Lage der Industriearbeiter. Trotz der hohen Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg des Gutsbetriebs und vom guten Willen des Gutsherrn bezeichnete Weber die Lage gerade des Gesindes und der Gutstagelöhner als derart, dass «bei durchschnittlichen Verhältnissen ihre materielle Lage ungleich gesicherter ist als die auch der bestgestellten gewerblichen Arbeiter».
Warnend wies Weber auf Entwicklungstendenzen der ländlichen Arbeitsverfassung hin, die diesen relativ befriedigenden Zustand erschüttern könnten. Diese Tendenzen hingen vor allem mit der veränderten Stellung der Getreideproduktion und mit allgemeinen Konsumveränderungen zusammen. Dazu kamen die Wirkungen, die stark schwankende Getreidepreise auf dem inländischen und dem Weltmarkt sowie die Einführung intensiverer Anbaumethoden und von Dreschmaschinen auslösten. Alle diese Momente zusammen bewirkten, in der Einschätzung Webers, dass die traditionellen Grundlagen einer «Interessengemeinschaft» zwischen Arbeitgebern, d.h. den Grundbesitzern, und den ländlichen Arbeitern allmählich beseitigt würden. Dieses Zerbrechen der traditionellen Interessengemeinschaft und die Proletarisierung der Landarbeiterschaft machte Gutsherren und Landarbeiter zu ökonomischen Gegnern, für die Weber, in direkter Übernahme der gleichlautenden Einschätzung des sozialistischen Philosophen Friedrich Albert Lange, zufolge gilt: «Zwischen natürlichen wirtschaftlichen Gegnern giebt es eben nur den Kampf, und es ist eitler Wahn, zu glauben, daß eine Stärkung der ökonomischen Macht der einen Partei der socialen Position der anderen zu Gute kommen werde.» Der gemeinsame Nenner für diese Entwicklungsprozesse ist nach Weber die Umwandlung einer patriarchalischen Organisation in eine kapitalistische. Somit sei es keinesfalls böser Wille einzelner Handelnder, die diese Entwicklung verursachten und denen daraus ein Vorwurf gemacht werden könne: «Es arbeiten beide Teile, Arbeiter und Arbeitgeber, nach der angedeuteten Richtung hin und der einzelne Arbeitgeber handelt lediglich in Konsequenz der nun einmal mit zwingender Gewalt sich gestaltenden Verhältnisse. Will er unter den jetzigen Konkurrenzverhältnissen und bei der Schwierigkeit des Arbeitsmarktes bestehen, so kann er nicht anders verfahren. Gerade das ist das Bedrohliche der Situation, daß die Wirksamkeit der darin liegenden Entwicklungstendenzen von dem Thun und Lassen Einzelner unabhängig ist.»
Ausführlich ging Weber auf die Konsequenzen dieser Entwicklung ein: die Wirkungen auf die militärische Disziplin, die Verdrängung der einheimischen, deutschen Arbeiterschaft durch die Wanderarbeiter, den allmählichen Verlust der ökonomischen Machtstellung der Großgrundbesitzer, dieser einstigen «Stütze der Monarchie». Darum stellte sich für Weber die «ländliche Arbeiterfrage» nicht als eine sozialpolitische, sondern als eine staatspolitische Angelegenheit, die «vom Standpunkt des Staatsinteresses gewiß nicht gleichgültig» sein kann. Sie war in seinen Augen primär eine «Landfrage», d.h., es ging seiner Ansicht nach darum, ob man gerade den deutschen Arbeitern «nach oben» Luft schafft, ob man ihnen die Möglichkeiten eines Aufsteigens zu einer selbständigen Existenz bietet: «Die wichtigste Frage ist, ob ihnen [den Arbeitern] ein Aufsteigen in den Bauernstand ermöglicht werden kann, und damit läuft die ländliche Arbeiterfrage für den Osten in die Frage der inneren Kolonisation aus […].»
Vor allem im Import slawischer Wanderarbeiter durch die Großgrundbesitzer sah Weber eine Gefährdung des «Deutschtums» in einem sich entvölkernden Osten, in dem die deutsche Kultur vor die «Existenzfrage» gestellt sei. «Ob man die Konsequenzen dieser Situation entschlossen zieht, davon wird die Zukunft des deutschen Ostens abhängen. Die Dynastie der Könige von Preußen ist nicht berufen zu herrschen über ein vaterlandsloses Landproletariat und über slawisches Wandervolk neben polnischen Parzellenbauern und entvölkerten Latifundien […] sondern über deutsche Bauern neben einem Großgrundbesitzerstand, dessen Arbeiter das Bewußtsein in sich tragen, in der Heimat ihre Zukunft im Aufsteigen zu selbständiger Existenz finden zu können.»
Nach seiner Beschäftigung mit dem Enquête-Material war es Max Weber ein dringendes Anliegen, seine Ergebnisse einem größeren Kreis von sozialpolitisch Interessierten bekannt zu machen. Es war ihm wichtig, dass seine Empfehlungen in den politisch zuständigen Institutionen diskutiert wurden. Aus diesen Gründen veröffentlichte er in den Jahren 1893/94 mehrere Aufsätze, bei denen sich die Akzente immer mehr in Richtung der politischen Forderungen verschoben. Bereits im Jahr 1892, als er noch an der Auswertung der Vereins-Enquête saß, regte er an, die Ergebnisse durch weitere Erhebungen zu ergänzen. Im Dezember desselben Jahres führten Max Weber und der Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, Paul Göhre, im Auftrag des Kongresses eine zweite Enquête über die Lage der Landarbeiter durch. Gerade im Anschluss an die eigenen und von anderen geäußerten Zweifel an der Vollständigkeit und Glaubwürdigkeit der Angaben der Gutsbesitzer über die Situation «ihrer» Landarbeiter suchten Weber und Göhre nach «möglichst unbefangenen Mittelspersonen», die korrigierende Angaben machen könnten. Sie wandten sich dafür an die evangelischen Pastoren und versandten einen Fragebogen mit 23 teilweise außerordentlich detaillierten Fragen an sämtliche evangelische Geistliche des Deutschen Reiches, etwa 15.000; bis Juni 1893 liefen davon 1000 beantwortet zurück.
Im Mai 1894 fanden in Frankfurt am Main die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses statt, auf dem sowohl Göhre als auch Weber über die vorläufigen Ergebnisse berichteten. Sie betonten den Charakter ihrer Untersuchung als einer «Ergänzungsenqête», die die Untersuchung des Vereins für Socialpolitik erweitern, kontrollieren und ergänzen sollte. Die Entscheidung, die Pfarrer zu befragen, sei bestimmt gewesen von der Überzeugung, diese seien ganz besonders gut geeignet: «Denn der Geistliche beobachtet […] den Landarbeiter von einem anderen Gesichtspunkt aus als der Arbeitgeber. Dieser ist Partei, wie der Arbeiter selbst, der Geistliche einer der wenigen Unparteiischen, die auf dem Lande überhaupt zur Verfügung stehen.»
Wiederum endeten Webers Schlussfolgerungen mit politischen Überlegungen, wobei sich seine Kritik an der traditionellen Großgrundbesitzerschicht der ostelbischen Junker erheblich verschärft hatte: «Diesem Grundadel eigen war das naive Bewußtsein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß er zum Herrscher und die Anderen auf dem Lande zum Gehorsam berufen seien. Warum? Darüber machte er sich keine Gedanken. Die Abwesenheit der Reflexion war ja eine seiner wesentlichen Herrschertugenden.»
Weber, der sich in diesem Zusammenhang als einen «klassenbewußten Bourgeois» bezeichnete, sah sowohl auf der Seite der Großgrundbesitzer wie auf der Seite der Landarbeiter dominante Tendenzen der Klassenbildung. Durch diese Entwicklung würden die ehemaligen persönlichen Herrschaftsverhältnisse allmählich durch eine «unpersönliche Klassenherrschaft» ersetzt: «Nur die Klasse kann mit der Klasse verhandeln; die Verantwortlichkeitsbeziehungen zwischen dem einzelnen Herrn und dem einzelnen Arbeiter verschwinden; der einzelne Unternehmer wird gewissermaßen fungibel, er ist nur noch Typus der Klasse. Die persönliche Verantwortlichkeitsbeziehung verschwindet; etwas Unpersönliches, die Herrschaft des Kapitals pflegt man es zu nennen, tritt an die Stelle.» Durch diese Entwicklung entstehe der Hass der einen Klasse gegen die andere, den Weber mit dem «Nationalhass» gegen den «Erbfeind» Frankreich verglich. In Verbindung mit dem objektiven Interessengegensatz erwachse der Klassenkampf, von dem Weber sagte: «Der Klassenkampf ist […] ein integrierender Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung […].»
Beide Enquêten beinhalteten gründliche empirische Arbeiten zur Analyse relevanter Aspekte jener Gesellschaft, in der Max Weber lebte. Es darf nicht vergessen werden, dass etwa im Jahre 1881 noch 47 % der erwerbsfähigen Bevölkerung des Deutschen Reiches in ländlicher Beschäftigung standen. Wie auch seine wissenschaftlichen Kollegen und Zeitgenossen, Werner Sombart allen voran, untersuchte Weber die wechselseitigen Auswirkungen der allmählichen Durchsetzung des Kapitalismus im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion, wie insgesamt auf ökonomischem, gesellschaftlichem, politischem, psychologischem und ethischem Gebiet. Um derartige Ursachen und Folgen übergreifender Prozesse aufzeigen zu können, bemühte sich Weber um eine möglichst umfassende Analyse sowohl der nicht unmittelbar gesellschaftlich abhängigen Faktoren (Bodenqualität, klimatische Bedingungen etc.) als auch der gesellschaftlichen Bedingungen (Grundbesitzverteilung, Arbeitsorganisation, Sozialeinrichtungen etc.). Zugleich verband er analytisch lokale Gegebenheiten mit nationalen Verhältnissen, wie den Getreideschutzzöllen und der staatlichen Landwirtschaftspolitik, und zudem mit internationalen Verhältnissen, wie vor allem dem Getreidepreis auf dem Weltmarkt. Webers politische Forderungen, insbesondere seine nationalistisch geprägte Kritik sowohl an der Arbeitsmarktpraxis des ostelbischen Junkertums als auch an dessen politischem Einfluss, blieben insgesamt gesehen allerdings vollkommen wirkungslos.