Sehr bald ließ weitere Monate auf sich warten, in denen das Brautkleid zunächst um ihre Hüfte spannte und dann nicht mehr über ihren Bauch passte, sodass sie es zu unseren Treffen in der Scheune nur noch mitbrachte, um uns beide damit zuzudecken. Eines Nachts, als Mina schlief, legte ich eine Hand auf die Stelle oberhalb ihres nach außen gewölbten Bauchnabels und flüsterte:
»Kannst du mich hören? Erkennst du meine Stimme? Magst du sie? Da drinnen klingt sie bestimmt ganz anders.
Manchmal würde ich am liebsten zu dir rein kriechen.
Du solltest dir Zeit lassen. Du wirst nie wieder so sicher sein wie da drinnen. Hier draußen gibt es keinen sicheren Ort. Die Menschen sagen deswegen, sie fühlen sich sicher, weil sie nie sicher sein können. Ein kleines Wesen wie du fühlt vielleicht noch nichts. Aber es ist sicher.
Weißt du, dass auch der Bauch deiner Tante wächst? Es macht mir Angst. Anni ist noch nicht bereit. Seitdem ich zurück bin, denke ich immerzu an das Feuer. Ich bin ihr nicht böse. Sie wusste nicht, was sie tat. Aber … aber sie weiß auch nicht, was sie getan hat. Ihre Erinnerung ist falsch. Es war kein Unfall, es war ganz sicher kein Funkenflug.
Soll ich ihr die Wahrheit sagen? Soll ich ihr erzählen, wie ich sie mit der Fackel gefunden habe, vor unserem brennenden Haus? Darf man so etwas überhaupt erzählen? Und wenn ja, wie?
Manchmal würde ich am liebsten zu dir reinkriechen.«
Ich nahm Mina noch ein Versprechen ab: geheim zu halten, wer der Vater ihres Kindes war. Keinen Vater zu haben, dachte ich, wäre immer noch besser, als mich zum Vater zu haben, einen Bestatter, der niemanden liebte außer seiner Schwester; der es nicht fertig brachte, ihr die Wahrheit über ihre Vergangenheit zu verraten; der in ihrem Haus wohnte und sich jede Nacht Wachs in die Ohren stopfte, weil er befürchtete, er könnte sie und ihren Polen hören, und das würde ihn an Jasfe und Josfer erinnern; der auf dem Segendorfer Friedhof schuftete und mehr Gräber aushob, als benötigt wurden, um seinen Frust abzuarbeiten; der aus demselben Grund mit einer ihn anbetenden Klöble schlief, die fest damit rechnete, dass er ihr bald einen Heiratsantrag machen würde; der, wenn er aus Träumen hochschreckte, in denen das Haus in Flammen stand, als Erstes seinen Ellbogen berührte.
Die Geburt meines Sohnes erlebte ich bloß akustisch mit. Minas durchdringende Schreie hielten alle Kunden von der Bäckerei fern. In meinem Zimmer in Annis Haus, das sich in Hörweite befand, stiefelte ich auf und ab und blieb erst stehen, als Minas Geschrei verstummte und vom Nachwuchsgeplärr abgelöst wurde. Bei Einbruch der Nacht schlich ich zu Minas Fenster, die es grinsend öffnete und mir den Kleinen reichte. Ich fragte Mina, ob ich ein paar Schritte mit meinem Sohn machen dürfe, worauf sie lächelte und eifrig nickte, als hätte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Gegen den Uhrzeigersinn spazierte ich mit meinem Sohn um die Bäckerei.
»Du bist pünktlich gewesen. Du wirst einmal ein sehr pünktlicher Mensch werden. Im Gegenteil zu deinem Cousin oder deiner Cousine. Wen wundert’s. Polen sind nicht gerade für ihre Pünktlichkeit bekannt. Deine Tante kann nicht einmal mehr das Haus verlassen. Sie liegt und wartet und bricht den Weltrekord im Kopfschütteln. Dein Onkel muss sie waschen und ihren beeindruckenden Bauch polieren, und dabei murmelt er Worte, die sich anhören, als würde er rückwärts sprechen.
Wie warm du bist. Wahrscheinlich denkst du, damit kannst du mich erweichen. Ich verrate dir etwas: Da bist du nicht der Erste. Es ist nichts Persönliches, an Kindern kann ich einfach nichts finden. Das Einzige, was ich an dir schätze, ist deine Verschwiegenheit. Du bist ein ebenso guter Zuhörer wie die Toten. Früher bin ich mit einer Frau um ihr Haus spaziert, die auch nicht reden konnte. Manchmal vermisse ich sie. Elses Bild ist mir klar im Gedächtnis. Von meinen Eltern weiß ich nicht einmal mehr, wie ihre Gesichter aussahen. Immer wenn ich versuche, sie mir vorzustellen, verschwimmt alles. Anni sagt, es geht ihr ähnlich. Deswegen habe ich mich dagegen entschieden, ihr von dem Feuer zu erzählen. Wieso sollte ich sie an den Tod von Menschen erinnern, an die wir uns kaum erinnern?
Das ist doch kein Grund zu weinen!
Ich werde deiner Mutter sagen, sie soll dich Ludwig nennen. Nach unserem letzten König. Wie findest du das? Einen solchen Namen wirst du brauchen. Mit dieser Mutter. Und diesem Vater.«
Frederick Arkadiusz Driajes folgte Ludwig Reindl mit fünftägiger Verzögerung in die Welt. Bei der Geburt drückte Anni mit ihrer rechten meine und mit ihrer linken Arkadiusz’ Hand – unsere beiden Gesichter waren mindestens so schmerzvoll verzerrt wie ihres. Erst das zufriedene Nicken der Hebamme glättete Sorgenfalten, und auf Freds Premierenschrei folgte Applaus, der jedoch nicht ihm galt, sondern der Tatsache, dass zur selben Minute, in geringer Distanz, feierlich der erste Stein des Kopfsteinpflasters für die neue Hauptstraße verlegt wurde.
Als Ludwig acht Monate später das Krabbeln meisterte (und Fred eine Art Seitwärtsrollenfortbewegung), reichte das Kopfsteinpflaster bereits vom nördlichen bis zum südlichen Ende der Gemeinde und durchtrennte sie in der Mitte gleich einem, wie Mina sagte, Fluss aus Steinen. Schon zwei Jahre später wurde die Hauptstraße, die Ludwig allein nur mit Links-rechts-links-Blick überqueren durfte (und Fred gar nicht), gen Süden ausgebaut und somit Teil der Reichsstraße 11 nach Innsbruck. Und im Frühjahr 1938, während auf ihr längst steter Durchgangsverkehr herrschte und das Knattern von Einzylindern Ludwig Glücksgefühle bescherte (und Fred Albträume), wurde unter ihr der Bau der eckigsten Kanalisation im gesamten Deutschen Reich abgeschlossen.
Ludwigs (und Freds) siebter Geburtstag näherte sich, und im Dorf wusste längst jeder, der davon wissen wollte, dass ich sein Vater war. Mina war im Hüten von Geheimnissen fähiger als ich selbst. An manchen Tagen konnte ich einfach nicht der Versuchung widerstehen, meinen Sohn zu sehen. Gemeinsam wanderten wir die Hauptstraße entlang, zählten die Steine des Kopfsteinpflasters und verzählten uns. Wir versuchten, am Donnern herannahender Fahrzeuge zu erraten, welche Fahrzeuge sich näherten, oder spuckten Kirschkerne über den Steinfluss. In milden Sommernächten stahl sich Ludwig heimlich aus der Bäckerei, legte sich, keine zwei Schritt vom Kopfsteinpflaster entfernt, ins Gras und schlief dort besser als in seinem Bett. Auf die damit verbundene Gefahr konnte ich noch so häufig hinweisen, ihm Kadaver von überfahrenen Mardern zeigen oder ihn ohrfeigen – Ludwig ließ sich nicht davon abbringen, und somit blieb mir nichts anderes übrig, als uns mit einem Seil zusammenzubinden und mich neben meinen Sohn, keine drei Schritt vom Kopfsteinpflaster entfernt, als menschlicher Anker ins Gras zu legen.
Ruhe fand ich dort keine, dafür aber das offene Ohr eines Schlafenden.
»Ich habe mich nie als Vater gesehen. Und ich sehe mich noch immer nicht als einer.
Vielleicht reicht es, wenn du und deine Mutter das tun. Ihr Glaube – nicht nur an unsere Hochzeit – ist stärker als der des Pfarrers.
Wenn du eines Tages in dem Alter bist, dann überleg dir zweimal, ob du Kinder haben willst. Ich sage dir, die Folgen werden unabsehbar sein.
Du könntest feststellen, dass du sie liebst!
Oder das Gegenteil. Sieh dir deine Tante an. Das Ausmaß ihrer Enttäuschung darüber, einem Klöble das Leben geschenkt zu haben, entspricht der Häufigkeit und Intensität ihres Kopfschüttelns. Niemand versteht, dass sie es nicht tut, weil sie alles ablehnt, sondern um nach rechts und links zu gucken und nach einem besseren Leben Ausschau zu halten.
Das Problem dabei ist, sie sucht so verzweifelt links und rechts, dass sie nicht sieht, wer vor ihr steht.
Sie hätte sich nicht auf diesen Polen einlassen dürfen. Einer wie Fred wäre uns allemal gelungen.
Ich hoffe, du spielst nicht mit ihm. Was für ein unnötiger Mensch! Er steht vor dem Leben wie vor einer Tür, von der er weiß, dass man sie öffnen kann, aber nicht, wie.
Hast du seine Zeichnungen gesehen? Er hat ein talentiertes Händchen, das gebe ich zu, aber … wer will tote Vögel sehen? Wen interessieren die Augen von Schweinen? Oder die Flügel von Mistfliegen?
Die Bilder machen deutlich, wie krank er wirklich ist. Anni vernichtet sie mit gutem Recht. Fred sollte Lesen lernen, habe ich ihr geraten. Lesen bedeutet verstehen. Und wer versteht, malt schöner.«