Berlin-Tempelhof

 

Albert lief und stoppte, er lief und stoppte. Das diffuse, durch Abflüsse und Gullydeckel hereinfallende Licht reichte immer nur ein paar Meter weit und verlor sich rasch im Dunkel, und dann musste Albert sich mit ausgestreckten Armen bis zur nächsten Lichtquelle vorantasten. Die Kanalrohrwände fühlten sich so glitschig an, wie sie aussahen. Zunächst bog Albert an jeder Weggabelung rechts ab, bald aber verwarf er seine Taktik, als er feststellte, dass er im Kreis gelaufen war.

Seine Rufe beantwortete das Echo mit Eed.

Am Ende eines schmalen Gangs sah er Licht. Er ging darauf zu und stieß auf einen Ausgang, den ein Metallgitter versperrte, in dem sich Pflanzenreste verfangen hatten, die aussahen und rochen wie Seetang. Dahinter Wald. Albert atmete ein und genoss die frische, kühle Luft. Schon eine ganze Weile hatte er kein Auto mehr gehört. Möglich, dass er sich im Moor befand. Alle Wege aus Königsdorf heraus führten durchs Moor. Er rüttelte am Gitter; es ließ sich etwas bewegen, seine Halterungen wirkten nicht sonderlich stabil. Albert wollte nicht sein Leben riskieren, indem er durch irgendeinen Schacht nach oben stieg, von dem er nicht wusste, ob er ihn auf eine Straße führte, auf der die Einheimischen mit hundertzwanzig die Kurven schnitten. Er ging einen Schritt zurück und trat so fest er konnte gegen das Gitter. Es gab ein Stück nach. Als er noch einmal zutreten wollte, bewegte sich etwas im Wald. Aus dem Schatten einer Birke löste sich ein Fuchs, blieb stehen und sah ihn an. Dabei rührte er sich kaum, krümmte bloß seinen Schwanz. Noch nie hatte Albert einen Fuchs in freier Wildbahn gesehen. Das Tier hob seine Nase und ließ Albert dabei nicht aus den orangerot schimmernden Augen.

»Albert!«, rief es hinter ihm. Fred kam auf ihn zugerannt, er trug seinen Rucksack und Alberts Stofftasche. »Du darfst nicht weglaufen!«, sagte er verärgert.

Albert sah noch einmal über seine Schulter. Der Fuchs war verschwunden. »Wo hast du gesteckt?«

»Ich habe geschlafen«, sagte Fred, als läge das auf der Hand.

»Warum?«

Fred gab ihm seine Stofftasche. »Weil, ich war müde. Es ist sehr heiß.«

Albert wagte kaum zu fragen: »Gehen wir jetzt weiter?«

Nach einer kurzen Pause nickte Fred. »Das ist total weit.«

»Ist mir aufgefallen.«

Freds Blick fiel auf das Gitter. Er entfernte die Pflanzenreste. »Mein Paps will, dass das sauber bleibt.«

»Nachdem das geklärt wäre«, sagte Albert, »wo geht’s lang?«

Fred sah ihn überrascht an. »Du bist gar nicht streng.«

»Und wie ich streng bin!«

»Nein, Albert«, er grinste, »du bist ambrosisch.«

»Vielleicht. Ein wenig«, sagte Albert und lächelte. »Weil es dir gut geht. Das ist wichtig, verstehst du?«

Fred nickte. »Ich verstehe immer alles.«

 

Sie gingen den schmalen Gang zurück. Fred führte mit der Taschenlampe. Albert war nicht mehr genervt, eher optimistisch. Bald wären sie am Ziel, und danach würde er diesen endlosen Sommernachmittag mit kaltem Wasser abduschen. Wie lange konnte es schon dauern, bis sie das gesamte Kanalisationsnetz abgeschritten hätten? Das war nur Königsdorf.

Sie bogen zwei Mal ab, Fred rief »Ah!«, sie machten kehrt, bogen erneut ab und betraten eine Sackgasse. Die Schatzkiste an ihrem Ende sah tatsächlich aus wie eine Schatzkiste: dunkles, modriges Holz, abgewetzte Kanten, verrostetes Schloss. Fred deutete mit einer Darf-ich-vorstellen-Geste auf sie und sagte: »Mein Liebster Besitz.«

»Wusste gar nicht, dass man davon mehr als einen haben kann«, sagte Albert.

»Nur ein paar.«

»Und da drin war also das Gold?«

»Von da drin kommen alle Liebsten Besitze!«

Albert legte die Stofftasche ab, kniete sich vor die Kiste und öffnete sie. Auf der Innenseite des Deckels haftete ein Aufkleber: Ein Comic-Bär mit weiß-rot karierter Latzhose flog, die Arme ausgebreitet, über die Buchstaben Berlin-Tempelhof.

Am Boden der Kiste, exakt in der Mitte, parallel zu den Seitenwänden, lag eine schneeweiße Lilie. Albert nahm sie und roch an ihr. Herbsüßer Kompostgeruch. Die Blüte war kaum verwelkt. Länger als einige Stunden konnte sie nicht dort gelegen haben.

»Warum hast du die dahin getan?«

»Das hab ich nicht«, sagte Fred.

Albert zog eine Augenbraue hoch.

»Das hab ich echt nicht!«

Noch einmal roch Albert an der Lilie, obwohl ihm der Geruch Unbehagen bereitete, dann gab er sie Fred, der seine Nase sofort in der Blüte vergrub. »Was ist das für eine Blume?«

Albert sagte es ihm.

»Dann ist sie für mich. Lilien sind nämlich für Tote.«

Albert schloss die Kiste und setzte sich darauf. Fred streichelte die Blütenblätter der Lilie mit seinem Zeigefinger wie den Kopf eines Wellensittichs. »Du musst die Kiste besuchen und aufmachen, wenn ich tot bin. Weil, wenn ich tot bin, dann kann ich die Kiste nicht mehr aufmachen.«

»Tu mir einen Gefallen und sag nicht mehr tot

Fred nahm seinen Trachtenhut ab, steckte die Lilie neben den Gamsbart und setzte den Hut wieder auf. »Bin ich schick?«

»Extrem.«

Freds Grinsen war lilienweiß.

»Frederick, ich möchte, dass du mir sagst, wer die Blume dahin gelegt hat.«

»Mein Paps.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nein«, Freds Kopf sank und schnellte gleich wieder hoch: »Aber ich habe mir eine Blume für Tote von meinem Paps gewünscht und jetzt ist eine Blume für Tote da!«

Albert wiederholte leise die Worte, »jetzt ist eine Blume für Tote da«, bei Fred klang das so einleuchtend, so fraglos richtig. In Alberts Mund zerfielen die Worte, er kam sich dumm vor, sie in seinen Kopf zu lassen, geschweige denn über seine Lippen.

»Also gut.« Albert stand auf, klatschte in die Hände und sprach laut ins dunkle Nichts: »Ich wünsche mir eine eisgekühlte Limonade!« Er riss den Deckel der Kiste auf.

Fred stierte ihn an.

»Oh. Hat nicht geklappt. Na ja. Kommt vor. Zweiter Versuch.« Mit einem Knall warf er den Deckel zu.

Fred zuckte zusammen.

»Vielleicht war das kein Wunsch, der von Herzen kam«, sagte Albert und spürte eine Wut wachsen. »Wie wäre es damit: Ich wünsche mir ein Indiz … nein, warum bescheiden sein, wenn man eine Wunderkiste hat? … lieber Geist in der Kiste, ich wünsche mir meine Mutter.« Deckel auf. »So was. Ist wahrscheinlich gerade beschäftigt. Na dann. Aller guten Dinge sind …« Er trat die Kiste zu. »Wie wäre es mit deinem Paps, hm? – Oder unser Stammbaum? – Ein kleineres Herz für dich?«

Albert machte sich nicht mehr die Mühe nachzusehen.

»Bist du sauer?«, fragte Fred.

»Wie kommst du darauf?«

Fred öffnete die Kiste. »Albert! Schau!« Er griff hinein und holte den Bären-Aufkleber hervor.

»Ein Wunder«, sagte Albert. Dann sah er, dass auf der Innenseite des Deckels, an der Stelle, die vom Aufkleber verdeckt gewesen war, drei Worte standen: Mein Liebster Besitz. Wieder diese schnörkelige Schulmädchenschrift.

Fred steckte den Kleber ein. »Mein Paps schenkt mir gerne Sachen.«

»Hast du ihn jemals gesehen?«

»Nein.« Fred beugte sich vor: »Hast du ihn gesehen?«

»Nein, Fred, nein. Hab ich nicht.«

 

Bevor sie den Heimweg antraten, verlangte Fred nach einer Stärkung. Rücken an Rücken saßen sie auf der Kiste und verzehrten sämtliche mitgebrachten Brote, die geschälten Karotten, die Bananen und spülten alles mit der Apfelschorle hinunter. Fred aß mit großem Appetit, und obwohl Albert ebenfalls Hunger hatte, hielt er sich zurück, damit Fred satt wurde.

Sie waren kaum fünf Minuten unterwegs, da legten Alberts Gedanken wieder los; er war selbst schuld; er konnte sich nichts vormachen; wenn er das versuchte, dann meldete sich sofort eine zweite Stimme in seinem Kopf, die widersprach, und sobald der Diskurs dieser Stimmen eine Sackgasse erreichte, vermittelte eine dritte Stimme zwischen beiden und zog ein Fazit, das er mit seiner vierten Stimme, der richtigen, formulierte. Was in diesem Fall so klang: »Bist du dir sicher, Fred, dass außer dir niemand von der Kiste weiß?«

Fred sagte: »Nein.«

»Ich meine, außer dir und deinem Paps.«

»Außer meinem Paps und mir weiß nur einer, dass es die Kiste gibt.«

»Wer?«

»Du.«

Alberts Finger zappelten, sie wollten eine Zigarette halten. Um sie zu beruhigen, schob er die Hand in seine Hosentasche und griff nach dem Schminkklappspiegel.

Fred kratzte sich an der Nase. »Du musst nicht traurig sein, weil du keine Lilie hast. Irgendwann kriegt jeder eine Blume für Tote. Sogar du.«

»Meinst du.«

Heftiges Kopfnicken. »Ganz sicher!«

Albert ließ den Spiegel los und legte die Stofftasche ab. Er stellte sich auf Zehenspitzen, nahm Fred den Trachtenhut vom Kopf und sah sich noch einmal die Lilie an. Mit dem Daumen befühlte er den Stiel. Er war glatt durchtrennt worden. Mit einem Messer. Oder einer Gartenschere.

Meistens alles sehr schnell: Roman
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